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ERSTES BUCH

AUS DEM TAGEBUCH DES DR. SCHULTHEISS, LAGERARZT IN STALINGRAD:

Alles riecht heute wieder nach Kohlsuppe.

Die Baracke, das enge Zimmer, das Bett, die dicken gesteppten Jacken, die Pelzmütze, die Handschuhe, der blecherne Eßnapf, die tausendfach gestopften Socken… alles, alles! Sogar die Primel vor dem Fenster des Zimmers 3, dem Zimmer unseres Oberarztes Dr. von Sellnow. Woher sie kam, diese Primel… keiner weiß es. Sie war plötzlich da, stand auf dem schmalen Fenstersims und sah hinaus auf die unendliche Weite der Wolgaebene. Der Wind von Stalingrad flüsterte in ihren Blättern, ihre Blüten wiegten sich leicht, und oft standen wir davor, hatten die Hände um diese blaßrote Blüte gelegt und träumten von den Primeln zu Hause. Überall gab es diese Blume in der Heimat, sie wurde hier ein Stück Deutschland, heimatlos wie wir, verpflanzt und doch lebend. Mein Gott, wie dumm sind die Gedanken, wenn man Heimweh hat.

Hinter meinem Rücken ging der Oberarzt hin und her. Seine kurzen, stämmigen Beine stampften den Dielenboden, als wolle er die Nägel einzeln festtreten. In seinem Gesicht, dem breiten Gesicht mit den weit auseinanderstehenden Augen und der hohen Stirn, sah ich Ratlosigkeit und tiefes Entsetzen.

«Ein Saustall, Schultheiß«, schrie er aufgebracht und schlug wütend mit der Faust gegen die Wand.»Ein Saustall, aber kein Lazarett. Keine Medikamente, keine Spritzen, keine Instrumente — nicht mal ein Chirurgenmesser. Womit sollen wir behandeln, womit sollen wir operieren? Ein paar alte dreckige Lappen als Verbandszeug, vier alte verrostete Gefäßklemmen, mit denen der Iwan offenbar Kerzen geschneuzt hat und die der Pelz dann vom Müllhaufen herunterholte — das ist so ungefähr das ganze Inventar dieses sogenannten Lazaretts!«

Er nahm seinen Marsch durchs Zimmer wieder auf.»Ich sage Ihnen, Schultheiß, bei den Arbeitsbedingungen, die unsere Männer hier haben, werden wir Krankheiten und Unfälle am laufenden Band haben. Zertrümmerungen und Quetschungen und Knochenbrüche, ansteckende Krankheiten, Gelbsucht und >Dystrophie< — wie man hier so schön sagt, wenn einer drauf und dran ist, vor Hunger zu krepieren!«

Er pflanzte sich vor mir auf und schrie mich an:»Aber ich werde mich weigern, Schultheiß! Ich werde den Teufel tun, ich werde nein schreien und dieser russischen Ärztin, diesem Weibsstück, ins Gesicht schlagen. >Ihr Deutsche seid doch Genies<, grinst sie mich an, >was braucht ihr teure Medikamente und Instrumente, das Genie behandelt mit der Improvisation…< — das sagt mir dieses Mistvieh! Und wir müssen die Schnauze halten, wir müssen kuschen, wir müssen es schlucken, wir verdammten, rechtlosen, stinkenden Plennis. Aber ich werde hier nicht den Arzt spielen, ich nicht, Schultheiß!«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.

«Herein!«rief Sellnow mit Stentorstimme, und unser Sanitäter Pelz trat in den Raum.

«Tschuldjen Se, Herr Oberarzt, der Chef nicht hier?«rief Pelz aufgeregt:»Mit Nummer 4583 steht et schlecht… er hat große Schmerzen, und det Opium hilft nischt mehr!«

«Da haben wir's«, schrie Sellnow,»ich habe ja von Anfang an gesagt, daß diese konservative nichtchirurgische Behandlung einer Blinddarmentzündung ein Quatsch ist, jetzt haben wir die Bescherung.«

«Glauben Sie, Herr Oberarzt«, fragte ich leise und erschrocken,»daß der Appendix durchgebrochen ist?«

«Was haben Sie denn gedacht?«schrie mich Sellnow an.»Selbstverständlich ist das eine Perforation, der Mann muß sofort operiert werden. «Und dann schlug er sich mit der Faust gegen die Stirn und schrie:»Aber womit, Schultheiß, womit, wir haben noch nicht einmal ein lausiges Skalpell!«

Sein Gesicht war knallrot angelaufen. Er sah geradezu beängstigend aus. Ich wollte etwas Beruhigendes sagen, als sich die Tür öffnete: Dr. Fritz Böhler, unser Chef, mußte sich etwas bücken, um mit dem Kopf nicht an den oberen Balken zu stoßen. Sein langes schmales Gesicht mit der überhohen Stirn, den mandelförmigen Augen, der langen Nase mit dem engen Sattel und dem zusammengekniffenen dünnlippigen Mund trug deutlich den Stempel, den ihm Jahre der Kriegsgefangenschaft aufgeprägt hatten. Das an den Schläfen ergraute Haar hatte die peinliche Ordnung verloren, auf die er so großen Wert legte. Seine schmutzige Wolljacke stand über der Brust offen, das Hemd darunter war zerknittert und feucht von Schweiß.

«Gehen Sie hinüber, Pelz«, sagte er leise,»und bereiten Sie den Patienten auf die Operation vor.«

Der Sanitäter Pelz sah ihn erstaunt an und ging dann wortlos hinaus.

«Und womit wollen Herr Stabsarzt operieren?«fragte Sellnow und machte nicht einmal den Versuch, den Hohn in seiner Stimme zu unterdrücken.

«Natürlich mit dem Messer, Herr von Sellnow«, antwortete Böhler ungerührt.

Sellnow hob die Hand mit einer Geste, die >wohl verrückt geworden< bedeuten konnte, dann besann er sich und ließ die Hand sinken. Er trat an Böhler heran und fragte heiser:»Mit welchem Messer?«

Böhler griff in die Tasche und zog dann die Hand wieder heraus. Als er sie öffnete, lag ein Taschenmesser darin. Ein gewöhnliches, altes zweiklingiges Taschenmesser, wie wir es alle als Jungen in billigen Geschäften kauften.

«Einer unserer Leute hat es mir gegeben«, lachte Dr. Böhler,»der gute Kerl hat verstanden, es vor allen Filzungen durch die Russen zu retten.«

Während wir den Gang entlanggingen, vorbei an den drei großen Zimmern, in denen über siebzig Kranke und Verletzte lagen, vorbei auch an den drei Zimmern, in denen die russische Ärztin, Dr. Alexandra Kasalinsskaja, arbeitete, stieß mich Sellnow an.

«Wer assistiert?«fragte er leise.

«Ich nehme an, Sie.«

«Ich habe keinen Mut mehr, Schultheiß. Mit einem Taschenmesser ein perforierter Appendix! Wenn ich jemals in die Lage kommen sollte, das im alten Deutschland zu erzählen, halten sie mich für einen wüsten Aufschneider. Mir ist lieber, Sie assistieren und ich mache die Narkose.«

«Aber… ich habe nicht viel Übung, und es wird sicher schwierig werden.«

«Das wird weder sehr schwierig noch sehr langwierig«, prophezeite Sellnow düster.

Wir betraten den >Operationssaal<. Es war ein etwas größeres Zimmer mit einem weißbezogenen Tisch. Auf ihm lag schon der Patient Nummer 4583. Emil Pelz stand neben dem Tisch und sprach leise auf den Kranken ein. Als wir eintraten, kam er uns entgegen und sagte nur für uns verständlich:

«Puls klein und ziemlich schnell, Herr Stabsarzt, schwankt zwischen hundertzwanzig und hundertvierzig, sieht nicht jut aus!«

Dr. Böhler wandte sich den auf einem Tisch stehenden Waschschüsseln zu. Pelz half ihm aus der Jacke, und Böhler begann sich zu waschen.

«Legen Sie dem Patienten einen Sandsack oder was Sie sonst haben unter die rechte Hüfte«, sagte er,»und reinigen Sie das Operationsgebiet, Rasieren nicht vergessen.«

Sellnow war an den Kranken herangetreten und tastete behutsam mit beiden Händen die Gegend des rechten Unterbauchs ab. Der Kranke begann sofort vor Schmerz zu stöhnen. Sellnow ließ augenblicklich von ihm ab, sprach ein paar beruhigende Worte und trat dann ebenfalls an die Waschschüssel.

«Ich übernehme die Assistenz«, sagte er heiser vor Wut,»und machen Sie die Narkose«, fügte er zu mir gewandt hinzu. Mit heftigen Gebärden trug er sich grüne Schmierseife auf Hände und Unterarme auf, feuchtete sie an, griff sich aus einem Behälter eine Handvoll Sand und begann sich mit diesen primitiven Mitteln zu waschen. Pelz hatte die Instrumente, die für die Operation zur Verfügung standen, in einen Kessel mit Wasser gesteckt, der auf einem Petroleumkocher summte. Es war kläglich, was ich da sah: ein paar Gefäßklemmen, ein paar Stücke Draht, die zu Wundhaken zurechtgebogen waren, und das klägliche Taschenmesser, sonst nichts. Mich schauderte.

Plötzlich wurde mir siedend heiß. Ich trat zu Pelz, der das Operationsfeld gereinigt hatte und die Umgebung mit alten, zerschlissenen Baumwollfetzen abdeckte.»Mensch, Pelz«, sagte ich,»wir haben ja kein Nähmaterial, weder Catgut noch Seide.«

«Lassen Sie man, Herr Doktor«, grinste Pelz,»dafür ha ick schon jesorcht. Ick hab der Bascha, dem Küchentrampel, ihren seidenen Schal jeklaut und uffjerebbelt. Wir ham jetzt ein paar Kilometer prima Seidenjarn… was wir für die Operation brauchen, kocht da drüben in dem Topp.«

Ich hatte eben das, was wir stolz unser Instrumentarium nennen durften, auf ein Tablett ausgebreitet und auf einen Stuhl neben den Operationstisch gestellt, als die Kasalinsskaja den >Operationssaal< betrat.

Ihre erdbraune Uniformjacke war über der Brust geöffnet und ließ die rote Bluse, die sie darunter trug, sehen. Die langen, schwarzen Haare hingen ihr auf die Schultern und die breiten Schulterstücke. Sie trug flache, dick besohlte Sportschuhe und Seidenstrümpfe. Außerdem rauchte sie eine süß duftende türkische Zigarette.

Sellnow trat auf sie zu und schrie sie an:»Was machen Sie denn hier?! Und auch noch rauchen, im Operationszimmer! Wohl verrückt geworden, was?!«

Die russische Ärztin sah Sellnow groß an und warf die Zigarette in den Eimer, der für blutige Verbände, herausgeschnittene Organe und andere Abfälle dienen sollte. Sie schob mit ihrer kleinen, etwas gelben Hand den Oberarzt zur Seite und trat zu Böhler, der, die gereinigten Arme vorsichtig vor sich hinhaltend, Pelz Anweisungen bei der Lagerung und beim Festschnallen des Patienten gab. Pelz bediente sich dabei alter Lederriemen und zerschnittener Koppel.

Die Kasalinsskaja blickte auf den Patienten und nickte.

«Appendizitis«, sagte sie. Sie besaß eine schöne Stimme. Dunkel, schwingend, eine Stimme mit Melodie. Ihre Lippen öffneten sich beim Sprechen, als sei jedes Wort ein Kuß, und in ihre Augen trat ein Glanz, der sie fast schön machte — wenn man vergessen konnte, daß sie die Ärztin war, die jede Woche von Außenlager zu Außenlager fuhr und dort rücksichtslos die Männer in die Wälder, Steinbrüche, Bergwerke und auf die Bauten nach Stalingrad jagte, mit dem stereotypen Wort:»Gesund!«Gesund auch dann, wenn sie vor Hunger und Entkräftung schwankten, wenn Furunkel ihren Körper bedeckten, wenn das Fieber sie schüttelte… rabotat nada… dawai… dawai…

Ihr habt Stalingrad zermalmt… ihr habt die schöne Stadt an der Wolga pulverisiert… nun baut sie wieder auf… und wenn es sein muß, mit euren Knochen! Mit eurem Blut als Mörtel, mit eurem Fleisch als Steinen, mit euren letzten Seufzern als Richtspruch!

Dr. Böhler sah herüber.»Fertig mit den Instrumenten?«

«Der Stiel hat sich durch das kochende Wasser vom Schaft gelöst«, antwortete ich leise.

«Macht nichts«, meinte Böhler,»wenn der Holzstiel weg ist, können wir es wenigstens besser sterilisieren — soweit hier von Sterilität überhaupt die Rede sein kann«, fügte er traurig lächelnd hinzu.

Er drehte sich nach Sellnow um, der noch immer mit dem Reinigen seiner Hände beschäftigt war, und rief:»Sind Sie fertig, Sell-now?«und dann zu mir:»Beginnen Sie mit der Narkose, Schultheiß. «Während ich unsere kostbare Ätherflasche öffnete und die aus Draht und Mullbinden behelfsmäßig angefertigte Narkosemaske an mich nahm, sprach Böhler einige tröstende Worte zu unserem Patienten.

«Nur mit der Ruhe, mein Junge«, sagte er,»das kriegen wir schon hin, in vierzehn Tagen sind Sie wieder auf dem Damm. «Er machte mir ein Zeichen mit dem Kopf, und ich setzte die Maske vor Mund und Nase des Kranken.

«Tief und ruhig atmen«, sagte ich zu ihm,»und von hundert rückwärts zählen, hundert, neunundneunzig, achtundneunzig und so weiter, verstanden?«

In diesem Augenblick trat die Kasalinsskaja heran und nahm mir die Ätherflasche aus der Hand.»Lassen Sie mich«, sagte sie hart und dann, gewollt gebrochen in ihrem sonst guten Deutsch:»Du geh zu Chef.«

Ich blickte auf und in das Gesicht Sellnows. Seine Augen verschlangen die Kasalinsskaja. Der Haß in seinem Blick war unverkennbar, aber auch die Bewunderung für dieses Weib mit der wunderbaren Figur.

«Haben Sie kein Skalpell?«fauchte er sie an. Sie schüttelte den Kopf.»Kein Instrument?«fuhr er fort. Sie schüttelte den Kopf.»Womit operieren Sie denn dann?«

«Ich bin Internistin, ich operiere nie. «Die Kasalinsskaja lächelte, wirklich, sie lächelte Sellnow an und begann dann ungerührt den Äther auf die Maske zu tropfen.

Der Kranke hatte aufgehört zu zählen und fing plötzlich an, heftig zu zucken und sich aufzubäumen.

«Exzitation«, sagte Dr. Böhler ruhig.»Schultheiß und Pelz, halten Sie ihn fest — und Sie«, er machte eine Kopfbewegung zur Ka-salinsskaja,»tropfen Sie schneller.«

Der Zwischenfall war in Sekunden vorüber. Der Kranke lag ruhig atmend da. Ich griff zum Puls und meldete:»Hundertzwanzig. «Nicht einmal eine Uhr hat man oder wenigstens ein Sandglas, um den Puls richtig zählen zu können, dachte ich — da hatte Böhler schon das Messer in der Hand, legte die Linke spannend auf die Haut des Operationsfeldes und zog einen raschen Schnitt.

Während Sellnow die improvisierten Wundhaken aus Draht ansetzte und die Wunde weiter auseinanderzog, tupfte der Chirurg das Blut auf. Dem Sanitäter Pelz, der beim Tablett mit den Instrumenten stand und sie Böhler zureichte, rief er anerkennend zu:»Schneidet tadellos, das Messer«, und Pelz, der es geschliffen hatte, grinste geschmeichelt. Die Wunde klaffte nun weit, und wir konnten alle sehen, wie sich das gespannte Bauchfell hineinwölbte. Ich beobachtete die Gesichter. Böhler war ruhig und gefaßt, Sellnow erregt, und die Kasalinsskaja hatte offensichtlich Angst. Die Ätherflasche in ihrer Hand zitterte.

«Klemmen«, befahl Böhler, und ich zuckte zusammen. Schnell — reichte ich ihm zuerst die eine Klemme, die er an das Bauchfell ansetzte. Vorsichtig schüttelte er sie, um das Bauchfell von den darunterliegenden Därmen zu trennen, und reichte sie dann Sellnow. Ein paar Zentimeter entfernt setzte er die zweite Klemme an. Sell-now hob jetzt beide Klemmen leicht an, und Böhler fuhr mit dem Messer über die entstehende Falte des Bauchfelles. Es klaffte sofort breit auseinander, und nun sahen wir die Bescherung. Grüngelber, stinkender Eiter füllte den Teil der Bauchhöhle, den wir übersehen konnten.

Wir alle wußten, was das zu bedeuten hatte. Das war eine Bauchfellentzündung, zumindest in der Blinddarmgegend und offensichtlich von diesem ausgehend. Bisher hatten Böhler und Sellnow ohne besondere Eile gearbeitet, jetzt änderte sich das augenblicklich. Ich reichte dem Chirurgen einen gewöhnlichen Eßlöffel, und er holte damit den Eiter aus der Tiefe der Wunde. Dann tupfte er mit angefeuchteten Läppchen und Tupfern die Bauchhöhle aus, so gut es ging.

Sellnow griff mit beiden Händen in die Wunde und legte den Wurmfortsatz, den Appendix, frei. Das Gebilde war dick geschwollen und an mehreren Stellen aufgerissen, perforiert.

«Machen Sie das Eisen glühend«, sagte Böhler zu Pelz. Er nahm mit der Linken den Wurmfortsatz hoch, setzte eine Klemme an, und Sellnow unterband mit einem Stück Seide. Böhler durchtrennte das Gebilde und warf es in den Abfalleimer.

Pelz reichte ihm an einer gewöhnlichen Zange einen dicken, glühenden Nagel. Böhler griff, die Hand mit einem Tuch geschützt, um sie sauber zu halten, nach der Zange und tupfte mit dem heißen Eisen auf den Operationsstumpf. Es zischte und roch scharf nach verbranntem Fleisch. Eigentlich hätte man dieses Sterilisieren des Stumpfes mit einem Thermokauter oder einem Desinfektionsmittel vornehmen müssen, aber es mußte hier auch so gehen.

Wie hatte Sellnow vorhin zu mir gesagt?» Das wird weder schwierig noch langwierig. «Wie sollte dieser Kranke jemals die Bauchfellentzündung überstehen, ohne alle pflegerischen Möglichkeiten und ohne herzstützende Medikamente? Es sah wirklich verzweifelt aus, obgleich man sagen konnte, daß die Operation soweit gelungen war. Der Chef war damit beschäftigt, den Stumpf zu übernähen. Sellnow hatte ihm in eine gewöhnliche Nähnadel Seide eingefädelt, und Böhler mußte ohne Nadelhalter die Naht durchführen. Ich schaute ihm wie gebannt zu, wie er in höchster Eile, aber dennoch mit großer Präzision die Nähte zusammenzog, und schreckte förmlich auf, als er die Kasalinsskaja anschrie:

«Zum Donnerwetter, nehmen Sie die Maske weg, wollen Sie den Patienten umbringen!«

Jetzt sah ich es auch. Die Wunde war blau angelaufen. Die Ka-salinsskaja hatte zuviel Äther aufgeträufelt, und der Patient war in Gefahr, zu ersticken. Ich griff nach dem Puls und schätzte mindestens hundertsechzig Schläge. Sellnow knurrte mich an:

«Nehmen Sie dem Weibsstück die Ätherflasche weg und führen Sie die Narkose weiter. Zu nichts Vernünftigem sind diese Bestien zu gebrauchen.«

Ich tat wie befohlen. Die Ärztin überließ mir willenlos Maske und Tropfflasche. Schwankend verließ sie den Operationssaal. Sie hatte offensichtlich vollkommen schlappgemacht.

Die beiden Chirurgen standen abwartend da und beobachteten. Sie konnten nichts tun. Man mußte der Natur ihren Lauf lassen und hoffen, daß der Kranke sich von selbst erholen würde. Ich machte zusammen mit Pelz künstliche Atmung.

Wir hatten Glück. Die blauen Lippen und das fahle Gesicht färbten sich wieder, und der Puls beruhigte sich.

«Ich glaube, Sie können weitermachen, Herr Stabsarzt«, meldete ich.

«Dräns!«befahl Böhler, und Pelz brachte einen Topf, auf dessen Grund einige dünne Schläuche aus Kunststoff lagen. Es waren ursprünglich Kabelisolierungen gewesen, die der findige Böhler sich zum Dränieren bei Operationen >organisiert< hatte.

Er war damit beschäftigt, zwei der Schläuche in die Wunde einzunähen, als die Tür zum Raum stürmisch aufgerissen wurde und die Kasalinsskaja hereintrat. Sie hielt ein Paket in der Hand, reichte es mir hin und rief:

«Da habt Ihr, gutt für Peritonitis!«, worauf sie sich umdrehte und wieder hinausging. An der Tür wandte sie sich noch einmal zurück und rief:»Verdient habt Ihr es nicht!«

Ich hatte gerade wieder die Maske aufgesetzt und für den Verschluß der Wunde wieder Narkose gegeben. Verblüfft nahm ich die Tropfflasche zurück und starrte auf das Päckchen, das ich in der linken Hand hielt. >Penicillin< stand darauf und eine englische Gebrauchsanweisung. Es handelte sich offenbar um ein amerikanisches Präparat.

«Was ist denn los?«herrschte mich Böhler ungeduldig an,»machen Sie schon mit der Narkose weiter.«

«Es ist Penicillin-Pulver«, antwortete ich,»offenbar geeignet zur lokalen Behandlung der Bauchfellentzündung bei Operationen.«

«Ach — das sagenhafte Penicillin«, meinte Böhler.»Pelz, öffnen Sie das Päckchen, schaden können wir ja damit wohl nicht.«

Er ließ Sellnow reichlich Penicillin-Puder in die Wunde streuen und nähte dann mit der Hausfrauennadel und den seidenen Fäden aus dem Schal des Küchenmädchens Bauchfell und Muskulatur zusammen. Die aus der Wunde herausragenden beiden Dräns sicherte er über der Haut mit Sicherheitsnadeln.

Eine knappe Stunde hatte die Operation gedauert. Das Schicksal des Kranken lag jetzt in Gottes Hand. Pelz und zwei Leichtkranke trugen ihn hinaus in ein kleines Zimmer am Ende des Ganges, in dem die Schwerkranken lagen.

Fünf Männer: Ein Fünfundvierzigjähriger mit einer Gelbsucht. (Wir zitterten ständig, daß er alle anderen anstecken würde, aber es gab keine Möglichkeit, ihn zu isolieren.)

Ein Dreiundvierzigjähriger mit einem schweren Herzleiden und Wasser in den Beinen und im Bauch. Er war Vater von vier Kindern. Ein Verletzter, dem ein Baumstamm beide Hände abgequetscht hatte und der jetzt, nachdem wir Besitzer eines Taschenmessers wa-ren, operiert werden konnte.

Ein schwerer Fall von Hungerödem, der uns sehr zu schaffen machte.

Ein Mann mit Starrkrampf, der im Sterben lag. Der Arme war sechsunddreißig Jahre alt, jung verheiratet. In der Gefangenschaft hatte er erfahren, daß seine Frau an der Geburt ihres ersten Kindes gestorben war. Damals rannte er gegen den Stacheldrahtzaun, um sich von den russischen Posten erschießen zu lassen. Aber der Posten war an diesem Tag guter Laune und bewarf ihn mit faulem Obst. Der Lebensmüde suchte sich dann auf der Baustelle einen rostigen Nagel und stieß ihn sich in den Oberschenkel. Er lief mehrere Tage mit dem Nagel im Fleisch herum, bis sich die ersten Anzeichen des Starrkrampfes einstellten. Als er zu uns ins Lazarett kam, konnten wir nichts mehr für ihn tun, als ihn mit Opium-Pillen und Veronal füttern, den einzigen Medikamenten, über die wir aus Wehrmachtsbeständen in größeren Mengen verfügten.

Neben den Sterbenden legten wir nun Nummer 4583, den jungen Oberfähnrich Graf Burgfeld.

Vor meinem Zimmer verabschiedete ich mich von dem Oberarzt.

«Bis nachher«, sagte er.»Und kochen Sie weiter unser Taschenmesser gut aus.«

Ich nickte. Müdigkeit überfiel mich plötzlich. Ich spürte, wie die Anspannung der vergangenen Stunde sich in meinem Körper in eine grenzenlose Schlaffheit auflöste. Ich schwankte zu meinem Bett und fiel auf den Strohsack. Dann fühlte ich, wie mein Blick starr wurde, ungläubig fassungslos:

Auf dem Tisch lag ein Skalpell. Ein richtiges Skalpell. Es glänzte in der Sonne, die durch das Fenster flutete. Und neben dem Skalpell drei Nadeln, Catgut, eine Schere, ein kleiner Wundspreizer, sechs Wundhaken.

Ich fuhr in die Höhe, riß die Tür auf, rannte rufend durch den Gang. Sellnow stürzte aus der Tür. Böhler kam aus dem kleinen Todeszimmer und sah mich an.»Ein Skalpell!«schrie ich.»Wir haben ein Skalpell! Und Wundhaken und Catgut! Wir haben alles, alles!«

Und dann heulte ich, heulte wie ein kleiner Junge und lehnte mich an die Schulter Sellnows, der mein Gesicht streichelte.

Dr. Böhler war in mein Zimmer gelaufen und kam nun wieder heraus, das Skalpell in der Hand.

«Wir müssen uns bei ihr bedanken«, sagte er leise und sah Sellnow fragend an.»Wollen Sie das übernehmen, Sellnow?«Und ich sah, wie der Oberarzt rot wurde und sich schnell entfernte. Die Ka-salinsskaja, die verhaßte russische Ärztin, das Weib mit den wilden Locken und der schönen Stimme, die in den Haufen der Plennis hineinschrie:»Dawai! Dawai!«

Nun bin ich wieder allein.

Nummer 4583, der junge Oberfähnrich, schläft.

Und alles riecht heute wieder nach Kohlsuppe.

Alles.

Ich werde meine Suppe heute mittag an drei Kranke geben. Ich kann nicht essen.

Wir haben ein Skalpell.

Das Lager 5110/47 liegt außerhalb Stalingrads, nordwestlich der Wolga in einer bewaldeten Niederung. Es ist ein Lager wie alle anderen. hohe Stacheldrahtzäune, niedrige Hütten und Baracken, langgestreckt und eingeteilt in Blocks, am Zaun die halbhohen hölzernen Wachttürme, auf denen die Maschinengewehre stehen, die Scheinwerfer und die russischen Soldaten in ihren erdfarbenen Uniformen.

Ein großes Tor führt auf eine von den Gefangenen ausgebaute Straße. Neben dem Tor liegt das Haus der Wachtruppen, des Kommandanten und des Lager-Distriktarztes. Etwas außerhalb der Wohnblocks erstreckt sich die lange Krankenbaracke mit ihren vielen Fenstern, dem überdachten Eingang und der Zentralküche, die einen besonderen kleinen Ausgang durch den Drahtzaun besitzt, an dem ein schmales Postenhäuschen steht.

Der Boden des Lagers ist festgestampfte Erde. Ab und zu sieht man zwischen den Baracken einen kleinen Garten, liebevoll gepflegt und umrahmt von heimlich in den Taschen mitgebrachten Steinen von den Bauplätzen in Stalingrad. Solch ein kleiner Garten ist der Mittelpunkt der Sommerabende — und damit der Grund eines verbissenen Kampfes von Leutnant Piotr Markow gegen die ausgehungerten Plennis. Siebenmal war in der Nacht von Unbekannten die Gartenanlage zerstört worden, und achtmal wurde sie wieder aufgebaut, wurden weiße Ziersteine gestohlen, durch die schärfsten Kontrollen geschmuggelt, wurden Knollen und Stauden beschafft, ja, beim achtenmal gab es in dem heißen Sommer 1947 sogar herrliche rote und gelbe Tulpen, von denen keiner wußte, wie ihre Zwiebeln durch die Lagerkontrolle zu den Baracken gekommen waren.

Piotr Markow tobte und zertrat die Tulpen.»Das ist Revolution!«schrie er Major Worotilow an.»Rebellion! Ich lasse die Kerle auspeitschen!«Aber Worotilow winkte ab und sagte sinnend:»Warum, Genosse Leutnant? Ich liebe Blumen. Ich komme aus Kasan, der Rosenstadt.«

In Baracke II, Block 7, saßen an diesem Sommerabend Karl Georg, Julius Kerner, Peter Fischer, Hans Sauerbrunn und Karl Eberhard Möller auf einer Pritsche zusammen und spielten mit selbstgezeichneten Karten Skat. Andere standen in Gruppen herum. Beißender Qualm der Machorka-Zigaretten oder des getrockneten Tees, den viele in der geschnitzten Pfeife rauchten, durchzog den langen Raum. Ein ewiges Halbdunkel herrschte hier, ein Zwielicht, umwölkt von Gestank und Stimmen, verbaut durch Betten und Spinde, Kleider und Menschen.

«Wenn du noch mal falsch gibst, tret' ich dir in den Arsch!«sagte Julius Kerner und stieß Peter Fischer in die Seite.»So blöd bin ich noch nicht, um nicht zu sehen, daß du zwei As unten läßt und dir zuschusterst.«

Peter Fischer wollte protestieren und legte die Karten hin.»Kinder!«schrie er.»Ich spiele seit der Muttermilch Skat! Mein Vater war Skatmeister!«

«Und meiner Weihnachtsmann! Gib schon, Idiot!«

Die schmutzigen Karten mit den rührend naiven, gemalten Bildern flogen über den Tisch. Möller, in der Liste Möller 75, was er immer zu hören bekam, wenn ihn jemand anredete, drehte sich aus Zeitungspapier und getrockneten Pfefferminzblättern eine dicke Zigarette.

«Der will uns vergiften«, stellte Sauerbrunn fest. Dabei schielte er auf die dicke Zigarette.»Als ob es hier nicht genug nach den Schweißquanten Kerners stinkt!«

Im Hintergrund polterte es. Die Tür nach außen wurde aufgestoßen, jemand, der ihr am nächsten lag, brüllte» Achtung!«, und ein russischer Offizier betrat die Baracke. Er hatte seine Tellermütze in den Nacken geschoben. Bösartig musterte er die Männer, die sich lässig erhoben und so etwas wie Haltung mimten.

«Der Markow!«flüsterte Sauerbrunn.»Was haben wir denn wieder in den Garten gepflanzt?«

«Vergißmeinnicht«, grinste Karl Georg, der Gärtner der Baracke.

Hinter Piotr Markow schob sich eine schmächtige Gestalt vorbei und baute sich vor dem Tisch auf, der vor den ersten Betten stand. Der Mann trug eine abzeichenlose Uniform, sein fettes, schwarzes Haar glänzte matt. Über seinen dicken Lippen trug er einen buschigen, schwarzen Schnurrbart.

«Was will denn der Aaron hier?«flüsterte Kerner.»Wenn der mitkommt, ist immer dicke Luft.«

Jakob Aaron Utschomi, ein Jude, der als Dolmetscher für die Lagergruppe diente und aus Moskau kam, sah sich um und blickte dann Piotr Markow an, der ihm zunickte.

«Herhören!«brüllte er.»Gestern nacht ist der Küchenhilfe Bascha Tarrasowa ein seidener Schal gestohlen worden!«

«Geschieht dem Trampel recht!«flüsterte Kerner Fischer zu.

Irgendwo im dunklen Hintergrund lachte jemand meckernd.

«Schnauze dahinten!«Utschomi drehte an seinen Fingern und sah zu Markow zurück.»Der Lagerkommandant hat angeordnet: Wenn der Schal nicht bis morgen mittag bei Bascha Tarrasowa ist, erhält das Lager eine Woche lang 100 Gramm Brot weniger!«»Au Backe!«Kerner sah sich um.»Wegen einem Schal müssen ein paar tausend Mann hungern! Man sollte diesen Markow im Scheißhaus ersäufen wie eine Katze!«

«Wer da redet?!«brüllte Leutnant Markow.»Vortreten!«

Julius Kerner zögerte. Sauerbrunn stieß ihm in die Rippen.»Geh schon! Oder wir bekommen noch mal 100 Gramm abgezogen.«

Als Kerner vortrat, stürzte sich Markow auf ihn. Er faßte ihn am Hemdkragen und zog ihn zu sich heran.»Was du sagen?«schrie er wild. Sein Atem roch nach Wodka und Tabak. Er war betrunken. Kerner sah es an dem starren Blick seiner Augen.

«Ich habe gesagt, daß wir den Dieb suchen, Herr Leutnant.«

Piotr Markow stieß Kerner gegen einen Tisch. Die Kante krachte gegen seine Leiste. Kerner verzog schmerzhaft das Gesicht, aber er schwieg.

«Das gutt!«schrie Markow.»Suchen! Alle suchen! Wer Dieb findet, ein Glas Wodka! Wenn nicht findet, kein Brott!«

Er drehte sich um und verließ den Raum. Jakob Utschomi blieb noch einen Augenblick zurück und blickte in das Halbdunkel der Baracke. Er sah die Gesichter wie Schemen… aber er sah die Augen, und sie waren voll Haß und Elend.

«Der Schal ist weg, und ihr findet ihn nie! Legt zusammen und gebt Bascha ein paar Rubel für einen neuen Schal! Dann ist ja alles gut. Aber sagt es nicht Markow.«

Dann eilte er wieselgleich dem draußen vor der Baracke III brüllenden Leutnant nach.

«So ein Sauschwein!«schrie Sauerbrunn, als sich die Tür schloß.

«Der Aaron ist selbst einer der Getretenen, der kann nichts dafür. Der muß wie die Oberen pfeifen!«Kerner rieb sich stöhnend die Leiste.»Aber woher sollen wir die Rubel nehmen?«

«Ein Schal kostet bestimmt 300 Rubel!«

Fischer winkte ab.»3, 30 oder 30.000 — für uns ist jeder Rubel ein Vermögen!«

Karl Georg nahm die Karten vom Tisch und legte sie zusammen.»Eine Woche lang 100 Gramm Brot weniger! Und dann im Walde arbeiten oder auf dem Bau oder in der Grube? Das halte ich nicht aus.«

Seine Stimme schwankte. Er sah sich um und blickte in starre, verfallene Gesichter.»Welches Schwein mag wohl den verdammten Schal geklaut haben?!«

Er sprach aus, was in diesem Augenblick Tausende Gefangene dachten.

In der Lazarettbaracke saß Dr. Böhler hinter seinem Tisch und las die Krankenblätter durch, die er gewissenhaft von jedem Patienten angelegt hatte. Das Papier hatte er von Dr. Sergeij Basow Kresin, dem Distriktsarzt, bekommen, der Dr. Böhler einen dreckigen Beamten nannte, es aber doch herausgab.

Dr. Sellnow und Unterarzt Dr. Jens Schultheiß standen am Fenster und blickten hinaus in die Abendsonne, die dort unterging, wo Tausende von Kilometern entfernt ihre Heimat lag.

«Jetzt ist in Berlin sonniger Nachmittag«, meinte Sellnow düster.»Und bei Ihnen in Köln, Dr. Böhler, gehen sie jetzt im Stadtwald bummeln. Schöne Frauen flirten mit netten Männern in teuren englischen Maßanzügen und können es nicht erwarten, bis der Abend kommt. Und wir hier? Es ist zum Kotzen!«

«Sind das Ihre ganzen Sorgen, Werner?«Dr. Böhler sah von den Papieren auf.»Dann sind Sie glücklich.«

«Seit drei Jahren habe ich keine Frau mehr gesehen! Wenn das nicht verrückt macht!«

«Ich habe Ihnen da nichts voraus, Werner.«

«Sie!«Sellnow winkte ab.»Sie wirken auf mich wie ein Heiliger. Wie der selige Franziskus, der sich in einen Ameisenhaufen setzte, um seine fleischliche Lust abzutöten! Ihr Ameisenhaufen ist das Lazarett, sind die Operationen, sind Ihre schreienden Patienten. Sie haben das Zeug zu einem Einsiedler in sich. ich aber bin ein verdammt normaler Mensch, so verflucht normal, daß ich an mich halten muß, um dieses Biest von Kasalinsskaja nicht wie ein Tiger

anzufallen.«

Dr. Böhler schüttelte den Kopf und schob die Krankenpapiere zur Seite.»Sie sollten sich zusammennehmen, Werner! Ich verstehe nicht, daß Ihnen die Kohlsuppe die fleischlichen Lüste nicht besser austreibt als ein Ameisenhaufen. Unter den Hunderttausenden in den Lagern dürften Sie jedenfalls ein recht einzigartiger Fall sein.«

Sellnow setzte sich ans Fenster auf einen der Stühle, die Emil Pelz und ein anderer Sanitäter aus Baubrettern gezimmert hatten. Die Farbe hatten sie aus der Küche gestohlen, als man den Kochraum weißte.

«Ich bin jetzt 49 Jahre alt«, sagte er langsam.»Mit 32 habe ich geheiratet, als junger Oberarzt in Kiel. Als ich 35 war, wurde der Junge geboren, zwei Jahre später das Mädel. Mit 40 hatte ich eine Praxis in Frankfurt an der Oder. 1939 ging es 'raus nach Polen, dann Frankreich, dann Norwegen, dann Abstecher nach Griechenland und Italien, zuletzt dieses verfluchte Rußland. Und immer als Truppenarzt. Hauptverbandplatz, vorgeschobener Verbandplatz, Feldlazarett. Neun Jahre, neun verlorene Jahre, die mir keiner wiedergibt! Der Staat nicht, das kommende Leben nicht, und Ihr Gott erst recht nicht! Und wenn ich wieder aus diesem verdammten Stalingrad herauskomme, bin ich ein alter Mann, weißhaarig, klapprig, zu nichts mehr zu gebrauchen. «Er bedeckte die Augen mit den Händen und stöhnte.»Wenn ich daran denke«, sagte er leise,»möchte ich Schluß machen wie der arme Kerl mit dem Tetanus nebenan.«

Dr. Böhler erhob sich und trat neben Sellnow ans offene Fenster.

«Wir müssen uns nicht unterkriegen lassen wie die Tausende, die verzweifeln, wenn die russischen Nächte kommen. Wir sind Ärzte, Werner. nicht nur mit dem Skalpell oder dem Stethoskop. Wir müssen Ruhe ausströmen, Vertrauen, Stärke. Wir müssen etwas vorleben, woran wir selbst nicht glauben. Aber wir müssen so tun, als glaubten wir und wären in diesem Glauben stark für die Zukunft! Wir müssen ein Beispiel sein, Werner, ein Abbild dessen, was jeder gerne sein möchte. Auch — «, er stockte und sah die beiden Ärzte an,»auch, wenn wir selbst dabei zerbrechen! Und dieser Zusam-menbruch wiederum muß still sein, in irgendeiner Ecke, verborgen, wie es die Tiere tun, wenn sie sterben. Wir Ärzte, Werner, sind für die Tausende um uns das Licht, dem sie nachgehen und das ihnen den Weg zeigt.«

«Sie hätten Pfarrer werden sollen«, antwortete Sellnow bissig.»Unser Unterarzt sagte überhaupt nichts.«

Jens Schultheiß zuckte mit den Schultern.»Was soll ich sagen?«Er schob die Lippen etwas vor und lächelte wehmütig.»Man hat Sie um Ihr Leben betrogen, Herr Oberarzt, um Ihre Frau, Ihre Kinder. Was hat man mir genommen? An realen Werten — nichts! Ich saß auf der Universität in Erlangen und hörte Anatomie und Pathologie. Dann war Krieg, und ich kam nicht mehr zum Nachdenken. Nur eins bewegte mich in all den Jahren: Wenn du bloß da wieder herauskommst! Man hat mir nichts genommen als meine Jugend. Aber dafür liegt das Leben noch vor mir.«

«Auf das, was vor uns liegt, pfeife ich!«Sellnow schnellte vom Stuhl empor und rannte in dem kleinen, sonnigen Zimmer hin und her.»Oder glauben Sie, man läßt uns wieder zurück nach Deutschland? Als lebende Propaganda gegen den Kommunismus? Das wäre einmal ein Märchen, das wahr wird!«

Dr. Böhler stützte sich auf den Tisch und nahm ein Blatt aus der Mappe.»Nummer 9523 E«, sagte er.»Unfall im Stollen. Eine Strebe brach und begrub den Mann. Rippenquetschung und unbekannte innere Verletzungen. Wurde in der Nacht eingeliefert. Erste Betreuung hat Dr. Kresin übernommen.«

«Dieses Rindvieh!«meinte Sellnow grob.

«Dr. Kasalinsskaja hat den Fall übernommen und Tetanusantitoxin gegeben.«

«Bei 'ner Rippenquetschung!«warf Sellnow entsetzt dazwischen.

«Der Mann hatte auch Schürfungen. aber lassen wir das. Für uns ist es nur wichtig, daß sich die russischen Ärzte um unsere Arbeit kümmern, daß sie nicht mehr abseits stehen und nur gesund schreiben, sondern Interesse an unserem Gefangenenlazarett zeigen. «Er blickte Sellnow fragend an.»Was hat unsere liebe Ärztin eigentlich

gesagt, als Sie sich bei ihr für das Skalpell bedankten?«

«Sie hat mich hinausgeworfen!«sagte Sellnow und wurde rot.

«Hm. Und sonst nichts?«

«Mir genügt's!«

Ohne anzuklopfen trat in diesem Augenblick ein großer Mann, ein Bulle in erdbrauner Uniform, ins Zimmer. Er grüßte nicht, er blieb im Türrahmen stehen und sah von einem zum anderen.

«Da sind Sie!«sagte er laut.

Dr. Böhler klappte die Mappe zu und senkte grüßend den schmalen Kopf.»Ja, Dr. Kresin?«sagte er fragend.

«Sie habben operiert heute, mit Taschenmesser?«

«Ja.«

«Das ist verbotten!«

«Es war der einzige Weg, das Leben zu retten! Wir haben keine anderen Instrumente. Wir haben — das wissen Sie ja — nichts!«

«Und womit habben Sie genäht?«

«Mit Seide.«

«Woher?«

Sellnow spürte eine Falle. Ehe Dr. Böhler antworten konnte, kam er ihm zuvor und schob sich zwischen den Chefarzt und den Russen.

«Wissen Sie das denn nicht, Dr. Kresin?«fragte er dreist.»In Baracke IV, Block 1, züchten wir doch Seidenraupen!«

Dr. Sergeij Basow Kresin sah Dr. von Sellnow groß an. In seinen Augen stand Unbegreifen und Zorn. Er wischte mit der Hand durch die Luft, und seine große, tellerförmige Handfläche wirkte wie ein Fächer. Deutlich war der Luftzug zu spüren.

«Seide ist gestollen! Von Bascha aus Küche! Sie nähen mit einem Schal! Das ist unerhört!«

«Dann geben Sie uns Nähmaterial«, sagte Dr. Schultheiß laut.

«Nichts, nichts gebbe ich! Ihr sollt verrecken, alle, alle.«

Dr. Böhler sah in das zornige Gesicht seines Kollegen und lächelte plötzlich. Er griff zu seiner Mappe, nahm ein Papier hervor und nickte zu Dr. Kresin hin.

«Der Mann aus dem Stollen, den Sie mir einlieferten, hat eine Milzquetschung. Wir müssen exstirpieren!«

Dr. Sergeij Kresin riß die Augen weit auf:»Ach!«sagte er.»Sie wollen Milz wegnehmen? Hier?«

«Ja.«

«Mit Taschenmesser?«

«Wenn es sein muß — ja.«

«Sie sind verrückt.«

Dr. Böhler schüttelte den Kopf. Auf seiner hohen Stirn perlte der Schweiß.»Nein, Dr. Kresin«, antwortete er leise.»Ich bin nur verzweifelt.«

Dr. Kresin trat gegen die Tür, mit einem Krach sprang sie auf.»Mitkommen«, schrie er rauh.»Sofort!«Dann ging er voraus, während Sellnow sich an Dr. Böhlers Arm hing.

«Was soll das?«flüsterte er erregt.

Dr. Böhler lächelte leicht, indem er sagte:»Ich habe das Gefühl, als bekämen wir jetzt einen ganz brauchbaren Operationsraum.«

Sie gingen zusammen über den Platz. Die Abendsonne lag wie Gold über den Baracken und Drähten, den Wachttürmen und den fernen Wäldern. Aus einer Baracke ertönte Gesang… er wurde begleitet auf einer selbstgebastelten Mandoline. In seinem Garten stand der Plenni Karl Georg und harkte die Beete mit einer hölzernen, geschnitzten Harke. Als er die Ärzte kommen sah, nahm er Haltung an und legte den Harkenstiel wie einen Gewehrlauf an die linke Seite. Dr. Böhler lächelte und winkte ihm zu.

«Was macht ihr Furunkel?«rief er über den Platz.

«Alles in Ordnung, Herr Stabsarzt. Muß schon wieder arbeiten, sagt die Ärztin.«

Er sah ihnen nach, wie sie um die Ecke verschwanden und zum großen Lagertor gingen.»Wenn wir den nicht hätten«, murmelte er vor sich hin und begann, den Boden um seine Tulpen zu lockern.

Julius Kerner kam aus der Baracke und winkte ihn zu sich heran. Er tat sehr geheimnisvoll und strahlte über das ganze Gesicht.

«Wir haben vier Rubel, Karl«, sagte er stolz.

«Vier Rubel?«Karl Georg sah seinen Freund verblüfft an. Der Besitz von vier Rubeln war wie ein Märchen.»Woher denn?«

«Müller hatte noch einen silbernen Uhranhänger, so'n dusseliges Ding, das er beim Kegeln gewonnen hat. >Gut Holz< stand drauf, und neun Kegel! Das hat er dem russischen Posten 6 für vier Rubel verkauft! Der Kerl war ganz wild darauf!«

«Und was kostet ein Schal?«

«Der Posten meint, ein guter Seidenschal kommt auf 300 Rubel!«

«Das schaffen wir nie. Ich müßte mal mit der Bascha reden. Vielleicht will sie gar keinen mehr.«

«Die nicht. aber der Markow, das Schwein!«

Ein Posten, der vorüberging, blieb vor dem Garten stehen und sah sich die blühenden Tulpen an. Er lachte den beiden Deutschen zu, und seine dunklen Augen in dem gelben Tatarengesicht strahlten.

«Gutte Blume«, sagte er mit der hellen Stimme vieler Asiaten.»Schön für Mädchen.«

«Du kannst mich kreuzweise!«sagte Karl Georg. Dann ließ er Julius Kerner und den Tataren stehen und harkte seine Beete weiter.

In der Kommandantenbaracke wartete Major Worotilow. Er saß an seinem großen Schreibtisch, während Leutnant Markow aus dem Fenster lehnte und den großen Appellplatz übersah. Er bemerkte die Gartenarbeit Karl Georgs und ärgerte sich maßlos über seinen Kommandanten, der das duldete.

Dr. Böhler grüßte und sah Major Worotilow erwartungsvoll an.

«Sie haben operiert?«fragte Worotilow in dem gleichen Ton wie vorher Dr. Kresin.

«Es blieb mir keine Wahl!«

«Sie wissen genau, daß Sie keine Befugnis haben, Eingriffe zu unternehmen. Wir haben Ihre Krankenstelle nur für Lungenkranke und Verletzte eingerichtet, die Pflege brauchen. Operieren steht allein Dr. Kresin oder Dr. Kasalinsskaja zu! Und Sie haben sogar mit einem Taschenmesser operiert!«Major Worotilow kniff die buschigen Augenbrauen zusammen und sah die deutschen Ärzte eine Weile stumm an.»Wenn der Patient stirbt, werde ich Sie wegen Mord an einem Kameraden nach Moskau vor das Kriegsgericht schicken!«Er machte eine umfassende Handbewegung.»Sie alle!«

«Es gab keine andere Rettung als den Eingriff!«Dr. Böhler blieb ruhig, während Dr. Sellnow unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Dr. Schultheiß lehnte blaß an der Wand. Mord, dachte er. Wenn der Oberfähnrich stirbt, geht es um unseren Kopf.. Als ob es den Russen auf diesen einen Gefangenen ankäme! Alles, alles ist nur Schikane, ist Nervenkrieg. man will uns weich machen, weil wir den Kopf noch oben tragen, weil wir noch ein Rückgrat haben und nicht Wachs sind in ihrer Hand.

Major Worotilow sprang auf.»Man hat dem Küchenmädchen einen seidenen Schal gestohlen! Das ganze Lager bekommt eine Woche 100 Gramm Brot weniger am Tag, wenn der Schal nicht wieder auftaucht!«

Dr. Böhler war bleich geworden. Er biß die dünnen Lippen fest aufeinander. Seine Stimme war leise, es war nur ein halbes Flüstern, als er sich an Major Worotilow wandte.

«Das ist doch unmenschlich, Major! Mit dieser Seide haben wir einem Menschen das Leben gerettet! Mit dieser Seide werden wir noch manchem das Leben erhalten! Und dafür sollen Tausende Unschuldiger büßen?«

«Ein russischer Schal ist mehr wert als 10.000 deutsche Leben!«Piotr Markow war vom Fenster emporgeschnellt und hatte es Dr. Böhler ins Gesicht geschrien. Jetzt stand er vor ihm, groß, hager, mit den Augen eines Fanatikers, zitternd vor Erregung. ein Hasser, der die Welt zerreißen konnte.

Dr. Böhler sah zu Boden. Spitz und scharf zeichneten sich seine Backenknochen in dem hageren Gesicht ab.»Dann kann ich ja gehen«, sagte er.

«Stolz ist er! Stolz!«schrie Markow wild.»Du deutsches Schwein! Wer hat gesagt: Es gibt zuviel Russen… wir müssen sie verhungern lassen?! Wer wollte den Osten aufnorden? Wer hat unser Land ausgepreßt und hundert Mann erhängt, wenn ein deutscher Soldat erschossen wurde, weil er gestohlen oder geschändet hat?! Wer schickte nach Minsk oder Smolensk Gauleiter, die mit Lastwagen Möbel, Gemälde und wertvolle Teppiche nach Deutschland schafften? Wer? Wer, du deutsches Mistvieh?! Ihr! Euer Führer, der euch allein ließ, als es euch dreckig ging! Eure schwarze Bande mit dem Totenkopf hat gar meine Mutter und meinen Bruder erschlagen, weil sie des Nachts aus Hunger bettelnd durch die Dörfer zogen… meinen Vater habt ihr umgebracht in Stalino, meine Schwester liegt unter den Trümmern von Charkow… und ihr steht hier, stolz, frech und immer noch die Herren?! 100.000 Deutsche für einen zerrissenen russischen Schal! Bis ihr alle verreckt!«

Schaum stand vor seinem Mund. Er schwankte und ließ sich auf einen Stuhl fallen, der neben dem Tisch des Majors stand.

Worotilow sah auf seine Hände. Er duldete den Ausbruch seines Leutnants, und nur Dr. Kresin hatte sich in eine andere Ecke verzogen und grunzte mißbilligend. Dr. Böhler wandte sich ab und ging zur Tür.

«Wo wollen Sie hin?«rief Worotilow.

«In mein Lazarett! Die Kranken brauchen mich. die kranken, verletzten, jammernden, armen, hilflosen und dreckigen deutschen Schweine.«

Piotr Markow umklammerte die Kante des Tisches und schnellte den Oberkörper vor.

«Verrecken alle, verrecken.«, keuchte er atemlos.

Worotilow winkte ab. Seine Hand fuhr durch die Luft.»Dr. Böhler. «Seine Stimme war gelassen und ein wenig singend. Er kommt aus dem Süden, dachte Dr. Schultheiß. Vielleicht aus dem Kaukasus oder von der Krim.»Sie werden in den nächsten Tagen chirurgische Bestecke, Catgut, Narkosemittel und alle Dinge bekommen, die Sie brauchen. Ich bitte Sie, eine genaue Liste einzureichen, was Sie am allernötigsten brauchen! Dr. Kresin wird sie prüfen. Ich werde direkt nach Moskau schreiben. «Ein Lächeln flog über sein Ge-sicht. etwas von der uralten Weisheit der Asiaten schimmerte hinter der Maske der Zivilisation.»Das ändert aber nichts daran, daß Bascha Tarrasowa ihren Schal wiederbekommt! und daß Ihre Kameraden für den Diebstahl eine Woche lang 100 Gramm Brot weniger erhalten!«

«Sie sind grausam, Major.«

«Aber gerecht. Ich habe mir sagen lassen, daß ein Diebstahl in einem deutschen Gefangenenlager ganz anders bestraft wird.«

«Das sind Greuelmärchen!«Dr. Böhler trat wiederum einen Schritt vor.»Ich bitte Sie, Major. lassen Sie die armen Kerle nicht hungern! Wenn es sein muß, dann bestrafen Sie mich.«

Worotilow schüttelte den Kopf. Seine Augen waren schmal, aber in diesen Schlitzen leuchtete etwas, was sich Dr. Böhler nicht erklären konnte.

«Sie werden aus meinem Lager ein großes Lazarett machen, und ich bin stolz darauf, und Dr. Kresin auch. Sie sind ein großer Arzt.«

«Ich tue nichts als meine Pflicht.«

«Wir wollen uns nicht um Worte streiten. Sie werden alles bekommen, was Sie brauchen. ich habe es schon einmal gesagt. Aber Ihre verwundeten oder kranken oder gesunden Landsleute interessieren mich nicht. Sie werden einen Diebstahl büßen.«

Sekundenlang sah Dr. Böhler dem Major in die kleinen Augen. Zwei Männer, die jeder am Ende einer riesigen Brücke standen, über die kein Weg zueinander führt, weil sie in der Mitte zerstört ist. Nur das Geräusch ihrer Stimmen dringt von Ufer zu Ufer, aber die Worte sind verschieden.

«Niemand lernt euch Russen kennen«, sagte Dr. Böhler leise. Dann wandte er sich ab und verließ den Raum. Sellnow und Schultheiß wollten ihm folgen. Die Stimme Dr. Kresins hielt sie fest.

«Sie bleiben!«Seine dicken Finger wiesen auf den jungen Unterarzt.»Sie können auch gehen«, rief er Sellnow zu.

Dr. Schultheiß trat zurück ins Zimmer und sah sich um. Piotr Markow hatte seine Pistole umgeschnallt und verließ die Baracke. Er strebte zur Baracke II, Block 7, wo eben Karl Georg seine Blumen fer-tig begossen hatte und nun mit seinen Freunden an der Wand lehnte und Machorka rauchte.

Dr. Sergeij Basow Kresin schob Dr. Schultheiß mit dem Fuß einen Stuhl zu.»Setzen!«kommandierte er. Verblüfft ließ sich Schultheiß nieder und spürte, daß er blaß wurde und heftige Angst in ihm aufstieg. Dr. Kresin hatte die Hände gefaltet, als er zu sprechen begann. Er sah friedlich aus, als ob er sich als Privatmann mit einem jungen Kollegen unterhalte. Diese Haltung mahnte Schultheiß zur Vorsicht.

«Wir haben gehört«, sagte Dr. Kresin freundlich,»daß Sie den operierten Patienten mit einem neuen Medikament, einem Pulver, behandelt haben. Stimmt das?«

Schultheiß kniff die Lippen aufeinander. Woher wußte Doktor Kresin von dem Penicillin? Sollte er lügen? Sollte er die Wahrheit sagen?

«Wie soll denn das Medikament ausgesehen haben?«

«Weiß, Herr Doktor! Es war Penicillin! Ein amerikanisches Präparat, das wir als Militärlieferung erhalten. Wie kommen Sie an dieses Pulver?«

«Es war in unserer Lazarett-Apotheke.«

«Es steht aber auf keiner Ihrer Bestandslisten verzeichnet.«

«So?«Dr. Schultheiß hob bedauernd die Schultern.»Das ist vielleicht ein Fehler, der leicht zu berichtigen ist. Schreiben Sie bitte dazu: Eine große Dose mit Penicillin-Pulver.«

Dr. Kresin grinste.»Und wann geliefert, mein Junge?«

«Das weiß ich nicht.«

Major Worotilow, der jetzt an Stelle von Markow am Fenster stand, drehte sich herum und wippte mit den Fußspitzen auf dem Dielenboden.

«Sie haben also auch das Penicillin gestohlen!«

Dr. Schultheiß erkannte die Falle, die man ihm gestellt hatte. Er hatte keine Wahl mehr — entweder er verriet die Kasalinsskaja, oder er nahm den Diebstahl auf sich. Man hatte ihn, den Jüngsten der Ärzte, ausgefragt, weil er am ängstlichsten und weichsten war.

«Ich bitte Sie, auch mir für eine Woche das Brot zu entziehen«, sagte er leise.

«Nein. «Worotilow trat näher und beugte sich über den jungen Arzt. Ein Geruch von Juchtenleder, Machorka und Schweiß strömte von ihm aus.»Ich müßte Sie bestrafen, Doktor, weil Sie so wenig Vertrauen haben. Sie dürfen mich nicht mit Markow verwechseln. «Er richtete sich auf. Der beißende Geruch verlor sich etwas.»Ich will gar nicht wissen, woher Sie das Penicillin hatten. Aber ich rechne auch mit Ihrer Verschwiegenheit in anderen Dingen. Sie sind Arzt… Sie kennen doch keinen Unterschied bei Ihren Patienten.«

Dr. Schultheiß wandte ihm den Kopf zu.»Was haben Sie vor, Herr Major.«

«Sie werden mit mir nach Stalingrad fahren. Und Sie werden dort jemanden untersuchen, der mir sehr nahesteht.«

«Eine Frau?«fragte Dr. Schultheiß ahnungsvoll.

«Ja. Dr. Kresin behandelt sie, aber er riet mir, Sie hinzuzuziehen. «Worotilow sah Dr. Schultheiß aus seinen kleinen dunklen Augen scharf an. Es war wie eine letzte Musterung beim Kauf eines Pferdes.»Es wird niemand erfahren, wo Sie hinfahren, Doktor«, sagte er mehr wie zu sich selbst.»Auch nicht Dr. Böhler.«

«Nein, Herr Major.«

«Wenn Sie sie gesund machen, können Sie von mir haben, was Sie wollen. «Ein Lächeln zog über sein Gesicht.»Nur nicht die Freiheit.«

Dr. Kresin schaltete das Licht ein. Die Nacht war über das Lager hereingebrochen. In einer der Baracken hörte man das Brüllen Leutnant Markows. Ein warmer Wind kam von Westen und trieb den Staub durch die Lagerstraßen. Es roch nach Erde und Rauch, als habe in der Nähe ein Wald gebrannt.

«Morgen früh fahren wir«, sagte Worotilow laut.»Dr. Kresin wird Sie abholen.«

AUS DEM TAGEBUCH DES DR. SCHULTHEISS:

Wenn diese Nacht doch bald vorüber wäre.

Der Oberfähnrich schläft, endlich schläft er. Auf seinen eingefallenen Wangen und in den Augenwinkeln liegen noch die Tränen. Seine Brust wird von Schluchzen geschüttelt. Vor einer halben Stunde schaute die Kasalinsskaja hinein und gab mir eine große Ampulle Morphium für ihn. Noch immer ist der Leib stark aufgetrieben und hart.

Aber jetzt schläft er, ruhig und gleichmäßig geht sein Atem. Der Puls ist fast normal, und das ist es, was mich stutzig macht.

Vor einer Stunde noch lag er hier und weinte. Er hatte meine Hand ergriffen, und ich hielt seine heißen, zuckenden Finger und beugte mich über ihn. In seinen Augen lag die nackte Angst, sie starrten mich übergroß an, geweitet in grauenhaftem Entsetzen.

«Muß ich sterben, Doktor?«schluchzte er.»Muß ich denn wirklich sterben? Ich bin erst 23 Jahre alt.«

«Wer sagt denn, daß du sterben mußt?«

«Ich fühle es. Mein Leib… mein Leib.es ist wie Feuer! Als wenn man ihn ausbrennt.«

«Wir haben dich operiert. Du hattest einen dicken, vereiterten Blinddarm, den haben wir dir weggeschnitten. Und jetzt wird alles gut.«

Er faßte wieder nach meiner Hand.»Ich werde sterben«, flüsterte er, während ich seine aufgesprungenen Lippen mit einem feuchten Lappen kühlte, denn trinken durfte er ja nichts.»Es wird meine Buße sein. meine Buße. «Seine Stimme verlosch, in seine Augen trat jener weite Blick, der mich erschrecken läßt, wenn ich ihn sehe.

«Du hast doch mit deinen 23 Jahren nichts zu büßen«, sagte ich tröstend.

«Ich war feig!«Er schrie es mit solcher Heftigkeit heraus, daß ich zurückprallte und Mühe hatte, ihn auf sein Lager zurückzudrücken.

«Mit 19 kam ich von der Kriegsschule… aus Potsdam und Eberswalde. Als Oberfähnrich nach Stalingrad. drei Monate Frontbewährung, dann war ich Offizier, ein junger Leutnant, auf den mein Vater stolz gewesen wäre. Ich ging hinaus nach Rußland und warf mich in den Dreck von Stalingrad. Ich wollte tapfer sein, ich wollte in Ehren heimkehren. Und ich übernahm eine Kompanie und grub mich an der Traktorenfabrik ein. Dann trommelten sie. sie trommelten Tag und Nacht. ohne Unterbrechung, ohne Stillstand, ohne einmal Atem zu schöpfen. sie trommelten, Meter um Meter pflügten sie den Boden um, sie ließen nichts aus.sie trommelten aus Tausenden Geschützen, und dann stürmten sie. wie Ameisen, erdbraun gefärbt, krochen sie aus den Löchern und Bunkern, aus den Trümmern und verbogenen Stahlgerüsten. Uuuuurääääh schrien sie. dieses schreckliche Uuuuurääääh, das bis ins Mark geht. Tataren und Mongolen, Kirgisen und Kalmücken. sie stürmten auf uns zu und schrien beim Laufen, während unsere Maschinengewehre sie umtobten. Ich lag in meinem Loch, meine silbernen Litzen leuchteten, ich war ja Oberfähnrich und Kompanieführer. sie blickten auf mich. Ich aber lag in meinem Loch und hatte Angst, hundsgemeine Angst! Wissen Sie, Doktor, was Angst ist? Wenn man nicht mehr atmen kann, wenn das Herz aussetzt, wenn der Puls rast? Und dort kam der Russe, der keine Gefangenen macht und den Verwundeten die Augen aussticht. Wir haben es ja geglaubt, wir Jungen von der Kriegsschule, wir Abiturienten, die wir nur die Silbertressen sahen, aber nicht, was dahintersteckt. Und nun kamen sie auf mich zu. Hunderte von diesen braunen Teufeln, und sie kamen näher, immer näher. Da habe ich die Arme hochgehoben. ich, der Oberfähnrich Graf Burgfeld, der Kompanieführer. ich habe die Arme hochgehoben und vor Angst geschrien, während neben mir ein MG stand mit 10.000 Schuß Munition. 10.000 Schuß! Und sie kamen heran wie die Figuren auf einem Schießplatz, ich brauchte nur abzudrücken, und sie fielen um. Aber ich tat es nicht, ich konnte es nicht. ich schrie vor Angst und hob die Arme hoch. Ich, der Kompanieführer. aber ich war erst 19 Jahre alt. «Er warf

den Kopf zur Wand hin und begann wieder haltlos zu schluchzen.»Und dafür büße ich jetzt… für meine Feigheit, für meine Angst… und ich weiß, daß ich sterben werde… sterben muß!«

Ich konnte ihm nicht helfen. Ich konnte nur seine heiße, zuckende Hand halten und sie immer wieder streicheln.

Gegen vier Uhr morgens wurde der Kranke plötzlich sehr unruhig, klagte über heftige Schmerzen im Oberbauch, bekam einen Schluckauf, der ihn jedesmal vollkommen durchschüttelte, und fing an zu brechen. Es war ein Brechen, das ohne Würgen und ohne Anstrengung vor sich ging. Es sprudelte den Mageninhalt einfach oben heraus.

Ich erschrak zu Tode, denn auch der Puls war plötzlich sehr schlecht, und der Kranke sah verfallen aus, mit eingesunkenen Augen und fahler Gesichtsfarbe.

Ich rannte aus dem Zimmer und klopfte bei Dr. Sellnow. Er kam im Hemd und eilte an das Bett des Oberfähnrichs. Ein Blick genügte ihm, um ihn in seiner bekannten Art fluchen zu machen.

«Eine Schweinerei«, schrie er unbeherrscht,»aber das war ja vorauszusehen, daß das in diesem Sauladen nicht anders gehen würde. Wir müssen den Chef holen.«

«Ist es ganz hoffnungslos?«fragte ich leise.

Er muß aus meiner Stimme die Angst herausgehört haben, denn er sah mich groß an.

«Warum? Haben Sie noch nie einen Menschen sterben sehen?«

«Keinen, bei dem es mir so nahegehen würde!«

«Kennen Sie denn den Knaben?«Er deutete mit dem Kopf auf den stöhnenden Oberfähnrich.

«Jetzt ja«, sagte ich zögernd.

Die Drohung Worotilows fiel mir ein:»Wenn der Patient stirbt, werde ich Sie alle wegen Mordes melden!«Eine tierische Angst ergriff mich. Ich stand auf und rannte in dem engen Raum hin und her. Er darf nicht sterben! Er darf nicht! Er zieht uns ja alle mit in den Tod, uns alle.

Dr. Böhler kam ins Zimmer, hinter ihm Sellnow, immer noch im

Hemd. Auch die Kasalinsskaja erschien jetzt. Sie beugte sich neben Dr. Böhler über den Stöhnenden.

«Wieder aufmachen?«fragte sie leise.

«Wird wohl nichts anderes übrigbleiben«, erwiderte Dr. Böhler kurz und richtete sich auf.

Böhler, Sellnow und die Kasalinsskaja traten einige Schritte zurück und steckten die Köpfe zusammen.

«Schwierige Diagnose«, flüsterte Böhler.»Wahrscheinlich ist es eine Peritonitis mit Darmlähmung, aber es kann ebenso ein halbes Dutzend anderer Sachen sein.«

«Was denn?«fragte die Kasalinsskaja.

«Verstopfung eines Darmgefäßes, eine Arterien- oder eine Venenthrombose, eine akute Pankreatitis oder ein Ileus. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich werde eine Probe-Laparotomie machen, und wir werden sehen; wahrscheinlich ist es doch eine Bauchfellentzündung mit Darmlähmung, und wir müssen einen Kunstafter anlegen. Glauben Sie, daß wir irgendwo Instrumente und Medikamente für eine Dauertropfinfusion oder eine Bluttransfusion auftreiben könnten?«

«Woher?«Die russische Ärztin zuckte mit den Schultern. Sie trug ein langes Nachthemd und darüber einen leichten Kimono.

«Fragen Sie bitte Dr. Kresin«, sagte Böhler,»er hat mir volle Unterstützung versprochen.«

Emil Pelz erschien mit zwei seiner Gehilfen, und sie hoben den immer noch stöhnenden Kranken auf die Tragbahre.

Dr. Böhler sah mich an.»Sie legen sich hin, Schultheiß«, sagte er streng,»ruhen Sie sich aus. Sellnow wird assistieren und die Ärztin. Sie werden dann die Pflege des Frischoperierten übernehmen.«

«Jawohl, Herr Stabsarzt.«

Die Bahre wurde hinausgetragen. Noch auf dem Flur vernahm ich das Wimmern des Jungen, des Kompanieführers mit neunzehn Jahren, der die Hände vor Angst hochhob, anstatt seine zehntausend Schuß zu verschießen.

Nun ist es früher Morgen, Dämmerung liegt über dem Lager. Dort, wo sich die Wälder zum Ural dehnen, bleicht der Himmel. Die Posten auf den Wachttürmen frieren… ich sehe es, weil sie die Arme gegen die Brust schlagen. In Rußland sind auch die Sommermorgen kalt.

Auf der Latrine in der Nähe der Küche ist schon Betrieb. Die zur Küche Eingeteilten schlurfen über den Platz. Bascha steht an der Tür. Sie lacht über ihr breites Gesicht… ihre starken Hüften zeigen sich unter dem dünnen Kleid.

Sogar Leutnant Markow ist schon auf. er sieht blaß aus und ist wieder schlechter Laune. Wann hat er je einmal gute Laune?

Jetzt ist die Sonne da. sie strahlt über den Platz, die Dächer der Baracken flimmern. Die Kolonnen der Nachtschicht rücken ein. Sie sind müde und torkeln vor Erschöpfung über den sandigen Platz. Tiere, die man zuschanden treibt. Atmende Gerippe. Der Oberfähnrich schläft wieder in seinem Bett.

Die zweite Operation ist gut verlaufen. Es war doch eine Bauchfellentzündung mit Darmlähmung. Aus seiner linken Seite läuft aus dem Drän immer noch Eiter in einen Haufen Mull.

Böhler hat einen Kunstafter angelegt, den er so lange tragen muß, bis die Bauchfellentzündung abgeklungen ist und die Därme ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Wenn es dazu überhaupt noch jemals kommen sollte. Aber jetzt schläft er ruhig.

Die Sonne ist jetzt schon warm, es wird ein heißer Tag werden. Ich habe Sehnsucht nach Vater und Mutter und möchte weinen.

Stalingrad, Tingutaskaja 43.

Ein niedriges, neues Haus mit blanken Fenstern in einem großen Garten, nahe an der in der Sonne glitzernden Wolga.

Rings um das kleine Haus die Gerüste der Neubauten: Fabriken, Arbeitersiedlungen, Kinos, Theater, Geschäfte der staatlichen Kon-sume, ein großes Gebäude der Partei, ein Denkmal für die Befreiung Stalingrads. Und dazwischen die Wolga wie fließendes Silber, breit, herrlich, still. Majestätisch in ihrer Unendlichkeit.

Dr. Kresin hielt den kleinen Jeep an und schob die Tellermütze in den Nacken. Er stieß Dr. Schultheiß in die Seite und nickte ihm zu.

«Hier sind wir. Ich will Ihnen noch einige Hinweise über Ihre Patientin geben. Janina Salja können Sie nichts vormachen. Seien Sie ehrlich zu ihr. Sie ist Leiterin der Sanitätsbrigade von Stalingrad. Sie weiß genau, was ihr fehlt, und hat mir selbst die Diagnose mitgeteilt: offene Tbc, im linken Obergeschoß eine dreirubelstückgroße Kaverne. Gewichtsverlust innerhalb eines halben Jahres zwanzig Pfund. Genügt das?«

«Haben Sie Aufnahmen?«fragte Dr. Schultheiß.

«Es liegen gute Röntgenbilder vor, die über die Krankheitsdauer hinweg aufgenommen sind«, nickte Dr. Kresin.

«Und was ist bisher getan worden?«

«Wenig: Ruhe, frische Luft, Liegekuren an der Wolga, gutes Essen, Sahne, frisches Gemüse und Lebertran. Es ist ein Versuch mit Tuberkulin gemacht worden, zur Bekämpfung des Hustenreizes bekommt die Patientin Guajakol und für die Nächte Codein.«

«Der Erfolg war natürlich negativ?«

Kresin nickte wortlos. Er kletterte vom Sitz und klopfte an die Balkentür. Ein Rotarmist öffnete und grüßte, als er den Arzt sah.»Ist Genossin Salja da?«fragte Kresin.

«Jawohl. «Der Soldat blickte auf den Gefangenen.»Der deutsche Arzt?«

«Mach schon auf, du Idiot!«schrie Dr. Kresin. Er trat gegen die Tür. Sie sprang auf, krachte gegen die Wand und schlug wieder zurück.»Kommen Sie«, sagte er zu Dr. Schultheiß,»hier ist alles mißtrauisch, weil alle ein schlechtes Gewissen haben.«

Sie durchschritten einen großen Raum, sparsam möbliert, traten durch eine Fenstertür ins Freie und sahen zwischen den blühenden Sträuchern in einem Korbstuhl eine zarte Mädchengestalt sitzen. Rötlichblondes Haar lag eng um den schmalen Kopf, aus dem große, fiebrig glänzende Augen leuchteten. Blaue Augen.

Dr. Schultheiß verbeugte sich und wartete ab, was Dr. Kresin sagte. Dessen Russisch war viel zu schnell, als daß er mehr als ein paar Worte hätte verstehen können. Aber dann sah ihn Salja an und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie zögernd, seit Jahren daran gewöhnt, einem Russen nicht die Hand geben zu dürfen.

«Worotilow schickt Sie?«sagte sie mit schleppender, müder Stimme.»Ob es noch Zweck hat, Doktor?«

Schultheiß wunderte sich über ihr gutes Deutsch und nickte.»Bestimmt. Ich werde versuchen, was ich kann. Sie sollen wieder gesund werden.«

Dr. Kresin wischte mit der Hand durch die Luft. Er tat es immer, wenn er unwillig war.»Keine langen Reden. Gehen wir ins Haus, Genossin, und lassen Sie uns mit der Untersuchung beginnen.«

Janina Salja erhob sich. Sie ging ihnen wortlos voran, ihr Gang war so müde wie ihre Sprache, aber im Wiegen ihrer Hüften lag noch etwas von ihrer verlorenen Schönheit. Es war etwas Katzenhaftes, Gleitendes, Tastendes an ihr, das Dr. Schultheiß aufmerksam machte.

In ihrem Schlafzimmer fuhr sie sich mit der Hand durch die kurzen Haare, sah flüchtig zu Schultheiß hin und begann dann, sich ungeniert auszuziehen. Sie streifte das Kleid ab und legte sich aufs Bett. Dabei schloß sie die Augen und kreuzte die Arme hinter dem Nacken. Ihre Haut war fahl und von einer dünnen Schicht Schweiß überzogen.

Dr. Kresin schob Schultheiß ein Stethoskop hin.»Fangen Sie schon an«, sagte er grob.»Ich hole die Röntgenplatten.«

Die Sonne lag auf ihrem zarten Oberkörper, als sich Schultheiß mit dem Hörrohr über sie beugte. Eine starke Erregung ließ das Blut in seinen Adern rauschen, so daß er die Atemgeräusche der Lunge nicht vernahm und nicht das Hämmern des Herzens. Schweiß trat auf seine Stirn. Er schloß die Augen und zwang sich, auf ihren Atem zu lauschen.

Die Tuberkulose sieht man — man hört sie nicht, dachte er, das ist eine alte Regel, die sich immer wieder bestätigt. Dennoch klopfte er den Brustkorb ab und gab sich Mühe, die Kaverne zu auskultieren. Es gelang natürlich nicht.

Er wandte sich ab.»Bitte, ziehen Sie sich wieder an. «Er hörte das

Rascheln ihres Kleides. Als er sich umdrehte, sah er sie vor dem Spiegel stehen und sich die Haare kämmen. In ihrem Nacken kräuselten sich ein paar Locken.

«Ich bin wohl sehr krank?«fragte sie und lächelte seinem Spiegelbild ein wenig verzweifelt zu.

Schultheiß zuckte die Achseln und sagte:»Ich muß mir erst die Röntgenbilder ansehen. Wenn das stimmt, was mir Dr. Kresin sagte, so müssen Sie eisern liegen und nichts als liegen. Alkohol und Tabak sind streng verboten. «Er nahm eine Packung kaukasischer Zigaretten von dem Nachttisch neben ihrem Bett und zerbröckelte sie zwischen den Fingern.»Sie müssen sehr folgsam sein.«

«Mein Bruder starb in deutscher Gefangenschaft. «Sie legte den Kamm hin und strich über ihr Kleid.»Er arbeitete bei Moers im Bergwerk und starb an Furunkulose.«

«Ach!«

«Vielleicht hätte ihn ein deutscher Arzt retten können, aber er wollte keinen deutschen Arzt. Er war Jungbrigadier und fanatischer Kommunist. Ich bin es auch… aber noch mehr liebe ich das Leben.«

Dr. Kresin trat ins Zimmer und sah sich erstaunt um.»Schon fertig?«brummte er. Er hielt Dr. Schultheiß einige Röntgenaufnahmen hin und stellte sich neben ihn. Gegen die Sonne trat deutlich die große Kaverne in der Lunge hervor. Dr. Kresin blickte den deutschen Arzt von der Seite an.

«Na?«murmelte er,»was wollen Sie tun?«

«Einen Pneumothorax.«

«Idiotie! Woher soll ich das Gerät nehmen!«

«Hat das Krankenhaus von Stalingrad keine Apparatur?«

«Ja, aber die bekomme ich nicht.«

«Außerdem muß sie unter ständiger ärztlicher Aufsicht stehen. Wir haben doch im Lager eine ganz gute Lungenstation. dort könnte man sie laufend beobachten.«

Dr. Kresin warf die Röntgenbilder auf das Bett.»Ins Lager? Sie sind wohl völlig verrückt! Sie können doch Janina Salja nicht zwischen die dreckigen deutschen Gefangenen legen!«

Schultheiß zuckte mit den Schultern.»Ich bin auch ein dreckiger deutscher Gefangener. Dann machen Sie allein weiter, Dr. Kre-sin.«

«Ich könnte sie an die Krim schicken, an das Asowsche Meer. Dort haben wir gute Lungenheilstätten. «Dr. Kresin sagte es langsam und nachdenklich.»Auch am Kaspischen Meer, bei Astrachan, gibt es gute Kliniken. Aber sie will ja nicht hingehen. Sie weigert sich rundweg.«

«Ich denke gar nicht daran«, schrie Janina Salja plötzlich leidenschaftlich,»ich lasse mir doch nicht von denen eine Plastik machen und mir dabei die ganze Brust zersäbeln.«

Schultheiß trat auf sie zu. Er legte ihr beruhigend beide Hände auf die Schultern und drückte sie auf einen Stuhl.

«Es ist ja gar nicht nötig, Fräulein Salja«, sagte er beruhigend,»aber wenn man in diesem Land nicht einmal die simple Apparatur für das Anlegen eines Pneumothorax auftreibt.«

«Wenn Sie nicht alle Vollmachten von Major Worotilow hätten, schlüge ich Sie jetzt in die Fresse!«brüllte Dr. Kresin wütend,»Sie verfluchter deutscher Hund!«

Janina sprang auf und legte Kresin ihre Hand auf den Arm.»Warum soll ich nicht mit ins Lager gehen? Wenn es für mich besser ist. Worotilow wird es erlauben.«

«Genossin Salja!«Dr. Kresin keuchte.»Wenn das in Moskau bekannt wird, wenn eine Inspektion kommt. wir können es nicht!«

Janina sah Dr. Schultheiß aus ihren fiebrigen Augen an. Ihr Blick war so hell und klar, daß es Schultheiß wie ein Zittern durch den Körper lief.»Als Leiterin der Sanitätsbrigade Stalingrad unterstehen mir auch die Arbeiter des Lagers 5110/47. Sie arbeiten in Stalingrad, sie werden von meiner Brigade betreut auf den Arbeitsplätzen. Wenn eine Kontrolle mich im Lager antreffen sollte, dann kann ich einfach sagen, daß ich die deutschen Arbeiter inspiziere.«

«Dazu ist Dr. Kasalinsskaja da.«

«Mit ihr werde ich mich gut verstehen.«

«Hoffentlich. «Dr. Kresin zuckte mit den Schultern und packte das Stethoskop ein.»Ich werde es dem Major sagen. Auf Wiedersehen, Genossin.«

«Auf Wiedersehen, Genosse Kresin.«

Wieder reichte sie Dr. Schultheiß die Hand. Er spürte den Druck ihrer schmalen Finger. Aber ihr Gesicht war unbeweglich und bleich. Die Sonne ließ ihr Haar rot aufleuchten.

Im Lager hatte der erste Tag mit 100 Gramm Brot weniger begonnen. 100 Gramm — das bedeutete eine Mahlzeit weniger von diesem klitschigen, feuchten, schwer im Magen liegenden Gebäck.

Das bedeutete siebenmal 100, 700 Gramm Brot weniger in der Woche und damit 700mal verstärkte Hungerqual und schmerzhaftes Bohren in den Eingeweiden.

Es hatte sich längst herumgesprochen, daß Bascha Tarrasowa auf einen neuen Seidenschal verzichtete. Aber Major Worotilow war unerbittlich, und Leutnant Markow baute die Strafe zu einer Schikane aus, unter der die Plennis keuchten und fluchten. Es nutzte nichts, daß die Baracke VII in Block 5 in einen Hungerstreik trat. Markow betrat sie mit fünf Soldaten und baute ein Maschinengewehr in dem langen Raum auf, legte die Tagesrationen auf die Tische und kommandierte:»Alles fressen!«Da krochen die hungernden Gestalten von den Pritschen und hinter den Spinden hervor und verzehrten unter dem Lauf des Maschinengewehrs ihre Portion. Leutnant Markow lachte, als er die Baracke verließ.

Karl Georg versuchte an diesem Tag seine Tulpen zu verkaufen. Er hatte lange gezögert, ehe er sie abschnitt und wie Kleinode in die Baracke trug. Dort hatte er sie noch einmal allen Kameraden gezeigt, ehe er sie unter dem Hemd verbarg und zur Waschbaracke schlich, wo der Kirgise in der Sonne faulenzte und seine Zigarette rauchte.

«Hier, du Sauviech!«sagte Karl Georg und hielt ihm die Tulpen hin.»Für dein Mädchen, die alte Hure! Zehn Rubel!«Er hob beide Hände hoch und zeigte alle Finger.

Der Kirgise lachte breit. Er griff in die Tasche, legte sechs Rubel auf einen Schemel, nahm die Blumen aus Georgs Hand, trat ihm in den Hintern und schrie lachend hinterher, als der Deutsche mit seinen sechs Rubeln wegrannte. Dort standen Hans Sauerbrunn, Julius Kerner und Karl Eberhard Möller und fingen den wütend vor sich hinfluchenden Georg ab.

«Sechs Rubel«, sagte Kerner nachdenklich.»Wenn wir uns alle in den Hintern treten lassen, macht das noch mal achtzehn Rubel. «Da keiner der anderen lachte, ging Kerner brummend in die Baracke und legte sich auf seine Pritsche.

Ein Glanzstück leistete sich ein Mann aus Baracke VIII, Block 12. Er verkaufte den Schlips eines Bauunternehmers, den er diesem am Tag zuvor in Stalingrad gestohlen hatte, an einen Mongolen als Schärpe für zwölf Rubel. Der Mongole trug den Schlips um den Leib bis 12 Uhr mittags. da sah ihn Leutnant Markow, gab ihm ein paar schallende Ohrfeigen und entriß ihm die Krawatte. Da der Mongole den Mann, der ihm den Schlips verkauft hatte, nicht mehr beschreiben konnte, blieb auch dieser Fall ungeklärt.

Am Abend dieses ersten Tages hatte das Lager 130 Rubel zusammen. Nach der abendlichen Zählung wurde der Betrag durch Sanitäter Emil Pelz an Dr. Böhler weitergegeben, der das Geld sinnend in der Hand wog.

«Man könnte heulen«, sagte er zu Sellnow. In einer Ecke des Arztzimmers saß Dr. Schultheiß und führte das Tagebuch der Station.

«Oberfähnrich Graf von Burgfeld unverändert«, trug er ein. Dann besann er sich, daß es hier keinen Grafen gab, sondern nur eine Nummer. Er strich den Namen durch und schrieb darüber:»Nummer 4583.«

Er legte den Bleistift hin und starrte auf seine Schriftzeichen. Der bleiche Körper Janina Saljas schälte sich aus den Buchstaben, dieser schlanke, unwirklich zarte Körper mit dem leichten Schweiß der Schwindsucht darüber. Er dachte plötzlich an den großen Major Worotilow, an diese stämmige, lebensstrotzende Gestalt mit Beinen wie zwei Säulen, und empfand einen ekelhaften Geschmack dabei, als seine Gedanken weiterglitten und Salja als des Majors Geliebte sahen. Das Mädchen wie ein Hauch und der Mann wie ein Baumstamm. Vielleicht zerbrach sie unter seinen Händen, und es gab keine andere Heilung, als Janina von Worotilow zu lösen.

Der Gedanke beflügelte ihn, machte ihn fast heiter.

Dr. Böhler schüttelte den Kopf und legte die 130 Rubel auf den Tisch.

«Unser Unterarzt träumt«, stellte er sachlich fest.»Ein merkwürdiges Lazarett: einen überpotenten Oberarzt und einen träumenden Unterarzt.«

«Und einen Heiligen als Chefarzt«, warf Sellnow sarkastisch ein.»Wo haben Sie überhaupt heute vormittag gesteckt, Schultheiß? Sie sollten sich ausschlafen, und als ich Sie wecken wollte, war Ihr Bett leer und gar nicht berührt.«

«Ich wurde von Dr. Kresin gebraucht«, sagte Dr. Schultheiß schnell.»Er wollte noch einmal die Listen unserer Bestellungen durchgehen. Ich glaube, wir bekommen eine Pneumothorax-Einrichtung.«

«Das wäre wunderbar!«rief Dr. Böhler begeistert.»Dann könnte ich unsere Lungenstation ausbauen!«

«Ja, das könnten wir dann. «Schultheiß schloß das Tagebuch und schob es in ein Regal.»Ich gehe einmal nach dem Oberfähnrich sehen.«

«Ein merkwürdiger Junge. «Sellnow schüttelte den Kopf, als sich die Tür hinter dem jungen Arzt schloß.»Begabt, ungemein begabt. Das habe ich in den letzten Tagen in Stalingrad gesehen. Er hat amputiert, während der Keller unter dickem Beschuß lag. Und er hat nicht dabei gezittert. Er vernähte gerade einen Stumpf, als die ersten Russen in den Keller drangen. Sie haben ihn nicht gestört, sondern gleich ihre Verwundeten gebracht. Wir haben dann sechs Tage nur Russenleiber geflickt.«

Dr. Böhler schien nicht hingehört zu haben. Er sah aus dem Fenster und bemerkte Leutnant Markow, der vor der Baracke III stand und mit Karl Georg herumschrie. Der Gärtner lehnte an der Wand und hatte seine Harke in der Hand. Es sah aus, als wolle er jeden

Augenblick zuschlagen.

«Wo sind Blumen, du Schwein?!«brüllte Markow. Er hatte plötzlich bei einem Rundgang die gewohnten bunten Flecke auf dem Rasen vermißt und war bestürzt stehengeblieben.

Karl Georg zuckte mit den Schultern.»Schon wieder geklaut«, stellte er nüchtern fest.

«Morgen sind wieder Blumen da!«schrie Markow ihn wütend an.

«Ich bin kein Gott!«schrie Georg zurück. Das verblüffte Piotr Markow. Er drehte sich um und stapfte davon. Julius Kerner, der hinter der Barackentür stand, kam angstzitternd hervor.

«Du hast eine gottverfluchte Schnauze«, sagte er leise.»Das geht noch mal schief mit dir.«

«Leck mich am Arsch!«erwiderte Karl Georg und stellte die Harke hin.

Dr. Schultheiß ging an dem Zimmer der russischen Ärztin vorbei und zögerte. Dann wagte er es, anzuklopfen und einzutreten.

Alexandra Kasalinsskaja saß in einem Sessel. Die Beine hatte sie auf den runden Tisch vor sich gelegt. An den Fenstern waren die Vorhänge zugezogen. Es war kühl in dem Raum und halbdunkel. Es roch nach einem starken Rosenparfüm. Der Rock Alexandras war bis zu den Schenkeln heraufgezogen, ihre wohlgeformten Beine glänzten matt. Unter der dünnen Seidenbluse zeichneten sich ihre Brüste ab.

«Sie?«fragte die Kasalinsskaja gedehnt. Sie veränderte ihre Lage nicht, sondern deutete auf einen anderen Sessel.»Was wollen Sie?«

Zögernd setzte sich Schultheiß. Er mußte immer wieder auf ihre Bluse und auf ihre Beine sehen und dachte dabei an Dr. von Sellnow, der wütend wurde, wenn er Alexandra sah.

«Ich wollte Sie nur etwas fragen.«

«Bitte.«

«Kennen Sie Janina Salja?«

«Genossin Brigadeführer?«

«Ja.«

«Das lungenkranke Vögelchen des Majors? Aber ja. Woher ken-nen Sie die edle Kommunistin?«

Die Kasalinsskaja sah ihn lauernd an.

Schultheiß sah zu Boden. Das Flimmern in den Augen der Ärztin irritierte ihn.»Sie wird bald in unser Lager kommen«, sagte er langsam.

«Ach! Ist dem Major der Weg nach Stalingrad zu weit?«

«Salja ist sehr krank. Ein Pneu ist dringend notwendig. Dr. Kre-sin weiß es und will uns eine Apparatur besorgen. Ich habe sie untersucht.«

«Die Genossin Salja?«Dr. Kasalinsskaja staunte und nahm die Beine vom Tisch.»Wo soll sie wohnen?«

«Hier im Lazarett. Auf der Lungenstation. Ich dachte, Sie könnten mir helfen. Dr. Böhler und Dr. von Sellnow wissen nichts davon. Es darf keiner wissen.«

«Und was sagt Kresin dazu?«

«Er tobt. Aber es bleibt keine andere Wahl. Janina ist verloren, wenn wir nicht helfen.«

«Und wie wollen Sie helfen?«

«Durch Ruhe!«

«In der Nähe von Worotilow?«Alexandra Kasalinsskaja lachte schrill und schob ihren Oberkörper weiter vor. Ihre schwarzen Locken fielen über ihre Stirn… sie sah wild aus wie ein Raubtier.

Ich kann Sellnow verstehen, dachte Schultheiß. Es ist eine Gemeinheit, eine Frau allein unter neuntausend Gefangenen herumgehen zu lassen, eine Frau wie die Kasalinsskaja, die alle mit einer einzigen Drehung ihres Kopfes oder ihres Körpers wahnsinnig macht!

«Worotilow ist sehr leidenschaftlich!«sagte sie rauh.»Janina wird hier vor die Hunde gehen.«

«Darf ich das Dr. Kresin sagen?«Dr. Schultheiß erhob sich.

«Sie dürfen es. Sie können es auch Worotilow sagen! Er kann mich sowieso nicht leiden.«

«Ich danke Ihnen. «Schultheiß verbeugte sich kurz und verließ das Zimmer. Auf dem Gang lehnte er sich erschöpft an die Wand und wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Janina,

Alexandra. es war furchtbar, wie ihn die Frauen plötzlich erregten. Er hatte doch früher nie dieses Gefühl gehabt, nie dies Pochen in den Adern gespürt, wenn er einem Mädchen gegenübertrat. Und ausgerechnet jetzt, wo er von Graupensuppe und klitschigem Brot lebte. war dieser Sellnow denn ansteckend?

Da kam er gerade den Gang entlang. Er war sehr ernst und faßte Dr. Schultheiß am Arm.»Ich suche Sie überall, wo stecken Sie nur? Nummer 4583 ist unruhig.«

Schultheiß überlief es kalt. Unruhig hieß im Krankenhaus, daß der Patient stirbt. Das Gesicht Sellnows verriet ihm alles, es war bleich und gezeichnet von der nagenden Sorge.

Wenn er stirbt, ist es in den Augen Worotilows ein Mord! Mord im Lager!

«Weiß es der Chef?«flüsterte Schultheiß.

«Er sitzt bei ihm am Bett. Der Darm arbeitet nicht, der künstliche After sondert nichts mehr ab — Temperatur 41, akute Herzschwäche.«

Sellnow biß sich auf die Lippen.»Wir müssen einen Geistlichen rufen. Haben wir einen im Lager?«

«Fünf evangelische Pastoren.«

«Nummer 4583 ist aber katholisch.«

«Gott ist überall, wenn man ihn braucht. Ich hole einen der Pastoren.«

Sellnow nickte.»Ich werde es dem Chef bestellen.«

Vor den Wäldern stand flimmernd die Luft, als Schultheiß auf den Lagerplatz trat. Sein Schritt wirbelte Staub auf. Die Posten auf den Wachttürmen standen im offenen Hemd und tranken Wasser. Auf dem Küchenplatz traf er Bascha im Gespräch mit Markow. Sie schien mit ihm zu schimpfen, denn sie drehte sich plötzlich um und zeigte ihm ihr fülliges Hinterteil.

An den Barackenwänden saßen die dienstfreien Gefangenen der Nachtschicht und genossen die Sonne. Im Schatten lausten sie ihre Hemden oder wuschen in Kübeln ihre Strümpfe und Wäsche. Karl Georg stand traurig in seinem Garten und betrachtete die ausgedörrte

Erde. Aus Worotilows Zimmer drang blecherne Radiomusik.

Trägheit des Sommers lag über der Erde. Schultheiß schloß einen Augenblick geblendet die Augen.

Einen Pfarrer. Der Oberfähnrich stirbt. Ob das Taschenmesser schuld war? Mord, hatte Major Worotilow gesagt. Mord, wenn er stirbt. Ihr alle seid dann Mörder… ihr deutschen Schweine.

Und er stirbt. Warum schweigt Gott? Warum schweigt er jetzt? Gerade jetzt.?

Einen Pfarrer. Wir haben ihn alle nötig, wenn er stirbt.

Dr. Sergeij Basow Kresin kam über den Platz. Er faßte Schultheiß an den Schultern und rüttelte ihn.

«Was haben Sie?«brummte er.»Einen Sonnenstich? Sie sind ja ganz blaß, Sie schwanken! Was ist denn los.«

«Er stirbt!«schrie Dr. Schultheiß.»Ich muß einen Pfarrer holen. «Er ließ Dr. Kresin stehen und rannte die Lagergasse entlang zu Block IX.

Dr. Kresin sah ihm erstaunt nach, ehe er begriff.

«Einen Pfaffen!«sagte er verächtlich.»Wenn der Mensch versagt, kann auch Gott keine Frage beantworten.«

Er ärgerte sich über sich selbst, daß er Angst um Dr. Böhler hatte.

In dem kleinen Zimmer am Ende des Ganges saß Dr. Böhler, eine Spritze in der Hand. Sellnow stand schwitzend an der Tür und beobachtete das verfallene Gesicht des jungen Oberfähnrichs.

«Lassen Sie das Cardiazol weg, Chef«, knurrte er zwischen den Zähnen.»Wir werden es anderswo nötiger brauchen.«

«Ich habe noch 45 Ampullen aus dem alten Stalingrad-Lazarett. «Dr. Böhler blickte schnell zu seinem Oberarzt.»Sie haben ihn aufgegeben?«

«Ja. Er ist schon tot, nur sein Herz schlägt weiter, als könne es ohne Körper leben.«

«Ich glaube nicht an seinen Tod. «Dr. Böhler erhob sich und schob den Arm des Röchelnden zurecht. Unter der bleichen, fast gelblichen Haut erblickte er dick die Vene in der Armbeuge.»Solange das Herz mitmacht, gebe ich nicht auf!«

«Sie quälen ihn nur. Seinen Darm können Sie nicht retten! Seit fünf Jahren hat er nichts Richtiges zu verarbeiten gehabt… er ist wie eine Wursthaut ohne Füllung, die zu lange in der Sonne lag.«

Dr. Böhler schüttelte stumm den Kopf und stieß die Nadel in die Vene. Vorsichtig zog er das Blut in die Glasröhre der Spritze, dann drückte er das Cardiazol in die Ader.

In der Tür stand plötzlich Dr. Kresin. Er hatte seine Tasche bei sich und stellte sich neben Dr. Böhler.

Sellnow lachte bitter.»Wo Aas ist, sammeln sich die Geier«, bemerkte er bissig.

«Keine Hoffnung?«fragte Dr. Kresin. Er überhörte die Bemerkung geflissentlich.

«Kaum.«

«Ein dritter Eingriff?«

Dr. Böhler erhob sich von dem Krankenbett und trat ans Fenster, das man mit einigen Lumpen verhangen hatte. Seine hagere Gestalt war nach vorn gebeugt.

«Ich habe viele Männer sterben sehen«, sagte er leise.»Es war mein Beruf geworden an der Front. Tausenden konnten wir helfen… aber noch mehr starben, weil die äußeren Umstände sie sterben ließen — nicht wir, die Ärzte! Hätte ich hier einen richtigen Operationsraum, die richtigen Medikamente.«, er sah auf den fiebernden Oberfähnrich,»ich bekäme ihn durch.«

Dr. Kresin öffnete seine Tasche und warf den Inhalt auf den Tisch. Es war ein kleines, gepflegtes, modernes chirurgisches Besteck. Auch einige Ampullen Evipan lagen dabei, die Dr. Böhler ungläubig betrachtete.

«Sie haben Evipan.?«

«Ja!«Dr. Kresin lehnte sich brummend an die Wand.»Sie sehen es ja.«

«Und das sagen Sie mir erst jetzt?«Dr. Böhler drehte sich mit einem Ruck herum.»Seit drei Jahren habe ich hier das Lazarett, seit drei Jahren werfen Sie mir Knüppel zwischen die Beine, seit drei

Jahren operiere ich nicht, weil ich keine Betäubungsmittel und kein Besteck habe.!«

Dr. Kresins Gesicht war rot, er atmete schwer und schlug mit der Faust gegen die Holzwand.»Vergessen Sie nicht, daß Sie nur ein drek-kiger Gefangener sind!«sagte er grob.»Man sollte euch alle einfach verrecken lassen.«

«Und warum tun Sie es nicht? Warum dann so etwas?«Dr. Böhler wies auf das Instrumentarium.

Dr. Kresin stieß die Tür auf und trat hinaus auf den Gang. Über die Schulter hinweg brummte er halblaut:»Weil ich Sie für einen verdammt tapferen Arzt halte.«

Seine Schritte verhallten zum Ausgang hin. Sellnow sah ihm nach und schloß dann die Tür.

«Ein ausgesprochenes Edelschwein«, sagte er zornig. Er tastete nach dem Puls des Kranken und zuckte mit den Schultern.»Wollen wir wirklich noch einmal an ihm herumschnippeln?«

«Ja. Die dritte und letzte Operation. «Dr. Böhler legte die Hände flach an den Kopf, als spüre er ein heftiges Stechen in den Schläfen.»Wenn wir nur ein Infusionsgerät zur Bluttransfusion hätten«, sagte er langsam.

Dr. Schultheiß kam zurück. In seiner Begleitung befand sich ein kleiner, halbverhungerter Mann, dem das offene Hemd über der eingefallenen Brust schlotterte. Sein Gesicht, zerknittert, hohläugig, war erdgrau. Rissige Hände streckten sich den Ärzten entgegen.

«Der Pfarrer«, sagte Schultheiß leise.

Dr. Böhler drückte ihm die Hand. Die Innenflächen waren feucht, der Druck der Finger kraftlos, schlaff, weich wie Watte. Lungenkrank, dachte Dr. Böhler. Ich behalte ihn am besten gleich hier. Warum hat er sich nicht gemeldet.

«Ich werde noch einmal operieren«, sagte er halblaut.»Bitte, Herr Pastor, warten Sie hier auf uns. Wir werden Sie sehr, sehr nötig haben.«

Der Verhungerte nickte stumm. Langsam trat er an die Bahre und legte seine aufgesprungenen, vernarbten Hände fast zärtlich auf die

Stirn des Jungen. Dabei schloß er die Augen. Seine Lippen bewegten sich. Er schien zu beten.

Sellnow hatte die Hände gefaltet und starrte auf seine langen, schlanken Finger. Er war über seine eigene Ergriffenheit wütend. Da hat man jahrelang in den Lagern gehockt und Kohlsuppe gefressen und klitschiges Brot, man hat mit den anderen geschrien: Es gibt keinen Gott, wenn er Unschuldige derart leiden läßt, man hat geflucht, als der Winter kam und jeder dritte in Schnee und Sturm jämmerlich erfror, man hat sich vorgenommen, nie, nie mehr den Namen Gott zu nennen… und da kommt so ein Pfaffe, so ein Halbverhungerter, und schon faltet man die Hände und betet.

Als Emil Pelz mit den beiden Trägern wieder ins Zimmer kam und sie den Pfarrer sahen, senkten sie den Kopf und falteten die Hände. Eine dünne Stimme, zitternd, gebrochen, stand im Raum:

«Es ist genug! So nimm, Herr, meinen Geist zu Zions Geistern hin;

Lös auf das Band, das allgemach schon reißt, befreie diesen Sinn,

Der sich nach seinem Gotte sehnet,

Der täglich klagt, der nächtlich tränet.

Es ist genug!!

Es ist genug! Herr, wenn es Dir gefällt, so spanne mich doch aus!

Mein Jesus kommt; nun gute Nacht, o Welt, ich fahr ins Himmels Haus;

Ich fahre sicher hin in Frieden,

Mein großer Jammer bleibt danieden.

Es ist genug!!«

Das >Genug< riß die Köpfe herum, es drang in die Seele, es setzte sich im Gehirn fest, es bohrte sich bis ins Mark.

Sellnow drückte die Stirn gegen die Holzwand, seinen Körper schüttelte ein Schluchzen, und ein Krampf ließ seine Stirn gegen die Wand schlagen. Dr. Böhler blickte zu ihm hin. er schwieg und senkte den Kopf.

Welche Erfüllung, durchzuckte es ihn. Gott lebt… er wird immer leben. Er ist der Vater der Einsamen und Getretenen.

Der Pastor nahm die Hand von der Stirn des Kranken. Sie war voll kalten Schweißes.

«Soll ich ihm das Abendmahl geben, oder wollen Sie erst den Erfolg der Operation abwarten?«

Dr. Böhler verschloß den Darmausgang mit einem Mullberg und richtete sich auf.

«Haben Sie alles bei sich, Herr Pastor?«

«Eine Flasche mit Wasser und ein Stück trockenes Brot. «Er lächelte schwach, wie entschuldigend.»Gott wird es in Wein und Hostie verwandeln… mit Brot und Wasser hielt er unser Leben aufrecht in den Jahren der Not.«

Dr. Böhler sah zu Sellnow hinüber, der sich beruhigt hatte. Auch Dr. Schultheiß schien so weit gefaßt zu sein, um assistieren zu können.»Ich werde erst operieren«, sagte er.»Wenn Sie wollen — wenn es Ihre Nerven aushalten — können Sie mitkommen und neben dem Tisch stehen.«

«Das wäre gut. «Ein trockener Husten schüttelte den Körper des Pfarrers wie ein Rohr im Wind. Dr. Böhler betrachtete ihn, wie er die Hand vor die dünnen Lippen hielt und sich keuchend vorbeugte. Bald würde er für sich selbst beten müssen.

Emil Pelz und die beiden Sanitäter trugen den Oberfähnrich wieder hinaus über den Gang zum Operationszimmer. Als sie die Tür aufstießen, stand Dr. Kresin in Gummihandschuhen am Tisch und ordnete die Bestecke. In dem Sterilkocher brodelten die Instrumente. Dr. Alexandra Kasalinsskaja saß am Tisch und erhob sich, als die Ärzte mit der Bahre eintraten.

«Wo Gott ist, ist auch der Satan«, murmelte Sellnow. Mit zusammengebissenen Lippen ging er an der Kasalinsskaja vorbei.

Ein Geruch nach Äther durchzog den Raum.

Dr. Böhler nahm aus den Händen von Dr. Kresin dessen Gummihandschuhe. Die ersten nach drei Jahren.

Am nächsten Morgen traf Janina Salja im Kommandanturgebäude

ein.

Major Worotilow hatte sie selbst mit seinem Jeep aus Stalingrad abgeholt und stand nun stolz mit Dr. Kresin und Leutnant Piotr Markow zusammen. Er war glänzender Laune und gönnte es dem vorsichtigen Karl Georg, in seiner Gegenwart neue Blumen zu pflanzen, die aus dem Garten der Oktober-Fabrik von der Nachtschichtkolonne gestohlen worden waren.

Janina Salja sah in Uniform noch schmaler und hilfloser aus. Das rötlichblonde Haar fiel weich herab, ihre großen, wasserblauen Augen tasteten die niedrigen Baracken und die Wachttürme, den Stacheldraht und den Lazarettbau ab, und während Worotilow einen neuen Witz aus Stalingrad erzählte und Markow sich auf die prallen Schenkel schlug, glänzten ihre Blicke auf, als sie am Fenster des Lazaretts die Gestalt von Dr. Schultheiß sah.

Dr. Sergeij Basow Kresin ahnte Verwicklungen. Janina hatte sich auf ihre Weise nach dem Ergehen des deutschen Arztes erkundigt:»Der deutsche Lümmel gefällt mir nicht. Er hat so weiche Hände, die mich abtasten wie Samtpfoten. Ich mag das nicht. «Aber in ihren Augen stand deutlich die Sehnsucht nach diesen Händen, und Dr. Kresin knirschte mit den Zähnen und erwog, Dr. Schultheiß in eine andere Lagergruppe oder wenigstens in ein Außenlager verlegen zu lassen.

Über den Platz, von der Küche her, kam die Kasalinsskaja. Als sie Janina sah, lächelte sie und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Sie umarmte sie mit jenem Enthusiasmus, der sowohl Liebe wie auch Haß auszudrücken vermag, und küßte sie auf beide Wangen.

«Mein weißes Täubchen«, sagte sie heuchlerisch.»Du kommst uns besuchen?«

Worotilow schob die dicke Unterlippe vor. Wie ein Bulle, der wie-derkäut, mußte die Kasalinsskaja denken.

«Janina wird Ihnen Gesellschaft leisten, Genossin«, sagte er betont freundlich.»Sie will die Arbeiter in einer Reihenuntersuchung inspizieren.«

«Welch großes Interesse an den Deutschen! Erst lassen wir sie zu

Tausenden verrecken, und jetzt bringen wir uns ihretwegen um. Es gibt in Rußland Millionen, die nicht so gut leben und nicht so gut versorgt werden wie die deutschen Gefangenen. Aber Sie müssen es ja wissen, Genosse Major.«

«Wenn es nach Genossin Kasalinsskaja ginge, würde man alle Deutschen umbringen«, sagte Major Worotilow lachend zu Janina.»Wir haben da ein gutes System: Wenn ein Stahlwerk oder die Holzkolonne Arbeiter braucht, schicken wir die Genossin Ärztin in die Lager. Innerhalb von zwei Stunden haben wir soviel Arbeiter, wie wir wollen.«

Janina Salja sah die Kasalinsskaja mit einem schrägen Blick an. Sie trat einen Schritt zurück, und über ihr blasses Gesicht zog der Schimmer einer hellen Röte.»Auch die Deutschen sind Menschen.«

Piotr Markow winkte ab.»Genossin. uns nannten sie Untermenschen.«

«Das war im Krieg. Jetzt haben wir Frieden!«

«Wir haben immer Krieg, solange die Welt nicht restlos kommunistisch ist!«Markow wurde ernst. Der Funke des Fanatismus glomm in seinen Augen. Sein Gesicht wurde kantig und brutal.»Erst wenn die rote Fahne die Weltflagge ist, gibt es Ruhe auf der Welt. So lange kämpfen wir.«

«Der ewige Revolutionär!«Worotilow lachte schallend.»Mir ist es immer ein Rätsel geblieben, warum er nicht jeden Abend vor dem Zubettgehen die Internationale singt.«

Übernächtig und noch blasser als sonst kam Dr. Böhler an der Gruppe vorbei und grüßte. Worotilow winkte ihm zu und rief, noch immer lachend:»Wohin, Sie Gliederabschneider?«

«Zu Baracke VIII, Block 4. Dort soll ein leichter Unfall sein.«

«War schon da. «Die Kasalinsskaja nickte ihm zu.»Der Mann hat sich einen Daumen gequetscht. Ich habe ihm Arbeit verordnet.«

«Was haben Sie?«

«Er muß arbeiten! Oder glauben Sie, ich lasse mir soviel Ausfälle gefallen? Die Kerle lassen sich ihren Daumen quetschen, um sich zu drücken! Bei mir nicht! Ich kenne das! Ich war Ärztin in den Bergwerken! Und überhaupt«- sie stemmte die Arme in die Hüften —,»ich bin einem Gefangenen keine Rechenschaft schuldig.«

Dr. Böhler sah zu Dr. Kresin hin. Der blickte in den Himmel, als habe er noch nie Schäfchenwolken gesehen, die langsam herbeitrieben. Worotilow drehte sich angelegentlich eine Zigarette. Piotr Markow grinste unverschämt. Nur Janina Salja sah von einem zum anderen und wandte sich dann ab.

«Das ist ekelhaft«, sagte sie auf russisch.»Ich kann das nicht mit anhören. «Sie faßte Worotilow am Arm.»Komm, bring mich ins Lazarett.«

Willig trottete der Major hinter ihrer schlanken Gestalt her. Ein Bär, der glücklich ist, den Ring durch seine Nase zu fühlen.

Dr. Alexandra Kasalinsskaja sah ihnen mit zusammengekniffenen Augen nach. Um ihre vollen Lippen zuckte ein böses Lächeln.»Kommen Sie«, sagte sie zu Dr. Böhler.»Ich werde den Mann mit dem zerquetschten Daumen doch krankschreiben.«

Dr. Schultheiß hatte von seinem Fenster aus das Eintreffen Jani-nas bemerkt. Er begriff nicht, was dieses biegsame, zarte Mädchen an den Bullen Worotilow band. Eifrig begoß er die Primel in Sell-nows Zimmer, während dieser noch schlief und laut schnarchte. Sellnow hatte die ganze Nacht über am Bett des Oberfähnrichs gesessen und sich heftig mit der Kasalinsskaja gestritten, die plötzlich ins Zimmer schaute und großes Interesse heuchelte. Der Anblick der heißblütigen Frau in einem dünnen Nachtgewand hatte Sellnow dermaßen erregt, daß er seinen Stuhl ergriff und drohte, ihn ihr an den Kopf zu werfen.

«Wie wild«, hatte die Kasalinsskaja lachend gesagt,»wie wild, heroisch und kraftvoll!«Dann war sie gegangen und hinterließ Sellnow in brütender Dumpfheit.

Nun war Janina im Lager. Die todgeweihte Janina mit der kranken linken Lunge.

In ihren Augen stand die Weite der Wolga, die Sonne, die durch die Wälder bricht, das Lied der Schiffer, die auf flachen Kähnen den Strom hinab ins Kaspische Meer fahren. Die Schwermut der Elto-nischen Steppe lag in ihrem Blick, der hohe Himmel über den Jer-geni-Hügeln.

Sellnow sprach im Schlaf. Es war ein unverständliches Murmeln. Er schien heftig mit jemandem zu streiten. Sein Gesicht zuckte.

Wie klein werden die Sorgen, wenn Janina hier ist, dachte Dr. Schultheiß. 100 Gramm Brot weniger am Tag, und das Lager hat erst 230 Rubel gesammelt. Im Block 9 haben drei Kirgisen sieben Gefangene blutig geschlagen, weil sie beim Zählappell nicht schnell genug auf ihren Platz liefen. Es waren Männer, die eben erst von der Arbeit in den Wäldern kamen und mehr tot als lebendig auf ihre Strohsäcke sanken. Dabei kauten sie das feuchte, klebrige Brot, als enthalte es allein die Kraft, dieses Leben eines Tieres durchzustehen.

Das alles könnte man vergessen, weil Janinas Augen tief und geheimnisvoll wie die Steppe sind.

Es klopfte. Schultheiß fuhr herum und stürzte an die Tür. Emil Pelz stand auf dem Gang und grüßte.

«Sie sollen zur Lungenstation kommen«, sagte er grinsend.»Wir ham 'n neuen Patienten. Knorke, saje ick! Det is Klasse vom KuDamm!«

«Ich komme sofort. «Dr. Schultheiß lief ins Zimmer zurück und kämmte sich die Haare. Dann rieb er mit den Händen das Gesicht und die Wangen, um ein wenig Farbe in seine blasse Haut zu treiben. Ich sehe ja aus wie eine Leiche, dachte er. Aber sie soll mich so sehen, wie ich einmal war… sie soll ein klein wenig davon sehen.

Dann lief er über den Gang, bog in den Seitenflügel ein und stand heftig atmend vor der Tür der Lungenstation. Von drinnen hörte er die dunkle Stimme Dr. Kresins. Möbel wurden gerückt, irgend etwas klapperte über den Boden.

Als er ins Zimmer trat, drehte sich Janina um und sah ihn lächelnd an. Ihre Augen sprachen zu ihm, aber der Mund blieb stumm, die Lippen waren dünn und farblos. Dr. Kresin unterdrückte einen Fluch und fuhr Schultheiß barsch an.

«Das ist ein Saustall, aber keine Lungenstation!«schrie er.»Hier soll Genossin Salja wohnen?! In diesem Loch?«

«Für die deutschen Gefangenen reichte es aus. «Dr. Schultheiß sah sich um.»Wir haben hier Licht, Luft und Sonne. Was noch fehlt, ist Ruhe. Und die zieht ein, wenn Sie weg sind.«

Janina Salja lachte leise. Das machte Dr. Kresin wehrlos. Er warf Schultheiß einen vernichtenden Blick zu und riß eines der Fenster auf. Der Blick über die Steppe und die nahen Wälder war herrlich. Nur ein Drahtzaun mit den Wachttürmen störte das friedliche Bild.

In einer Barackengasse hingen ein paar Unterhosen in der Sonne und trockneten. Sie waren grauweiß und durchlöchert.

«Wem gehört die säuische Wäsche?«schrie Dr. Kresin.»Ich befehle, daß ab sofort keine solchen Drecksdinger mehr im Freien getrocknet werden! Der Anblick ist ja scheußlich.«

Janina Salja winkte ab. Ihre kleine Hand war wie ein müder Schmetterling.»Es stört mich nicht.«

«Aber mich«, beharrte Dr. Kresin eigensinnig.»Die deutsche Bande soll Ordnung lernen.«

Dr. Schultheiß schluckte es, wie er alles in den Jahren der Gefangenschaft schluckte. Zwar wurden die Ärzte in allen Lagern und von allen Russen, vor allem aber von den Offizieren, höflich und besser behandelt als die Masse der anderen Gefangenen, die man in der ersten Zeit bis 1946 zusammenschlug, hungern und einfach in einer Ecke verrecken ließ oder zu Tode quälte. Aber die Ärzte bearbeitete man psychologisch, band ihnen die Hände durch Hunderte von Schikanen. Man warf ihnen dann Unfähigkeit vor, wenn sie wegen der technischen Mängel versagten. Man versprach den Gefangenenlazaretten volle Unterstützung, man pochte auf die Richtlinien des Internationalen Roten Kreuzes, aber man tat nichts, was wirklich helfen konnte, man sah über die Ärzte und Kranken hinweg, auch wenn ihre Wünsche so laut wurden, daß sie kaum mehr überhört werden konnten. Ein schmerzlicher Punkt war das Zurückhalten von Betäubungsmitteln.»Es besteht der Verdacht, daß Betäubungsmittel als Rauschgift verbraucht werden«, hieß es.»Für euch Deutsche ist der Holzhammer gut genug«, hatte Dr. Kresin, der Verwalter der Lazarettgruppe Stalingrad, Krassnopol und No-wotscherkask geantwortet, als Dr. von Sellnow um Morphium bat. Sellnow nannte ihn einen satanischen Sauhund und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Das brachte ihm 14 Tage Dunkelarrest bei halber Verpflegung ein, die er in seinem Haß gut überstand und zur Verwunderung aller noch wütender verließ.

Janinas sanfte Wärme machte Schultheiß rot und unsicher. Sie sah ihm ein wenig traurig in die Augen und fragte:»Was werden Sie jetzt mit mir tun?«

«Sie werden nur Ruhe haben müssen.«

«Dann bringen Sie vorher Worotilow um«, knurrte Dr. Kresin vom Fenster her.

«Er wird vernünftig sein müssen«, meinte Schultheiß entschieden.

Dr. Kresin lachte laut.»Zeigen Sie mir einen vernünftigen Bock! Wo er ein Weib sieht, muß er springen.«

Janina sah Schultheiß flehend an. Er las in ihren Augen Angst und Verzweiflung. Einen Augenblick war er versucht, den Arm um ihre schmalen Schultern zu legen und sie tröstend an die Brust zu ziehen, aber dann kam ihm zum Bewußtsein, daß er ja nur ein Plen-ni war und sie eine Russin, sogar eine hohe Funktionärin, die eine Uniform trug und einen hohen Orden auf der kleinen Brust. Er ließ die halberhobenen Arme sinken und wandte sich brüsk Dr. Kresin zu.

«Fräulein Salja wird alles bekommen, was für eine Kur notwendig ist… wenn Sie es genehmigen.«

«An mir soll es nicht liegen. «Dr. Kresin lachte rauh.»Ein Gefangenenlager als Sommersanatorium. Das wäre eine schöne Geschichte für einen orientalischen Märchenerzähler. Verdammt, was ihr deutschen Ärzte alles fertigkriegt.«

Er lehnte sich aus dem Fenster und brüllte zwei Gefangene an, die zur Latrine schlurften.

Janina setzte sich auf den Stuhl und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.»Kommen Sie mich heute abend besuchen?«»Wenn Major Worotilow nicht bei Ihnen ist.«

«Ich werde sagen, ich sei müde. So müde.«

«Das sind Sie auch, Janina.«

«Ja, Jens.«

Dr. Schultheiß zuckte zusammen.

«Woher kennen Sie meinen Namen?«flüsterte er.

«Von Kresin. Ich fragte ihn danach.«

«Und warum?«

«Weil Sie so blaue Augen haben wie ich. «Sie senkte den Kopf und sah auf ihre Füße, die unruhig auf den Dielen scharrten.»Mein Vater hatte auch so blaue Augen. Wir wohnten an der Wolga, direkt am Fluß, und er hatte eine kleine Fischerei, zwei Boote, die die Fänge nach Saratow auf den Fischmarkt brachten. Er starb aus Kummer, als mein Bruder bei Orscha fiel. Wir haben nie sein Grab gefunden. «Ihre Stimme klang wie geborsten.»Der Krieg ist furchtbar für die Menschen, Jens. Er verbittert die Herzen und sät Haß, wo man lieben sollte. Ich bin so jung und habe nichts anderes gesehen als Krieg.«

«Wie alt sind Sie, Janina?«

«Einundzwanzig, Jens.«

«Wie herrlich jung, Janina.«

«Und doch wie alt. Ich habe immer nur Uniformen getragen. Jungbolschewistin… Kaderführerin im Lazarett… Partisanenmädchen. Das Ehrenkleid der Partei und der Armee. Ich habe nur Soldaten gesehen. eigene und deutsche. Ich bin russischer als Rußland. Glauben Sie, daß einundzwanzig Jahre alt ist?«

Dr. Schultheiß schaute auf sein Leben zurück, ob seine Erinnerungen anders aussähen. Aber auch er fand nur marschierende Füße, Uniformen und Kommandos, Fahnen und Standarten, Blechmusik und Heil-Rufe. Er wurde sich des Betruges an seiner Jugend bewußt, und er schwieg, weil er keinen Trost wußte, der Janina und ihn selbst hätte trösten können.

«Ich werde heute abend kommen, Janina«, sagte er leise.

«Ich werde Ihnen von meinem Essen etwas aufheben. «Sie sah ihn

an.»Sie sehen so hungrig aus.«

Er lachte etwas gezwungen.»Jetzt geht es. Der Körper gewöhnt sich an die halbe Kost. Zuerst, in den ersten Jahren, da haben wir uns des Nachts vor Schmerzen in den Därmen auf den Strohsäcken gewälzt und gewimmert. Da war eine Scheibe schimmeliges Brot ein Vermögen, um das man hätte morden können. Da aßen wir Schnee, nur um Typhus zu bekommen und in die Krankenstube geschafft zu werden, wo es einen halben Teller Kohlsuppe mehr gab. Bis man es bemerkte und uns einfach liegen ließ. Wir haben in diesen Jahren gesehen, was der Mensch aushält, wenn er eine Hoffnung hat, einen Glauben an das Morgen, den Willen durchzustehen. Jetzt«-er sah an sich herunter, an diesem langen, dürren, ausgemergelten Körper, an diesem Knochengerüst mit pergamentener Haut, gefüllt mit fünf Liter Blut —,»jetzt ist es nur Gewohnheit. «Er biß sich auf die Lippen.»Bis heute abend, Janina«, sagte er mit einer knappen Verbeugung.»Wenn es mir möglich ist.«

Auf dem Gang stand in ihrer Zimmertür die Kasalinsskaja. Sie rauchte eine türkische Zigarette. Der süßliche Rauch lag in Wolken über dem Flur. Ihre roten Lippen glänzten feucht.

«Ist das Vögelchen gefangen?«fragte sie gehässig.

«Es wäre gut, wenn Sie sich um sie kümmern würden, Doktor Ka-salinsskaja. «Schultheiß wollte an ihr vorbeigehen, aber sie hielt ihn am Arm fest und zog ihn ganz dicht zu sich heran.

«Janina ist in Sie verliebt«, sagte sie rauh. Ihre Augen sprühten. Sie glich einer Tigerin, sie war wie eine Bestie vor dem Mordsprung. Schultheiß kniff seine Augen zusammen.

«Sie träumen, Doktor. Ich bin nur ein Plenni.«

«Und es wäre gut, wenn Sie das nie vergäßen. «Alexandra warf ihre Zigarette weg und trat sie mit einigen wütenden Fußtritten aus.»Worotilow würde Sie erschießen«, sagte sie kalt.

«Er hat keinen Anlaß dazu. «In Schultheiß stieg heiße Angst auf. Er starrte die Kasalinsskaja an, sie erwiderte seinen Blick, und er las Eifersucht in ihm, Stolz, Lockung, Gier und zitternde Beherrschung.

«Ich werde mit Janina sprechen«, sagte sie halblaut. Ihre Stimme hatte den Klang einer Drohung.»Auch wenn Sie Arzt sind, Dr. Schultheiß, bleiben Sie ein Gefangener, den man zwischen den Fingern zerdrücken kann wie eine Laus. Gehen Sie.«

Gehorsam drehte sich Dr. Schultheiß um und ging seinem Zimmer zu.

Ein Satan! Ein Satan! Ein Satan!

Sein Herz schmerzte, in den Schläfen hämmerte das Blut. Er riß die Tür auf und warf sie krachend hinter sich zu.

Alexandra Kasalinsskaja lächelte.

«Du schöner Blonder.«, murmelte sie.

AUS DEM TAGEBUCH DES DR. SCHULTHEISS:

Wie gut ist die Nacht. Wie still, wie sanft, wie willig die Gedanken.

Ich sitze neben dem Bett des jungen Oberfähnrichs. Er schläft. Die dritte Operation hat sich bewährt. Der Chirurg hat nur eine kleine Stauung des Kotes in der Nähe des künstlichen Afters beseitigen müssen, die dem Kranken aber das Leben gekostet hätte, wenn nicht eingeschritten worden wäre. Noch immer fließt Eiter aus der Dränage des operierten Blinddarms. Aber der Puls ist besser. Dr. Kresin hat Traubenzucker und vor allem Strophanthin zur Verfügung gestellt. Das Herz des Kranken hat ausgezeichnet auf die Milligramm-Bruchteile des Herzmittels angesprochen.

Ich bewundere Böhler nicht nur als Arzt, sondern auch als Mensch. Immer ist er zurückhaltend und still, immer zur Stelle, nie erregt. Er ist als Arzt wagemutig und führt einen verbissenen stillen Kampf gegen den Tod, der hier allgegenwärtig ist. Er macht keine großen Worte. Wir alle haben sie verlernt, sind schweigsam geworden und geizig mit den Worten, die man früher so leichtfertig gebrauchte.

Ich bin getröstet, wenn ich an Böhlers Seite stehe und auf seine Hände sehe, in seine Augen, auf seine gerade Stirn, auf die schmalen Lippen, die zusammengepreßt sind und sich nur öffnen, wenn er sagt: der nächste… dann möchte ich die Umwelt, in der wir leben müssen, vergessen und große Worte sagen. Was wären wir ohne ihn. Aus einem Nichts hat er dieses Lazarett geschaffen, hat er die beste Lungenstation aller Lager eingerichtet, chirurgische Taten vollbracht, die an den Mut der mittelalterlichen Ärzte erinnern. Mit einem Küchenmesser amputierte er 1945 ein gefrorenes Bein. Ich sehe ihn noch in der Baracke stehen, umgeben von einer Gruppe Männer, die zur Seite sahen und einige Öllampen hoch hielten.»Halten Sie den Mann fest«, sagte er zu den beiden Sanitätern.»Ganz fest! Ich schneide jetzt.«

Und der Amputierte schrie, bis ihn eine Ohnmacht barmherzig umfing. Wir hatten keine Betäubungsmittel.

Ich werde heute abend nicht zu Janina gehen können. Ich kann das Zimmer nicht verlassen. Um zwei Uhr in dieser Nacht muß Nummer 4583 die nächste Traubenzucker-Infusion erhalten.

Als ich einmal auf den Flur trat, sah ich von weitem unter ihrer Tür noch Licht hervorschimmern. Auch im Zimmer der Kasalinsskaja war noch Licht. Als ich in die Arzneikammer ging, hörte ich ihren Schritt unruhig im Zimmer hin und her tappen. Sie wartete, daß ich zu Janina gehe, um dann Worotilow zu rufen. Sie ist ein Teufel! Aber sie ist schön, gefährlich schön. Wenn ich an sie und Sellnow denke, habe ich eine zügellose Angst. Einmal wird es zu einer Katastrophe kommen.

Als ich von der Arzneikammer zurückkam, verklang ihr Schritt. Sicher lauschte sie. Dann öffnete sich die Tür des Krankenzimmers und sie blickte kurz hinein.

«Janina erwartet Sie«, sagte sie leise. Ihre Augen waren dunkel und gefährlich.

«Ich habe Nachtwache«, antwortete ich bestimmt.»Ich verlasse den Kranken nicht!«

«Soll ich für Sie die Wache machen?«

Ich schüttelte den Kopf und begann, die Spritze auszukochen, ohne mich um sie zu kümmern. Da schloß sie wieder die Tür. Auf dem Flur hörte ich das leise Klatschen ihrer Füße. Sie war barfüßig gekommen. Ich möchte wissen, warum sie so oft nachts in ihrem Arbeitszimmer bleibt. Das ist streng verboten. Auch für sie. Sie hat draußen zu schlafen, im Kommandantur-Gebäude!

Nachdem ich dem Oberfähnrich die Injektion gemacht hatte, schlüpfte jemand in mein Zimmer. Ich wagte nicht, mich umzudrehen… ich spürte den Blick in meinem Nacken… ich fühlte das heiße Schlagen meines Herzens. Mein Gott, mein Gott, warum muß das sein? Warum peinigst du uns so, uns, die armen, entrechteten, hungernden Plennis.

Janina kam an das Lager des Kranken und setzte sich an das verdunkelte Fenster auf den einzigen wackeligen Stuhl. Lange Zeit sprachen wir kein Wort.

Wir sahen uns nur an.

«Alexandra sagte mir, daß Sie Wache haben«, sagte sie dann. Ihre Worte waren wie ein leises Klingen gezupfter Saiten. Unter dem Saum des Kimonos sahen ihre nackten Beine hervor, mit den zierlichen, goldbestickten Astrachan-Pantoffeln. Sie war schlank wie ein Knabe, nur ihr Mund war weiblich — und ihre hellen Augen waren es, Augen, als seien sie aus der Wolga geschöpft.

«Ja«, sagte ich. Ein dummes Ja.

Dann schwiegen wir wieder und sahen uns an.

«Ich habe Sie den ganzen Tag nicht gesehen, Jens.«

«Ich hatte Dienst in den Baracken. Die wenigsten unserer Patienten sind so krank, daß sie ins Lazarett kommen. Jeder Block hat noch seine eigene Krankenstube — das Revier, wie wir Deutschen sagen —, dort verrichten Sanitäter den Dienst, und der wachhabende Arzt macht Visite.«

«Und Sie waren Wachhabender?«

«Ja.«

«Nicht Dr. von Sellnow?«

Ich schwieg und sah zu Boden. Ich schämte mich.

«Warum haben Sie mit Dr. von Sellnow getauscht, Jens?«

«Janina.«, sagte ich gequält.

«Sie sind feige, Jens.«

«Ich bin nur ein Kriegsgefangener, Janina. Ich gelte nichts.«

«Mir gelten Sie viel. «Janina stützte den Kopf in beide Hände und sah mich unentwegt an. Ich ertrug ihren Blick nicht und kümmerte mich um die Seitenöffnung des Patienten, wechselte den Mullberg.

«Ihnen vielleicht, Janina«, sagte ich dabei. Daß ich sie nicht anzuschauen brauchte und mit meiner Arbeit beschäftigt war, machte mich mutig.»Ich würde Ihnen gerne antworten, wenn ich ein freier Mensch wäre. Nicht eine Nummer in den Listen der Zentralgefangenenstelle in Moskau. Nummer 6724/19 — weiter nichts. Was wollen Sie von einer Nummer, die man ausradieren kann wie einen lästigen Punkt oder einen unvorsichtigen Klecks?«

Janina Salja hob die Schultern. Ihre langen, dünnen Beine mit den Astrachan-Pantoffeln wippten.»Sie werden vielleicht bald frei sein, Jens. Hunderttausende Ihrer Kameraden sind schon wieder in Deutschland.«

«Aber Hunderttausende leben noch in den Lagern dies- und jenseits des Urals.«

«Auch sie werden einmal entlassen.«

«Dann ist unsere Kraft gebrochen, Janina. Dann sind wir nur noch atmende Gespenster. Es wird viele Jahre dauern, ehe wir uns wiederfinden, mehr Jahre, als wir hier in Rußland verloren haben. Wir Menschen sind eine zu eilige Arbeit Gottes. als er uns schuf, hat er versäumt, um unsere Seele eine dicke Hornhaut zu legen.«

«Sie sind verbittert, Jens.«

«Vielleicht. Vielleicht ist es nur Stacheldrahtkoller. Vielleicht sind es nur ungestillte Sehnsüchte. Vielleicht ist es das dumme Etwas, das man Heimweh nennt. «Ich stopfte den vereiterten Mullknäuel in einen Eimer und legte einen Deckel aus Holz darüber.»Könnten Sie ohne die Wolga leben, Janina?«

«Wenn ich einen Menschen liebte, mehr liebte als meine Wolga… ja, Jens.«

«Das ist ein großes Wort. «Ich bettete den Oberfähnrich richtig und wusch ihm das Gesicht mit Wasser und den noch immer aufgequollenen Leib mit einer sterilen Lösung. Janina sah mir zu. Meine Hände waren ruhig, weit ruhiger als mein Inneres.

«Wir haben in der Schule viel von Deutschland gelernt«, sagte sie.»Nicht nur die Sprache — auch von eurer Kultur weiß ich, von eurer Landschaft, von euren Künstlern und Gelehrten. Ihr seid ein kluges Volk, aber eure Klugheit wächst über euch hinaus, und ihr ver-geßt, daß es andere Völker gibt.«

«Das hat man euch gelehrt. Wir lernten, daß alle Russen asiatisch verseucht seien und der ideologische Brandherd der Welt. Die Gelehrten, die diese Bücher schrieben und uns das lehrten, haben aber nie die Wolga oder den Don gesehen, die Steppe und Janina.«

Mit einem jähen Ruck stand sie auf und trat hinter mich. Ihre kleine Hand legte sich unerwartet hart auf meine Schulter.

«Ich könnte alle Deutschen hassen«, sagte sie leise.

«Warum, Janina?«

«Weil ich Sie kennenlernte.«

Die Hand lag noch auf meiner Schulter. Ich drehte den Kopf zur Seite und küßte ihre Fingerspitzen. Sie fuhr zurück, in ihre Augen trat Angst und eine wilde Gehetztheit… sie riß die Tür auf und lief über den Gang in die Dunkelheit davon. In der Ferne klappte eine Tür. Neben dem Stuhl, auf dem sie saß, lag eine Blume. Eine kleine Buschrose, blaß und schmächtig wie Janina, krank und halb verwelkt.

Wie gut ist die Nacht. Wie still, wie sanft, wie willig die Gedanken eines schmutzigen deutschen Kriegsgefangenen.

Ich glaube, daß Gott auch über Rußland blickt.

Gegen Mittag ging das Gerücht durchs Lager, ein politischer Kommissar aus Moskau habe den Gefreiten Hans Sauerbrunn verhaftet. Karl Georg und Julius Kerner, die dieses Ereignis miterlebt hat-ten, wußten in ihrer Verwirrung nichts anderes zu berichten, als daß Jakob Aaron Utschomi, der kleine jüdische Dolmetscher, mit dem Kommissar erschienen war und Sauerbrunn einfach mitgenommen hatte in die Kommandantur.

Der Kommissar Wadislav Kuwakino war ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit einem Mongolengesicht. Seine Augen, weit auseinanderstehend und ein wenig geschlitzt durch die asiatischen Fettpolster unter den Lidern, blickten kühl und oftmals gelangweilt, als sei ihm die Welt das Ekelhafteste und der Mensch auf ihr überhaupt nicht wert, beachtet zu werden. Er senkte meist den Kopf, wenn er sprach, und sah auf seine langen, im Gegensatz zu seinem Körper dünnen Finger oder polkte mit dem Nagel der einen Hand unter den Nägeln der anderen.

Major Worotilow saß mit rotem Gesicht in seinem Zimmer. Unerhört, dachte er. Unerhört, wenn das wahr ist.

Piotr Markow grinste. Er betrachtete Hans Sauerbrunn wie ein Schlachtvieh und stellte sich vor, wie dieser Deutsche gequält in einem Straflager stöhnte. Kasymmskoje… die Sümpfe… Fieber, Mük-ken, Wölfe und morastiger Boden.

Man sollte diese deutschen Schweine ausrotten.

Hans Sauerbrunn stand mehr erstaunt als verängstigt vor dem großen Tisch des Majors und sah von einem zum anderen. Er trug sein Alltagskleid: die zerrissene Hose, ein offenes Hemd über der behaarten Brust, staubige Stoffschuhe mit Gummisohlen. An den Knien seiner Hose waren zwei runde, schmutzige Flecke. er hatte Karl Georg im Garten geholfen und sich in die Erde gekniet. Er wagte nicht, die Flecke abzuklopfen. Steif stand er vor dem Tisch und blickte Jakob Aaron Utschomi, den Dolmetscher, fragend an. Kuwakino, der Kommissar, polkte in seinen Nägeln.»Sie wissen die Frage, Utschomi«, sagte er russisch zu dem Dolmetscher.»Fragen Sie… Genosse.«

Es fiel ihm schwer, zu dem kleinen, armseligen Juden Genosse zu sagen und ihn als seinesgleichen anzuerkennen. Aber er würgte es heraus, eingedenk der Ideologie, der er diente und die keine Ras-sen kannte und keine Hautfarben und keine Nationen, nur den Ruf der roten Fahne der Revolution.

Aaron Utschomi schluckte und sah Hans Sauerbrunn verzweifelt an. Er machte eine vergebliche Anstrengung, streng wie seine Vorgesetzten zu sein, aber er glitt wieder in sein eigentliches Wesen: schüchtern zu sein und sich zu ducken.»Sie wurden gefangen — wann?«

«Am 12. November 1942.«

«Wo?«

«In Stalingrad.«

«Das war ja vor der Kapitulation der deutschen 6. Armee?«

«Ja. Ich war so dumm, mich als Essenholer zu verirren. Ich lief mit 17 Kochgeschirren in die russischen Linien.«

«Sie verirrten sich nicht zufällig… Sie wollten sich verirren?«

Hans Sauerbrunn sah Utschomi verblüfft an. Ehe er diese Auslegung seiner Gefangennahme begriff, nahm Major Worotilow ein wenig freundlicher das Wort.»Sie hatten wie wir alle den Krieg satt und liefen über, was?«

Sauerbrunn schüttelte heftig und ablehnend den Kopf. Der Gedanke, als Überläufer angesehen zu werden, erbitterte ihn maßlos.»So dämlich bin ich nicht!«sagte er laut und erregt.»Überlaufen! Zu den Russen!«

Piotr Markow schob die Unterlippe ein wenig vor. Dann schlug er mit der geballten Faust zu und traf Sauerbrunn zwischen die Augen. Der taumelte, Blut schoß aus seiner Nase und lief in einem dicken Strom über das Kinn, den Hals, in das offene Hemd hinein und färbte die dunklen Brusthaare hellrot.

«Aber nicht doch«, sagte Kommissar Kuwakino gemütlich und unterbrach das Polken an seinen Fingernägeln einen Augenblick.»Vergessen Sie doch nicht, Genosse Leutnant, wer das ist.«

Markow trat zurück. In seinem Gesicht spiegelten sich Wut und tiefe Befriedigung. Er sah das Blut aus dem Gesicht Sauerbrunns rinnen und hätte jauchzen können, daß es deutsches Blut war. Er hatte das unheimliche Verlangen, dieses rinnende Blut zu trinken, um schreien zu können:»Ich fresse einen Deutschen.!«

Hans Sauerbrunn lehnte sich schwankend an die Tischkante, Major Worotilow warf ihm ein großes Taschentuch hin, das Sauerbrunn an die Nase drückte und dabei den Kopf weit in den Nacken zurücklegte. Jakob Aaron Utschomi war den Tränen nahe. Er schluckte mehrmals laut, ehe er weiterfragte.

«Wo sind Sie geboren?«

«In Berlin.«

Der Kommissar sah kurz auf. Seine Stimme war hell und scharf. Wenn er sprach, zuckten seine Augenwinkel, und die dünnen Lippen wölbten sich vor wie bei einem Lama, das im Begriff ist, zu spuk-ken.

«Das ist nicht wahrr!«

«Ich bin in Berlin geboren. Am 19. September 1915!«

«Nicht in München?«

«Nein.«

Hans Sauerbrunn versuchte, das durchblutete Taschentuch von der Nase zu nehmen. Ein scharfer Schmerz durchzuckte die Nasenwurzel, als er den Kopf senkte. In den Schläfen stachen Millionen Nadeln. Ihm war übel, er hatte das schreckliche Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen — bis er sich sagte, daß sein Magen ja leer sei, weil er die Brotration schon am Morgen gegessen hatte und nun auf die Kohlsuppe des Mittagessens wartete.

«Was war Ihr Vater?«

«Schuhmachermeister.«

«Das ist nicht wahrrr!«sagte Kommissar Kuwakino wieder.»Alles gelogen!«Er legte seine Hände auf die Tischplatte. Anscheinend waren seine Nägel jetzt sauber. In seinen Augen glomm Bosheit auf, als er das blutige Gesicht des Gefangenen betrachtete.»Warum Sie leugnen?«

«Mein Gott. «Hans Sauerbrunn hob die Schultern. Was wollen sie von mir, warum haben sie mich geholt? Wissen sie, daß mein Bruder in der SS war und mein Vater Zellenleiter der Partei? Ich war in der SA, ein kleiner Truppführer, der am Sonntag seine Männer beim Dienst anbrüllte und anschließend mit ihnen um die Wette soff. Manchmal mußten wir mit einer Taxe unsere Zivilsachen kommen lassen, weil wir im >braunen Ehrenkleid< nicht besoffen durch die Straßen gehen konnten. Ob sie das alles wissen? Aber warum fragen sie dann nicht? Warum nicht auch die anderen Millionen, denen es so oder anders erging, die ihren Parteidienst taten und die Hand hoben beim Horst-Wessel-Lied? Wie sangen doch die Pimpfe, diese kleinen, schwarzuniformierten Knaben mit ihrem Fähnlein vorneweg.»Ja, die Fahne ist mehr als der Tod. «Die Fahne, der sie nachlatschten und in den schönen, hellen Sonntagmorgen schrien:»Es zittern die morschen Knochen.«

Er mußte lächeln und schmeckte beim Lächeln sein Blut.

«Woran denken?«sagte Kommissar Kuwakino. Hans Sauerbrunn fuhr zusammen.

«Ich habe die Wahrheit gesagt. Warum fragen Sie mich denn? Was ist denn los? Was habe ich denn getan?«Seine Stimme wurde unsicher. Die starren Gesichter hinter dem Tisch flößten ihm Angst ein. Er wollte es sich nicht gestehen, aber er spürte sein Herz hämmern und verkrampfte in den Schuhen die Zehen vor Angst.

«Warum habben geändert Sie den Namen?«

«Was soll ich?«Hans Sauerbrunn sah den Kommissar verblüfft an.

Aaron Utschomi nickte.»Sie haben doch Ihren Namen geändert.«

«Ich?!«

«Ja. Sie haben aus einem — bruch einen — brunn gemacht!«

Utschomi wollte weitersprechen, aber Major Worotilow schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und beugte sich weit vor. Seine Stimme war freundlich und zuvorkommend.»Nun geben Sie schon zu, daß Sie Hans Sauerbruch sind, der jüngste Sohn des deutschen Chirurgen Professor Sauerbruch.«

«Der Sohn des Generaloberstabsarztes der deutschen Armee«, unterstrich Kommissar Kuwakino.

Hans Sauerbrunn schüttelte matt den Kopf.»Ich heiße Sauerbrunn. Mein Vater war Schuhmachermeister in Berlin. Wir wohnten am Schlesischen Bahnhof.«

«Das ist nicht wahrr!«Der Kommissar erhob sich und umging den Gefangenen. Er umkreiste ihn wie ein Raubtier sein Opfer, und die Kreise wurden immer enger. Dicht vor Sauerbrunn blieb er stehen und sah in lauernd an.»Ihr Vater ist in Berlin. Arbeit in Charite. Wenn Sie zugebben, daß Sohnn, dann Sie frei.«

Hans Sauerbrunn biß die Zähne aufeinander. Frei. frei. kein Plenni mehr. keine Kohlsuppe, kein glitschiges Brot, keine Arbeit in den Wäldern, keinen Piotr Markow. keinen Stacheldraht, keine Wachttürme, keine eisigen russischen Winter, keine Kirgisen und Mongolen, die nicht sprachen, sondern einfach zuschlugen. Die Versuchung umgarnte ihn.

Lauernd sah Kommissar Kuwakino den Gefangenen an.»Na?«fragte er.

«Ich bin es nicht«, stöhnte Hans Sauerbrunn.

«Wir werden Sie mit nach Moskau schicken«, sagte Major Worotilow steif.»Wenn Moskau sagt, Sie sind Hans Sauerbruch, dann sind Sie es! Moskau irrt sich nie!«

«Ich heiße Sauerbrunn! Sauerbrunn! Sauerbrunn!«schrie der Junge. Er schlug mit der Faust hysterisch auf den Tisch und riß sich das Hemd auf. Die Nerven versagte ihm, die Spannung löste sich in Schreie auf. Er tobte und wollte mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Leutnant Markow fing ihn auf und schlug ihm mit der flachen Hand gegen den Hals. Wie ein Sack fiel er um und lag gekrümmt auf dem Boden der Kommandantur.

«Weg!«sagte der Kommissar steif.»Ich nehme ihn mit! Befehl ist Befehl!«

Vier Tataren trugen Hans Sauerbrunn in seine Baracke. Man stellte sich gerade in einer langen Reihe auf, um Essen zu fassen.

Die Kohlsuppe stank wie immer. Die Plennis sahen nicht hin, als man Hans Sauerbrunn aus der Baracke trug. Geschlagen wurde oft, aber Essen bekommen war wichtiger, und wer zu spät kam, erhielt mehr Wasser als schwimmende Kohlstücke.

Julius Kerner und der von der Arbeit zurückgekehrte Peter Fischer sahen sich stumm an.

«Hunde!«knirschte Fischer zwischen den Zähnen.

Kerner stieß ihn in die Seite.»Halt die Schnauze, Mann.«

In die Blechschüsseln klatschte die Suppe.

Sie roch etwas angebrannt. Das reinigt den Magen, sagte der Mann, der austeilte. Dabei lachte er. Einmal trat man ihm in den Hintern, aber das nahm er auch nicht übel. Er war gut gelaunt, denn er hatte Küchendienst und konnte sich einmal rundum sattessen. Das macht Laune und friedlich gegen alle Mitmenschen.

In der Baracke warfen die Tataren Hans Sauerbrunn auf die erste Pritsche und gingen lachend über den Platz zu ihrem Wachhaus am großen Tor. Karl Georg, der ewige Stubendienstleiter, kam herangerannt und verstummte vor Entsetzen, als er das Gesicht sah, das auf dem Strohsack lag.

«Mein Gott«, stammelte er.»Mein Gott. «Dann nahm er den Eimer Wasser und ein Stück Hemdentuch und wusch Sauerbrunn vorsichtig das Blut vom Gesicht und von der Brust. Der Ohnmächtige stöhnte leise.

Ein Gefangener aus der Nebenbaracke sah herein.»Schlimm?«fragte er.

«Vielleicht.«

«Der kann heute doch nichts essen. Darf ich mir seine Portion Suppe holen?«

«'raus! Du dreckiges Schwein!«schrie Georg.

Der struppige Kopf verschwand.

Als die anderen in die Baracke zurückkamen, lag Sauerbrunn wimmernd auf dem Strohsack und hielt sich das Gesicht mit beiden Händen fest.»Meine Nase«, jammerte er.»Oh, meine Nase.«

Julius Kerner legte sein Eßgeschirr hin. Es würgte ihn im Hals.

«Ich laufe zum Stabsarzt«, sagte er.»Wenn wir bloß wüßten, was der Junge ausgefressen hat.«

Kommissar Wadislav Kuwakino saß am Tisch und aß einen fetten Hammelbraten mit grünen Bohnen. Major Worotilow leistete ihm Gesellschaft, während Markow wütend die Essenausteilung überwachen mußte und sich ausrechnete, daß er nachher nur noch die

Knochen abnagen durfte. Das steigerte seinen Zorn, er schlug einem Gefangenen, der etwas Suppe auf seine Stiefel verschüttete, die Schüssel aus der Hand und brüllte über den weiten Platz.

Die Plennis duckten sich. Sie schwiegen. Stumpfheit lag in ihren Augen. gewollte Stumpfheit.

«Ich weiß nicht, wie sie in Moskau auf den Gedanken kommen, das sei der Sohn des Chirurgen Sauerbruch. Sie müssen ihre Gründe haben, Genosse Major. Soviel ich weiß, untersuchte Sauerbruch einmal Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin. Das hat man nicht vergessen.«

«Aber wenn er nicht der Sohn ist, wirklich nicht?«

Kommissar Kuwakino biß in das Fleisch. Es war gut gebraten und knackte zwischen den gelben Zähnen. Sein Gesicht war zufrieden.

«Dann wird man ihn in Moskau verurteilen. Wegen Irreführung. Fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit.«

«Aber er hat doch beteuert, daß er nicht der Sohn ist!«

Kuwakino hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Er schaufelte sich die grünen Bohnen auf die Gabel und schnalzte mit der Zunge. Fett troff auf den Teller.

«Leider nicht so überzeugend, daß wir es glauben konnten, Genosse Major. Wie sagte Puschkin? Ein tiefer See ist stets gefährlich, auch wenn man ihn ausschöpft.«

Die grünen Bohnen knirschten leise, als er sie zwischen den Zähnen zermalmte.

Worotilow schwieg. Er aß nicht mehr. Er dachte an das blutige Gesicht.

Ich war Kadett, dachte er. Sowjetkadett. Ich lernte vom ersten Tage an die Deutschen hassen.

Aber ich bin ein Mensch. Ist es dieser Kuwakino auch?

Er blickte zur Seite. Der Kommissar beugte sich über den Teller und schnalzte. Über sein gelbliches Gesicht mit den leicht geschlitzten Augen fielen die glatten schwarzen Haare.

Ein Asiate, dachte Major Worotilow. In seinem Hals würgte der Ekel.

Es war am späten Abend. Im Lager war Ruhe. Nur Karl Georg begoß noch einmal seinen Barackengarten; er lebte nur für seine Blumen und hätte die Hälfte seiner Suppe auf sie geschüttet, wenn er kein anderes Wasser hätte auftreiben können.

Dr. Böhler sah sich die Tagesmeldungen der einzelnen Blockreviere an und blickte dann zu seinen Kollegen auf.

«Was wissen Sie von dem Vorfall heute mittag? Hier steht: Nummer 6294/19, Sauerbrunn, Hans, Nasenbeinbruch. Die Ärztin hat ihn arbeitsfähig geschrieben.«

«Man sollte ihr selbst die Nase einschlagen, damit sie spürt, wie weh so etwas tut!«Sellnow las die Krankmeldung durch und nickte.»Typisch Kasalinsskaja. Befund: Nasenbeinbruch! Als Holzfäller arbeitsfähig. Als Holzfäller auch nicht!«

«Am besten ist, Sie sprechen einmal selbst mit ihr, Werner. Sie hat heute Dienst und ist im Lager.«

«Ich?«

«Ja. Unser Unterarzt ist zu weich. «Dr. Schultheiß wurde rot, aber er rechtfertigte sich nicht.»Sie haben da die beste Methode, Werner, Sie gehen mit dem Kopf durch die Wand. Nichts imponiert der Russin mehr als Unbeugsamkeit. Und die haben Sie, Werner.«

«Herzlichen Dank für das Attest«, knurrte Sellnow. Er nahm seinen vielfach geflickten Rock vom Haken und schob sich aus der Tür. Dr. Böhler sah im nach, und ein leises Lächeln überzog sein schmales, abgehärmtes Gesicht.

«Gleich wird die Baracke erzittern, und die Stühle werden in den Gang fliegen. Aber glauben Sie mir — unser Oberarzt bekommt den Nasenbeinbruch ins Lazarett.«

Die Kasalinsskaja fuhr herum, als Sellnow nach kurzem Klopfen eintrat, ohne ihre Antwort abzuwarten. Sie trug ein seidenes Nachthemd, dünn genug, um mehr als nur andeutungsweise ihren üppigen Körper zu zeigen.

Sellnow verzog spöttisch den Mund. Er schloß die Tür hinter sich, blieb ruhig stehen und sah die Kasalinsskaja an.

«Was wollen Sie?«fauchte die Ärztin.»Sehen Sie nicht, daß ich schlafen will!«

«Ich möchte mich mit Ihnen über eine Nase unterhalten.«

«Raus!«schrie die Kasalinsskaja.

«Genauer gesagt, über einen Nasenbeinbruch. So ein Bruch tut weh, beste Kollegin. So ein Bruch kann schlimm werden, wenn er vernachlässigt wird. Haben Sie schon einmal eine schöne, plattgehauene, rosenkohlförmige Boxernase gesehen?«

Die Kasalinsskaja zitterte vor Wut. Sie hatte sich vorgebeugt wie eine Tigerin vor dem Sprung. Das Hemd verschob sich. Weiß schimmerte die linke Brust hervor. Sellnow schoß das Blut in den Kopf. Er trat einen Schritt vor und drückte die Ärztin in einen Sessel. Ihre schwarzen Augen funkelten ihn an. Wie eine Schlange wand sie sich unter seinen Händen.

«Weg!«keuchte sie.»Lassen Sie mich los, Sie deutscher Hund!«

Sellnow nahm ihr gegenüber Platz. Er schlug die Beine übereinander und tastete mit gierigen Blicken ihren Körper ab.

«Sie haben den Gefangenen Nummer 6294/19 gesund geschrieben!«

«Ja!«schrie sie ihn an. Sie warf die Locken in den Nacken. Sell-now wurde rot.

«Der Mann hat einen Nasenbeinbruch.«

«Das weiß ich.«

«Und Sie schicken ihn in die Wälder?!«

«Bäume werden nicht mit der Nase gefällt.«

«Reden Sie nicht solchen Bockmist, Alexandra.«

«Ich heiße Dr. Kasalinsskaja«, zischte sie. Aus ihren Augen funkelte die Wildheit ihrer Heimat. Sie zitterte, und als sie die Hände im Schoß verkrampfte, spürte sie, wie die Innenseite ihrer Schenkel bebte. Sie wurde totenblaß, gleich darauf bildeten sich auf ihren Wangen rote, hektische Flecken.

«Raus mit Ihnen!«zischte sie fast unhörbar vor Erregung.

«Ich gehe sofort, wenn Sie mir den Gefangenen ins Lazarett überstellen und transportunfähig schreiben.«

«Nie! Nie! Nie!«

Sellnow schloß halb die Augen. Er musterte sie, als ob er durch ein Zielfernrohr etwas beobachtete.

Plötzlich erhob er sich und riß sie am Handgelenk zu sich empor. Keuchend stand sie vor ihm.»Du Aas!«sagte er leise.»Du Hexe! Du Satan von einem Weib!«

Mit jähem Griff riß er ihr das Hemd über der Brust auf. Sie schlug ihm mit beiden Fäusten ins Gesicht, sie spreizte die Finger und kratzte. Unter ihren Nägeln fühlte sie Fetzen seiner Haut. Sellnow keuchte. Er riß sie nach hinten und küßte wild ihre heißen, trockenen Lippen. Unter seinem brutalen Griff erstarb ihre Gegenwehr. Mit einem einzigen heftigen Stoß warf er sie auf das Bett und war im gleichen Augenblick über ihr.

Sie kämpften wie die Tiere. Ihr Atem hechelte, Schweiß überzog ihre Körper.

«Du Hund!«stieß sie hervor.»Der verdammtes, verfluchtes Schwein. «Und mit einem spitzen Schrei ergab sie sich.

Auf den Wachttürmen am Zaun gähnten die Soldaten.

Ein warmer Wind rauschte durch die Wälder, die sich hinabzogen bis zur träge fließenden Wolga.

Das Lager 5110/47 schlief.

Der Gefreite Hans Sauerbrunn wurde krank geschrieben und kam ins Lazarett.

Sellnow war ein anderer Mensch geworden. Pfeifend ging er umher. Seine Barschheit war verschwunden, er war glänzender Laune und verstand sich sogar mit seinem alten Widersacher Dr. Kresin. Er nahm manche Bemerkung leicht, über die er früher vierzehn Tage geschimpft und geflucht hätte. Dr. Böhler sah ihn von der Seite an und schwieg. Nur einmal sagte er zu Dr. Schultheiß mit einem leichten Kopfschütteln:»Wenn das gut geht. Wenn das bloß gut geht.«

Auch die Kasalinsskaja war verwandelt. War sie früher gefürchtet, so wurde sie jetzt gehaßt. Es war, als breche das Satanische in ihr nun erst richtig durch. Sie schrieb nur noch Gesundmeldungen und untersuchte die Kranken überhaupt nicht mehr.»Alle Deutschen sind gesund… zu gesund!«sagte sie gehässig, als Dr. Schultheiß sich bei ihr beschwerte, weil sie einen Mann mit schwerer Furunkulose ins Bergwerk geschickt hatte. Und dann sah sie sich in den Außenlagern die verhungerten Gestalten an, ließ sie nackend an sich vorbeidefilieren und schrie hysterisch:

«Gesund! Gesund!«

Doch in jeder Nacht, die sie im Lager schlief — und sie wußte es einzurichten, daß es öfter und öfter geschah —, tobte sie in den Armen von Sellnow die Wildheit ihrer kaukasischen Heimat aus. Am Morgen war sie bleich, ihre Augen brannten, Haß auf die Nacht und auf die Deutschen ergriff sie wieder wie eine Woge, die alles in ihr wegspülte, und sie trieb die Plennis in die Gruben und Wälder, auf die Bauten und in die Steinbrüche und freute sich über die Flüche, die ihr entgegenbrandeten.

Janina Salja lebte nun eine Woche im Lager. Sie ging wenig aus, — meist lag sie auf einem Liegestuhl am offenen Fenster in der Sonne und schaute hinüber auf die grünen Wälder und die staubige Steppe, auf den Stacheldrahtzaun, die Wachttürme und die trocknenden Unterhosen, die Dr. Kresin siebenmal herunterriß und die achtmal wieder in dem leisen Wind wehten.

Major Worotilow hatte auf den Rat Dr. Kresins gehört. Er ließ Salja in Ruhe und besuchte sie nur am Tage, plauderte mit ihr im Zimmer oder ging mit ihr spazieren, ritt auch einmal mit ihr in die Wälder, wo die Haukolonnen der Außenlager sie bestaunten und sich wundersame Märchen von einer neuen Ärztin erzählten. Märchen, die von Lager zu Lager wanderten und ein großes Aufatmen zur Folge hatten, denn man hoffte, Dr. Kasalinsskaja nie mehr zu sehen.

Aber die Kasalinsskaja blieb. Sie zeigte ihre Macht über die verhaßten Deutschen, indem sie drei Simulanten auspeitschen ließ und dabeistand, wie Mongolen ihnen die Haut in Fetzen vom Rücken schlugen. Befriedigt kehrte sie ins Hauptlager zurück und vermied es, Sellnow zu begegnen.

Auch Dr. Schultheiß hielt sich bewußt zurück. Er hatte mit Janina nicht wieder gesprochen. Die Arbeit bei dem Oberfähnrich, dem Sorgenkind des Lazaretts, nahm ihn ganz in Anspruch. Sie war ihm willkommen, sie lenkte die Gedanken in andere Bahnen, und wenn er auch Janina täglich sah — einmal im Reitdreß, einmal in einem weißen, tief ausgeschnittenen Sommerkleid —, so zwang er sich, in ihr nur eine Patientin zu sehen.

Dr. Böhler hatte bei Major Worotilow dreihundert Rubel für Ba-schas neuen Schal abgeliefert. Worotilow hatte das Geld zuerst mißtrauisch angesehen, dann hatte er es durchgezählt, es zur Seite geschoben und Dr. Böhler einen Stuhl angeboten.

Erstaunt setzte er sich.

«Dreihundert Rubel, tatsächlich«, sagte Major Worotilow.»Ich bewundere die Deutschen. Sie machen aus Dreck Geld! Wo haben Sie es her?«

«Das Lager hat es gesammelt.«

«Auf den Lagergassen liegen keine Rubel, die man sammeln kann. Wo kommt das Geld her?«Worotilow blickte auf den kleinen Berg der Scheine und Münzen.»Es ist erstaunlich, was man aus Kriegsgefangenen, die vier Jahre hinter Stacheldraht sitzen, die hungern und im Winter wie die Fliegen frieren, herausholen kann! Es ist unbegreiflich!«Worotilow sah Doktor Böhler lange in die Augen.»Was muß man tun, um euch Deutsche unterzukriegen? Es geht nicht durch Hunger! Nicht durch Frieren! Nicht durch Schläge! Nicht durch harte Arbeit! Nicht durch Strafen!«

«Warum wollen Sie uns unterkriegen?«Dr. Böhler nahm eine der Zigaretten, die ihm Worotilow anbot. Gierig rauchte er den süßen türkischen Tabak.

«Aus Prinzip!«Worotilow sah nachdenklich auf die Rauchwolken.»Im Herzen bewundern wir euch. Der Deutsche war oft der geschichtliche Lehrmeister der Russen.«

«Wie kann ein bloßes Prinzip — von dem Sie sprechen — solche Grausamkeiten erzeugen?«

«Weil die Grausamkeit die einzige Stärke ist, die wir euch Deutschen voraushaben. Eure gefühlvolle Seele, eure schöne Seele — wie Schiller sagt — steht euch im Weg, aus den geistigen Qualitäten die großen weltpolitischen Entscheidungen zu kristallisieren! Ihr habt einen König Friedrich gehabt, den ihr den Großen nennt. Er eroberte Schlesien… was habt ihr jetzt davon? Ihr habt einen Bismarck gehabt, was ist geblieben von seiner Politik und seinem Geist? Ihr hattet einen Stresemann, einen Adolf Hitler… wo sind sie? Was ist geblieben?«Worotilow lächelte sarkastisch.»Außer unseren göttlichen Künstlern hatten wir Russen nur die Grausamkeit. Zar Iwan. man nennt ihn den Schrecklichen. Zar Peter… er ließ die Hüte auf den Köpfen festnageln, wenn sie nicht schnell genug vor ihm gelüftet wurden. Katharina — Elisabeth — Potemkin. Zar Godunow… Demetrius. Ein Gebirge von Grausamkeit und Blut, Schrecken und Elend, Vergewaltigung der Seele und Knechtung der Freiheit. Aber immer blieb, unberührt, stark über Jahrhunderte Mütterchen Rußland, der singende Schwan des Ostens, die Wiege der Unendlichkeit. Europa ist degeneriert. Es stirbt an seiner Überzüchtung der Intelligenz, es frißt sich selbst auf durch seine der Kontrolle entgleitende geistige Potenz. Rußland ist jung geblieben, es mußte jung bleiben, weil Grausamkeit und Strenge die Jahrhunderte verwischten. Und die Welt gehört den jungen Völkern!«

«Das wäre nach Ihrer Auffassung die moralische Rechtfertigung der Weltrevolution.«

«Sie ist es, Doktor.«

Dr. Böhler drückte seine Zigarette aus und stützte den langen, schmalen Kopf in die rechte Hand. Mit der linken spielte er mit einigen Rubelstücken.»Sie haben bei Ihrer Geschichtsrechnung einen Fehler gemacht, Major«, sagte er sinnend.»Der Westen mag überkultiviert sein, verwöhnt und damit verweichlicht — aber er schafft kraft seiner Intelligenz auch die Abwehrmittel gegen eure Revolution der Ordnung. Wir haben etwas, das alle seelischen und körperlichen Reserven weckt und auch den Verwöhntesten zum Dulder werden läßt: das Vaterland! Der letzte Krieg war ein Kampf der Ideologien. Sie lagen an der Front, Major, weil Stalin oder Hitler — wir wollen nicht darüber streiten, wer — besessen von einem Gedanken war, festgekrallt in das Lustgefühl, mächtig zu sein. Der Machtvollste der Erde. Cäsar scheiterte daran, Alexander, Philipp II., Napoleon. Auch ich lag im Dreck, Millionen verbluteten für diese Idee — es ging ja nicht um ein Vaterland, es ging erst dann darum, als die Gegner an unseren Grenzen standen und in das Land fluteten. Aber da waren wir bereits ausgeblutet, ein Körper, der nur im Wege lag, und dessen Beseitigung eine Kleinigkeit war. Auch Ihre Weltrevolution ist nur ein Krieg der Idee —, und Sie tragen diese Idee jetzt in Länder, die keine Idee mehr entgegenzustellen haben, sondern nur ihr Vaterland! Das Höchste, Major! Da wird der Sanfte eine Bestie, wenn es um seine Frau, um sein Kind geht. Und daran werden Sie zerbrechen; an den Herzen der Völker! Ihr Rußland wird nicht bedroht — aber Sie bedrohen die Welt!«

«Wir befreien die Arbeiterklasse vom Kapital!«

«Was wäre der Arbeiter ohne das Kapital?«

«Ein freier Mensch unter der Obhut des Staates!«

«Mit anderen Worten: die Rolle des sogenannten Kapitalisten übernimmt der Staat! Glauben Sie wirklich, daß es besser ist, ein Mensch arbeitet unter einem Gremium staatlicher Direktoren, die eine Arbeitsnorm den erforderlichen politischen Zielen anpassen, als wenn er unter einem Mann arbeitet, der zwar das Vielfache des kleinen Mannes verdient, aber unabhängig ist und ein Mensch unter Menschen.«

Major Worotilow erhob sich. Steif stand er hinter seinem Tisch.»Sie sind noch immer ein Nazi!«sagte er scharf.

«Nein, ich bin nur ein Mensch. Ein Mensch, den Sie in der Hand haben, den Sie töten dürfen, weil Sie die Macht dazu haben! Ihre russische Grausamkeit, die alle Ordnung sprengt, wie Sie eben sagten. Ihre Idee von der Stärke! Und weil ich ein Mensch bin, ehre und liebe ich den Menschen in jeder Gestalt, wenn er mir menschlich gegenübertritt. Ich achte ihn, wie ich selbst geachtet werden möchte. Aus der Achtung voreinander wächst der Rhythmus des Lebens.«

Major Worotilow schwieg. Er schien nachzudenken. Über sein breites Gesicht zog ein Schimmer der Enttäuschung und Verblüffung. Dann wandte er sich um und ging im Zimmer hin und her.

«Ich schenke Ihnen die dreihundert Rubel, Dr. Böhler«, sagte er stockend.»Sie können mit Dr. Kresin in der Staatsapotheke von Stalingrad Medikamente damit kaufen. «Er hob die Hand, als Dr. Böhler etwas einwenden wollte, und sprach schnell weiter.»Aber nur unter der Bedingung, Doktor: Sie gehen eine Woche in das Außenlager 12.«

«Wenn ich nicht irre, ist das das Holzfäller-Lager.«

«Ganz recht. Dort werden Sie acht Tage leben. Nur als Arzt. Sie haben volle Freiheit. Sie können im Lager bleiben, Sie können mit in das Schlaggebiet ziehen, wie Sie wollen. Nach acht Tagen sprechen wir weiter.«

Dr. Böhler erhob sich. In seinen Augen lag hilfloses Erstaunen.»Was versprechen Sie sich davon, Major?«

«Eine Wandlung, Doktor. «Ein Zug von Grausamkeit und Härte grub sich in sein Gesicht.»Ich will Ihnen zeigen, wie durch Grausamkeit aus Ihrer edlen Seele, aus Ihrem Stolz ein winselndes Tier wird, ein Hund, der nicht zu bellen wagt, eine Maus, die neben dem Speck verhungert.«

«Wir sind wehrlos, Major«, sagte Dr. Böhler dumpf.

«Der Russe ist es seit Jahrhunderten.«

Dr. Böhler senkte den Kopf.»Ich gehe, Major.«

Lager 12. Die Wälder von Werchnjaja Achtuba und Srjednje Po-gromnoje. Stämme, wie sie fünf Männer nicht umfassen können. Urwald am Rande der Stadt.

In Srjednje Pogromnoje heulen noch die Wölfe durch die Nacht. Im Winter liegen sie am Waldrand und starren auf die Hütten der Arbeiter, gierig mit flackernden Augen. Aus ihrem roten Rachen quillt in Wolken der Atem der Mordlust.

Wenige Hütten bilden das Lager 12. Blockhütten mit steinbe-schwerten Dächern.

Ein drei Meter hoher Drahtzaun. Zwei kleine Wachttürme. Eine Stromleitung führt einsam durch die Steppe und den Wald zur Hauptleitung des Lagers 5110/47.

Hier leben 184 Männer. Plennis.

34 Russen. Verlaust, unlustig, fluchend, hungernd wie die Deutschen. Ein Feldwebel befehligt sie. Meist ist er besoffen und liegt in der Sonne, erbricht sich und schreit nach Weibern. Man geht an ihm vorbei und sieht ihn gar nicht. Er gehört zum Lager wie die Latrine und die kleine Sanitätsstation, die einmal im Monat von der Kasalinsskaja aufgesucht und rücksichtslos geräumt wird. Das ist eigentlich der schwärzeste Tag im Lager 12. Sonst geht das Leben in trostloser Dumpfheit weiter, die keine andere Regung aufkommen läßt als Essen, Trinken, Schlafen und auf die Latrine gehen.

Am Tage hallen die Wälder wider von den Axthieben und dem splitternden Fallen der Riesen. Ab und zu ein Verletzter, den ein Ast streifte oder dem ein Axthieb ins Bein ging. Dann streicht der Sanitäter Jod darüber und zuckt die Schultern. Dawai! Dawai!

In den Wäldern herrscht das Recht des Stärkeren. Wer den Tag überlebt, ist glücklich — wer ihn nicht überlebt, stirbt. aber sein Tod wird erst nach vier oder fünf Tagen gemeldet… solange empfangen seine Kameraden für den Toten die Essenration und teilen sie sich.

Auch der Tod hat hier seinen Sinn und erfüllt einen bestimmten Zweck. Er ernährt die Überlebenden.

Am Abend, wenn die Wölfe heulen und die Eulen in den hohen Tannen jammern, ist alles Leben im Lager erstorben. Die Wachtposten dösen auf den Türmen. Noch nie ist einer ausgebrochen. Wo sollte er auch hin? In die Wolga? Über die Wolga? Und dann? Rußland ist weit, Rußland ist unendlich für einen kleinen, schwachen, verhungerten Menschen. Die Größe Rußlands ist der beste Stachelzaun. An dieser Größe scheitert der Gefangene — nicht der Mensch, aber seine Seele, sein Mut, sein Verlangen nach der Freiheit, seine Sehnsucht nach der Heimat. Die Weite des Landes erdrückt das Herz.

Einmal in der Woche werden die Baumstämme abgeholt. Dann kommt die Fahrkolonne aus Stalingrad. Plennis auf hohen, schweren amerikanischen Raupenwagen, mächtigen Treckern und Drei-achslastern. Mit Winden und Menschenkraft werden die riesigen Stämme aufgeladen und rollen dann in die Sägewerke. Die Bauten von Stalingrad schreien nach Holz. Holz. Und auf den Bauten stehen die Plennis und schleppen die Steine und Bretter.

Das Abholen der Stämme ist die große Abwechslung im Lager 12. Dann werden Zigaretten getauscht, Zeitungen, Tabak, Schnaps… die Kameraden in der Stadt kommen an vieles heran, sie können sich etwas in den Baukantinen kaufen oder mit den Zivilarbeitern tauschen. Sie sind reich in den Augen der armen Waldplennis vom Lager 12; reich, wie es selbst Major Worotilow nicht ist, der seinen Lohn erhält, seine billige Verpflegung und ab und zu eine scharfe Kontrolle des Oberkommandos.

Von Tag zu Tag wächst die Hoffnung: in vier Tagen… in drei Tagen. in zwei Tagen. morgen. heute kommen die Wagen! Wie sieht es in Stalingrad aus? Was macht der dicke Peter von der 16. Baracke? Und der Emil ist krank? So? Furunkel? In der Betonfabrik gekriegt? Armes Schwein, der Emil. Und der Julius? Was? Der ist versetzt in ein Moskauer Lager? Und der Meier 17 auch? Sollen die etwa entlassen werden? Mein Gott — entlassen! Dieses Wort. Entlassen! Man könnte heulen, wenn man es hört. Aber nu gib schon die Pulle her. Was ist drin? Wodka mit Tee? Warum schüttest du Rindvieh zu dem Tee Wodka? Oder umgekehrt?! Saubande. Man säuft. man raucht. man lädt auf und rastet wieder. >Thema eins<? Weiber? Leckt mich doch am Arsch mit Weibern! Wißt ihr noch, wie der Kauffmann, der kleine Dicke, bei Kiew 'ne ganze Kuh organisiert hat? Und die große Obstkolchose bei Saporoschje am Staudamm? Pfirsiche wie Tennisbälle. Mensch! Bei uns gab's sonntags immer Schweinebraten mit Kartoffelklößen. Fressen, fressen, Leute — noch ein einziges Mal richtig rund und dammlig fressen möcht' ich mich!

Halt's Maul! sagt einer, sonst rumst's!

Alles Scheiße, sagt ein anderer und spuckt in die Hände. Die Arbeit geht weiter. Bäume aufladen. Der Kran wimmert, die Winde kreischt. Krachend fällt der Stamm auf den Sattelschlepper. Ihr Idioten, paßt auf.Bald hätte es mir den Fuß abgequetscht! Dusselige Bande!

Die Sonne brennt. Stinkender Schweiß rinnt. Arbeiten. arbeiten. dawai. dawai.

Die Posten dösen und grinsen. Weißrussen, Tataren, Kalmücken, Georgier.

In dieses Lager kam Dr. Böhler. Major Worotilow brachte ihn im Jeep hin. Als sie in die geschlagene Schneise einbogen und über die Stucken holperten, flog die Ankündigung ihres Kommens schon von Mund zu Mund dem Wagen voraus.

Der Alte. Und ein Plenni. Ein langer, schmaler.

Der Alte hat gute Laune, er lachte im Jeep.

Gute Laune? Verdammter Mist. Wenn der gute Laune hat, können wir wieder Gras fressen. Die Schwachen auf der Sanitätsstation zittern vor Angst. Sie werden die ersten sein, die er beißt. Man kennt das. Die Hilflosen sind die Zielscheiben.

Dr. Böhler sah nach links und rechts. Er schwieg erschüttert, als er in die Gesichter der Männer blickte, die aus den Einschlagstellen herüberschauten.

«Wieviel leben hier?«fragte er kurz vor dem Lager.

«Im Augenblick 184! Das heißt, 184 waren es nach der telefonischen Meldung gestern abend. Wieviel es jetzt noch sind, wird erst die Zählung ergeben.«

Major Worotilow warf seine Zigarette aus dem Wagen. Ein Plen-ni der an der Straße stand, sah sie liegen. Er blickte dem Wagen nach, bis er in das Lager einfuhr, dann stürzte er sich auf den Stummel und sog gierig daran. Sein Gesicht strahlte.

Der Feldwebel saß mit dickem Schädel in der Wachstube und war erschüttert, plötzlich seinen Major vor sich zu sehen. Er stand schwankend auf und versuchte, strammzustehen. Worotilow trat ihm schweigend ins Gesäß, daß er taumelte.

«Sehen Sie, Doktor«, sagte Major Worotilow.»Er ist schon wieder besoffen! Ich habe es ihm oft verboten. der Schnaps ist so bemessen, daß keiner sich betrinken kann, aber er bekommt immer welchen. Er tauscht ihn ein, er schmuggelt ihn in diese Wildnis, ich weiß nicht wie. Feststeht: Er ist wieder besoffen! Was soll man jetzt anderes tun als die Vorherrschaft der Grausamkeit walten lassen. Er wird es auch tun, wenn er wieder nüchtern ist, er wird noch grausamer sein als ich — und dann zu Ihren Landsleuten. Er wird Erfolg haben. «Worotilow wandte sich an den Feldwebel.»Sie kommen heute zu mir ins Hauptlager! Mit allem Gepäck!«

Der Betrunkene wurde hellwach. Er sprang auf, sein Gesicht war leichenfahl. Er schlotterte und machte Anstalten, dem Offizier vor die Füße zu fallen.

«Genosse Major.«, wimmerte er,»Gnade — Gnade!«

«Heute abend bei mir!«sagte Worotilow unerbittlich.

Der Feldwebel begann zu weinen. Er schlug die Hände vor sein breites, einfältiges, sibirisches Bauerngesicht. Er warf sich herum und greinte wie ein Kind.

«Meine Frau«, jammerte er.»Ich habe sechs Kinder! Und alte gebrechliche Eltern! Gnade, Genosse Major, Gnade.!«

Worotilow schlug ihm ins Gesicht und wandte sich zum Gehen. Hinter ihnen brach der Feldwebel über dem Tisch zusammen. Es war, als bisse er in das Holz, um nicht zu schreien.

«Was werden Sie mit ihm tun?«fragte Dr. Böhler stockend.

«Ich?«Worotilow lächelte mokant.»Nichts. Ich werde ihn lediglich dem Genossen Divisions-Kommissar melden. Der macht ihn kirre, daß er nicht mehr wimmern kann. Wie ein Molch wird er auf dem Bauch kriechen. «Worotilow sah sich um. Am Ausgangstor stand die Wache angetreten. Sie präsentierte.

«Sehen Sie — es hat sich herumgesprochen. Der Feldwebel ist abgeschrieben, das wissen die Kerle da! Jeder hofft jetzt auf Beförderung — und jeder wird grausamer sein als der andere, um befördert zu werden. Grausam gegen Ihre Landsleute, Doktor. Die Kapazität des Lagers 12 ist 190 Mann. Wir müssen es alle drei Monate fast um die Hälfte auffüllen.«

Er trat an seinen Jeep und nickte dem Arzt zu.»Leben Sie wohl«, sagte er ernst.»In acht Tagen komme ich wieder. Dann reden wir weiter über die Ideologie der Kraft. Man wird Ihnen als Arzt nichts tun. Sie können ebenfalls tun, was sie für gut erachten. Sie sollen vor allem beobachten. Und nun — adieu!«

Er trat auf den Starter, der Jeep heulte auf. Dr. Böhler legte eine Hand an die Windschutzscheibe.

«Ich habe noch eine Frage, Major, die mir schon lange am Herzen liegt.«

«Bitte, Doktor.«

«Woher können Sie das fabelhafte Deutsch?«

Worotilow lächelte genießerisch.»Von der Kriegsschule in Moskau, Doktor. Wir hatten dort deutsche Ausbilder.«

Erstarrt sah Dr. Böhler dem Wagen nach, bis er in einer Staubwolke auf der Waldstraße verschwand.

Um die Mittagszeit kam ein kleiner Trupp dreckiger Plennis ins Lager 12 zurück. Verschwitzt, beschmiert mit Harz. Blutend aus kleinen Rißwunden. Ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonett führte sie an. Er ging daneben her und rauchte. Sein Gewehr war nicht einmal geladen. Von diesem Haufen Elend dachte keiner an Flucht.

Dr. Böhler hatte den Vormittag damit verbracht, das Lager eingehend zu inspizieren. Der Feldwebel leistete ihm dabei Gesellschaft und behandelte ihn wie den eigenen Major.

Die Baracken waren, wie in allen Lagern, sauber. Flöhe und Läuse rechnen nicht zum Schmutz, sie gelten als Haustiere. Auch die Latrine war in Ordnung, nur in der Krankenbaracke war das Primitive zur Gewohnheit geworden. Außer etwas Verbandstoff, einigen alten, immer wieder ausgewaschenen Mullbinden, ein paar Scheren und Pinzetten war nichts vorhanden. Der Sanitäter war nicht ausgebildet, die vier Kranken lagen auf verfaultem Stroh, zugedeckt mit zerschlissenen Baumwolldecken. Aus einem Abortkübel in der Ecke strömte unvorstellbarer Gestank in den Raum.

Dr. Böhler untersuchte die vier Soldaten gründlich. Auf seine Fragen antworteten sie übereinstimmend, daß sie vor Monaten zu Beginn ihrer Krankheit oft Schüttelfrost gehabt hätten. Und im Anschluß daran Fieber. Böhler fragte gar nicht erst nach der Höhe der damaligen Temperaturen. Er wußte, daß kein Thermometer vorhanden war. Er fragte auch nicht nach der Zahl der Pulsschläge bei den Anfällen. Er war sicher, daß der Sanitäter sie nicht gezählt hatte.

Eingehend tastete er die Leber- und Milzgegend der Kranken ab und fand bei allen vieren beide Organe vergrößert.

«Sind hier in der Umgebung Sümpfe?«fragte er den Sanitäter.

«Ja, sechs Kilometer von hier liegt ein breiter Streifen Sumpfland mitten im Wald.«

«Und wird dort gearbeitet?«

«Überall«, nickte der Mann,»unsere Männer fürchten das Gebiet.«

Dr. Böhler schüttelte traurig den Kopf. Diese Kranken mit den abgezehrten, welken Gesichtern, den tiefen Augenhöhlen, den bleichen Lippen hatten zweifellos Malaria. In ihren Organen hatten Millionen und aber Millionen von Malariaerregern überwintert, um alsbald wieder auszubrechen, wenn es heiß wurde.

«Hat Dr. Kasalinsskaja die Kranken untersucht?«Böhler fragte, obwohl er die Antwort im voraus wußte.

Der Sanitäter verzog den Mund.»Das Aas«, sagte er bitter.»Sie hat die Kerls für morgen gesund geschrieben. Tbc-Verdacht ist keine Krankheit, sagte sie.«

«Das ist doch nicht möglich!«rief Böhler entsetzt.

«Hier ist alles möglich! Ich habe sie auf eigene Gefahr in der Baracke behalten. Wenn die Kasalinsskaja kommt, müssen sie sofort hier verschwinden und sich verstecken.«

Dr. Böhler verließ die Krankenbaracke und stand blinzelnd in der grellen Sonne, die auf das Lager prallte. Was konnte er machen?

Der Feldwebel trat hinter ihn.»Was du tun?«fragte er gebrochen.

«Ich bleibe hier. Und länger als acht Tage.«

Der Russe verstand ihn nicht, aber er nickte. Der Plenni war ja ein Freund des Genossen Major. Die Welt stand schief. Der Deutsche ist ein Freund des Kommandanten, und der Feldwebel ist ein Bündel, das man in die Ecke wirft und ausstäubt. In das flache, sibirische Gehirn schlich die uralte Scheu des Sklaven, die Unterwürfigkeit des getretenen Bauern der Taiga. Der Feldwebel wurde ein dienernder Schatten Dr. Böhlers.

Der kleine Trupp der Essenholer stellte sich wieder am Lagertor auf. In ihren Augen lag verblüfftes Erstaunen, als sie Dr. Böhler auf sich zutreten sahen. Er nickte ihnen zu und musterte sie. Ihre gelbbraunen Gesichter waren wie Pergament, das zu lange in der Sonne getrocknet hat.

«Wo kommst 'n du her?«fragte einer aus der Gruppe.»Haste noch keine Arbeit?«

«Noch nicht.«

«Der Alte, der Major, hat dich gebracht, was? Mußt 'n feiner Pinkel sein! Uns ham sie in 'n Hintern getreten und wie 'ne Herde Säue hierhergetrieben. Bist wohl 'n politischer Redner, was? So 'n Kommissar aus der Seydlitz-Gruppe aus Moskau? Gib dir man keine Mühe. Ihr habt gutes Fressen für eure dreckige Politik. wir müssen schuften.«

Der Soldat spuckte aus und wandte sich ab. Da die anderen schwiegen, sprach er die Meinung aller aus. In ihren eingesunkenen Augen brannte ein hektisches Feuer. Sie sahen durch Dr. Böhler hindurch und trotteten wie Hammel los, als das Tor geöffnet wurde und der Soldat dem ersten Mann einen Rippenstoß gab.

Wirklich wie eine Tierherde. Dr. Böhler drehte sich um und ging zu den Baracken zurück, um die vier Kranken noch einmal anzusehen. Der Sanitäter zuckte mit den Schultern, als er gefragt wurde:»Haben Sie wenigstens eine Injektionsspritze hier?«

«Ja. Aber was für eine!«Er holte die Spritze aus einem Wandschrank und gab sie Dr. Böhler. Sie war total verschmutzt.

«Das ist eine Sauerei!«sagte Dr. Böhler laut.

«Stimmt!«

«Von Ihnen eine Sauerei! Wenn Sie Sanitäter sein wollen, haben Sie für den Zustand der Geräte als erstes Sorge zu tragen! Wenn das bei mir im Lagerlazarett vorkäme, würde ich Sie sofort ablösen lassen.«

«Das hab' ich mir gedacht!«Der Sanitäter sah den Arzt wütend an.»Da kommt so einer plötzlich her und fängt an, wild zu werden! Jahrelang hat sich keiner um uns gekümmert… und auf einmal haben sie alle die große Fresse!«Er setzte sich auf einen Stuhl in die Ecke und steckte sich eine Zigarette an.»Machen Sie doch Ihren Dreck allein!«

Dr. Böhler stand einen Augenblick wie erstarrt. Dann erinnerte er sich, was Major Worotilow vom Erfolg der Gewalt gesagt hatte. Er trat einen Schritt vor und schrie den Sanitäter an — seit drei Jahren schrie er wieder und kam sich dabei lächerlich und maßlos vor.

«Stehen Sie auf!«brüllte er.»Sie kochen sofort die Spritze aus!«

Der Sanitäter sah ihn durch den Rauch seiner Zigarette an und kniff die Augen zu einem Schlitz zusammen.»Du kannst mich am Arsch lecken«, sagte er und drehte ihm den Rücken zu.

«Ich bin Ihr Stabsarzt!«sagte Dr. Böhler drohend.

«Dafür darfst du es sogar zweimal.«

«Ich werde dafür sorgen, daß Sie sofort abgelöst werden!«

«Von mir aus!«Der Plenni zuckte mit den Schultern.»Ob schnell oder langsam krepiert — krepiert wird doch im Lager 12!«

Innerlich bebend vor Wut und Scham vor sich selbst, verließ Dr. Böhler die Baracke.

Über die Waldgasse, staubend und laut ratternd, kam ein Jeep. Der Posten riß das Drahttor auf und grüßte. Mit weitem Schwung fuhr der Wagen auf den Lagerplatz.

Eine Gestalt in erdbrauner Uniform mit hohen, schwarzen Juchtenstiefeln sprang elastisch vom Sitz. Über die Uniform wallten lange, schwarze Locken.

Dr. Alexandra Kasalinsskaja sah sich schnell um. Als sie Dr. Böh-ler vor der Sanitätsbaracke gewahrte, lief sie auf ihn zu und blieb knapp vor ihm stehen. Ihr Atem flog. Ihr wilder Körper bebte.

«Also doch!«schrie sie.»Also doch! Worotilow hat mich nicht belogen! Sie sind hier!«

«Wie Sie sehen, ja.«

«Was wollen Sie hier?«

«Mich umsehen. Und mich vor allem überzeugen, daß eine Dr. Kasalinsskaja ihren Doktortitel zu Unrecht trägt!«

«Ich lasse Sie umbringen«, sagte Alexandra mit unheimlicher Ruhe.

«Bei den deutschen Gefangenen tun Sie es ja laufend. «Doktor Böhler spürte, wie ihn seine Beherrschung verließ, aber er konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er sah der Kasalinsskaja in die gefürchteten Augen und spürte eine innere Befreiung, als er sich sagen hörte:»Was ich hier gesehen habe, hat mit Völkerrecht nichts mehr zu tun!«

«Reden Sie nicht vom Recht!«

«Auch der Gefangene ist ein Mensch! Auch er hat Recht! Das primitive Recht auf Krankenpflege. Ich werde die Zustände melden.«

«Tun Sie es!«Dr. Kasalinsskaja lächelte, aber ihr Lächeln war eine Drohung.»Ich habe mich an die Richtlinien gehalten, die ich aus Moskau bekomme. Wenig Krankschreibungen, scharfe Maßstäbe.«

«Und daß die vier Männer in der Sanitätsbaracke Malaria haben, das haben Sie nicht gesehen? Das haben Sie noch nie gesehen, was? Das kennen Sie gar nicht — das hat man Sie gar nicht gelehrt, oder Sie haben bei der Vorlesung gefehlt, was?«

Die Kasalinsskaja wurde rot. Ihre Augen verengten sich, ihre Lippen wurden weiß vor Erregung.

«Gehen Sie zum Hauptlager zurück. Ich rate es Ihnen. Was ich hier tue, verantworte ich.«

«Vor wem? Vor Gott etwa?«

«Gott?«Die Kasalinsskaja lachte schrill.»Belästigen Sie doch den armen, alten Mann nicht. Er hat Arbeit genug, all die Gebete zu verdauen.«

Dr. Böhlers Trotz wurde Härte. Er ballte die Fäuste.

«Ich bleibe!«

«Wie Sie wollen. «Die Kasalinsskaja betrachtete ihn spöttisch.»Dann werde ich Ihr Hauptlazarett im Lager auflösen lassen.«

Dr. Böhler erbleichte.»Hören Sie, Dr. Kasalinsskaja.«

«Ich werde dieses Hurennest ausräumen!«schrie sie plötzlich unbeherrscht. Ihre Wildheit überwältigte sie. Sie tobte und war nicht mehr Herr über sich.»Alles, alles wird vernichtet werden!«

Dr. Böhler ergriff ihren Arm und drückte ihn fest an sich. Schmerzhaft verzog sich ihr Gesicht, sie wollte sich losreißen, aber er hielt sie eisern fest.»Das nehmen Sie zurück«, sagte er laut.»Ich lasse mein Lazarett nicht beleidigen. auch nicht von einer russischen Ärztin.«

Alexandra sah ihn spöttisch an.»Ich nehme nichts zurück. Wenn Sie mich anzeigen wegen der Zustände im Lager 12, zeige ich Sie an, daß in Ihrem Lazarett gehurt wird.«

«Wer?«schrie Dr. Böhler.»Wer, will ich wissen.«

«Ihr Oberarzt.«

«Sellnow?«

«Ja! Ja!«Sie lachte wild und hysterisch.»Mit mir! Seit über einer Woche! Fast jede Nacht! Er ist ein Schwein und hat die Kraft eines Urtiers. Wenn er mich anfaßt und nimmt, könnte ich die Welt zerreißen. Wenn der Tag kommt, nehme ich mir meine Rache. Dann müssen alle büßen. hier im Lager 12, im Lager 14, 16 und 19. Jeder Kuß eine Gesundmeldung, jeder Seufzer in der Nacht ein freies Bett im Sanitätsrevier.«

Dr. Böhler ließ sie los, seine Arme fielen schlaff am Körper herab. Mein Lazarett. seit über einer Woche. Sellnow. Es ist furchtbar. Wenn es Worotilow erfährt, Dr. Kresin, die Division in Stalingrad oder Moskau. Er schloß die Augen vor dem Entsetzen der nicht auszudenkenden Folgen und spürte nicht, wie die Kasalinsskaja ihn anstieß. Erst als sie ihm gegen das Schienbein trat, öffnete er die Augen.

«Erledigt?«fragte sie.»Genügt das? Sie sehen so bleich aus, mein Bester.«

Worotilow, dachte Dr. Böhler. Unsere Stärke ist die Grausamkeit, die Mißachtung des einzelnen für das Ziel des großen Interesses. Da schüttelte er den Kopf.

«Zeigen Sie es an, Dr. Kasalinsskaja«, sagte er.»Sie werden mit vernichtet werden! Sie dulden ja die Besuche von Sellnow.«

«Er hat mich vergewaltigt. Einfach gezwungen.«

«Jede Nacht?«

Alexandra lachte schrill.»Jede Nacht lasse ich mich bezwingen! Ich hasse den Morgen, wo es nicht geschah. Aber beweisen Sie es, Dr. Böhler! Ich werde sagen: Er zwingt mich mit brutaler Gewalt!«Dr. Kasalinsskaja scharrte mit den Spitzen ihrer hohen Juchtenstiefel in dem Staub des Lagerbodens.»Und man wird einer russischen Ärztin und alten Kommunistin bestimmt viel mehr glauben als 10.000 schmutzigen und verlausten deutschen Plennis zusammen.«

«Da haben Sie recht. «Dr. Böhler wollte sich abwenden, aber Alexandra hielt ihn zurück.

«Sie gehen zurück?«

«Im Gegenteil, ich bleibe.«

«Sie wollen den Märtyrer spielen!«schrie die Kasalinsskaja wild.

«Nein — ich will nur ein Arzt sein — falls Sie verstehen, was das ist.«

Mit einem Fluch drehte sich die Ärztin herum und stapfte in die Waschbaracke neben dem großen Tor. Dort traf sie auf den Feldwebel, der in der Sonne saß und sich lauste.

«Mein Täubchen«, sagte er zu ihr.»Geh hinein zu Iljitsch Stefa-now. Der Saukerl von Mongole hat bestimmt einen Tripper. er wimmert immer, wenn er pissen muß.«

Alexandra Kasalinsskaja schlug ihm mit der flachen Hand in das sibirische Bauerngesicht. Es klatschte laut — aber keiner achtete darauf.

Und der Feldwebel grinste. Lieber sie als der Major.

Mein Gott, Mütterchen Rußland ist ein rauhes Mütterchen. Aber es hat Herz.

Sein breites Gesicht verklärte sich, als er in einer Falte seiner schmut-zigen Unterhose eine vollgesogene, dicke Laus entdeckte, die er zwischen den Daumennägeln zerquetschte.

In der Sanitätsbaracke kochte der Sanitäter die Spritze aus. Das Erscheinen der Kasalinsskaja hatte einen höllischen Schock bei ihm bewirkt. Er kroch durch die Zimmer und ging Dr. Böhler aus dem Weg, der bei den Kranken saß und sie beruhigte.

«Ihr bleibt liegen«, sagte er.»Ihr steht nicht auf und versteckt euch! Ihr seid krank, kränker, als ihr denkt. Ihr werdet in das Hauptlazarett kommen.in den nächsten Tagen.«

«Das Weib wird uns mit der Peitsche aus dem Bett treiben«, sagte einer aus der Ecke des Raumes.»Sie hat es schon einmal getan. «Ein Zittern ließ seine Stimme beben.»Und als Strafe wegen Simu-lierens täglich 100 Gramm Brot weniger.«

Die berühmten 100 Gramm, dachte Dr. Böhler. Baschas Schal, mit dem wir den Oberfähnrich nähten, kostete 700 Gramm Brot und 300 Rubel. Und wieder fiel ihm Major Worotilow ein. Nur die Gewalt bezwingt den Menschen.

Die Tür wurde aufgerissen. Die biegsame Gestalt der Kasalinss-kaja stand auf der Schwelle. Das hereinflutende Sonnenlicht umspielte ihre Locken und die schlanken, langen Beine in den Juchtenstiefeln. Sie waren staubig, wie mit Mehl überzogen. In der Hand hielt sie eine Reitgerte.

«Wer ist hier krank?«schrie sie in den Raum.

Der Sanitäter rannte aus einer Ecke herbei und baute sich vor ihr auf. Er knallte die Hacken zusammen und grüßte wie auf dem Kasernenhof.

«Vier Mann erkrankt.«

«Was fehlt ihnen?«

«Dystrophie, Gelbsucht und Tbc-Verdacht!«

«Das sind keine Krankheiten! Alles 'raus aus den Betten!«brüllte die Kasalinsskaja.»Sofort vor der Baracke antreten! Ich warte keine Minute.«

Sie warf die Tür wieder hinter sich zu. Man hörte ihren Schritt über den Platz knirschen. Dr. Böhler, der noch immer an einem der

Betten saß, winkte den Soldaten zu, die sich erheben wollten, und sprang selbst auf.

«Liegenbleiben! Ich gehe für euch hinaus. Ihr seid krank!«

Er ging durch den Raum, vorbei an dem vor Angst bebenden Sanitäter, und riß die Tür auf. Auf dem Platz, zehn Schritte von der Baracke entfernt, stand Dr. Kasalinsskaja, eine Uhr in der Hand. Ihre Lippen zählten lautlos die Sekunden. Nach einer Minute würde sie mit der Peitsche kommen.

Dr. Böhler ging auf sie zu und blieb drei Schritte vor ihr stehen. Er knallte wie der Sanitäter die Hacken zusammen und hob die Hand zum Gruß.

«Vier Kranke zur Stelle.«

Die Kasalinsskaja sah auf. Sie steckte die Uhr weg, sah sich um.

«Hier! Als ihr Arzt vertrete ich sie. Ich habe Bettruhe angeordnet.«

Alexandra senkte den Blick. Sie drehte sich um und ging über den Platz davon. An der Waschbaracke heulte kurz darauf ein Motor auf, der Jeep schwenkte durch das große Tor und raste in einer Staubwolke durch die Waldschneise davon.

In der Tür der Sanitätsbaracke stand der Sanitäter. Er sah dem Wagen nach und starrte dann auf Dr. Böhler, der zurückkam.

«Sie ist weg«, stotterte er.»Sie ist wirklich weg. «Und plötzlich riß er die Hacken zusammen und stand da wie ein Bild aus der Dienstvorschrift für die Infanterie.»Die Spritze ist ausgekocht, Herr Stabsarzt«, rief er begeistert.»Darf ich Herrn Stabsarzt weiter behilflich sein.«

Nach vier Tagen kam Major Worotilow zu einem kurzen Besuch ins Lager 12.

Er traf Dr. Böhler an, wie er Atebrin injizierte.

«Atebrin?«Worotilow sah erstaunt auf die aufgebrochene Ampulle, die neben dem Bett lag.»Wo haben Sie das denn her?«

«Lag zufällig hier herum, amerikanisches Fabrikat. Übrigens ahnte ich, was ich hier antreffen würde. Aber was ich bis jetzt gesehen habe, übertrifft meine Vermutungen. Die Lage der Gefangenen ist kaum noch menschenwürdig zu nennen.«

Major Worotilow setzte sich auf den Bettrand und betrachtete das eingefallene Gesicht des Kranken, der die Injektion erhielt.

«Warum bist du hier?«fragte er barsch.

«Ich habe gestohlen, Major.«

«Was denn?«

«200 Gramm Brot, Major. Aber ich hatte Hunger.«

«Das haben die anderen auch!«Worotilow blickte zu Dr. Böhler hin, der die Spritze weglegte.»Haben Sie sich schon einmal die Mühe gemacht, zu fragen, warum diese Kerle im Lager 12 sind?«

Dr. Böhler schüttelte den Kopf.»Nein. Warum sollte ich? Und selbst wenn es Raubmörder wären — was sie hier abzubüßen haben, ist eine grausame Strafe für jedes Verbrechen.«

Worotilow lächelte mokant.»Sie haben schwache Nerven, Herr Doktor. Es gibt Schlimmeres. Kasymsskoje.«

«Ich hörte davon, Major. Es ist eine Schande für Rußland.«

«Und die Welt schweigt, weil wir stark sind.«

«Sie schweigt nicht, sie wird euch anklagen.«

«Auf dem Papier. Das hängen wir auf die Latrine der Tataren! Und Kasymsskoje besteht weiter. Wer will uns daran hindern? Amerika? England? Das angstzitternde Frankreich? Lieber Doktor — der Westen ist faul wie eine Birne, die zu lange liegt. Wir lassen es auf einen dritten Weltkrieg ankommen, auch gegen amerikanische Waffen! Der Westen läuft sich tot in der Weite Rußlands. Das Land saugt die Menschen auf wie der Sandboden das Wasser. Und Rußland wird weiterleben, denn Rußland wird einmal der Mittelpunkt der Welt sein. Der Traum Peters des Großen!«

«Fangen Sie schon wieder an?«Dr. Böhler erhob sich und deckte den Kranken zu. Er ging in einen Nebenraum, wusch sich dort in einer Blechschüssel die Hände und ließ sie trocknen, indem er sie durch die warme Luft schwenkte.»Sie haben mich noch nicht so weich, um Ihnen recht zu geben.«»Es fehlen ja auch noch vier Tage«, lächelte Worotilow.

«Es könnten 400 sein. «Dr. Böhler fuhr sich mit den feuchten Händen über die spärlichen Haare.»Ich gäbe Ihnen niemals recht.«

«Aus Prinzip?«

«Ja.«

«Sie sind nicht objektiv.«

«Sind Sie es, Major?«lächelte Dr. Böhler.

Worotilow schob die Unterlippe vor und krauste die Stirn. Sein dickes, fleischiges Gesicht mit den klugen Augen wirkte einen Augenblick verblüfft. Dann wandte er sich zum Gehen. Dr. Böhler ging neben ihm.

«Im Lager geht alles gut. Dr. von Sellnow führt das Lazarett, Dr. Kresin hilft ihm. Ihr junger Unterarzt behandelt weiter Janina.«

Dr. Böhler sah auf den staubigen Boden. Janina Salja und Dr. Schultheiß. Gebe Gott, das sich Schultheiß anders benimmt als Sell-now. Es wäre furchtbar, wenn Major Worotilow aus einem Traum erwachte. Es wäre das grauenhafte Ende des ganzen Lagers.

«Und die Kasalinsskaja?«fragte Dr. Böhler vorsichtig.

«Sie ist ziemlich zahm. Aber täglich hat sie Streit mit dem Oberarzt. Gestern hat sie ihm einen Stuhl aus dem Fenster nachgeworfen und einen unschuldigen Soldaten getroffen. Ihr Oberarzt hat ihr geantwortet, indem er den Geworfenen dick verband und schiente und ihr ins Zimmer schickte zwecks Krankschreibung.«

«Und was tat sie?«

«Sie schrieb den Unverletzten tatsächlich krank! Für eine Woche! Als Sellnow den Bescheid erhielt, nahm er Verband und Schiene weg und ließ den Mann laufen.«

Worotilow lachte schallend, aber Dr. Böhler wurde ernst. Er treibt es auf die Spitze, dieser Sellnow. Einmal wird es zu einer Katastrophe kommen. Auch die Liebe der Kasalinsskaja wird einmal zerbrechen, wenn sie täglich getreten wird und widertritt. An dieser Haßliebe können wir alle zugrunde gehen.

«Ist es möglich, Sellnow in ein anderes Lager versetzen zu lassen?«fragte er.

«Warum das?!«Worotilow blieb stehen. Sein Staunen war echt.»Ist etwas mit ihm?«

«Rein privater Natur. Er müßte dringend eine Luftveränderung haben! Wenn es nur für ein halbes Jahr ist.«

«Versetzungen in andere Lagergruppen erfolgen nur von Moskau aus. Wenn ich Moskau aber darum bitte, müssen schwerwiegende Gründe vorliegen.«

Dr. Böhler sah sinnend über die in der Sonne flimmernden Wälder. Ein Raupenschlepper rollte durch die Schneise. Er zog einige dicke Stämme zu einem Sammelplatz. Irgendwo sangen ein paar dünne Stimmen.

«Können Sie sich sagen, daß unser Lazarett über Soll mit Ärzten versehen und Dr. von Sellnow für eine Zeit abkömmlich ist?«

«Aber das stimmt doch gar nicht!«

«Natürlich nicht. Aber ich hätte ihn gern einige Zeit von Lager 5110/47 entfernt.«

Major Worotilow schüttelte den Kopf.»Hatten Sie eine Auseinandersetzung mit Sellnow?«

«Nein. Durchaus nicht. Wir verstehen uns gut. Rein private Gründe zwingen mich aber leider dazu, den Oberarzt — sagen wir — zu isolieren. Er hat in der letzten Zeit etwas die Nerven verloren und ist dabei, sie völlig zu verlieren — und seinen Kopf dazu.«

«Das verstehe ich nicht, Doktor.«

Dr. Böhler nickte gedankenvoll.»Ich verstand es erst auch nicht. Aber nachher war das Verstehen um so bitterer für mich. Ich achte Sellnow als guten Arzt und vorbildlichen Kameraden. Aber«-Dr. Böhler lächelte Worotilow ein wenig gequält an —»Ihr Rußland war auch bei ihm stärker!«

«So?«Worotilow drang nicht weiter in Dr. Böhler. Rußland war stärker, grübelte er, als er neben dem Arzt zu seinem Wagen ging. Was kann er damit meinen? Ich werde Sellnow selber fragen. Über die Schneise kamen vier Männer. In einer Zeltplane trugen sie einen Verwundeten. Worotilow wies mit dem Kinn zu ihnen hin.

«Ihr Geschäft blüht, Doktor.«

«Und ich habe kaum Verbände, keine Wundsalbe, keinen Äther, kein Karbol, kein Pflaster, ich habe hier überhaupt nichts.«

«Für die Ausstattung der Außenlager ist Dr. Kasalinsskaja zuständig. «Worotilow nickte.»Ich werde es ihr sagen.«

«Sagen Sie ihr, bitte, daß ich bis morgen mittag eine behelfsmäßige Verband-Ausrüstung brauche, einige Reagenzgläser, drei Injektionsspritzen und vor allem Narkotika!«Dr. Böhler sah Worotilow an. In seinen Augen lag die Dringlichkeit seiner Bitte.»Wenn Dr. Kasalinsskaja diese Sachen nicht schickt, ist es — sagen Sie ihr das, bitte —, ist es glatter Mord an diesen Menschen hier!«

«Ich will es versuchen. «Worotilow hob ein Bein in den Jeep.»Ich bin eigentlich viel zu höflich zu Ihnen«, bemerkte er ernst.»Warum, weiß ich nicht. Sie sind ein Gefangener, ein Deutscher, mein Feind! Ich sollte sie behandeln wie ein Stück Dreck. Statt dessen behandle ich Sie wie einen Kameraden. Vielleicht wird man mir das einmal höheren Orts übelnehmen.«

«Dann wären ja auch Sie ein Opfer der Grausamkeit, die Sie anbeten«, lächelte Böhler.

«Allerdings. «Worotilow stieg auf den Sitz des Jeeps, den ein kleiner Mongole fuhr. Der Asiate grinste Dr. Böhler breit an.»Es ist verflucht schwer zu vergessen, daß man ein Mensch mit Gefühlen ist.«

Der Motor brummte. Worotilow schob die Schirmmütze tiefer ins Gesicht. Er sah aus wie eine schmollende Bulldogge. Dr. Böhler hatte die Hand auf dem Rahmen der heruntergeklappten Windschutzscheibe liegen.

«Der Feldwebel ist noch immer da. Er wartet auf seinen Abtransport. Seine Sachen stehen seit vier Tagen gepackt. Er wagt nicht mehr, sich zu rühren. «Böhler sah zurück zur Waschbaracke.»Wann holen Sie ihn ab?«

Worotilow blickte Dr. Böhler böse an.»Hol der Teufel euch Deutsche«, sagte er knurrend. Dann stieß er den Mongolen in die Seite, und der Jeep fuhr in einer Staubwolke davon.

Dem Verwundeten, den die vier Männer in der Zeltplane heranschleppten, war eine Säge in den Fuß gefahren. Zwischen der zweiten und dritten Zehe war der Fuß sieben Zentimeter tief in zwei Hälften gespalten. Der Verletzte wimmerte und schlug den Kopf vor Schmerz von einer Seite zur anderen. Die Beine lagen in einer Blutlache.

Dr. Böhler biß die Lippen aufeinander. Seine vollkommene Ohnmacht kam ihm in diesen Sekunden so stark zum Bewußtsein, daß er sich vor Gott schämte, ein Mensch zu sein.

Kein Narkosemittel. kein chirurgisches Instrument.

Der Sanitäter an der Barackentür rannte voraus und legte auf den >Operationstisch< einen gewaschenen Sack als Unterlage.

Dr. Böhler mußte an das Taschenmesser denken und schloß einen Augenblick die Augen. Wie sollte er diese schreckliche Wunde versorgen?

«Haben wir Gips?«fragte er leise.

«Jawohl, Herr Stabsarzt«, der Sani war bleich,»aber keine fertigen Gipsbinden.«

«Können Sie mit Mullbinden Gipsbinden herstellen?«

«Ja«, antwortete der Mann,»das kann ich. «Er war stolz.

«Also, dann los, Mann, was stehen Sie noch hier. Streuen Sie ein Dutzend Binden ein und machen Sie viel heißes Wasser, aber schnell, schnell.«

Der Sanitäter rannte eifrig davon.

Die vier Träger sahen den fremden Plenni vor sich erstaunt an. Sie legten die Zeltplane mit dem jammernden Verwundeten auf ein leeres Bett und wischten sich den Schweiß aus den staubigen Gesichtern. Wo sie sich mit dem Handrücken trockneten, hinterließ der Schweiß große Flecken auf der schmutzverkrusteten Haut.

«Wer bist du denn?«fragten sie.»Ein Arzt?«

«Ja. «Dr. Böhler untersuchte den zerfetzten Fuß.»Ich heiße Dr. Böhler.«

Die vier schauten sich verblüfft an.»Wir kommen aus dem Lager 16, hinter dem Wald. Bei den Sümpfen. Ein Dreckloch, Herr Doktor. Wir hörten schon, daß hier ein Arzt sein soll und haben den Karl hergeschleppt. Drüben bei uns geht er ja doch ein. Wir wollten's gar nicht glauben, daß hier ein Arzt ist, und haben uns gesagt: Bringen wir den Karl nach 12. Ist's wahr, hat er Glück, ist's nicht wahr, geht er in 12 genauso vor die Hunde wie in 16!«Der Sprecher, ein langer, dürrer Kerl, dessen dicker Adamsapfel beim Sprechen immer auf und nieder hüpfte, sah Dr. Böhler aus glänzenden Augen an.»Und nun ist's doch wahr.«

«Der Karl hat viel Blut verloren, Jungs«, sagte Böhler zu ihnen.»Und er kann Starrkrampf bekommen. Ich habe nichts hier als ein bißchen Verbandzeug und meine Hände.«

Die vier schauten sich betreten an.»Man sollte wirklich Schluß machen«, sagte der Lange dumpf.»Einem Russen in den Hintern treten und sich dann erschießen lassen. Dann ist alles vorbei.«

«Darauf warten sie doch bloß, du Idiot«, fiel ihm ein anderer ins Wort.»Beiß die Zähne zusammen, und schau nicht hin.«

Der Sanitäter kam in den Raum. Er hatte die Gipsbinden und Verbandzeug in der Hand. Einer der Malariakranken trug eine Blechschüssel mit kochendheißem Wasser hinterher.

Dr. Böhler nahm sich die Männer beiseite, die den Verwundeten gebracht hatten.

«Es wird schlimm werden«, flüsterte er ihnen zu,»ich habe nichts, um ihn zu narkotisieren. Ihr müßt ihn ganz fest halten. Es wird wahnsinnig weh tun, aber er stirbt fast sicher an einer Infektion, wenn ich die Wunde nicht reinige. So, jetzt haltet ihn.«

Die Männer traten neben den Tisch und legten die Hände an den Verletzten. Noch packten sie nicht fest zu, denn der Kranke war ganz seinem Schmerz hingegeben und kümmerte sich nicht um sie.

Dr. Böhler trat heran und wies den Sanitäter an, wie er den Fuß zu halten habe. Der Kranke schrie wild auf, als der Arzt den Fuß mit heißem Wasser zu waschen begann. Er versuchte, um sich zu schlagen, und die Männer packten zu. Sie mußten alle Kraft anwenden, um ihn zu bändigen.

Böhler arbeitete blitzschnell. Mit einem Schnitt des Messers amputierte er eine Zehe, die an der Wurzel schon zum größten Teil abgerissen war. In Windeseile schnitt er die Hautfetzen an den Wundrändern ab — aber es ging immer noch zu langsam. Der Verletzte brüllte auf vor Schmerz und versuchte, den Händen seiner Peiniger zu entkommen.

«Laßt mich in Ruhe, ihr Schweine«, schrie er, und» mein Gott, das ist nicht auszuhalten!«

Die Männer, die ihn hielten, zitterten. Nahm das denn nie ein Ende.

Böhler preßte den Fuß mit einer Hand zusammen und wickelte mit der anderen in Sekunden den Verband darum. Der Sanitäter half, so gut er konnte, was wie eine Stunde schien, hatte knapp zwei Minuten gedauert.

Dr. Böhler legte dem Verwundeten die Hand auf die Stirn.

«Es ist alles vorbei«, sagte er tröstend,»und bald tut's auch nicht mehr weh. Aber ich mußte es tun, nicht wahr, das verstehst du doch?«

Dem Verwundeten standen große Tränen in den Augen. Wortlos griff er nach der Hand des Arztes und drückte sie.

Zum Abschluß tauchte Böhler die Gipsbinden in kaltes Wasser und umwickelte damit den verletzten Fuß. Zuletzt lag dieser völlig in einem Gipsverband.

«Da müssen wir nachher, wenn der Gips hart geworden ist, oben und unten ein Fenster hineinschneiden, damit die Wunde freiliegt. Vielleicht treiben wir irgendwo etwas Scherenartiges auf. Wenn nicht, muß es mit dem Messer gehen.«

«Jawohl, Herr Stabsarzt«, sagte der Sanitäter, und in seinen Augen lagen Respekt und uneingeschränkte Bewunderung.

Im Hauptlazarett focht unterdessen Dr. von Sellnow einen Kampf gegen den politischen Kommissar Wadislav Kuwakino und Leutnant Piotr Markow aus. Es ging um den noch immer im Lazarett liegenden Hans Sauerbrunn, den Kuwalkino jetzt abholen wollte, um ihn nach Moskau zu schleifen.

Sellnow hätte diesen Kampf nie gewonnen und nie zu führen ge-wagt, wenn er nicht die plötzliche, erstaunliche Unterstützung der Kasalinsskaja bekommen hätte. Sie sagte >njet< zu Kommissar Ku-wakino und schrieb den Gefreiten Sauerbrunn nicht transportfähig.

«Ein kleiner Schlag nur!«schrie Kuwakino.»Wie kann eine Ohrfeige so krank machen?!«

Alexandra zog die schwarzen Augenbrauen hoch. Ihr hochmütiges Gesicht machte Leutnant Markow wild, aber er beherrschte sich, weil Major Worotilow neben ihm stand.»Eine kleine Ohrfeige?«sagte die Kasalinsskaja.»Soll ich Ihnen einmal das Nasenbein einschlagen lassen?«

Wadislav Kuwakino wurde weiß. Er zitterte vor Erregung und sah Major Worotilow an.»Helfen Sie mir doch«, sagte er stockend.

«Ich bin Kommandant der Lagers. die Verantwortung für die Gesundheit tragen die Ärzte.«

«Der Mann heißt Sauerbrunn. «Sellnow blätterte in den Gefangenenpapieren.»Er ist auch so im Soldbuch eingetragen gewesen.«

«Alles gefälscht. Wenn Moskau sagt, er heißt Sauerbruch, dann heißt er Sauerbruch!«

«Wie schade, daß man dich in Moskau nicht Rindvieh nennt«, brummte Sellnow. Die Kasalinsskaja trat ihm unter dem Tisch auf den Fuß. Leutnant Markow schnaubte durch die Nase und ballte die Fäuste.

Der Kommissar wischte sich den Schweiß von der Stirn.

«Ich nehme ihn auch mit kaputtem Nasenbein mit nach Moskau. Ich übernehme allein die Verantwortung! Aber er muß nach Moskau.«

«Njet!«sagte die Kasalinsskaja.

Leutnant Markow lachte ironisch.»Genossin Kasalinsskaja hat die Deutschen lieben gelernt«, sagte er anzüglich.»Oder täusche ich mich, daß sie öfter als sonst ins Lager 12 fährt?«

«Es geschieht auf meinen Wunsch«, fiel Major Worotilow steif ein. Leutnant Markow machte ein dummes Gesicht und schwieg verbissen. Sellnow betrachtete die Kasalinsskaja von der Seite und fing ihren Blick auf. Er war voller Triumph — und er grübelte vergeblich, war-um sie sich so einschneidend geändert hatte und was sie veranlaßte, gegen ihre Art ihm zur Seite zu stehen.

«Ich werde das nach Moskau melden«, drohte Wadislav Kuwaki-no. Seine Stimme schwankte.

«Bitte. «Alexandra hob die Schulter.

Mit einem Fluch ließ Kuwakino die Gruppe stehen und entfernte sich allein zur Kommandantur. Leutnant Markow und — etwas langsamer — Major Worotilow folgten ihm.

Sellnow kratzte sich den Kopf und sah Alexandra an.

«Warum hast du das getan?«fragte er.»Sauerbrunn ist doch transportfähig. Das weißt du so gut wie ich.«

«Allerdings. «Sie lächelte ihn an. Zwischen ihren vollen Lippen leuchteten die blendendweißen Zähne.»Ich tat es nur aus Haß zu dir.«

«Aus Haß?«Sellnow lachte.»Mein Liebling, ich bin ergriffen.«

«Das kannst du. «Die Kasalinsskaja drehte sich schroff um. Über die Schulter hinweg sagte sie:»Ich werde Sauerbrunn morgen, wenn Kuwakino weg ist, arbeitsfähig schreiben. Für die Wälder.«

Erstarrt blieb Sellnow stehen. Sein Blick folgte ihrem beschwingten Gang, als sie zur Baracke schlenderte.

«Du gottverdammtes Aas«, sagte er leise.»Man sollte dich erwürgen, wenn die Nacht für dich am schönsten ist.«

Aus dem Fenster der Lungenstation klang die Stimme Janinas. Sie sang ein kleines, wehmütiges Lied.

Am nächsten Morgen fuhr Alexandra Kasalinsskaja mit dem Jeep nach Lager 12.

Sie war in der Nacht nicht erwürgt worden, aber auch Hans Sauerbrunn wurde nicht arbeitsfähig geschrieben.

Piotr Markow hatte eine schlechte Woche gehabt. Der Garten des Gefreiten Karl Georg blühte wieder! Er blühte schöner als je. Es standen sogar Stauden darin, Wuchersträuche, die mit grellen Farben Leben an die Wand der düsteren Baracke zauberten. Markow war zu Worotilow gerannt und hatte geschrien:»Ist das hier ein Gefangenenlager oder ein Park?«Und Worotilow hatte erwidert:»Das hier ist ein blühendes Gefangenenlager. «Eine Antwort, die Markow fast krank werden ließ.

Julius Kerner, der unermüdliche Organisator der Baracke und des ganzen Blocks, hatte eine neue Geldquelle für die Plennis erschlossen: Aus Lederresten, die eine Gruppe Arbeiter aus einer Schuhfabrik mitbrachte, fertigte man in den Abendstunden kunstvolle Sandalen, Pantoffeln, Portemonnaies und Brieftaschen an, auch Blumen zum Anstecken, die einen hohen Preis bei den Wachmannschaften erzielten und vor allem für die Bauernmädchen gekauft wurden, die den Soldaten die dienstfreie Zeit versüßten. So kam die Baracke schnell in den Besitz von 400 Rubel und erteilte dem in StalingradStadt arbeitenden Peter Fischer den Auftrag, eine Trompete zu kaufen.

Leutnant Piotr Markow verlor fast seine Mütze und seine Beherrschung, als er eines Abends nach dem Zählappell lautes Trompetengeschmetter über den Lagerplatz hallen hörte. Der Trompeter von Säckingen tönte auch noch, als er schreiend aus der Wachstube rannte. Dann war es still im Lager, und Markow stand einsam auf dem großen Appellplatz.

«Wer hier blasen?!«schrie er.»Wer hier Trompette?!«

Die Soldaten in den Fenstern grinsten. Karl Georg streichelte seine blühenden Stauden, Julius Kerner sang vergnügt. Es war, als sei ein lichter Engel durch das Lager gezogen. selbst die russischen Posten auf den Wachttürmen grinsten und beobachteten aus sicherer Höhe die Entwicklung der Dinge.

Leutnant Markow schwoll rot an.»Wer hier blasen?!«brüllte er hysterisch. Dann riß er seine Pfeife aus der Tasche und ließ sie in den Abend schrillen. Der Ton wurde in den Baracken weitergegeben. außerordentlicher Appell. alles antreten auf dem Platz.

«Ich euch kriggen, Hunde!«schrie Markow.»Ich euch kleinkrig-gen!«

Von den Baracken, aus den Blockstraßen, rannten die Gefange-nen herbei. Tausende Füße trappelten. Staub wirbelte auf. In Blocks angetreten, standen sie dann auf dem weiten Platz, Männer, in Hemdsärmeln, in zerrissenen Hosen, verhungert und müde. Piotr Markow musterte sie und schnalzte mit der Zunge.

«Ihr hier stehen, bis ich gefunden Trompette!«schrie er. Dann winkte er vier Soldaten und begann, die Baracken systematisch zu durchsuchen. Er fing mit der Baracke Julius Kerners an und durchwühlte alles, was in ihr war — die Betten, die schmutzige Wäsche, den Waschraum, die Latrine.

Nichts!

Die nächste Baracke. die übernächste.

Drei — vier — sieben — zehn Baracken.

Nichts.

Leutnant Markow kam an die Tür des Lazaretts. Dort stand Dr. Kresin und beobachtete das Schauspiel. Als er Markow mit verschleierten Augen auf sich zukommen sah, hob er beide Arme und rief lachend:

«Gnade, Genosse Leutnant. Ich habe Trompette nicht geblasen.«

Mit wütendem Knurren wandte sich Markow ab und rannte zurück zur Kommandantur.

Nach einer Stunde Stehen wurde der Appell abgeblasen, die Gefangenen strömten in die Baracken zurück.

Ruhe lag wieder über dem Lager.

Als sich der Staub, den die Gefangenen in dichten Wolken aufgewirbelt hatten, wieder legte, erschütterte ein helles Schmettern die Luft.

Die Trompete.

In seinem Zimmer saß Leutnant Piotr Markow mit verzerrtem Gesicht und hieb mit geballten Fäusten wild auf den Tisch. Er weinte vor Wut.

Im Lager 12 saß Dr. Kasalinsskaja am Bett des Verletzten und betrachtete den aufgespaltenen Fuß. Wie Dr. Böhler befürchtet hat-te, stellte sich Fieber ein, und die Wunde eiterte.

«Wollen Sie auch den gesund schreiben?«sagte Dr. Böhler, nachdem sich die Kasalinsskaja erhoben hatte.»Mit den Händen kann er arbeiten, wenn Sie ihn an die Bäume rollen lassen.«

«Sie müssen den Fuß amputieren«, antwortete Alexandra kühl.

«Und nur, weil das ganze Sanitätswesen des Lagers restlos versaut ist«, sagte Dr. Böhler bitter.»Wir machen diesen armen Kerl für den Rest seines Lebens zum Krüppel, weil ihr, die Russen, die Sieger, ihr mit dem großen Geschrei vom Menschenrecht, den Menschen derart mißachtet. Den armen, hilflosen, getretenen, gefangenen Menschen.«

«Wenn Sie weitersprechen, schlage ich Ihnen mit der Reitpeitsche ins Gesicht«, sagte die Kasalinsskaja eisig.»Der Mann kommt sofort ins Hauptlager. Dort wird Sellnow ihn versorgen.«

Dr. Böhler steckte sich eine Zigarette an, die Dr. Kasalinsskaja ihm bei ihrem letzten Besuch dagelassen hatte. Genießerisch inhalierte er den Rauch.

«Ich habe noch etwas für Sie. «Er reichte ihr eine Liste hin. Sie nahm widerstrebend das Stück Papier und blickte darauf nieder.

«Was soll ich damit?«fragte sie unwirsch.

«Es sind die Namen von siebenunddreißig Gefangenen dieses Lagers«, sagte Dr. Böhler ironisch.»Diese Männer haben sich im vorigen Sommer eine Malaria zugezogen, und die Plasmodien leben jetzt in ihren Milzen und ihren retikuloendothelialen Systemen — wenn Sie davon schon mal gehört haben sollten — und werden demnächst wieder ausbrechen. Diese siebenunddreißig Gefangenen müssen hier weg, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch der anderen Gefangenen wegen, übrigens auch Ihrer Leute wegen. Jeder Mückenstich kann Malaria bedeuten — ich hoffe, Sie wissen, was das heißt.«

Die Kasalinsskaja drehte sich um und verließ schnell den Raum. Auf der Treppe der Baracke holte Böhler sie ein.

«Wo wollen Sie denn hin?«fragte er.

Sie schüttelte seine Hand ab.»Zurück ins Lager«, fauchte sie.

Er ließ sich nicht beirren.»Sie nehmen die Liste mit!«drängte er.

«Nein!«

«Doch, ganz bestimmt. Und Sie werden die Liste Dr. Kresin zeigen und ihm mitteilen, was sie zu bedeuten hat. Wir können nicht alle Gefangenen mit Malaria verseuchen lassen.«

«Der Krieg war ein Verbrechen an der Menschheit«, schrie sie ihn an.»Die Gefangenschaft ist seine gerechte Sühne.«

«Warum sträuben Sie sich, Alexandra?«Bei der Nennung ihres Vornamens fuhr die Ärztin herum. Nacktes Erstaunen und hüllenlose Angst standen in ihren Augen. Sie atmete heftig.

«Immer stehen Sie gegen uns Deutsche, immer ist Ihr Njet wie ein Todesurteil — aber hinterher überraschen Sie uns mit einer nie geahnten Liebenswürdigkeit. Warum sträuben Sie sich vorher immer? Haben Sie Angst vor Ihrem Herzen, Alexandra?«

Die Ärztin schloß einen Moment die Augen. Über ihr schönes, volles, tierhaft-lockendes Gesicht flog der Schimmer einer Röte. Dann hatte sie wieder Gewalt über sich, wandte sich ab und stapfte durch den Staub davon.

Erst als sie im Jeep saß und durch die Schneise ratterte, vorbei an den arbeitenden Kolonnen, die ihr haßerfüllt nachsahen, wischte sie sich über die Augen. Ihr Handrücken war feucht, als sie ihn am Rock abstreifte.

Mein Herz, dachte sie. Wer hat jemals nach meinem Herzen gefragt? Meine Eltern nicht… meine Lehrer nicht. Karlow nicht, der mich in Kasan vergewaltigte, als ich 17 war. Iwanow nicht, Peter, Julian, Serge und wie die Männer hießen. Werner nicht. Keiner, keiner. mein Herz?

Habe ich noch ein Herz? Ist es nicht getötet worden durch die Kälte, die mir von allen Menschen entgegenschlug? Durch die Gier, mit der sie mich nahmen und nachher wie einen abgenagten Knochen wegwarfen?

Was weiß Dr. Böhler von meinem Herzen? Sah er es? Erkennt er es.? Würde er es finden.?

Der Wald wurde lichter. Die Steppe lag vor ihr. Die Luft flimmerte vor Hitze. Hinter ihr krachten die Bäume ins Unterholz. Der Motor sang.

Unter dem blauen Himmel kreiste still, mit weiten Schwingen, ein Bussard.

Die Sonne brannte.

Aus dem Wachhaus des Lagers 12 trat der Feldwebel und hatte beide Arme vollbeladen. Er legte die Pakete auf den Tisch vor Dr. Böhler und nickte.

«Woher?«fragte der Arzt erstaunt.

«Von Genossin Ärztin. «Der Russe grinste breit.»Es ist alles dabei, was Sie sich gewünscht haben. Verbandzeug. Spritzen. Nadeln. Scheren. Narkosemittel. Medikamente. Alles.«

Dr. Böhler legte die Hände auf die Pakete und sah hinaus aus dem Fenster auf den Wald.

In der Schneise lag noch der Staub des Wagens in der Luft.