37722.fb2 Der Antichrist - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

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Dies sind die zwei physiologischen Realitäten, auf denen, aus denen die Erlösungs-Lehre gewachsen ist. Ich nenne sie eine sublime Weiter-Entwicklung des Hedonismus auf durchaus morbider Grundlage. Nächstverwandt, wenn auch mit einem grossen Zuschuss von griechischer Vitalität und Nervenkraft, bleibt ihr der Epicureismus, die Erlösungs-Lehre des Heidenthums. Epicur ein typischer décadent: zuerst von mir als solcher erkannt. — Die Furcht vor Schmerz, selbst vor dem Unendlich-Kleinen im Schmerz — sie kann gar nicht anders enden als in einer Religion der Liebe…

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Ich habe meine Antwort auf das Problem vorweg gegeben. Die Voraussetzung für sie ist, dass der Typus des Erlösers uns nur in einer starken Entstellung erhalten ist. Diese Entstellung hat an sich viel Wahrscheinlichkeit: ein solcher Typus konnte aus mehreren Gründen nicht rein, nicht ganz, nicht frei von Zuthaten bleiben. Es muss sowohl das milieu, in dem sich diese fremde Gestalt bewegte, Spuren an ihm hinterlassen haben, als noch mehr die Geschichte, das Schicksal der ersten christlichen Gemeinde: aus ihm wurde, rückwirkend, der Typus mit Zügen bereichert, die erst aus dem Kriege und zu Zwecken der Propaganda verständlich werden. Jene seltsame und kranke Welt, in die uns die Evangelien einführen — eine Welt, wie aus einem russischen Romane, in der sich Auswurf der Gesellschaft, Nerven leiden und» kindliches «Idiotenthum ein Stelldichein zu geben scheinen — muss unter allen Umständen den Typus vergröbert haben: die ersten Jünger in Sonderheit übersetzten ein ganz in Symbolen und Unfasslichkeiten schwimmendes Sein erst in die eigne Crudität, um überhaupt Etwas davon zu verstehn, — für sie war der Typus erst nach einer Einformung in bekanntere Formen vorhanden… Der Prophet, der Messias, der zukünftige Richter, der Morallehrer, der Wundermann, Johannes der Täufer — ebensoviele Gelegenheiten, den Typus zu verkennen… Unterschätzen wir endlich das proprium aller grossen, namentlich sektirerischen Verehrung nicht: sie löscht die originalen, oft peinlich-fremden Züge und Idiosynkrasien an dem verehrten Wesen aus — sie sieht sie selbst nicht. Man hätte zu bedauern, dass nicht ein Dostoiewsky in der Nähe dieses interessantesten décadent gelebt hat, ich meine jemand, der gerade den ergreifenden Reiz einer solchen Mischung von Sublimem, Krankem und Kindlichem zu empfinden wusste. Ein letzter Gesichtspunkt: der Typus könnte, als décadence-Typus, thatsächlich von einer eigenthümlichen Vielheit und Widersprüchlichkeit gewesen sein: eine solche Möglichkeit ist nicht völlig auszuschliessen. Trotzdem räth Alles ab von ihr: gerade die Überlieferung würde für diesen Fall eine merkwürdig treue und objektive sein müssen: wovon wir Gründe haben das Gegentheil anzunehmen. Einstweilen klafft ein Widerspruch zwischen dem Berg- See- und Wiesen-Prediger, dessen Erscheinung wie ein Buddha auf einem sehr wenig indischen Boden anmuthet, und jenem Fanatiker des Angriffs, dem Theologen- und Priester-Todfeind, den Renan's Bosheit als» le grand maitre en ironie «verherrlicht hat. Ich selber zweifle nicht daran, dass das reichliche Maass Galle (und selbst von esprit) erst aus dem erregten Zustand der christlichen Propaganda auf den Typus des Meisters übergeflossen ist: man kennt ja reichlich die Unbedenklichkeit aller Sektirer, aus ihrem Meister sich ihre Apologie zurechtzumachen. Als die erste Gemeinde einen richtenden, hadernden, zürnenden, bösartig spitzfindigen Theologen nöthig hatte, gegen Theologen, schuf sie sich ihren» Gott «nach ihrem Bedürfnisse: wie sie ihm auch jene völlig unevangelischen Begriffe, die sie jetzt nicht entbehren konnte,»Wiederkunft«,»jüngstes Gericht«, jede Art zeitlicher Erwartung und Verheissung ohne Zögern in den Mund gab. -

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Ich wehre mich, nochmals gesagt, dagegen, dass man den Fanatiker in den Typus des Erlösers einträgt: das Wort impérieux, das Renan gebraucht, annullirt allein schon den Typus. Die» gute Botschaft «ist eben, dass es keine Gegensätze mehr giebt; das Himmelreich gehört den Kindern; der Glaube, der hier laut wird, ist kein erkämpfter Glaube, — er ist da, er ist von Anfang, er ist gleichsam eine ins Geistige zurückgetretene Kindlichkeit. Der Fall der verzögerten und im Organismus unausgebildeten Pubertät als Folgeerscheinung der Degenerescenz ist wenigstens den Physiologen vertraut. — Ein solcher Glaube zürnt nicht, tadelt nicht, wehrt sich nicht: er bringt nicht» das Schwert«, — er ahnt gar nicht, in wiefern er einmal trennen könnte. Er beweist sich nicht, weder durch Wunder, noch durch Lohn und Verheissung, noch gar» durch die Schrift«: er selbst ist jeden Augenblick sein Wunder, sein Lohn, sein Beweis, sein» Reich Gottes«. Dieser Glaube formulirt sich auch nicht — er lebt, er wehrt sich gegen Formeln. Freilich bestimmt der Zufall der Umgebung, der Sprache, der Vorbildung einen gewissen Kreis von Begriffen: das erste Christenthum handhabt nur jüdischsemitische Begriffe (— das Essen und Trinken beim Abendmahl gehört dahin, jener von der Kirche, wie alles jüdische, so schlimm missbrauchte Begriff) Aber man hüte sich darin mehr als eine Zeichenrede, eine Semiotik, eine Gelegenheit zu Gleichnissen zu sehn. Gerade, dass kein Wort wörtlich genommen wird, ist diesem Anti-Realisten die Vorbedingung, um überhaupt reden zu können. Unter Indern würde er sich der Sankhyam-Begriffe, unter Chinesen der des Laotse bedient haben — und keinen Unterschied dabei fühlen. — Man könnte, mit einiger Toleranz im Ausdruck, Jesus einen» freien Geist «nennen — er macht sich aus allem Festen nichts: das Wort tödtet, alles was fest ist, tödtet. Der Begriff, die Erfahrung» Leben«, wie er sie allein kennt, widerstrebt bei ihm jeder Art Wort, Formel, Gesetz, Glaube, Dogma. Er redet bloss vom Innersten:»Leben «oder» Wahrheit «oder» Licht «ist sein Wort für das Innerste, — alles übrige, die ganze Realität, die ganze Natur, die Sprache selbst, hat für ihn bloss den Werth eines Zeichens, eines Gleichnisses. — Man darf sich an dieser Stelle durchaus nicht vergreifen, so gross auch die Verführung ist, welche im christlichen, will sagen kirchlichen Vorurtheil liegt: Eine solche Symbolik par excellence steht ausserhalb aller Religion, aller Cult-Begriffe, aller Historie, aller Naturwissenschaft, aller Welt-Erfahrung, aller Kenntnisse, aller Politik, aller Psychologie, aller Bücher, aller Kunst — sein» Wissen «ist eben, die reine Thorheit darüber, dass es Etwas dergleichen giebt. Die Cultur ist ihm nicht einmal vom Hörensagen bekannt, er hat keinen Kampf gegen sie nöthig, — er verneint sie nicht… Dasselbe gilt vom Staat, von der ganzen bürgerlichen Ordnung und Gesellschaft, von der Arbeit, vom Kriege — er hat nie einen Grund gehabt,»die Welt «zu verneinen, er hat den kirchlichen Begriff» Welt «nie geahnt… Das Verneinen ist eben das ihm ganz Unmögliche. — Insgleichen fehlt die Dialektik, es fehlt die Vorstellung dafür, dass ein Glaube, eine» Wahrheit «durch Gründe bewiesen werden könnte (— seine Beweise sind innere» Lichter«, innere Lust-Gefühle und Selbstbejahungen, lauter» Beweise der Kraft«—) Eine solche Lehre kann auch nicht widersprechen, sie begreift gar nicht, dass es andre Lehren giebt, geben kann, sie weiss sich ein gegentheiliges Urtheilen gar nicht vorzustellen… Wo sie es antrifft, wird sie aus innerstem Mitgefühle über» Blindheit «trauern, — denn sie sieht das» Licht«—, aber keinen Einwand machen…

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In der ganzen Psychologie des» Evangeliums «fehlt der Begriff Schuld und Strafe; insgleichen der Begriff Lohn. Die» Sünde«, jedwedes Distanz-Verhältniss zwischen Gott und Mensch ist abgeschafft, — eben das ist die» frohe Botschaft«. Die Seligkeit wird nicht verheissen, sie wird nicht an Bedingungen geknüpft.- sie ist die einzige Realität — der Rest ist Zeichen, um von ihr zu reden…

Die Folge eines solchen Zustandes projicirt sich in eine neue Praktik, die eigentlich evangelische Praktik. Nicht ein» Glaube «unterscheidet den Christen: der Christ handelt, er unterscheidet sich durch ein andres Handeln. Dass er dem, der böse gegen ihn ist, weder durch Wort, noch im Herzen Widerstand leistet. Dass er keinen Unterschied zwischen Fremden und Einheimischen, zwischen Juden und Nichtjuden macht (»der Nächste «eigentlich der Glaubensgenosse, der Jude) Dass er sich gegen Niemanden erzürnt, Niemanden geringschätzt. Dass er sich bei Gerichtshöfen weder sehn lässt, noch in Anspruch nehmen lässt (»nicht schwören«) Dass er sich unter keinen Umstände<n>, auch nicht im Falle bewiesener Untreue des Weibes, von seinem Weibe scheidet. — Alles im Grunde Ein Satz, Alles Folgen Eines Instinkts —

Das Leben des Erlösers war nichts andres als diese Praktik, — sein Tod war auch nichts andres… Er hatte keine Formeln, keinen Ritus für den Verkehr mit Gott mehr nöthig — nicht einmal das Gebet. Er hat mit der ganzen jüdischen Buss- und Versöhnungs-Lehre abgerechnet; er weiss, wie es allein die Praktik des Lebens ist, mit der man sich» göttlich«,»selig«,»evangelisch«, jeder Zeit ein» Kind Gottes «fühlt. Nicht» Busse«, nicht» Gebet um Vergebung «sind Wege zu Gott: die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist» Gott«— Was mit dem Evangelium abgethan war, das war das Judenthum der Begriffe» Sünde«,»Vergebung der Sünde«,»Glaube«,»Erlösung durch den Glauben«— die ganze jüdische Kirchen-Lehre war in der» frohen Botschaft «verneint.

Der tiefe Instinkt dafür, wie man leben müsse, um sich» im Himmel «zu fühlen, um sich» ewig «zu fühlen, während man sich bei jedem andren Verhalten durchaus nicht» im Himmel fühlt«: dies allein ist die psychologische Realität der» Erlösung«. — Ein neuer Wandel, nicht ein neuer Glaube…

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Wenn ich irgend Etwas von diesem grossen Symbolisten verstehe, so ist es das, dass er nur innere Realitäten als Realitäten, als» Wahrheiten «nahm, — dass er den Rest, alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische nur als Zeichen, als Gelegenheit zu Gleichnissen verstand. Der Begriff» des Menschen Sohn «ist nicht eine concrete Person, die in die Geschichte gehört, irgend etwas Einzelnes, Einmaliges, sondern eine» ewige «Thatsächlichkeit, ein von dem Zeitbegriff erlöstes psychologisches Symbol. Dasselbe gilt noch einmal, und im höchsten Sinne, von dem Gott dieses typischen Symbolikers, vom» Reich Gottes«, vom» Himmelreich«, von der» Kindschaft Gottes«. Nichts ist unchristlicher als die kirchlichen Cruditäten von einem Gott als Person, von einem» Reich Gottes«, welches kommt, von einem» Himmelreich «jenseits, von einem Sohne Gottes«, der zweiten Person der Trinität. Dies Alles ist — man vergebe mir den Ausdruck — die Faust auf dem Auge — oh auf was für einem Auge! des Evangeliums; ein welthisto-rischer Cynismus in der Verhöhnung des Symbols… Aber es liegt ja auf der Hand, was mit den Zeichen» Vater «und» Sohn «angerührt wird — nicht auf jeder Hand, ich gebe es zu: mit dem Wort» Sohn «ist der Eintritt in das Gesammt-Verklärungs-Gefühl aller Dinge (die Seligkeit) ausgedrückt, mit dem Wort» Vater «dieses Gefühl selbst, das Ewigkeits-, das Vollendungs-Gefühl. — Ich schäme mich daran zu erinnern, was die Kirche aus diesem Symbolismus gemacht hat: hat sie nicht eine Amphitryon-Geschichte an die Schwelle des christlichen» Glaubens «gesetzt? Und ein Dogma von der» unbefleckten Empfängniss «noch obendrein?… Aber damit hat sie die Empfängniss befleckt —

Das» Himmelreich «ist ein Zustand des Herzens — nicht Etwas, das»über der Erde «oder» nach dem Tode «kommt. Der ganze Begriff des natürlichen Todes fehlt im Evangelium: der Tod ist keine Brücke, kein Übergang, er fehlt, weil einer ganz andern bloss scheinbaren, bloss zu Zeichen nützlichen Welt zugehörig. Die» Todesstunde «ist kein christlicher Begriff — die» Stunde«, die Zeit, das physische Leben und seine Krisen sind gar nicht vorhanden für den Lehrer der» frohen Botschaft«… Das» Reich Gottes «ist nichts, das man erwartet; es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in» tausend Jahren«— es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da…

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Dieser» frohe Botschafter «starb wie er lebte, wie er lehrte — nicht um» die Menschen zu erlösen«, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. Die Praktik ist es, welche er der Menschheit hinterliess: sein Verhalten vor den Richtern, vor den Häschern, vor den Anklägern und aller Art Verleumdung und Hohn, — sein Verhalten am Kreuz. Er widersteht nicht, er vertheidigt nicht sein Recht, er thut keinen Schritt, der das Äusserste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus… Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses thun… Die Worte zum Schächer am Kreuz enthalten das ganze Evangelium.»Das ist wahrlich ein göttlicher Mensch gewesen, ein Kind Gottes «sagt der Schächer.»Wenn du dies fühlst — anwortet der Erlöser — so bist du im Paradiese, so bist auch du ein Kind Gottes…«Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen… Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen, — ihn lieben…

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Erst wir, wir freigewordenen Geister, haben die Voraussetzung dafür, Etwas zu verstehn, das neunzehn Jahrhunderte missverstanden haben, — jene Instinkt und Leidenschaft gewordene Rechtschaffenheit, welche der» heiligen Lüge «noch mehr als jeder andren Lüge den Krieg macht… Man war unsäglich entfernt von unsrer liebevollen und vorsichtigen Neutralität, von jener Zucht des Geistes, mit der allein das Errathen so fremder, so zarter Dinge ermöglicht wird: man wollte jeder Zeit, mit einer unverschämten Selbstsucht, nur seinen Vortheil darin, man hat aus dem Gegensatz zum Evangelium die Kirche aufgebaut…

Wer nach Zeichen dafür suchte, dass hinter dem grossen Welten-Spiel eine ironische Göttlichkeit die Finger handhabte, er fände keinen kleinen Anhalt in dem ungeheuren Fragezeichen, das Christenthum heisst. Dass die Menschheit vor dem Gegensatz dessen auf den Knien liegt, was der Ursprung, der Sinn, das Recht des Evangeliums war, dass sie in dem Begriff» Kirche «gerade das heilig gesprochen hat, was der» frohe Botschafter «als unter sich, als hinter sich empfand — man sucht vergebens nach einer grösseren Form welthistorischer Ironie -

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— Unser Zeitalter ist stolz auf seinen historischen Sinn: wie hat es sich den Unsinn glaublich machen können, dass an dem Anfange des Christenthums die grobe Wunderthäter — und Erlöser-Fabel steht, — und dass alles Spirituale und Symbolische erst eine spätere Entwicklung ist? Umgekehrt: die Geschichte des Christenthums — und zwar vom Tode am Kreuze an — ist die Geschichte des schrittweise immer gröberen Missverstehns eines ursprünglichen Symbolismus. Mit jeder Ausbreitung des Christenthums über noch breitere, noch rohere Massen, denen die Voraussetzungen immer mehr abgiengen, aus denen es geboren ist, wurde es nöthiger, das Christenthum zu vulgarisiren, zu barbarisiren, — es hat Lehren und Riten aller unterirdischen Culte des imperium Romanurn, es hat den Unsinn aller Arten kranker Vernunft in sich eingeschluckt. Das Schicksal des Christenthums liegt in der Nothwendigkeit, dass sein Glaube selbst so krank, so niedrig und vulgär werden musste, als die Bedürfnisse krank, niedrig und vulgär waren, die mit ihm befriedigt werden sollten. Als Kirche summirt sich endlich die kranke Barbarei selbst zur Macht, — die Kirche diese Todfeindschaftsform zu jeder Rechtschaffenheit, zu jeder Höhe der Seele, zu jeder Zucht des Geistes, zu jeder freimüthigen und gütigen Menschlichkeit. — Die christlichen — die vornehmen Werthe: erst wir, wir freigewordnen Geister, haben diesen grössten Werth-Gegensatz, den es giebt, wiederhergestellt! —

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— Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer nicht. Es giebt Tage, wo mich ein Gefühl heimsucht, schwärzer als die schwärzeste Melancholie — die Menschen-Verachtung. Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse, was ich verachte, wen ich verachte: der Mensch von heute ist es, der Mensch, mit dem ich verhängnissvoll gleichzeitig bin. Der Mensch von heute — ich ersticke an seinem unreinen Athem… Gegen das Vergangne bin ich, gleich allen Erkennenden, von einer grossen Toleranz, das heisst grossmüthigen Selbstbezwingung: ich gehe durch die Irrenhaus-Welt ganzer Jahrtausende, heisse sie nun» Christenthum«,»christlicher Glaube«,»christliche Kirche «mit einer düsteren Vorsicht hindurch, — ich hüte mich, die Menschheit für ihre Geisteskrankheiten verantwortlich zu machen. Aber mein Gefühl schlägt um, bricht heraus, sobald ich in die neuere Zeit, in unsre Zeit eintrete. Unsre Zeit ist wissend… Was ehemals bloss krank war, heute ward es unanständig, — es ist unanständig, heute Christ zu sein. Und hier beginnt mein Ekel. — Ich sehe mich um: es ist kein Wort von dem mehr übrig geblieben, was ehemals» Wahrheit «hiess, wir halten es nicht einmal mehr aus, wenn ein Priester das Wort» Wahrheit «auch nur in den Mund nimmt. Selbst bei dem bescheidensten Anspruch auf Rechtschaffenheit muss man heute wissen, dass ein Theologe, ein Priester, ein Papst mit jedem Satz, den er spricht, nicht nur irrt, sondern lügt, — dass es ihm nicht mehr freisteht, aus» Unschuld«, aus» Unwissenheit «zu lügen. Auch der Priester weiss, so gut es Jedermann weiss, dass es keinen» Gott «mehr giebt, keinen» Sünder«, keinen» Erlöser«, — dass» freier Wille«,»sittliche Weltordnung «Lügen sind: — der Ernst, die tiefe Selbstüberwindung des Geistes erlaubt Niemandem mehr, hierüber nicht zu wissen… Alle Begriffe der Kirche sind erkannt als das was sie sind, als die bösartigste Falschmünzerei, die es giebt, zum Zweck, die Natur, die Natur-Werthe zu entwerthen; der Priester selbst ist erkannt als das, was er ist, als die gefährlichste Art Parasit, als die eigentliche Giftspinne des Lebens… Wir wissen, unser Gewissen weiss es heute — , was überhaupt jene unheimlichen Erfindungen der Priester und der Kirche werth sind, wozu sie dienten, mit denen jener Zustand von Selbstschändung der Menschheit erreicht worden ist, der Ekel vor ihrem Anblick machen kann — die Begriffe» Jenseits«,»jüngstes Gericht«,»Unsterblichkeit der Seele«, die» Seele «selbst; es sind Folter-Instrumente, es sind Systeme von Grausamkeiten, vermöge deren der Priester Herr wurde, Herr blieb… Jedermann weiss das: und trotzdem bleibt Alles beim Alten. Wohin kam das letzte Gefühl von Anstand, von Achtung vor sich selbst, wenn unsere Staatsmänner sogar, eine sonst sehr unbefangne Art Menschen und Antichristen der That durch und durch, sich heute noch Christen nennen und zum Abendmahl gehn?… Ein junger Fürst, an der Spitze seiner Regimente<r>, prachtvoll als Ausdruck der Selbstsucht und Selbstüberhebung seines Volks, — aber, ohne jede Scham, sich als Christen bekennend!… Wen verneint denn das Christenthum? was heisst es» Welt«? Dass man Soldat, dass man Richter, dass man Patriot ist; dass man sich wehrt; dass man auf seine Ehre hält; dass man seinen Vortheil will; dass man stolz ist… Jede Praktik jedes Augenblicks, jeder Instinkt, jede zur That werdende Werthschätzung ist heute antichristlich: was für eine Missgeburt von Falschheit muss der moderne Mensch sein, dass er sich trotzdem nicht schämt, Christ noch zu heissen! -

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— Ich kehre zurück, ich erzähle die echte Geschichte des Christenthums. — Das Wort schon» Christenthum «ist ein Missverständniss — , im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz. Das» Evangelium «starb am Kreuz. Was von diesem Augenblick an» Evangelium «heisst, war bereits der Gegensatz dessen, was er gelebt: eine» schlimme Botschaft«, ein Dysangelium. Es ist falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem» Glauben«, etwa im Glauben an die Erlösung durch Christus das Abzeichen des Christen sieht: bloss die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich… Heute noch ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar nothwendig: das echte, das ursprüngliche Christenthum wird zu allen Zeiten möglich sein… Nicht ein Glauben, sondern ein Thun, ein Vieles nicht — thun vor Allem, ein andres Sein… Bewusstseins-Zustände, irgend ein Glauben, ein Für-wahr-halten zum Beispiel — jeder Psycholog weiss das — sind ja vollkommen gleichgültig und fünften Ranges gegen den Werth der Instinkte: strenger geredet, der ganze Begriff geistiger Ursächlichkeit ist falsch. Das Christ-sein, die Christlichkeit auf ein Für-wahr-halten, auf eine blosse Bewusstseins-Phänomenalität reduziren heisst die Christlichkeit negiren. In der That gab es gar keine Christen. Der» Christ«, das, was seit zwei Jahrtausenden Christ heisst, ist bloss ein psychologisches Selbst-Missverständniss. Genauer zugesehn, herrschten in ihm, trotz allem» Glauben«, bloss die Instinkte — und was für Instinkte! — Der» Glaube «war zu allen Zeiten, beispielsweise bei Luther, nur ein Mantel, ein Vorwand, ein Vorhang, hinter dem die Instinkte ihr Spiel spielten — , eine kluge Blindheit über die Herrschaft gewisser Instinkte… Der» Glaube«— ich nannte ihn schon die eigentliche christliche Klugheit, — man sprach immer vom» Glauben«, man that immer nur vom Instinkte… In der Vorstellungs-Welt des Christen kommt Nichts vor, was die Wirklichkeit auch nur anrührte: dagegen erkannten wir im Instinkt-Hass gegen jede Wirklichkeit das treibende, das einzig treibende Element in der Wurzel des Christenthums. Was folgt daraus? Dass auch in psychologicis hier der Irrthum radikal, das heisst wesen-bestimmend, das heisst Substanz ist. Ein Begriff hier weg, eine einzige Realität an dessen Stelle — und das ganze Christenthum rollt in's Nichts! — Aus der Höhe gesehn, bleibt diese fremdartigste aller Thatsachen, eine durch Irrthümer nicht nur bedingte, sondern nur in schädlichen, nur in leben und herzvergiftenden Irrthümern erfinderische und selbst geniale Religion ein Schauspiel für Götter, — für jene Gottheiten, welche zugleich Philosophen sind, und denen ich zum Beispiel bei jenen berühmten Zwiegesprächen auf Naxos begegnet bin. Im Augenblick, wo der Ekel von ihnen weicht (— und von uns!), werden sie dankbar für das Schauspiel des Christen: das erbärmliche kleine Gestirn, das Erde heisst, verdient vielleicht allein um dieses curiosen Falls willen einen göttlichen Blick, eine göttliche Antheilnahme… Unterschätzen wir nämlich den Christen nicht: der Christ, falsch bis zur Unschuld, ist weit über dem Affen, — in Hinsicht auf Christen wird eine bekannte Herkunfts-Theorie zur blossen Artigkeit…

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— Das Verhängniss des Evangeliums entschied sich mit dem Tode, — es hieng am» Kreuz«… Erst der Tod, dieser unerwartete schmähliche Tod, erst das Kreuz, das im Allgemeinen bloss für die canaille aufgespart blieb, — erst diese schauerlichste Paradoxie brachte die jünger vor das eigentliche Räthsel:»wer war das? Was war das?«— Das erschütterte und im Tiefsten beleidigte Gefühl, der Argwohn, es möchte ein solcher Tod die Widerlegung ihrer Sache sein, das schreckliche Fragezeichen» warum gerade so?«— dieser Zustand begreift sich nur zu gut. Hier musste Alles nothwendig sein, Sinn, Vernunft, höchste Vernunft haben; die Liebe eines jünger<s> kennt keinen Zufall. Erst jetzt trat die Kluft auseinander:»wer hat ihn getödtet? wer war sein natürlicher Feind?«— diese Frage sp<r>ang wie ein Blitz hervor. Antwort: das herrschende Judenthum, sein oberster Stand. Man empfand sich von diesem Augenblick im Aufruhr gegen die Ordnung, man verstand hinterdrein Jesus als im Aufruhr gegen die Ordnung. Bis dahin fehlte dieser kriegerische, dieser neinsagende, neinthuende Zug in seinem Bilde; mehr noch, er war dessen Widerspruch. Offenbar hat die kleine Gemeinde gerade die Hauptsache nicht verstanden, das Vorbildliche in dieser Art zu sterben, die Freiheit, die Überlegenheit über jedes Gefühl von ressentiment: — ein Zeichen dafür, wie wenig überhaupt sie von ihm verstand! An sich konnte Jesus mit seinem Tode nichts wollen als öffentlich die stärkste Probe, den Beweis seiner Lehre zu geben… Aber seine Jünger waren ferne davon, diesen Tod zu verzeihen, — was evangelisch im höchsten Sinne gewesen wäre; oder gar sich zu einem gleichen Tode in sanfter und lieblicher Ruhe des Herzens anzubieten… Gerade das am meisten unevangelische Gefühl, die Rache, kam wieder obenauf. Unmöglich konnte die Sache mit diesem Tode zu Ende sein: man brauchte» Vergeltung«,»Gericht«(— und doch was kann noch unevangelischer sein als» Vergeltung«,»Strafe«,»Gericht-halten«!) Noch einmal kam die populäre Erwartung eines Messias in den Vordergrund; ein historischer Augenblick wurde in's Auge gefasst: das» Reich Gottes «kommt zum Gericht über seine Feinde… Aber damit ist Alles missverstanden: das» Reich Gottes «als Schlussakt, als Verheissung! Das Evangelium war doch gerade das Dasein, das Erfülltsein, die Wirklichkeit dieses» Reichs «gewesen. Gerade ein solcher Tod war eben dieses» Reich Gottes«… Jetzt erst trug man die ganze Verachtung und Bitterkeit gegen Pharisäer und Theologen in den Typus des Meisters ein, — man machte damit aus ihm einen Pharisäer und Theologen! Andrerseits hielt die wildgewordne Verehrung dieser ganz aus den Fugen gerathenen Seelen jene evangelische Gleichberechtigung von Jedermann zum Kind Gottes, die Jesus gelehrt hatte, nicht mehr aus: ihre Rache war, auf eine ausschweifende Weise Jesus emporzuheben, von sich abzulösen: ganz so, wie ehedem die Juden aus Rache an ihren Feinden ihren Gott von sich losgetrennt und in die Höhe gehoben haben. Der Eine Gott und der Eine Sohn Gottes: Beides Erzeugnisse des ressentiment…

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— Und von nun an tauchte ein absurdes Problem auf» Wie konnte Gott das zulassen!«Darauf fand die gestörte Vernunft der kleinen Gemeinschaft eine geradezu schrecklich absurde Antwort: Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als Opfer. Wie war es mit Einem Male zu Ende mit dem Evangelium! Das Schuldopfer und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidenthum! — Jesus hatte ja den Begriff» Schuld «selbst abgeschafft, — er hat jede Kluft zwischen Gott und Mensch geleugnet, erlebte diese Einheit vom Gott als Mensch als seine» frohe Botschaft«… Und nicht als Vorrecht! — Von nun an tritt schrittweise in den Typus des Erlösers hinein: die Lehre vom Gericht und von der Wiederkunft, die Lehre vom Tod als einem Opfertode, die Lehre von der Auferstehung, mit der der ganze Begriff» Seligkeit«, die ganze und einzige Realität des Evangeliums, eskamotirt ist — zu Gunsten eines Zustandes nach dem Tode!… Paulus hat diese Auffassung, diese Unzucht von Auffassung mit jener rabbinerhaften Frechheit, die ihn in allen Stücken auszeichnet, dahin logisirt:»wenn Christus nicht auferstanden ist von den Todten, so ist unser Glaube eitel«. — Und mit Einem Male wurde aus dem Evangelium die verächtlichste aller unerfüllbaren Versprechungen, die unverschämte Lehre von der Personal-Unsterblichkeit… Paulus selbst lehrte sie noch als Lohn!…

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Man sieht, was mit dem Tode am Kreuz zu Ende war: ein neuer, ein durchaus ursprünglicher Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung, zu einem thatsächlichen, nicht bloss verheissenen Glück auf Erden. Denn dies bleibt — ich hob es schon hervor — der Grundunterschied zwischen den beiden décadence-Religionen: der Buddhismus verspricht nicht, sondern hält, das Christenthum verspricht Alles, aber hält Nichts. — Der» frohen Botschaft «folgte auf dem Fuss die allerschlimmste: die des Paulus. In Paulus verkörpert sich der Gegensatz-Typus zum» frohen Botschafter«, das Genie im Hass, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen Logik des Hasses. Was hat dieser Dysangelist Alles dem Hasse zum Opfer gebracht! Vor allem den Erlöser: er schlug ihn ans ein Kreuz. Das Leben, das Beispiel, die Lehre, der Tod, der Sinn und das Recht des ganzen Evangeliums — Nichts war mehr vorhanden, als dieser Falschmünzer aus Hass begriff, was allein er brauchen konnte. Nicht die Realität, nicht die historische Wahrheit!… Und noch einmal verübte der Priester-Instinkt des Juden das gleiche grosse Verbrechen an der Historie, — er strich das Gestern, das Vorgestern des Christenthums einfach durch, er erfand sich eine Geschichte des ersten Christenthums. Mehr noch: er fälschte die Geschichte Israels nochmals um, um als Vorgeschichte für seine That zu erscheinen: alle Propheten haben von seinem» Erlöser «geredet… Die Kirche fälschte später sogar die Geschichte der Menschheit zur Vorgeschichte des Christenthums… Der Typus des Erlösers, die Lehre, die Praktik, der Tod, der Sinn des Todes, selbst das Nachher des Todes — Nichts blieb unangetastet, Nichts blieb auch nur ähnlich der Wirklichkeit. Paulus verlegte einfach das Schwergewicht jenes ganzen Daseins hinter dies Dasein, — in die Lüge vom» wiederauferstandenen «Jesus. Er konnte im Grunde das Leben des Erlösers überhaupt nicht brauchen, — er hatte den Tod am Kreuz nöthig und etwas mehr noch… Einen Paulus, der seine Heimath an dem Hauptsitz der stoischen Aufklärung hatte, für ehrlich halten, wenn er sich aus einer Hallucination den Beweis vom Noch — Leben des Erlösers zurecht macht, oder auch nur seiner Erzählung, dass er diese Hallucination gehabt hat, Glauben schenken, wäre eine wahre niaiserie seitens eines Psychologen: Paulus wollte den Zweck, folglich wollte er auch die Mittel… Was er selbst nicht glaubte, die Idioten, unter die er seine Lehre warf, glaubten es. — Sein Bedürfniss war die Macht; mit Paulus wollte nochmals der Priester zur Macht, — er konnte nur Begriffe, Lehren, Symbole brauchen, mit denen man Massen tyrannisirt, Heerden bildet. — Was allein entlehnte später Muhamed dem Christenthum? Die Erfindung des Paulus, sein Mittel zur Priester-Tyrannei, zur Heerden-Bildung den Unsterblichkeits-Glauben — das heisst die Lehre vom» Gericht"

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Wenn man das Schwergewicht des Lebens nicht in's Leben, sondern in's» Jenseits «verlegt — in's Nichts — , so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen. Die grosse Lüge von der Personal-Unsterblichkeit zerstört jede Vernunft, jede Natur im Instinkte, — Alles, was wohlthätig, was lebenfördernd, was zukunftverbürgend in den Instinkten ist, erregt nunmehr Misstrauen. So zu leben, dass es keinen Sinn mehr hat, zu leben, das wird jetzt zum» Sinn «des Lebens… Wozu Gemeinsinn, wozu Dankbarkeit noch für Herkunft und Vorfahren, wozu mitarbeiten, zutrauen, irgend ein Gesammt-Wohl fördern und im Auge haben?… Ebensoviele» Versuchungen«, ebensoviele Ablenkungen vom» rechten Weg«—»Eins ist noth«. Dass Jeder als» unsterbliche Seele «mit jedem gleichen Rang hat, dass in der Gesammtheit aller Wesen das» Heil «jedes Einzelnen eine ewige Wichtigkeit in Anspruch nehmen darf, dass kleine Mucker und Dreiviertels-Verrückte sich einbilden dürfen, dass um ihretwillen die Gesetze der Natur beständig durchbrochen werden — eine solche Steigerung jeder Art Selbstsucht ins Unendliche, ins Unverschämte kann man nicht mit genug Verachtung brandmarken. Und doch verdankt das Christenthum dieser erbarmungswürdigen Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit seinen Sieg, — gerade alles Missrathene, Aufständisch-Gesinnte, Schlechtweggekommene, den ganzen Auswurf und Abhub der Menschheit hat es damit zu sich überredet. Das» Heil der Seele«— auf deutsch:»die Welt dreht sich um mich«… Das Gift der Lehre» gleiche Rechte für Alle«— das Christenthum hat es am grundsätzlichsten ausgesät; das Christenthum hat jedem Ehrfurchts- und Distanz-Gefühl zwischen Mensch und Mensch, das heisst der Voraussetzung zu jeder Erhöhung, zu jedem Wachsthum der Cultur einen Todkrieg aus den heimlichsten Winkeln schlechter Instinkte gemacht, — es hat aus dem Ressentiment der Massen sich seine Hauptwaffe geschmiedet gegen uns, gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen unser Glück auf Erden… Die» Unsterblichkeit «jedem Petrus und Paulus zugestanden war bisher das grösste, das bösartigste Attentat auf die vornehme Menschlichkeit. — Und unterschätzen wir das Verhängniss nicht, das vom Christenthum aus sich bis in die Politik eingeschlichen hat! Niemand hat heute mehr den Muth zu Sonderrechten, zu Herrschafts-Rechten, zu einem Ehrfurchts-Gefühl vor sich und seines Gleichen, — zu einem Pathos der Distanz… Unsre Politik ist krank an diesem Mangel an Muth! — Der Aristokratismus der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge am unterirdischsten untergraben; und wenn der Glaube an das» Vorrecht der Meisten «Revolutionen macht und machen wird, das Christenthum ist es, man zweifle nicht daran, christliche Werthurtheile sind es, welche jede Revolution bloss in Blut und Verbrechen übersetzt! Das Christenthum ist ein Aufstand alles Am-Boden-Kriechenden gegen das, was Höhe hat: das Evangelium der» Niedrigen «macht niedrig…

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— Die Evangelien sind unschätzbar als Zeugniss für die bereits unaufhaltsame Corruption innerhalb der ersten Gemeinde. Was Paulus später mit dem Logiker-Cynismus eines Rabbiners zu Ende führte, war trotzdem bloss der Verfalls-Prozess, der mit dem Tode des Erlösers begann. — Diese Evangelien kann man nicht behutsam genug lesen; sie haben ihre Schwierigkeiten hinter jedem Wort. Ich bekenne, man wird es mir zu Gute halten, dass sie eben damit für einen Psychologen ein Vergnügen ersten Ranges sind, — als Gegensatz aller naiven Verderbniss, als das Raffinement par excellence, als Künstlerschaft in der psychologischen Verderbniss. Die Evangelien stehn für sich. Die Bibel überhaupt verträgt keinen Vergleich. Man ist unter Juden: erster Gesichtspunkt, um hier nicht völlig den Faden zu verlieren. Die hier geradezu Genie werdende Selbstverstellung ins» Heilige«, unter Büchern und Menschen nie annähernd sonst erreicht, diese Wort- und Gebärden-Falschmünzerei als Kunst ist nicht der Zufall irgend welcher Einzel-Begabung, irgend welcher Ausnahme-Natur. Hierzu gehört Rasse. Im Christenthum, als der Kunst, heilig zu lügen, kommt das ganze Judenthum, eine mehrhundertjährige jüdische allerernsthafteste Vorübung und Technik zur letzten Meisterschaft. Der Christ, diese ultima ratio der Lüge, ist der Jude noch einmal — drei Mal selbst… — Der grundsätzliche Wille, nur Begriffe, Symbole, Attitüden anzuwenden, welche aus der Praxis des Priesters bewiesen sind, die Instinkt-Ablehnung jeder andren Praxis, jeder andren Art Werth- und Nützlichkeits-Perspektive — das ist nicht nur Tradition, das ist Erbschaft: nur als Erbschaft wirkt es wie Natur. Die ganze Menschheit, die besten Köpfe der besten Zeiten sogar (Einen ausgenommen, der vielleicht bloss ein Unmensch ist hat sich täuschen lassen. Man hat das Evangelium als Buch der Unschuld gelesen…: kein kleiner Fingerzeig dafür, mit welcher Meisterschaft hier geschauspielert worden ist. — Freilich: würden wir sie sehen, auch nur im Vorübergehn, alle diese wunderlichen Mucker und Kunst-Heiligen, so wäre es am Ende, — und genau deshalb, weil ich keine Worte lese ohne Gebärden zu sehn, mache ich mit ihnen ein Ende… Ich halte eine gewisse Art, die Augen aufzuschlagen, an ihnen nicht aus. — Zum Glück sind Bücher für die Allermeisten bloss Litteratur — Man muss sich nicht irreführen lassen:»richtet nicht!«sagen sie, aber sie schicken Alles in die Hölle, was ihnen im Wege steht. Indem sie Gott richten lassen, richten sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie sich selber; indem sie die Tugenden fordern, deren sie gerade fähig sind — mehr noch, die sie nöthig haben, um überhaupt oben zu bleiben — , geben sie sich den grossen Anschein eines Ringens um die Tugend, eines Kampfes um die Herrschaft der Tugend.»Wir leben, wir sterben, wir opfern uns für das Gute«(— die» Wahrheit«,»das Licht«, das» Reich Gottes«): in Wahrheit thun sie, was sie nicht lassen können. Indem sie nach Art von Duckmäusern sich durchdrücken, im Winkel sitzen, im Schatten schattenhaft dahinleben, machen sie sich eine Pflicht daraus: als Pflicht erscheint ihr Leben als Demuth, als Demuth ist es ein Beweis mehr für Frömmigkeit… Ah diese demüthige, keusche, barmherzige Art von Verlogenheit!» Für uns soll die Tugend selbst Zeugniss ablegen«… Man lese die Evangelien als Bücher der Verführung mit Moral: die Moral wird von diesen kleinen Leuten mit Beschlag belegt, — sie wissen, was es auf sich hat mit der Moral! Die Menschheit wird am besten genasführt mit der Moral! — Die Realität ist, dass hier der bewussteste Auserwählten-Dünkel die Bescheidenheit spielt: man hat sich, die» Gemeinde«, die» Guten und Gerechten «ein für alle Mal auf die Eine Seite gestellt, auf die» der Wahrheit«— und den Rest,»die Welt«, auf die andre… Das war die verhängnissvollste Art Grössenwahn, die bisher auf Erden dagewesen ist: kleine Missgeburten von Muckern und Lügnern fiengen an, die Begriffe» Gott«»Wahrheit«»Licht«»Geist«»Liebe«»Weisheit «Leben «für sich in Anspruch zu nehmen, gleichsam als Synonyma von sich, um damit die» Welt «gegen sich abzugrenzen, kleine Superlativ-Juden, reif für jede Art Irrenhaus, drehten die Werthe überhaupt nach sich um, wie als ob erst der Christ der Sinn, das Salz, das Maass, auch das letzte Gericht vom ganzen Rest wäre… Das ganze Verhängniss wurde dadurch allein ermöglicht, dass schon eine verwandte, rassenverwandte Art von Grössenwahn in der Welt war, der jüdische: sobald einmal die Kluft: zwischen Juden und Juden-Christen sich aufriss, blieb letzteren gar keine Wahl, als dieselben Prozeduren der Selbsterhaltung, die der jüdische Instinkt anrieth, gegen die Juden selber anzuwenden, während die Juden sie bisher bloss gegen alles Nicht-jüdische angewendet hatten. Der Christ ist nur ein Jude» freieren «Bekenntnisses. -

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— Ich gebe ein Paar Proben von dem, was sich diese kleinen Leute in den Kopf gesetzt, was sie ihrem Meister in den Mund gelegt haben: lauter Bekenntnisse» schöner Seelen«. —

«Und welche euch nicht aufnehmen und hören, da geht von dannen hinaus und schüttelt den Staub ab von euren Füssen, zu einem Zeugniss über sie. Ich sage euch.- Wahrlich, es wird Sodom und Gomorrha am jüngsten Gerichte erträglicher ergehn, denn solcher Stadt«(Marc. 6,11) — Wie evangelisch!…

«Und wer der Kleinen Einen ärgert, die an mich glauben, dem wäre es besser, dass ihm ein Mühlstein an seinen Hals gehängt würde und er in das Meer geworfen würde«(Marc. 9,42) — Wie evangelisch!…

«Ärgert dich dein Auge, so wirf es von dir. Es ist dir besser, dass du einäugig in das Reich Gottes gehest, denn dass du zwei Augen habest und werdest in das höllische Feuer geworfen; da ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht erlischt«(Marc. 9, 47) — Es ist nicht gerade das Auge gemeint…

«Wahrlich, ich sage euch, es stehen Etliche hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis dass sie sehen das Reich Gottes in Kraft kommen«(Marc. 9, 1). — Gut gelogen, Löwe…

«Wer mir will nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn…«(Anmerkung eines Psychologen. Die christliche Moral wird durch ihre Denn's widerlegt: ihre» Gründe «widerlegen, — so ist es christlich) Marc. 8, 34. —

«Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Mit welcherlei Mass ihr messet, wird euch gemessen werden.«(Matth- 7, 1) — Welcher Begriff von Gerechtigkeit, von einem» gerechten «Richter!…

«Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Thun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr nur zu euren Brüdern freundlich thut, was thut ihr Sonderliches? Thun nicht die Zöllner auch also?«(Matth. 5, 46) — Princip der» christlichen Liebe«: sie will zuletzt gut bezahlt sein…

«Denn so ihr den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, wird euch euer Vater im Himmel auch nicht vergeben«(Matth. 6, 15) — Sehr compromittirend für den genannten» Vater»…

«Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches Alles zufallen«(<Matth 6,33>). Solches Alles. nämlich Nahrung, Kleidung, die ganze Nothdurft des Lebens. Ein Irrthum, bescheiden ausgedrückt… Gleich darauf erscheint Gott als Schneider, wenigstens in gewissen Fällen…

«Freuet euch alsdann und hüpfet: denn siehe, euer Lohn ist gross im Himmel. Desgleichen thaten ihre Väter den Propheten auch«(< Luc. 6, 23 >) Unverschämtes Gesindel! Es vergleicht sich bereits mit den Propheten…

«Wisset ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnet? So jemand den Tempel Gottes verderbet, den wird Gott verderben: denn der Tempel Gottes ist heilig, der seid ihr«(Paul. I Cor. 3, 16) — Dergleichen kann man nicht genug verachten…

«Wisset ihr nicht, dass die Heiligen die Welt richten werden? So denn nun die Welt soll von euch gerichtet (werden): seid ihr denn nicht gut genug, geringere Sachen zu richten?«(Paul. I Cor. 6, 2) Leider nicht bloss die Rede eines Irrenhäuslers… Dieser fürchterliche Betrüger fährt wörtlich fort:»Wisset ihr nicht, dass wir über die Engel richten werden? Wie viel mehr über die zeitlichen Güter!»…

«Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Thorheit gemacht? Denn dieweil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch thörichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben. Nicht viel Weise nach dem Fleische, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen. Sondern was thöricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er die Weisen zu Schanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er zu Schanden mache, was stark ist. Und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählet, und das da Nichts ist, dass er zu Nichte mache, was Etwas ist. Auf dass sich vor ihm kein Fleisch rühme«(Paul. I Cor. I, 20 ff) — Um diese Stelle, ein Zeugniss allerersten Ranges für die Psychologie jeder Tschandala-Moral, zu verstehn, lese man die erste Abhandlung meiner Genealogie der Moral: in ihr wurde zum ersten Mal der Gegensatz einer vornehmen und einer aus Ressentiment und ohnmächtiger Rache gebornen Tschandala-Moral an's Licht gestellt. Paulus war der grösste aller Apostel der Rache…

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— Was folgt daraus? Dass man gut thut, Handschuhe anzuziehn, wenn man das neue Testament liest. Die Nähe von so viel Unreinlichkeit zwingt beinahe dazu. Wir würden uns» erste Christen «so wenig wie polnische Juden zum Umgang wählen: nicht dass man gegen sie auch nur einen Einwand nöthig hätte… Sie riechen beide nicht gut. — Ich habe vergebens im neuen Testamente auch nur nach Einem sympathischen Zuge ausgespäht; Nichts ist darin, was frei, gütig, offenherzig, rechtschaffen wäre. Die Menschlichkeit hat hier noch nicht ihren ersten Anfang gemacht, — die Instinkte der Reinlichkeit fehlen… Es giebt nur schlechte Instinkte im neuen Testament, es giebt keinen Muth selbst zu diesen schlechten Instinkten. Alles ist Feigheit, Alles ist Augen-Schliessen und Selbstbetrug darin.

Jedes Buch wird reinlich, wenn man eben das neue Testament gelesen hat: ich las, um ein Beispiel zu geben, mit Entzücken unmittelbar nach Paulus jenen anmuthigsten, übermüthigsten Spötter Petronius, von dem man sagen könnte, was Domenico Boccaccio über Cesare Borgia an den Herzog von Parma schrieb:»é tutto festo«— unsterblich gesund, unsterblich heiter und wohlgerathen… Diese kleinen Mucker verrechnen sich nämlich in der Hauptsache. Sie greifen an, aber Alles, was von ihnen angegriffen wird, ist damit ausgezeichnet. Wen ein» erster Christ «angreift, den besudelt er nicht… Umgekehrt: es ist eine Ehre,»erste Christen «gegen sich zu haben. Man liest das neue Testament nicht ohne eine Vorliebe für das, was darin misshandelt wird, — nicht zu reden von der» Weisheit dieser Welt«, welche ein frecher Windmacher» durch thörichte Predigt «umsonst zu Schanden zu machen sucht… Aber selbst die Pharisäer und Schriftgelehrten haben ihren Vortheil von einer solchen Gegnerschaft: sie müssen schon etwas werth gewesen sein, um auf eine so unanständige Weise gehasst zu werden. Heuchelei — das wäre ein Vorwurf, den» erste Christen «machen dürften! — Zuletzt waren es die Privilegirten: dies genügt, der Tschandala-Hass braucht keine Gründe mehr. Der» erste Christ«— ich fürchte, auch der» letzte Christ«, den ich vielleicht noch erleben werde- ist Rebell gegen alles Privilegirte aus unterstem Instinkte, — er lebt, er kämpft immer für» gleiche Rechte«… Genauer zugesehn, hat er keine Wahl. Will man, für seine Person, ein» Auserwählter Gottes «sein — oder ein» Tempel Gottes«, oder ein» Richter der Engel«—, so ist jedes andre Princip der Auswahl, zum Beispiel nach Rechtschaffenheit, nach Geist, nach Männlichkeit und Stolz, nach Schönheit und Freiheit des Herzens, einfach» Welt«, — das Böse an sich… Moral: jedes Wort im Munde eines» ersten Christen «ist eine Lüge, jede Handlung, die er thut, eine Instinkt-Falschheit, — alle seine Werthe, alle seine Ziele sind schädlich, aber wen er hasst, was er hasst, das hat Werth… Der Christ, der Priester-Christ in Sonderheit, ist ein Kriterium für Werthe — Habe ich noch zu sagen, dass im ganzen neuen Testament bloss eine einzige Figur vorkommt, die man ehren muss? Pilatus, der römische Statthalter. Einen Judenhandel ernst zu nehmen — dazu überredet er sich nicht. Ein Jude mehr oder weniger — was liegt daran?… Der vornehme Hohn eines Römers, vor dem ein unverschämter Missbrauch mit dem Wort» Wahrheit «getrieben wird, hat das neue Testament mit dem einzigen Wort bereichert, das Werth hat, — das seine Kritik, seine Vernichtung selbst ist:»was ist Wahrheit!»…

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— Das ist es nicht, was uns abscheidet, dass wir keinen Gott wiederfinden, weder in der Geschichte, noch in der Natur, noch hinter der Natur, — sondern dass wir, was als Gott verehrt wurde, nicht als» göttlich«, sondern als erbarmungswürdig, als absurd, als schädlich empfinden, nicht nur als Irrthum, sondern als Verbrechen am Leben… Wir leugnen Gott als Gott… Wenn man uns diesen Gott der Christen bewiese, wir würden ihn noch weniger zu glauben wissen. — In Formel: deus, qualem Paulus creavit, dei negatio. — Eine Religion, wie das Christenthum, die sich an keinem Punkte mit der Wirklichkeit berührt, die sofort dahinfällt, sobald die Wirklichkeit auch nur an Einem Punkte zu Rechte kommt, muss billiger Weise der» Weisheit der Welt«, will sagen der Wissenschaft, todtfeind sein, — sie wird alle Mittel gut heissen, mit denen die Zucht des Geistes, die Lauterkeit und Strenge in Gewissenssachen des Geistes, die vornehme Kühle und Freiheit des Geistes vergiftet, verleumdet, verrufen gemacht werden kann. Der» Glaube «als Imperativ ist das Veto gegen die Wissenschaft, — in praxi die Lüge um jeden Preis… Paulus begriff, dass die Lüge — dass» der Glaube «noth that; die Kirche begriff später wieder Paulus. — jener» Gott«, den Paulus sich erfand, ein Gott, der» die Weisheit der Welt«(im engern Sinn die beiden grossen Gegnerinnen alles Aberglaubens, Philologie und Medizin)»zu Schanden macht«, ist in Wahrheit nur der resolute Entschluss des Paulus selbst dazu:»Gott «seinen eignen Willen zu nennen, thora, das ist urjüdisch. Paulus will» die Weisheit der Welt «zu Schanden machen: seine Feinde sind die guten Philologen und Ärzte alexandrinischer Schulung — , ihnen macht er den Krieg. In der That, man ist nicht Philolog und Arzt, ohne nicht zugleich auch Antichrist zu sein. Als Philolog schaut man nämlich hinter die» heiligen Bücher«, als Arzt hinter die physiologische Verkommenheit des typischen Christen. Der Arzt sagt» unheilbar«, der Philolog» Schwindel".

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— Hat man eigentlich die berühmte Geschichte verstanden, die am Anfang der Bibel steht, — von der Höllenangst Gottes vor der Wissenschaft?… Man hat sie nicht verstanden. Dies Priester-Buch par excellence beginnt, wie billig, mit der grossen inneren Schwierigkeit des Priesters: er hat nur Eine grosse Gefahr, folglich hat» Gott «nur Eine grosse Gefahr. —

Der alte Gott, ganz» Geist«, ganz Hohe<r>priester, ganz Vollkommenheit, lustwandelt in seinem Garten: nur dass er sich langweilt. Gegen die Langeweile kämpfen Götter selbst vergebens. Was thut er? Er erfindet den Menschen, — der Mensch ist unterhaltend… Aber siehe da, auch der Mensch langweilt sich. Das Erbarmen Gottes mit der einzigen Noth, die alle Paradiese an sich haben, kennt keine Grenzen: er schuf alsbald noch andre Thiere. Erster Fehlgriff Gottes: der Mensch fand die Thiere nicht unterhaltend, — er herrschte über sie, er wollte nicht einmal» Thier «sein. — Folglich schuf Gott das Weib. Und in der That, mit der Langeweile hatte es nun ein Ende, — aber auch mit Anderem noch! Das Weib war der zweite Fehlgriff Gottes. — »Das Weib ist seinem Wesen nach Schlange, Heva«— das weiss jeder Priester;»vom Weib kommt jedes Unheil in der Welt«— das weiss ebenfalls jeder Priester.»Folglich kommt von ihm auch die Wissenschaft«… Erst durch das Weib lernte der Mensch vom Baume der Erkenntniss kosten. — Was war geschehn? Den alten Gott ergriff eine Höllenangst. Der Mensch selbst war sein grösster Fehlgriff geworden, er hatte sich einen Rivalen geschaffen, die Wissenschaft macht gottgleich, — es ist mit Priestern und Göttern zu Ende, wenn der Mensch wissenschaftlich wird! — Moral: die Wissenschaft ist das Verbotene an sich, — sie allein ist verboten. Die Wissenschaft ist die erste Sünde, der Keim aller Sünde, die Erbsünde. Dies allein ist Moral. — »Du sollst nicht erkennen«. — der Rest folgt daraus. — Die Höllenangst Gottes verhinderte ihn nicht, klug zu sein. Wie wehrt man sich gegen die Wissenschaft? das wurde für lange sein Hauptproblem. Antwort: fort mit dem Menschen aus dem Paradiese! Das Glück, der Müssiggang bringt auf Gedanken, — alle Gedanken sind schlechte Gedanken… Der Mensch soll nicht denken. — Und der» Priester an sich «erfindet die Noth, den Tod, die Lebensgefahr der Schwangerschaft, jede Art von Elend, Alter, Mühsal, die Krankheit vor Allem, — lauter Mittel im Kampfe mit der Wissenschaft! Die Noth erlaubt dem Menschen nicht, zu denken… Und trotzdem! entsetzlich! Das Werk der Erkenntniss thürmt sich auf, himmelstürmend, götter-andämmernd, — was thun! — Der alte Gott erfindet den Krieg, er trennt die Völker, er macht, dass die Menschen sich gegenseitig vernichten (die Priester haben immer den Krieg nöthig gehabt…) Der Krieg — unter Anderem ein grosser Störenfried der Wissenschaft! — Unglaublich! Die Erkenntniss, die Emancipation vom Priester, nimmt selbst trotz Kriegen zu. — Und ein letzter Entschluss kommt dem alten Gott:»der Mensch ward wissenschaftlich, — es hilft Nichts, man muss ihn ersäufen!»…

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— Man hat mich verstanden. Der Anfang der Bibel enthält die ganze Psychologie des Priesters. — Der Priester kennt nur Eine grosse Gefahr: das ist die Wissenschaft — der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung. Aber die Wissenschaft gedeiht im Ganzen nur unter glücklichen Verhältnissen, — man muss Zeit, man muss Geist überflüssig haben, um zu» erkennen«…»Folglich muss man den Menschen unglücklich machen«, — dies war zu jeder Zeit die Logik des Priesters. — Man erräth bereits, was, dieser Logik gemäss, damit erst in die Welt gekommen ist: — die» Sünde«… Der Schuld- und Strafbegriff, die ganze» sittliche Weltordnung «ist erfunden gegen die Wissenschaft, — gegen die Ablösung des Menschen vom Priester… Der Mensch soll nicht hinaus, er soll in sich hinein sehn; er soll nicht klug und vorsichtig, als Lernender, in die Dinge sehn, er soll überhaupt gar nicht sehn: er soll leiden… Und er soll so leiden, dass er jeder Zeit den Priester nöthig hat. — Weg mit den Ärzten! Man hat einen Heiland nöthig.- Der Schuld- und Strafbegriff, eingerechnet die Lehre von der» Gnade«, von der» Erlösung«, von der» Vergebung«— Lügen durch und durch und ohne jede psychologische Realität — sind erfunden, um den Ursachen-Sinn des Menschen zu zerstören: sie sind das Attentat gegen den Begriff Ursache und Wirkung! — Und nicht ein Attentat mit der Faust, mit dem Messer, mit der Ehrlichkeit in Hass und Liebe! Sondern aus den feigsten, listigsten, niedrigsten Instinkten heraus! Ein Priester-Attentat! Ein Parasiten-Attentat! Ein Vampyrismus bleicher unterirdischer Blutsauger!… Wenn die natürlichen Folgen einer That nicht mehr» natürlich «sind, sondern durch Begriffs-Gespenster des Aberglaubens, durch» Gott«, durch» Geister«, durch» Seelen «bewirkt gedacht werden, als bloss» moralische «Consequenzen, als Lohn, Strafe, Wink, Erziehungsmittel, so ist die Voraussetzung zur Erkenntniss zerstört, — so hat man das grösste Verbrechen an der Menschheit begangen. — Die Sünde, nochmals gesagt, diese Selbstschändungs-Form des Menschen par excellence, ist erfunden, um Wissenschaft, um Cultur, um jede Erhöhung und Vornehmheit des Menschen unmöglich zu machen; der Priester herrscht durch die Erfindung der Sünde. -

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— Ich erlasse mir an dieser Stelle eine Psychologie des» Glaubens«, der» Gläubigen «nicht, zum Nutzen, wie billig, gerade der» Gläubigen«. Wenn es heute noch an solchen nicht fehlt, die es nicht wissen, inwiefern es unanständig ist,»gläubig «zu sein — oder ein Abzeichen von décadence, von gebrochnem Willen zum Leben — , morgen schon werden sie es wissen. Meine Stimme erreicht auch die Harthörigen. — Es scheint, wenn anders ich mich nicht verhört habe, dass es unter Christen eine Art Criterium der Wahrheit giebt, das man» den Beweis der Kraft «nennt.»Der Glaube macht selig: also ist er wahr.«— Man dürfte hier zunächst einwenden, dass gerade das Seligmachen nicht bewiesen, sondern nur versprochen ist: die Seligkeit an die Bedingung des» Glaubens «geknüpft, — man soll selig werden, weil man glaubt… Aber dass thatsächlich eintritt, was der Priester dem Gläubigen für das jeder Controle unzugängliche» Jenseits «verspricht, womit bewiese sich das? — Der angebliche» Beweis der Kraft «ist also im Grunde wieder nur ein Glaube daran, dass die Wirkung nicht ausbleibt, welche man sich vom Glauben verspricht. In Formel:»ich glaube, dass der Glaube selig macht; — folglich ist er wahr.«— Aber damit sind wir schon am Ende. Dies» folglich «wäre das absurdum selbst als Criterium der Wahrheit. — Setzen wir aber, mit einiger Nachgiebigkeit, dass das Seligmachen durch den Glauben bewiesen sei — nicht nur gewünscht, nicht nur durch den etwas verdächtigen Mund eines Priesters versprochen: wäre Seligkeit, — technischer geredet, Lust jemals ein Beweis der Wahrheit?

So wenig, dass es beinahe den Gegenbeweis, jedenfalls den höchsten Argwohn gegen» Wahrheit «abgiebt, wenn Lustempfindungen über die Frage» was ist wahr «mitreden. Der Beweis der» Lust «ist ein Beweis für» Lust«, — nichts mehr; woher um Alles in der Welt stünde es fest, dass gerade wahre Urtheile mehr Vergnügen machten als falsche, und, gemäss einer prästabilirten Harmonie, angenehme Gefühle mit Nothwendigkeit hinter sich drein zögen? — Die Erfahrung aller strengen, aller tief gearteten Geister lehrt das Umgekehrte. Man hat jeden Schritt breit Wahrheit sich abringen müssen, man hat fast Alles dagegen preisgeben müssen, woran sonst das Herz, woran unsre Liebe, unser Vertrauen zum Leben hängt. Es bedarf Grösse der Seele dazu: der Dienst der Wahrheit ist der härteste Dienst. — Was heisst denn rechtschaffen sein in geistigen Dingen? Dass man streng gegen sein Herz ist, dass man die» Schönen Gefühle «verachtet, dass man sich aus jedem Ja und Nein ein Gewissen macht! — — Der Glaube macht selig: folglich lügt er…

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Dass der Glaube unter Umständen selig macht, dass Seligkeit aus einer fixen Idee noch nicht eine wahre Idee macht, dass der Glaube keine Berge versetzt, wohl aber Berge hinsetzt, wo es keine giebt: ein flüchtiger Gang durch ein Irrenhaus klärt zur Genüge darüber auf. Nicht freilich einen Priester: denn der leugnet aus Instinkt, dass Krankheit Krankheit, dass Irrenhaus Irrenhaus ist. Das Christenthum hat die Krankheit nöthig, ungefähr wie das Griechenthum einen Überschuss von Gesundheit nöthig hat, — krank — machen ist die eigentliche Hinterabsicht des ganzen Heilsprozeduren-System's der Kirche. Und die Kirche selbst — ist sie nicht das katholische Irrenhaus als letztes Ideal? — Die Erde überhaupt als Irrenhaus? — Der religiöse Mensch, wie ihn die Kirche will, ist ein typischer décadent; der Zeitpunkt, wo eine religiöse Krisis über ein Volk Herr wird, ist jedes Mal durch Nerven-Epidemien gekennzeichnet; die» innere Welt «des religiösen Menschen sieht der» inneren Welt «der Überreizten und Erschöpften zum Verwechseln ähnlich; die» höchsten «Zustände, welche das Christenthum als Werth aller Werthe über der Menschheit aufgehängt hat, sind epileptoide Formen, — die Kirche hat nur Verrückte oder grosse Betrüger in majorem dei honorem heilig gesprochen… Ich habe mir einmal erlaubt, den ganzen christlichen Buss- und Erlösungstraining (den man heute am besten in England studirt) als eine methodisch erzeugte folie circulaire zu bezeichnen, wie billig, auf einem bereits dazu vorbereiteten, das heisst gründlich morbiden Boden. Es steht Niemandem frei, Christ zu werden: man wird nicht zum Christenthum» bekehrt«, — man muss krank genug dazu sein… Wir Anderen, die wir den Muth zur Gesundheit und auch zur Verachtung haben, wie dürfen wir eine Religion verachten, die den Leib missverstehn lehrte! die den Seelen-Aberglauben nicht loswerden will! die aus der unzureichenden Ernährung ein» Verdienst «macht! die in der Gesundheit eine Art Feind, Teufel, Versuchung bekämpft! die sich einredete, man könne eine» vollkommne Seele «in einem Cadaver von Leib herumtragen, und dazu nöthig hatte, einen neuen Begriff der» Vollkommenheit «sich zurecht zu machen, ein bleiches, krankhaftes, idiotisch-schwärmerisches Wesen, die sogenannte» Heiligkeit«, — Heiligkeit, selbst bloss eine Symptomen-Reihe des verarmten, entnervten, unheilbar verdorbenen Leibes!… Die christliche Bewegung, als eine europäische Bewegung, ist von vornherein eine Gesammt-Bewegung der Ausschuss- und Abfalls-Elemente aller Art: — diese will mit dem Christenthum zur Macht. Sie drückt nicht den Niedergang einer Rasse aus, sie ist eine Aggregat-Bildung sich zusammendrängender und sich suchender Décadence-Formen von überall. Es ist nicht, wie man glaubt, die Corruption des Alterthums selbst, des vornehmen Alterthums, was das Christenthum ermöglichte: man kann dem gelehrten Idiotismus, der auch heute noch so Etwas aufrecht erhält, nicht hart genug widersprechen. In der Zeit, wo die kranken, verdorbenen Tschandala-Schichten im ganzen imperium sich christianisirten, war gerade der Gegentypus, die Vornehmheit, in ihrer schönsten und reifsten Gestalt vorhanden. Die grosse Zahl wurde Herr; der Demokratismus der christlichen Instinkte siegte… Das Christenthum war nicht» national«, nicht rassebedingt, — es wendete sich an jede Art von Enterbten des Lebens, es hatte seine Verbündeten überall. Das Christenthum hat die rancune der Kranken auf dem Grunde, den Instinkt gegen die Gesunden, gegen die Gesundheit gerichtet. Alles Wohlgerathene, Stolze, Übermüthige, die Schönheit vor Allem thut ihm in Ohren und Augen weh. Nochmals erinnre ich an das unschätzbare Wort des Paulus.»Was schwach ist vor der Welt, was thöricht ist vor der Welt, das Unedle und Verachtete vor der Welt hat Gott erwählt«: das war die Formel, in hoc signo siegte die décadence. — Gott am Kreuze — versteht man immer noch die furchtbare Hintergedanklichkeit dieses Symbols nicht? — Alles, was leidet, Alles, was am Kreuze hängt, ist göttlich… Wir Alle hängen am Kreuze, folglich sind wir göttlich… Wir allein sind göttlich… Das Christenthum war ein Sieg, eine vornehmere Gesinnung gieng an ihm zu Grunde, — das Christenthum war bisher das grösste Unglück der Menschheit. -

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Das Christenthum steht auch im Gegensatz zu aller geistigen Wohlgerathenheit, — es kann nur die kranke Vernunft als christliche Vernunft brauchen, es nimmt die Partei alles Idiotischen, es spricht den Fluch aus gegen den» Geist«, gegen die superbia des gesunden Geistes. Weil die Krankheit zum Wesen des Christenthums gehört, muss auch der typisch christliche Zustand,»der Glaube«, eine Krankheitsform sein, müssen alle geraden, rechtschaffnen, wissenschaftlichen Wege zur Erkenntniss von der Kirche als verbotene Wege abgelehnt werden. Der Zweifel bereits ist eine Sünde… Der vollkommne Mangel an psychologischer Reinlichkeit beim Priester — im Blick sich verrathend — ist eine Folge erscheinung der décadence, — man hat die hysterischen Frauenzimmer, andrerseits rhachitisch angelegte Kinder darauf hin zu beobachten, wie regelmässig Falschheit aus Instinkt, Lust zu lügen, um zu lügen, Unfähigkeit zu geraden Blicken und Schritten der Ausdruck von décadence ist.»Glaube «heisst Nicht-wissen-wollen, was wahr ist. Der Pietist, der Priester beiderlei Geschlechts, ist falsch, weil er krank ist: sein Instinkt verlangt, dass die Wahrheit an keinem Punkt zu Rechte kommt.»Was krank macht, ist gut; was aus der Fülle, aus dem Überfluss, aus der Macht kommt, ist böse «so empfindet der Gläubige. Die Unfreiheit zur Lüge daran errathe ich jeden vorherbestimmten Theologen. — Ein andres Abzeichen des Theologen ist sein Unvermögen zur Philologie. Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen Sinne, die Kunst, gut zu lesen, verstanden werden, — Thatsachen ablesen können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen, ohne im Verlangen nach Verständniss die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren. Philologie als Ephexis in der Interpretation: handle es sich nun um Bücher, um Zeitungs-Neuigkeiten, um Schicksale oder Wetter-Thatsachen, — nicht zu reden vom» Heil der Seele«… Die Art, wie ein Theolog, gleichgültig ob in Berlin oder in Rom, ein» Schriftwort «auslegt oder ein Erlebniss, einen Sieg des vaterländischen Heers zum Beispiel unter der höheren Beleuchtung der Psalmen Davids, ist immer dergestalt kühn, dass ein Philolog dabei an allen Wänden emporläuft. Und was soll er gar anfangen, wenn Pietisten und andre Kühe aus dem Schwabenlande den armseligen Alltag und Stubenrauch ihres Daseins mit dem» Finger Gottes «zu einem Wunder von» Gnade«, von» Vorsehung«, von» Heilserfahrungen «zurechtmachen! Der bescheidenste Aufwand von Geist, um nicht zu sagen von Anstand, müsste diese Interpreten doch dazu bringen, sich des vollkommen Kindischen und Unwürdigen eines solchen Missbrauchs der göttlichen Fingerfertigkeit zu überführen. Mit einem noch so kleinen Maasse von Frömmigkeit im Leibe sollte uns ein Gott, der zur rechten Zeit vom Schnupfen kurirt oder der uns in einem Augenblick in die Kutsche steigen heisst, wo gerade ein grosser Regen losbricht, ein so absurder Gott sein, dass man ihn abschaffen müsste, selbst wenn er existirte. Ein Gott als Dienstbote, als Briefträger, als Kalendermann, — im Grunde ein Wort für die dümmste Art aller Zufälle… Die» göttliche Vorsehung«, wie sie heute noch ungefähr jeder dritte Mensch im» gebildeten Deutschland «glaubt, wäre ein Einwand gegen Gott, wie er stärker gar nicht gedacht werden könnte. Und in jedem Fall ist er ein Einwand gegen Deutsche!…

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Dass Märtyrer Etwas für die Wahrheit einer Sache beweisen, ist so wenig wahr, dass ich leugnen möchte, es habe je ein Märtyrer überhaupt Etwas mit der Wahrheit zu thun gehabt. In dem Tone, mit dem ein Märtyrer sein Für-wahr-halten der Welt an den Kopf wirft, drückt sich bereits ein so niedriger Grad intellektueller Rechtschaffenheit, eine solche Stumpfheit für die Frage Wahrheit aus, dass man einen Märtyrer nie zu widerlegen braucht. Die Wahrheit ist Nichts, was Einer hätte und ein Andrer nicht hätte: so können höchstens Bauern oder Bauern-Apostel nach Art Luther's über die Wahrheit denken. Man darf sicher sein, dass je nach dem Grade der Gewissenhaftigkeit in Dingen des Geistes die Bescheidenheit, die Bescheidung in diesem Punkte immer grösser wird. In fünf Sachen wissen, und mit zarter Hand es ablehnen, sonst zu wissen…»Wahrheit«, wie das Wort jeder Prophet, jeder Sektirer, jeder Freigeist, jeder Socialist, jeder Kirchenmann versteht, ist ein vollkommner Beweis dafür, dass auch noch nicht einmal der Anfang mit jener Zucht des Geistes und Selbstüberwindung gemacht ist, die zum Finden irgend einer kleinen, noch so kleinen Wahrheit noth thut. — Die Märtyrer-Tode, anbei gesagt, sind ein grosses Unglück in der Geschichte gewesen: sie verführten… Der Schluss aller Idioten, Weib und Volk eingerechnet, dass es mit einer Sache, für die jemand in den Tod geht (oder die gar, wie das erste Christenthum, todsüchtige Epidemien erzeugt) Etwas auf sich hat, — dieser Schluss ist der Prüfung, dem Geist der Prüfung und Vorsicht unsäglich zum Hemmschuh geworden. Die Märtyrer schadeten der Wahrheit… Auch heute noch bedarf es nur einer Crudität der Verfolgung, um einer an sich noch so gleichgültigen Sektirerei einen ehrenhaften Namen zu schaffen. — Wie? ändert es am Werthe einer Sache Etwas, dass jemand für sie sein Leben lässt? — Ein Irrthum, der ehrenhaft wird, ist ein Irrthum, der einen Verführungsreiz mehr besitzt: glaubt ihr, dass wir euch Anlass geben würden, ihr Herrn Theologen, für eure Lüge die Märtyrer zu machen? — Man widerlegt eine Sache, indem man sie achtungsvoll auf's Eis legt, — ebenso widerlegt man auch Theologen… Gerade das war die welthistorische Dummheit aller Verfolger, dass sie der gegnerischen Sache den Anschein des Ehrenhaften gaben, — dass sie ihr die Fascination des Martyriums zum Geschenk machten… Das Weib liegt heute noch auf den Knien vor einem Irrthum, weil man ihm gesagt hat, dass jemand dafür am Kreuze starb. Ist denn das Kreuz ein Argument? — Aber über alle diese Dinge hat Einer allein das Wort gesagt, das man seit Jahrtausenden nöthig gehabt hätte, — Zarathustra.

Blutzeichen schrieben sie auf den Weg, den sie giengen, und ihre Thorheit lehrte, dass man mit Blut Wahrheit beweise.

Aber Blut ist der schlechteste Zeuge der Wahrheit; Blut vergiftet die reinste Lehre noch zu Wahn und Hass der Herzen.

Und wenn Einer durch's Feuer gienge für seine Lehre, — was beweist dies! Mehr ist's wahrlich, dass aus eignem Brande die eigne Lehre kommt.

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Man lasse sich nicht irreführen: grosse Geister sind Skeptiker. Zarathustra ist ein Skeptiker. Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Überkraft des Geistes beweist sich durch Skepsis. Menschen der Überzeugung kommen für alles Grundsätzliche von Werth und Unwerth gar nicht in Betracht. Überzeugungen sind Gefängnisse. Das sieht nicht weit genug, das sieht nicht unter sich: aber um über Werth und Unwerth mitreden zu dürfen, muss man fünfhundert Überzeugungen unter sich sehn, — hinter sich sehn… Ein Geist, der Grosses will, der auch die Mittel dazu will, ist mit Nothwendigkeit Skeptiker. Die Freiheit von jeder Art Überzeugungen gehört zur Stärke, das Frei-Blicken-können… Die grosse Leidenschaft, der Grund und die Macht seines Seins, noch aufgeklärter, noch despotischer als er selbst es ist, nimmt seinen ganzen Intellekt in Dienst; sie macht unbedenklich; sie giebt ihm Muth sogar zu unheiligen Mitteln; sie gönnt ihm unter Umständen Überzeugungen. Die Überzeugung als Mittel: Vieles erreicht man nur mittelst einer Überzeugung. Die grosse Leidenschaft braucht, verbraucht Überzeugungen, sie unterwirft sich ihnen nicht, — sie weiss sich souverain. — Umgekehrt: das Bedürfniss nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, der Carlylismus, wenn man mir dies Wort nachsehn will, ist ein Bedürfniss der Schwäche. Der Mensch des Glaubens, der» Gläubige «jeder Art ist nothwendig ein abhängiger Mensch, — ein Solcher, der sich nicht als Zweck, der von sich aus überhaupt nicht Zwecke ansetzen kann. Der» Gläubige «gehört sich nicht, er kann nur Mittel sein, er muss verbraucht werden, er hat jemand nöthig, der ihn verbraucht. Sein Instinkt giebt einer Moral der Entselbstung die höchste Ehre: zu ihr überredet ihn Alles, seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Jede Art Glaube ist selbst ein Ausdruck von Entselbstung, von Selbst-Entfremdung… Erwägt man, wie nothwendig den Allermeisten ein Regulativ ist, das sie von aussen her bindet und festmacht, wie der Zwang, in einem höheren Sinn die Sklaverei, die einzige und letzte Bedingung ist, unter der der willensschwächere Mensch, zumal das Weib, gedeiht: so versteht man auch die Überzeugung, den» Glauben«. Der Mensch der Überzeugung hat in ihr sein Rückgrat. Viele Dinge nicht sehn, in keinem Punkte unbefangen sein, Partei sein durch und durch, eine strenge und nothwendige Optik in allen Werthen haben — das allein bedingt es, dass eine solche Art Mensch überhaupt besteht. Aber damit ist sie der Gegensatz, der Antagonist des Wahrhaftigen, — der Wahrheit… Dem Gläubigen steht es nicht frei, für die Frage» wahr «und» unwahr«überhaupt ein Gewissen zu haben: rechtschaffen sein an dieser Stelle wäre sofort sein Untergang. Die pathologische Bedingtheit seiner Optik macht aus dem Überzeugten den Fanatiker — Savonarola, Luther, Rousseau, Robespierre, Saint-Simon — den Gegensatz-Typus des starken, des freigewordnen Geistes. Aber die grosse Attitüde dieser kranken Geister, dieser Epileptiker des Begriffs, wirkt auf die grosse Masse, — die Fanatiker sind pittoresk, die Menschheit sieht Gebärden lieber als dass sie Gründe hört…

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— Einen Schritt weiter in der Psychologie der Überzeugung, des» Glaubens«. Es ist schon lange von mir zur Erwägung anheimgegeben worden, ob nicht die Überzeugungen gefährlichere Feinde der Wahrheit sind als die Lügen (Menschliches, Allzumenschliches S. <331>) Dies Mal möchte ich die entscheidende Frage thun: besteht zwischen Lüge und Überzeugung überhaupt ein Gegensatz? — Alle Welt glaubt es; aber was glaubt nicht alle Welt! — Eine jede Überzeugung hat ihre Geschichte, ihre Vorformen, ihre Tentativen und Fehlgriffe: sie wird Überzeugung, nachdem sie es lange nicht ist, nachdem sie es noch länger kaum ist. Wie? könnte unter diesen Embryonal-Formen der Überzeugung nicht auch die Lüge sein? — Mitunter bedarf es bloss eines Personen-Wechsels: im Sohn wird Überzeugung, was im Vater noch Lüge war. — Ich nenne Lüge Etwas nicht sehn wollen, das man sieht, Etwas nicht so sehn wollen, wie man es sieht: ob die Lüge vor Zeugen oder ohne Zeugen statt hat, kommt nicht in Betracht. Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt; das Belügen Andrer ist relativ der Ausnahmefall. — Nun ist dies Nicht-sehn-wollen, was man sieht, dies Nicht-so-sehn-wollen, wie man es sieht, beinahe die erste Bedingung für Alle, die Partei sind in irgend welchem Sinne: der Parteimensch wird mit Nothwendigkeit Lügner. Die deutsche Geschichtsschreibung zum Beispiel ist überzeugt, dass Rom der Despotismus war, dass die Germanen den Geist der Freiheit in die Welt gebracht haben: welcher Unterschied ist zwischen dieser Überzeugung und einer Lüge? Darf man sich noch darüber wundern, wenn, aus Instinkt, alle Parteien, auch die deutschen Historiker, die grossen Worte der Moral im Munde haben, — dass die Moral beinahe dadurch fortbesteht, dass der Parteimensch jeder Art jeden Augenblick sie nöthig hat? — »Dies ist unsre Überzeugung: wir bekennen sie vor aller Welt, wir leben und sterben für sie, — Respekt vor Allem, was Überzeugungen hat!«— dergleichen habe ich sogar aus dem Mund von Antisemiten gehört. Im Gegentheil, meine Herrn! Ein Antisemit wird dadurch durchaus nicht anständiger, dass er aus Grundsatz lügt… Die Priester, die in solchen Dingen feiner sind und den Einwand sehr gut verstehn, der im Begriff einer Überzeugung, das heisst einer grundsätzlichen, weil zweckdienlichen Verlogenheit liegt, haben von den Juden her die Klugheit überkommen, an dieser Stelle den Begriff» Gott«,»Wille Gottes«,»Offenbarung Gottes «einzuschieben. Auch Kant, mit seinem kategorischen Imperativ, war auf dem gleichen Wege: seine Vernunft wurde hierin praktisch. — Es giebt Fragen, wo über Wahrheit und Unwahrheit dem Menschen die Entscheidung nicht zusteht; alle obersten Fragen, alle obersten Werth-Probleme sind jenseits der menschlichen Vernunft… Die Grenzen der Vernunft begreifen — das erst ist wahrhaft Philosophie… Wozu gab Gott dem Menschen die Offenbarung? Würde Gott etwas Überflüssiges gethan haben? Der Mensch kann von sich nicht selber wissen, was gut und böse ist, darum lehrte ihn Gott seinen Willen… Moral: der Priester lügt nicht, — die Frage» wahr «oder» unwahr «in solchen Dingen, von denen Priester reden, erlaubt gar nicht zu lügen. Denn um zu lügen, müsste man entscheiden können, was hier wahr ist. Aber das kann eben der Mensch nicht; der Priester ist damit nur das Mundstück Gottes. — Ein solcher Priester-Syllogismus ist durchaus nicht bloss jüdisch und christlich: das Recht zur Lüge und die Klugheit der» Offenbarung «gehört dem Typus Priester an, den décadence-Priestern so gut als den Heidenthums-Priestern (— Heiden sind Alle, die zum Leben ja sagen, denen» Gott «das Wort für das grosse Ja zu allen Dingen ist) — Das» Gesetz«, der» Wille Gottes«, das» heilige Buch«, die» Inspiration«— Alles nur Worte für die Bedingungen, unter denen der Priester zur Macht kommt, mit denen er seine Macht aufrecht erhält, — diese Begriffe finden sich auf dem Grunde aller Priester-Organisationen, aller priesterlichen oder philosophisch-priesterlichen Herrschafts-Gebilde. Die» heilige Lüge«— dem Confucius, dem Gesetzbuch des Manu, dem Muhamed, der christlichen Kirche gemeinsam: sie fehlt nicht bei Plato.»Die Wahrheit ist da«: dies bedeutet, wo nur es laut wird, der Priester lügt…

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