37724.fb2 Der Arzt von Stalingrad - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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ZWEITES BUCH

Der erste Schnee lag über den Wäldern der Steppe.

Von Sibirien, über den Ural und vom Kaspischen Meer her fluteten die kalten Winde über die Ebene der Wolga. Der Don begann schon zuzufrieren. In der Nacht heulten die Wölfe und strichen um die Höfe der Kolchosen.

Im Lager 5110/47 wurden die Wintersachen ausgegeben. Steppjacken, Fellmützen, Filzstiefel, dicke Fußlappen, gesteppte Hosen und Pelzhandschuhe. Von den Wäldern des Lagers 12 kamen große Transporte mit Holz über die verharschte Straße. Ein Teil der Fenster in den Baracken wurde mit Papier verklebt und die Ritzen mit Lehm ausgeschmiert. Man kannte die Stürme und die eisige Kälte, man hatte sie erlebt ohne Schutz. Mit einfachen Sommermänteln und dünnen Wollhandschuhen ging man in die Gefangenschaft und lag in Haufen zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen.

Mit dem ersten Schnee wurde auch das Gesicht Janinas wieder blaß. Sie war in den letzten Monaten voller geworden — aber in ihren Augen stand noch immer die Qual der Krankheit und das Wissen um ein zu kurzes Leben.

Sellnow war dem Wunsche Dr. Böhlers zufolge in das Außenlager Stalingrad-Stadt versetzt worden und betreute dort die Bau- und Fabrikarbeiter. Alexandra hatte diese schnelle Versetzung mit Verbissenheit und Trotz ertragen. Sie stellte ihren Haß auf Major Wor-otilow um und ließ ihn stehen, wenn er sie ansprach, oder verließ den Raum, wenn er in ein Zimmer trat. Dr. Kresin sah es mit Stirnrunzeln und schüttelte den Kopf.

Der Oberfähnrich war schon entlassen. Er lebte in einer Baracke in Block 17 und wurde mit leichter Lagerarbeit beschäftigt. Außerdem war er der Regisseur eines kleinen Theaterstückes, das ein Plenni geschrieben hatte und das als Weihnachtsüberraschung in der großen Saalbaracke aufgeführt werden sollte. Julius Kerner hatte in diesem Stück ein Trompetensolo übernommen und übte es mit Ausdauer und Energie jeden Abend, wenn Leutnant Markow seine Dienstrunde machte. Da diese Übungen mit der ausdrücklichen Genehmigung Major Worotilows stattfanden, hatte Markow keinen Anlaß zum Eingreifen und sah nur von der Tür aus mit verzerrtem Gesicht, wie Kerner mit geschlossenen Augen an seiner Trompete hing und ihr die höchsten und grellsten Töne entlockte. Karl Georg hatte seinen Garten mit Tannenzweigen abgedeckt, die Stauden ausgegraben und in seinem Spind verwahrt und hoffte auf einen schönen Sommer im nächsten Jahr.

Vielleicht einen Sommer in der Heimat?

Sie dachten alle daran… die Hoffnung gab ihnen Kraft, ihr Los zu tragen, aber sie sprachen wenig darüber, weil ihre Augen dann traurig wurden und das Herz schwer vor Sehnsucht und Heimweh. Man informierte sich in der Stille bei den Ärzten, die den besten Kontakt mit der Lagerleitung hatten, und man erfuhr, daß zu Weihnachten 1948 Transporte in die Heimat gehen sollten… vor allem Kranke und Arbeitsunfähige.

Peter Fischer und Karl Eberhard Möller hatten eine erregte Aussprache mit den anderen Kameraden ihrer Baracke. Sie fand an einem Abend statt, nachdem Piotr Markow schon das Lager kontrolliert hatte und die Nachtposten auf den Wachttürmen standen. Vor den Baracken lag Neuschnee, weiß, samtweich, den Schritt aufsaugend. Der Himmel war klar. Über den Wäldern glitzerten die Sterne wie vereiste Blumen.

«Angenommen, wir treten alle der KP bei«, sagte Peter Fischer und sah sich im Kreise um,»dann werden wir schnell entlassen!«

«Daß ich dir gleich in den Arsch trete, du Mistsau!«schrie Karl Georg von seinem Bett herüber.»Hast du die Schnauze vom Kommunismus noch nicht voll?!«

«Ich sage doch bloß — angenommen!«Peter Fischer hob beide Hände.»Wenn wir dann in der Heimat sind, können wir ja wieder austreten.«

«Denkste!«Emil Pelz, der Sanitäter, drehte sich eine Machorka.»Wenn die uns mal haben, behalten se uns! Det kenn ick! Zuerst kommste nach Moskau zur Schulung. Da wirste 'n guter Kommunist. Dann kommste in die Russenzone und darfst nach der Pfeife der Politmänner tanzen. Und wennste nich mehr willst, polier'n se dir de Fresse, det de nich mehr kieken kannst! Nee… denn lieber noch 'n Jahr.«

«Es wird diesen Winter weniger zu essen geben, habe ich gehört«, warf Möller ein.

Die Nachricht wirkte lähmend. Essen. das war die Hauptsache. Solange man kauen konnte, war das Leben erträglich. Erst mit dem Hunger stellte sich die Verzweiflung ein, der Zusammenbruch, das schreckliche Ende.

«Wer sagt denn das?«zweifelte Julius Kerner.

«Der Küchenbulle, der Pjatjal! Er hat schon seine Zuteilungslisten für den Winter bekommen! Pro Mann nur einen Liter Suppe am Tag! Vierhundert Gramm Brot!«

«Das frißt ja kein Hund«, schrie Karl Georg.»Der Hund von Wor-otilow lebt besser. Der kriegt Fleisch. Habe ich selbst gesehen«, sagte Peter Fischer.

«Und wir müssen der Bascha in den fetten Hintern kneifen, um ab und zu einen Löffel Fett zu bekommen!«Julius Kerner sprang von seinem Bett herab und setzte sich an den Tisch.»Wie war das, noch mal, Peter? Die in der KP sind, die werden schneller entlassen?«

«Heißt es.«

Kerner sah sich kopfkratzend im Kreise um.»Jungs, man sollte sich das überlegen. Die eigene Haut ist wertvoller als ein dusseliges Parteibuch. Das kann man verbrennen. aber die eigene Haut bleibt! Und warum sollen wir nicht Stalin loben, wenn wir dafür mehr zu fressen kriegen und schneller zu Muttern kommen? Was später ist. Jungs, das wird sich zeigen! Das wird sich alles einspielen. Erst laßt uns mal in Deutschland sein und uns richtig 'rausfressen. Dann sieht die Welt anders aus, und wir dazu! Was wissen wir, wie es in Deutschland zugeht? Ich habe es zuletzt 1942 gesehen! Im Frühjahr! Da hatt' ich Genesungsurlaub. Nach Stalingrad schrieb mir dann meine Else, daß sie schwanger ist. dann kam die große Scheiße, und alles war aus. Ich weiß nicht mal, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden ist.«

Karl Georg sah an die Decke. In seinen Augen spiegelte sich die Heimat. Die Rhön… das weite, wellige Land mit den glitzernden, lautlosen, riesigen Vögeln unter dem blauen Himmel. die Wasserkuppe. Die Winde des Drahtseiles knirscht… das Segelflugzeug hebt sich empor. es schwebt in den Aufwind. Wie ein Silberpfeil gleitet es durch die Luft.

«Wir lagen unter einem Holunderbusch, das letzte Mal«, sagte Karl Georg leise.»Es war der letzte Tag des Urlaubs. Und gestöhnt hat sie.«

«Halt die Fresse!«sagte Kerner gequält.

Karl Eberhard Möller legte sich halb mit dem Oberkörper über den Tisch. Seine Augen waren verschleiert, der Blick irrte von einem zum anderen.

«Sollen wir uns alle melden?«fragte einer stockend.»Wir alle geschlossen?«

«Zur Kommune?«

«Ja. Vielleicht werden wir alle entlassen! Kinder. wir könnten Weihnachten in der Heimat sein! Unterm Weihnachtsbaum. Ich habe zwei Kinder… sie müssen jetzt sieben und zwölf sein! Zwei Mädchen! Ich werde am Klavier sitzen, und die beiden Gören und meine Trude, die singen. Die Kerzen brennen und knistern. es riecht nach Tannen und Kuchen, Nüssen und Marzipan. Die Glocken läuten.«

«Aufhören«, schrie Julius Kerner.»Aufhören!«Er preßte beide Hände an die Ohren, über sein eingefallenes Gesicht zuckte es wie im Fieber.»Ich kann es nicht hören! Halt die Schnauze, Kerl.«

Peter Fischer kaute an der Unterlippe, sein Gesicht war weiß. Er sprang auf und ging in das Halbdunkel des Raumes zurück. Er legte sich auf sein Bett und drehte das Gesicht zur Wand. Ein Zucken und Schütteln lief durch seinen Körper.

«Was hat denn der?«sagte Georg leise.

«Er hatte ein Mädel und wollte im nächsten Urlaub heiraten. Dann kam Stalingrad.«

Die anderen schwiegen. Die Gedanken flogen zurück über Tausende von Kilometern. Sie drangen in enge Stuben und weite Wälder, in schmutzige Straßen und blühende Wiesen.

Sie hat fünf Kinder… ob sie mit der Rente auskommt? Oder ob sie schneidern geht? Sie machte ja den Kindern alles selbst.

Die Fabrik war 1942 zerstört… ob sie der Schwager wieder aufbaute? Und Luise? Ob das Haus noch steht? Die Rosen, die ich veredelt habe? Mein Gott, was war das für ein Leben. und heute wären ein Pfund Brot und ein Stück Butter das Paradies.

Peter Fischer hieb mit der Faust auf den Tisch.

«Das Leben ist so und so doch nur noch Scheiße! Ich trete der Kommune bei! Ich gehe zum Major und melde mich.«

Julius Kerner nickte.»Ich gehe mit.«

«Mit oder ohne Trompete?«schrie einer aus der Ecke.

Man lachte. Es war eine Erlösung, eine Befreiung. Man lachte schrill und ausgelassen und hieb Kerner auf die schmalen Schultern.

«Nimm sie mit, Julius«, rief einer.»Dann kannste ihnen die Internationale auf Herms Niels blasen!«

Karl Eberhard Möller sprang auf den Tisch. Seine Arme kreisten dirigierend über den Köpfen der Männer.

«Ein Lied!«schrie er.»Ein Lied. Drei — vier!«

«Völker, höret die Signale, auf zum letzten Gefecht, die Internationale erkämpft das Menschenrecht.«

Die Stimmen sprangen in die kalte Schneenacht hinaus. Leutnant Piotr Markow zog die Stirn kraus, als er den fernen Gesang hörte. Er las in der Prawda einen Roman von Paustinow.

Major Worotilow hörte nichts. Er saß an seinem Radio und hatte Europa eingeschaltet. Kurzwelle — Sender Berlin. Walzermusik durchströmte den warmen Raum. Ein Tenor sang mit weicher Stimme eine einschmeichelnde Melodie.

Franz Lehar. Der Graf von Luxemburg.

Im Sessel bei Worotilow hockte Janina Salja. Sie hatte die Beine hochgezogen und knabberte an einem Keks.

Worotilows breites Gesicht glänzte.

«Du bist schön«, sagte er leise.

Sie nickte stumm. Sie hatte Angst.

Dr. Böhler saß bei der Kasalinsskaja im Zimmer und sah die Berichte der einzelnen Sanitätsstationen der Außenlager durch, als Dr. Sergeij Basow Kresin eintrat und sich lachend an den Türrahmen stellte.

Er schien voller Humor und Frohsinn zu sein, er bebte förmlich vor Witz.»Ihre Landsleute sind herrlich!«schrie er voller Vergnügen.»Sie sind die Zukunft Europas!«Er prustete wie ein badender Elefant und setzte sich massig auf einen der herumstehenden Stühle.»Heute morgen haben sich drei Baracken geschlossen beim Major gemeldet.«

«Krank?«fragte die Kasalinsskaja.

«Nein! Zum Eintritt in die Kommunistische Partei!«

Dr. Böhler sah von den Papieren auf. Sein langes, schmales Gesicht war ausdruckslos.»Das ist ein Scherz, Doktor Kresin.«

«Gehen Sie doch hin zu Worotilow. Er zeigt Ihnen die lange Liste der neuen Weltrevolutionäre! Übrigens«- er gluckste vor Vergnügen —»Ihr Sanitäter Nummer eins ist auch dabei.«

«Emil Pelz? Unmöglich!«

«Sagen Sie nicht unmöglich, wenn er unterschrieben hat! Mit ihm die ganze Musterbaracke. der Gärtner, der kühne Trompeter, der versehentliche Sohn Sauerbruchs… sie alle.«

Dr. Böhler erhob sich. Seine Blicke kreuzten sich mit denen Alexandras. Er las in ihnen Schadenfreude und einen stillen Triumph. Sie wird immer eine Russin bleiben, dachte er. Nichts wird sie ändern. keine Liebe, kein Schmerz, kein seelischer Schock. Sie gehört zu Rußland wie die Wolga und der Don, der Ural, die Taiga und die Tundra.

«Waren Werber im Lager?«fragte er, nur um etwas zu sagen.

«Nein, o nein. «Kresin wieherte.»Wir werben durch Taten! Hunger erzeugt klare Köpfe! Wer nichts zu fressen hat, wird vernünftig! Das ist das ganze Geheimnis vom fruchtbaren Acker des Kommunismus. Je mehr Elend in der Welt, um so stärker die Partei! Satte Mägen revoltieren nicht!«

«Und was wird nun mit diesen Männern?«»Worotilow muß sie an die Zentrale nach Moskau melden. Dann wird ein Kommissar kommen und sie sich ansehen, ob sie auch würdig sind, die Idee von Marx zu vertreten. Sind sie es, so kommen sie weg aus dem Lager.«

«Wohin?«

«Das weiß ich nicht. «Kresin zuckte mit den Schultern und grinste.»Auch der gefangene deutsche Kommunist bleibt ein gefangener deutscher Soldat! Ehe wir ihn laufen lassen, müssen wir die Gewähr haben, daß er in seiner Heimat auch das bleibt, was er uns hier verspricht. Wir werden nur kleine Gruppen zurückschicken.«

«Und wenn er in Deutschland abfällt?!«

Dr. Kresin wurde ernst und sah zu Boden.»Sie werden es nicht können. Man sagt ihnen, daß ein Abfall ihre zurückgebliebenen Kameraden treffen wird… nicht sie! Alle, die mit den Abgefallenen kamen, werden dann in ein Straflager kommen.«

Dr. Böhler sah Dr. Kresin erstaunt an.»Man scheint in Rußland viel vom deutschen Ehrgefühl zu halten.«

«Äußerst viel, Doktor! Die Geschichte hat uns gezeigt, daß der Kommunismus am kommunistischsten in Deutschland war. Das werden wir nie vergessen, wenn wir die Aufmarschbasis für den Sturm auf Europa ausarbeiten.«

«Sie sprechen wie Worotilow«, sagte Dr. Böhler verblüfft.

Kresin zuckte mit den Schultern.

«Wundert Sie das?«Er lachte sarkastisch.»Wir Kommunisten haben doch ein Einheitsgehirn.«

Dr. Schultheiß trat ins Zimmer. In seinem Gesicht stand Sorge. Er sah Dr. Böhler an und dann die beiden russischen Ärzte.

«Janina hat nach drei Monaten wieder Auswurf«, sagte er.»Leichte Temperatur und Nachtschweiß.«

Die Kasalinsskaja lachte höhnisch auf.»Kein Bock ist ein sanfter Liebhaber.«

Dr. Schultheiß schwieg verbittert. Er wußte, daß Janina in der vergangenen Nacht bei Worotilow gewesen war. Er hatte wach gelegen und sich vor Eifersucht hin und her gewälzt, in die Decke gebis-sen und vor sich hingewimmert wie ein hysterisches Mädchen. Am Morgen war er dann an ihr Bett getreten und hatte ihr sofort die Verschlimmerung angesehen.

«Sie müssen wieder liegen, Janina«, hatte er in ärztlichem, unpersönlichem Ton gesagt.»Sie waren töricht und ungehorsam und haben jetzt die Folgen zu tragen. Wenn Sie so weitermachen, hilft keine Kur, und Sie werden nach einem Blutsturz sterben!«

«Du bist roh, Jens«, hatte Janina leise geklagt.»Warum bist du so roh.?«

«Sie haben meine Verordnungen nicht befolgt, Janina.«

«Ich hatte Sehnsucht, Jens. Ich konnte nicht anders.«

«Jeder Mensch hat die Kraft, sich zu bezwingen. Wir sind doch keine Tiere.«

Janina hatte die Augen geschlossen.»Ich doch, Jens, ich doch. Ich bin ein Tier.«

Plötzlich hatte sie in seinen Armen gelegen, ein Hustenanfall durchrüttelte ihren zarten Körper.

Er hatte sie vorsichtig zurückgebettet und die Decken über sie gebreitet. Ihre Brust atmete schnell, der Puls jagte. Schweiß brach aus den Poren, klebriger, kalter, kranker Schweiß.

Dr. Schultheiß war aus dem Zimmer und zu Dr. Böhler gerannt.

Die Kasalinsskaja stand auf und strich sich die Haare aus der Stirn.

«Schlimm?«fragte sie.

«Sie war sehr erregt. Das hat sie völlig erschöpft. Es wäre gut, wenn sie den Winter über in den Süden reisen könnte.«

Alexandra blickte Dr. Schultheiß von der Seite an. In ihren Augen stand Erstaunen und Verständnislosigkeit.

«Sie soll weg von hier?«Von Ihnen, wollte sie sagen, aber sie bezwang sich wegen der Anwesenheit von Dr. Kresin.

Dr. Schultheiß nickte.»Es wäre besser, für alle.«

«Ach so.«

Dr. Kasalinsskaja verließ das Zimmer und ging hinüber zur Lungenstation. Als sie das Zimmer Saljas betrat, lag Janina schräg unter den Decken. Ihre nackten Beine hingen im kalten Luftzug des geöffneten Fensters. Die Schultern waren wie Eis. Sie war besinnungslos.

Die Stimme der Kasalinsskaja gellte durch den Flur.

«Dr. Böhler!«

Nach zwei Minuten rannte Dr. Kresin wie ein Büffel über den Platz der Kommandantur. Seine Füße warfen den Schnee hoch in die kalte Luft.

Blinder Zorn tobte in ihm.

Er hatte sich vorgenommen, Worotilow zu Boden zu schlagen.

Das Außenlager Stalingrad-Stadt war in einer leeren Fabrikhalle untergebracht und umfaßte mit allen Außenkommandos 567 Mann. Hinzu kamen 45 Offiziere, die getrennt in einem Steinhaus lebten und von denen keiner sagen konnte, was sie hier in Stalingrad machten, ob und wo sie arbeiteten und wie es in dem Lagerhaus, das ihnen zugewiesen war, aussah. Nur Dr. von Sellnow pendelte zwischen Mannschafts- und Offizierlager hin und her und baute seine Sanitätsstube zu einem leistungsfähigen Revier aus. Er erhielt dabei die Unterstützung des Distriktsarztes Dr. Kresin, der ihm die nötigen Ausstattungen zuwies.

Die 567 Mann arbeiteten alle in der Fabrik >Roter Oktober<. Es war eine Stahlschmiede riesigen Ausmaßes, die neben Panzern auch Ackerschlepper, Kanonenrohre und Schiffsstahlplatten herstellte. Entstanden aus einem riesigen, unübersehbaren Gewirr von verbogenen Stahltrümmern, war die Fabrik der Stolz Stalingrads geworden, ein Wahrzeichen des Aufbaues, eine Demonstration des Lebenswillens gegen die Zerstörung. Daß gerade in der Fabrik >Roter Oktober< deutsche Kriegsgefangene und russische Politische Häftlinge arbeiteten, war eine Angelegenheit des Prestiges, wie etwa die Unterzeichnung des Waffenstillstandes mit Frankreich 1940 in dem gleichen SalonEisenbahnwagen stattfand, in dem in Compiegne 1918 die deutsche Niederlage unterschrieben wurde. So war die Fabrik >Roter Okto-ber< 1943 der heißumkämpfte Mittelpunkt und das letzte Bollwerk der deutschen Truppen in Stalingrad gewesen, aus den Trümmern und unübersehbaren Eisenhaufen und Kellern schlug den Russen bis zuletzt das Feuer der 6. Armee entgegen. In den Gewölben unter den Hallen lagen Tausende von Verwundeten. Dort standen auch Dr. Böhler, Dr. von Sellnow und Dr. Schultheiß an den Tischen und operierten tage- und nächtelang, während die Mauern von Einschlägen schwankten.

Heute ist >Roter Oktober< wieder eine riesige, modern aufgebaute Fabrik mit einem Wald rauschender Schlote, hellen, gläsernen Montagehallen und einer großen Kantine, einem eigenen Werktheater, einem Kindergarten, einem Schwimmbad und einer Bibliothek mit allen Werken des Kommunismus. Sie ist eine Burg des Glaubens an die Zukunft, ein pulsierendes Herz der Revolution. eine Kraftquelle des Ostens gegen den Westen.

Das Blut, das durch dieses Herz strömt, sind die deutschen Plen-nis und russischen Strafgefangenen, die sie aufbauten. Deutsche und amerikanische Architekten und Ingenieure, Konstrukteure und Statiker stehen in den großen Zeichensälen an den Reißbrettern und planen und bauen. Deutsche Arbeiter hocken an den Drehbänken und stehen in den Gießereien, an den Walzstraßen und Bohrern. Man murmelt sogar, daß der bis heute unsichtbare Chef des Werkes, der Dipl.-Ing. Piotr Wernerowski, ein Deutscher ist, Peter Werner aus Chemnitz. Niemand hatte bisher Dr. Wernerowski gesehen — auch Dr. von Sellnow nicht, nur unter den wöchentlichen Kampfparolen für die Kader der Arbeiterschaft stand sein Name — Dr. P. Wernerowski, eine typisch deutsche, in lateinischen Buchstaben gehaltene Unterschrift.

Das ist das Lager Stalingrad-Stadt. Ein riesiges Herz. Eine geballte Riesenfaust, die nach Westen droht. Die Stadt Stalins, an der Deutschland zerbrach.

Dr. von Sellnow stand auf dem Leninplatz vor dem wolkenkratzerähnlichen Parteihaus und blickte an der weißen Fassade empor, die das goldene Emblem von Hammer und Sichel krönte. Vor dem Eingang, zu dem eine riesige Treppe hinaufführte und dessen große Bronzetüren hinter mächtigen Säulen lagen, thronten auf hohen Sockeln Gipsstandbilder, von Stalin und Lenin.

Sellnow sah sich zu Dr. Kresin um, der hinter ihm stand.

«Gips ist vernünftig«, sagte er hämisch.»Man kann die Dinger schnell zerkloppen, wenn es mal nötig ist. «Er lachte.»Mit Eisen oder Bronze ist das schwieriger. Da weiß man nicht so schnell, wohin damit, und die Köppe rollen dann auf der Erde herum und liegen im Weg.«

Dr. Kresin schnaubte durch die Nase.»Ich bin ein Rindvieh, daß ich ausgerechnet Ihnen Stalingrad zeige. Jeder Idiot wäre dankbarer als Sie!«

«Das glaube ich Ihnen recht gern. «Sellnow sah sich auf dem weiten Platz um. Prachtbauten mit blitzenden Fensterfronten lagen in der kalten Wintersonne. Der Schnee glitzerte in kristallener Klarheit.»Nur einem Idioten können Sie erzählen, daß dies hier das wirkliche Gesicht Sowjetrußlands ist! Amerikanische Touristen werden es dankbar knipsen und zu Hause zeigen: Oh, Rußland — wonderful! Aber ich habe die andere Seite gesehen… die stinkenden Katen in den Dörfern, die Erdhütten am Rande von Orscha, die Blechbaracken bei Minsk.«

Dr. Kresin wurde wütend.»Das sind keine Potemkinschen Fassaden. Gehen Sie doch hinein, Sie deutscher Hund! Dort wohnt man wie in einem Paradies. Und Arbeiter wohnen dort! Arbeiter! Wir sind ein Land, das die Massen liebt.«

«Vor allem, wenn sie am Eismeerkanal beim Bau der Schleusen zu Millionen verrecken.«

«Das sind Märchen! Das sind die Hetzreden der kapitalistischen Clique! Man mißgönnt Rußland den Anschluß an die Welt.«

Dr. von Sellnow lehnte sich gegen eine der Säulen, die die Kolonnaden des Parteihauses trugen. Er steckte die Hände in die Taschen seiner Lammfelljacke, die man ihm aus alten Militärbeständen gegeben hatte. Sein knochiges Gesicht war von der Kälte gerötet.

«Warum schleppen Sie mich eigentlich durch diese Stadt? Wol-len Sie einen Kommunisten aus mir machen?! Das ist ein Versuch am untauglichen Objekt. Was ich vom Kommunismus weiß, genügt mir. Da helfen auch keine weißgetünchten Fassaden.«

Dr. Kresin zog aus der Tasche seiner Pelzjacke, dessen Fell er wie ein sibirischer Bauer nach außen trug, was ihm etwas Bärenhaftes verlieh, eine Schachtel Zigaretten und bot Sellnow eine an. Indem er sie ihm ansteckte, meinte er:

«Was halten Sie davon, ein großes russisches Krankenhaus zu übernehmen?«

«Nichts.«

«Wir suchen gute Ärzte. Amerikanische, englische, französische, indische, schweizerische Ärzte haben wir — warum sollen es nicht auch deutsche Ärzte sein? Ich hatte Zeit, Sie genügend zu beobachten, als Sie bei Dr. Böhler arbeiteten. Sie haben Mut, Sie sind schnell von Entschluß, Sie können etwas. Rußland könnte Sie brauchen.«

Sellnow winkte ab.»Ich bin Kriegsgefangener.«

«Das würde sofort geändert! Sie würden ins Zivilverhältnis überführt werden. «Dr. Kresin schnippte die Asche von seiner Zigarette.»Denken Sie an den Fall des Gefreiten Sauerbrunn im vorigen Sommer. Wenn er wirklich der Sohn Sauerbruchs gewesen wäre, würde er jetzt längst frei sein und in Berlin. Wir Russen ehren die Größe des Geistes und wissenschaftliches Können. Und auch der Arzt ist ein Künstler — er arbeitet an lebenden Objekten.«

Sellnow warf erregt die Zigarette in den Schnee, wo sie leise zischend erlosch. Das Papier löste sich durch die Feuchtigkeit auf. Wie ein brauner Fleck lag der Tabak in dem leuchtenden Weiß.

«Das sind ja alles Dummheiten!«

«Wieso, Doktor?«

«Ich habe eine Frau und zwei Kinder.«

«Wir werden sie hierherkommen lassen. Mütterchen Rußland soll ihre zweite Heimat werden! Sie werden wie ein Russe behandelt. Sie haben in jeder Hinsicht die gleichen Rechte. Es wird Ihnen an nichts fehlen. Sie erhalten ein eigenes Haus in der Nähe der Klinik, der Staat stellt Ihnen einen Wagen zur Verfügung. Die Bezahlung ist vorzüglich. Ihre Waren bekommen Sie in den staatlichen Kaufhäusern. Sie werden sehen, daß Sie in ein Paradies gekommen sind.«

«Vielleicht in der Kalmückensteppe.«

«Wo das Krankenhaus liegen wird, das Sie übernehmen, weiß ich allerdings noch nicht. Wir haben von Moskau nur die Anweisung erhalten, die deutschen Ärzte zu veranlassen, sich zivilisieren zu lassen.«

«Nettes Wort, Dr. Kresin. «Sellnow lachte schallend.»Waren Sie schon bei Dr. Böhler?«

«Ja. «Dr. Kresin nahm eine ablehnende Haltung ein. Sein Gesicht verhärtete sich.

«Und was sagt der Chef?«

«Er bleibt im Lager 5110/47!«

«Ach nee! Und warum?«

«Sein ärztliches Gewissen befehle ihm, sagte er, so lange bei seinen Kranken und Verletzten auszuhalten, bis der letzte deutsche Kriegsgefangene entlassen sei und keiner ärztlichen Hilfe mehr bedürfe. Für sein Lazarett ist er der Kapitän, der das Schiff als letzter verläßt.«

Sellnow sah in den fahlen Himmel. Schneewolken drohten. Der russische Winter kam aus Sibirien herüber. Morgen, übermorgen… tagelang, wochenlang würde es jetzt schneien und frieren, die Erde würde hart werden wie Beton, und die Plennis würden umfallen in dieser Kälte und sterben mit einem letzten Seufzer auf den dünnen, verhungerten Lippen. Die Lagerlazarette würden sich füllen. Erfrierungen. Schneeblindheit. erfrorene Verletzungen. Amputationen. Elend… lebenslängliches Leid. Der russische Winter kannte kein Erbarmen.

Sellnow schüttelte den Kopf.»Wie können Sie mich fragen, Dr. Kresin, wenn Ihnen Dr. Böhler schon geantwortet hat.«

«Ich dachte, Sie würden anders denken.«

«Ich? Wollen Sie mich beleidigen?! Sie können Rindvieh und Hund, Aas und Saustück zu mir sagen — ich antworte Ihnen mit noch schöneren Worten. Aber meinen ärztlichen Stand und mein ärztliches

Gewissen lasse ich mir nicht antasten, und wenn ich dabei vor die Hunde gehen sollte!«

Dr. Kresin sah in die Luft. Um seine Nase hatte sich der Atem zu einer leichten Eisschicht verdichtet.

«Ich dachte dabei auch an Alexandra Kasalinsskaja.«

Sellnows Miene wurde starr. Seine Augen verschwanden hinter den Lidern.»Was ist mit ihr?«

«Ich würde sie Ihnen als Oberärztin zuteilen.«

Sellnow winkte ab.»Das wäre mein Ende. Es wäre mein Tod.«

«Vergessen Sie nicht, daß wir Ihre Frau und die Kinder nachkommen lassen.«

«Dann würde ein Drama daraus werden! Alexandra ist wie eine rassige Stute. Wenn ein Mann sie ansieht, kann er gar nicht anders, als sie nehmen. Es ist, als ob die Natur in diesem Falle wieder ur-haft würde. Daß Sie mich nach Stalingrad versetzten, Dr. Kresin, empfand ich in den ersten Tagen als das schlimmste Unglück seit meiner Gefangennahme. Ich habe getobt und in der Nacht nach der Kasalinsskaja geschrien. Aber jetzt bin ich froh darüber. Sie haben mich von einer Fessel befreit, die mich erdrückt hätte. Es ist vielleicht das erstemal, daß ich Ihnen für etwas wirklich dankbar bin.«

Dr. Kresin schob die Unterlippe vor. Er sah aus wie ein spuckender Affe.»Sie irren, Doktor. Sie brauchen mir auch heute nicht zu danken. Ihre Versetzung verfügte Major Worotilow seinerzeit auf eindringliches Bitten von Dr. Böhler.«

«Der Chef..?«Sellnow sah vor sich hin in den Schnee. Mit den Schuhspitzen vergrub er die aufgelöste Zigarette.»Er hat nie mit mir wegen Alexandra gesprochen. aber er hat es gewußt. Dr. Kre-sin, ich gestehe es: Mir würde etwas im Leben gefehlt haben, hätte ich Dr. Böhler nicht kennengelernt.«

«Das habe ich auch zu Worotilow gesagt.«

«Sie auch, Kresin?«Er sah zu dem großen russischen Arzt auf.»Mein Gott, ich entdecke ja eine menschliche Seite bei Ihnen.«

Dr. Kresin verzog den breiten Mund. Sein Gesicht wurde rot.

«Dann vergessen Sie es schnell wieder, Sie deutsches Schwein«, und Sellnow lachte so laut, daß die Leute, die in das Parteihaus gingen, sich erstaunt nach den beiden Männern umblickten. Es begann zu schneien. Still und samtweich. Die dicken, weißen Flocken rieselten auf die Erde. Der Himmel war dunkelgrau. Von den Fabriken herüber gellten die Sirenen.

Mittagspause.

Dr. Kresin sah Sellnow an.»Gehen wir?«

«Ja.«

«Und mein Angebot?«

Sellnow steckte beide Hände in die Taschen.»Denken Sie einfach, Sie hätten es mir nie gemacht.«

Im Lager 5110/47 erschien wieder der politische Kommissar Wadislav Kuwakino. Er stand eines Morgens vor der Kommandantur im Gespräch mit Leutnant Markow und dem Dolmetscher Jakob Aaron Utschomi.

Durch die Baracken geisterten die Flüsterparolen.

Er kommt wegen der Meldungen zur KP!

Es wird Ernst.

Peter Fischer und Julius Kerner sahen hinüber zu Karl Georg, der seit dem Einsetzen des Schneefalls arbeitslos geworden war, seinem Garten nachtrauerte und meistens auf der Pritsche lag und an die Balkendecke döste. Ab und zu ging er zur Latrine und blieb dort über eine Stunde hocken, las in der Prawda, die ihm ein russischer Posten schenkte, und begann, seine russischen Sprachkenntnisse zu vervollständigen.

«Der Kommissar ist da«, sagte Kerner unsicher.

«Hm.«

«Du hast dich doch auch gemeldet.«

«Ja.«

«Jetzt werden wir Kommunisten!«

Peter Fischer lachte gequält.»In der Heimat war ich Scharführer der SA.«

Karl Georg winkte von seinem Bett aus ab.»Danach werden sie nicht fragen. Es geht ihnen darum, daß sie für Deutschland Propagandisten bekommen! Ich habe gehört, daß wir alle nach Moskau und Molotow auf eine Schule kommen sollen — auf eine Komsomolzenschule.«

«Wie heißt das Biest?«fragte Kerner kritisch.

«Komsomolzen. Das ist eine Abkürzung von Kommunistitscheskij sojus molodeschi.«

«Meine Fresse!«sagte Peter Fischer erschüttert.

«Das ist so eine Jugendorganisation wie die HJ. Dort werden die Jungkommunisten ausgebildet und politisch gedrillt. Wenn wir das hinter uns haben, lassen sie uns auf die Menschheit los.«

«In die Heimat?«

«Nehme ich an.«

Peter Fischer schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.»Dann ist mir alles egal! Ich mache alles mit, wenn es nur nach Deutschland geht.«

«Komsomolzen«, sagte Julius Kerner sinnend.»Was wird meine Frau sagen, wenn ich als hundertprozentiger Kommunist nach Hause komme?«

«Die wird gar nichts sagen und dich zu sich ins Bett nehmen. «Karl Eberhard Möller, der gerade vom Küchendienst eintraf, warf seine verschneite Pelzmütze an den Ofen. Er lachte und legte eine Dose Rindfleisch, amerikanischen Ursprungs, auf den Tisch.»Hat einer von euch 'nen Büchsenöffner?«

Kerner wog die Büchse in der Hand und lachte:»Geklaut?«

«Die hat mir die Bascha gegeben.«

Karl Eberhard Möller begann, mit einem Messer den Blechrand aufzustemmen.

Solange man aß, sprach keiner mehr über den Kommunismus.

In der Barackentür erschien kurz darauf der Dolmetscher Jakob Aaron Utschomi. Er überblickte den Raum, übersah die Fleischdose und wischte sich mit der Zunge über die Lippen.

«Nach dem Mittagsappell bleiben alle im Lager, die sich für die Partei gemeldet haben«, schrie er übermäßig.»Die anderen gehen zur Arbeit. Um drei Uhr ist Antreten auf dem Platz für alle Parteianwärter! Verstanden?«

Da keiner in der Baracke antwortete, schrie er noch einmal:

«Verstanden?!«

«Leck mich am Arsch!«rief einer aus der dunklen Ecke zurück.

«Na also. «Utschomi lächelte schwach. Hinter seinem schmalen Rücken krachte die Balkentür zu. Einen Augenblick wehte Kälte über die Tische, die der Tür am nächsten standen. Julius Kerner zog die Schultern zusammen.

«Es wird wirklich Ernst«, sagte er schwach. Er schob die Fleischdose weg — es schmeckte ihm nicht mehr.

Karl Georg sprang von seinem Bett auf und machte ein paar Kniebeugen. Die Beine waren ihm vom Liegen eingeschlafen.

«Jetzt macht sich der Julius vor Angst in die Hosen«, bemerkte er dabei.

«Du etwa nicht?«schrie Peter Fischer zurück.

Georg hob die Schultern an.»Warum, Jungs? Dreckiger als hier kann es uns nirgendwo gehen! Und wenn wir krepieren sollen. ob in Stalingrad, in Moskau, in Molotow oder wer weiß wo. das ist doch wurscht! Immerhin ist dieser Parteirummel noch eine leise Hoffnung, aus dem Dreck herauszukommen. Wir müssen nur stur sein und zeigen, daß wir wirkliche Kommunisten sind.«

Karl Eberhard Möller zog Filzstiefel und Fußlappen aus und häng-te sie über den Ofen. Der Geruch der trocknenden Lappen zog ätzend durch die Baracke.

Julius Kerner sah erschrocken zur Tür, die wieder mit einem kalten Luftzug aufschwang. Hans Sauerbrunn, der Mann mit der neuen Boxernase, trat frierend ein. Er schlug die Arme gegen seine Brust und ließ sie in der Wärme der Baracke wie Flügel kreisen. Er kam von einem Schneeschaufel-Kommando, das die Zufahrtstraße zum Lagertor schneefrei zu halten hatte. Es war ein begehrtes Kommando, denn die Posten in den Wachstuben gaben manche Zigarette ab.

Es waren meist gutmütige Tataren, die nur zu Tieren wurden, wenn sie die wöchentliche Wodkazuteilung in einer Stunde versoffen.

«Was Neues?«rief ihm Peter Fischer entgegen.

«Der Kommissar stellt Listen zusammen. Ich habe es durch das Fenster gesehen. Worotilow ist auch bei ihm.«

Julius Kerner schob Sauerbrunn die Fleischbüchse hin und einen Löffel.»Von Möller. Hat er von der Bascha. Uns ist der Appetit verdorben.«

«Wegen Kuwakino?«

«Auch. Wir müssen uns erst daran gewöhnen, ab morgen Kommunisten zu sein.«

Sauerbrunn aß die Büchse leer und wischte sich mit dem Ärmel seiner Steppjacke über den Mund. Dann drehte er sich aus Zeitungspapier und alten Kippen eine Zigarette und steckte sie mit einem Fidibus an, den er an dem Ofen aus Lehmziegeln entzündete.

«Ich habe gehört, daß in anderen Lagern schon die neuen Kommunisten abtransportiert werden. Es geht alles sehr schnell. Aber keiner wußte, wohin sie kamen. Mit allen Sachen antreten, hieß es. Dann wurden sie auf Lastwagen geladen und weggefahren.«

«Hört sich wie ein Transport ins Krematorium an«, bemerkte Peter Fischer, und Julius Kerner schluckte schweigend.

«Wenn wir da bloß keine Dummheit gemacht haben.«

Karl Georg schüttelte den Kopf.»Man muß nur auf Draht sein und die Augen offenhalten«, sagte er.»So leicht haut man einen deutschen Oberschnäpser nicht um.«

Wieder kam Jakob Aaron Utschomi in die Baracke.»Wir brauchen fünf Mann für Schreibarbeiten!«sagte er laut.

«Los! Melden!«zischte Karl Georg.

Möller, Sauerbrunn, Kerner, Georg und Fischer traten vor. Uschomi musterte sie.

«Ihr!«Er grinste.»Die Auslese der deutschen 6. Armee.«

Die fünf überhörten es. Sie sahen an die Decke und grinsten mit.

«Na, kommt schon!«Utschomi, der kleine Jude, war ein guter Kerl.

Er war beliebt und fühlte mit den Plennis.»Könnt ihr denn überhaupt schreiben?«fragte er, während sie über den verschneiten Platz gingen.

«Daß sie dir gleich an die Birne hauen!«sagte Peter Fischer fröhlich.»Wir haben anderes gelernt, als im Ghetto die Menschen zu bescheißen.«

Der Jude Utschomi lächelte zurück. Er hatte es sich abgewöhnt, jemals etwas übelzunehmen. Was nützte es auch, sich aufzuregen. Gott hatte seine Rasse und sein Volk verflucht. und er litt mit orientalischem Gleichmut und war glücklich, wenn ihn niemand tätlich angriff.

Vor der Kommandantur baute Utschomi die fünf im Schnee auf und ging in das Haus.

«Gleich spielen wir Schneemann«, meinte Karl Georg. Er klopfte den Schnee aus seinen Haaren. In der Eile hatte er vergessen, seine Mütze mitzunehmen.

Der riesige Wald stand wie eine weiße Kulisse am Horizont und schien sich im Grau des niedrigen Himmels aufzulösen.

Aus der Kommandantur trat Major Worotilow. Er musterte die fünf Freiwilligen und nickte.

«Hereinkommen«, sagte er ziemlich freundlich. Und als sie in den Vorraum kamen und den Schnee abschüttelten, meinte er ernst:»Soll ich euch vereidigen, oder haltet ihr so die Schnauze?«

Karl Georg schüttelte den Kopf.»Es wird auch so gehen, Genossen, was?«

Worotilow riß die Augenbrauen hoch. Einen Moment überzog Verblüffung sein dickes Gesicht. Dann lächelte er und klopfte Georg auf die schmale Schulter.

«Ihr seid verfluchte Kerle. Genossen.«

Nur Julius Kerner hörte den Doppelsinn heraus. Er wurde blaß vor Angst.

Seit dem Weggang Dr. von Sellnows war die Kasalinsskaja von Tag zu Tag hysterischer geworden. Sie konnte ihr Kopfkissen zerfetzen und sich darüber wundern, warum sie es tat. Sie biß sich die Lippen blutig und staunte, daß sie bluteten. Dr. Böhler sah es mit Schrek-ken. Kresin hatte einmal zu ihm gesagt:»Wenn die Kasalinsskaja Sellnow nicht wiederbekommt, wird sie verrückt«, aber er hielt das für eine der massiven Übertreibungen des russischen Arztes. Jetzt sah er mit Schrecken, welche Formen die Nymphomanie der Ka-salinsskaja annahm.

«Wir können Sellnow unmöglich wieder zurück ins Lager holen«, sagte er zu Dr. Kresin. Sein Gesicht war in den Sommermonaten noch schmaler geworden, die Nase saß darin wie ein scharfer Haken. Die Bräune, die sein Aufenthalt im Lager 12 mit sich gebracht hatte, belebte noch die Haut.»Wenn wir ihn wieder mit der Kasalinsskaja zusammenbringen, ist es unmöglich, dieses Verhältnis vor aller Welt zu verbergen. Der erste, der es erfahren würde, wäre Markow. Und er würde mit Wonne dafür sorgen, daß in Moskau unser Lager gestrichen wird. Es ist ganz unmöglich.«

«Alexandra wird uns noch die Wände hochgehen. «Kresin rauchte erregt seine orientalischen, starken Zigaretten. Er sah Dr. Böhler hilflos und flehend an.»Der Teufel kenne sich mit den Weibern aus!«

«Versetzen Sie sie doch.«

«Das möchte ich Ihren Kameraden nicht antun.«

Dr. Böhler zog die Augenbrauen hoch.»Wieso?«

«Wenn ich die Kasalinsskaja versetze, ist das, als ob man einen wilden Tiger in Freiheit setzt. Sie würde in ein anderes Gefangenenlager kommen und dort mit einer Rücksichtslosigkeit herrschen, die an organisierten Mord grenzt. Es gäbe überhaupt keine Kranken mehr, sondern nur Lebende und Tote! Gott sei's geklagt, wir kennen ja das verdammte Weibsstück! Und seitdem die Janina wieder so krank ist, hat sie einen Haß auf alle Männer bis auf den, zu dem sie ins Bett kriecht.«

Dr. Böhler kaute an der Unterlippe. Nervös zerdrückte er die hal-bangerauchte Zigarette.»Nymphomanie ist eine unheilbare Krankheit, ich weiß. Es gibt da moderne Arten von Hormonbehandlungen, aber was nutzt uns das an der Wolga? Wissen Sie einen anderen Weg als den, Sellnow zurückzuholen?«

Dr. Kresin zuckte mit den Schultern.»Wenn der Bock nicht zur Ziege kommt, muß die Ziege zum Bock! Wir werden die Kasalinsskaja zwei Wochen beurlauben und nach Stalingrad schicken. Dort wird sie den armen Sellnow schon noch kriegen.«

«Ihre Ausdrucksweise ist ordinär«, sagte Dr. Böhler verschlossen.

«Das ganze Leben ist ordinär!«Dr. Kresin spuckte ins Zimmer. Ein Faden des süßlichen Tabaks hatte sich aus dem Mundstück der Zigarette gelöst und war auf seine Zunge geraten.»Nur wir Gebildeten machen um das Ordinäre des Lebens einen Samtmantel und kleiden das Schwein in Seide und Spitzen. Der Primitive sagt und sieht es so, wie es ist. Und ich bin noch so herrlich primitiv.«

Es klopfte. Dr. Kresin öffnete selbst und sah auf den kleinen Aaron Utschomi herab, der für den Kommissar wie ein Stift im ersten Lehrjahr hin und her jagte.

«Dr. Böhler soll zum Kommandanten kommen! Die neuen Kommunisten werden untersucht.«

«Wie nett. «Dr. Kresin schlug die Tür zu und ließ Utschomi draußen stehen.»Es haben sich aus unserem Lager 392 Mann gemeldet, die ihr Herz für Väterchen Stalin entdeckten. «Er sah Dr. Böhler an.»Warum Sie eigentlich nicht unser Angebot annehmen.«

«Sie kennen meine Ansicht, Dr. Kresin. Wir brauchen gar nicht mehr darüber zu reden.«

«Es ist ein Armutszeugnis für uns, daß wir Ihren Stolz in all den Jahren noch nicht gebrochen haben. Selbst Waldlager 12 war eine leichte Pille für Sie!«

«Eine ziemlich schwere. «Dr. Böhler knöpfte seine Steppjacke zu und setzte die Ohrenmütze auf.»Sie hat mich erst richtig dazu bewogen, so lange zu bleiben, bis der letzte in der Heimat ist oder mit mir hinausfahrt aus Ihrem grauenhaften Rußland.«

«Für das >grauenhaft< müßte ich Ihnen eine Ohrfeige geben.«

«Aber Sie tun es nicht. Im Grunde sind Sie europäischer, als Sie es sich selbst eingestehen! Sie wären ein gutes Beispiel für einen Psychologen.«

Dr. Kresin hob die Augen zur Decke und seufzte tief.

«Daß man Sie nicht umbringen darf..«, murmelte er.

Zusammen stapften sie durch den Schnee der Kommandantur zu. Der Wind trieb ihnen die Flocken peitschend ins Gesicht. Sie duckten sich tief und stemmten sich dem Wind entgegen. Die Wachttürme, die Baracken, die Küche — alles lag wie hinter einem dichten Schleier. Die Spuren ihrer Füße verwehten sofort und füllten sich mit neuem Schnee.

Vor der Kommandantur standen in langen Reihen die Plennis im Schneesturm. Sie froren und zitterten und drängten sich eng zusammen, um sich zu wärmen. Wie ein verschneiter Hügel sahen sie aus.

Dr. Kresin nickte mit dem Kinn zu ihnen hin.

«Die neuen Kommunisten. Ein kleiner Vorgeschmack zur Eignungsprüfung. Erst frieren sie, dann wird ihnen eingeheizt. Kommissar Kuwakino hat alte, erprobte Methoden der Auslese. «Er lachte dröhnend.»Der Dienst bei Mütterchen Rußland ist ebenso schwer wie der der Eunuchen im alten China.«

Aus dem Vorraum der Kommandantur schlug ihnen heiße Luft entgegen und nahm ihnen einen Augenblick den Atem.

Major Worotilow trat aus seinem Zimmer und nickte ihnen zu. Dabei fiel sein Blick auf die zitternden Gestalten vor dem Haus, auf diesen Haufen Leben im Schneesturm. Mit dem Fuß stieß er die Tür auf. Sein Gesicht war verschlossen, als er sich Dr. Böhler zuwandte.

«Sie werden die Kerle dort untersuchen. Kleinste Fehler und Krankheiten scheiden aus! Ich bitte um strengste Maßstäbe.«

«Um kasalinsskajanische Maßstäbe?«fragte Dr. Böhler.

Worotilow wandte sich ab und schwieg.

Kommissar Wadislav Kuwakino sah Dr. Böhler aufmerksam entgegen, als sie das große Zimmer betraten. Die fünf Schreiber schnellten empor und nahmen stramme Haltung an. Dr. Böhler überflog sie mit einem Blick. Die? dachte er. Die führen die Listen?

Er hatte plötzlich keine Sorge mehr, ungerecht sein zu müssen. Und er übersah — vielleicht zufällig — die Hand, die ihm Kommissar Kuwakino entgegenstreckte.

«Fangen wir an«, sagte er.»Sonst kann ich die Hälfte mit Erfrierungen ins Lazarett schicken.«

Wadislav Kuwakino nickte wütend, mit zusammengebissenen Zähnen. Schnell zog er seine Hand zurück.

AUS DEM TAGEBUCH DES DR. SCHULTHEISS:

Seit Tagen hält der latente Zustand an.

Janina ist apathisch und geduldig. Sie läßt sich untersuchen, spricht mit Worotilow, wenn er sie besucht, kein Wort und sieht mich an wie ein verwundetes Tier.

Ich kann ihr nicht helfen, wenn sie selbst keine Lust mehr zum Leben hat. Ihr Körper könnte gesunden, aber ihre Seele ist krank, und von innen stirbt sie ab, während ihre Augen lächeln.

Dr. Kresin tobte gestern mit mir. Er gab mir alle Schuld, bis er sich erinnerte, daß er es war, der mich damals mit zu Janina in die Tingutaskaja 43 nahm, um mein Urteil über ihre Tbc zu hören.»Der Oberarzt macht die Kasalinsskaja hysterisch, der Unterarzt bringt die Janina vor Liebeskummer ins Grab! Was ist das für ein Lager! Mensch, man könnte die Wände hochgehen.«

Vergeblich hatte er versucht, mit Janina zu sprechen. Es war unmöglich, die Worte drangen nicht bis zu ihr. Kresin hatte gedroht, er hatte gefleht — schließlich war er zu mir gelaufen und hatte gebrüllt:»Sie Idiot, tun Sie der Janina doch den Gefallen und lieben Sie sie! Ich werde dafür sorgen, daß Worotilow euch nicht stört! Aber retten Sie mir das Mädchen, verdammt noch mal!«

Janina lieben.

Wie leicht er das sagte. Iß ein Brot, klang genauso. Oder: feg die Latrine. Mein Gott, sind wir geschmacklos geworden in den Jahren der Gefangenschaft. Unsere Herzen sind voll von Sehnsucht und Träumen, aber unsere Taten sind klein und armselig und überschattet von der Angst, nie mehr die Heimat zu sehen. Wir sagen es nicht. wir erzählen uns, wie schön es wird, wenn wir wieder in Deutschland sind, was wir alles tun und wie wir das Leben neu anfassen und wieder von vorn beginnen werden. Wir sprechen so viel von der Rückkehr, wir träumen von ihr, von den Frauen und Kindern, Müttern und Bräuten, den Schwestern, Brüdern, Vätern. Sie alle kehren wieder in unseren Worten, und wir freuen uns an diesen Gedanken und glauben an das Morgen. Aber wenn wir dann auf dem Strohsack liegen und über uns ist die Balkendecke der Baracke, wenn draußen der Schneesturm heult und die Wände vor Kälte knistern, dann werden wir schwach und elend und haben tief im Herzen doch keine Hoffnung mehr.

Wir geben es nicht zu, weil wir uns unserer Schwachheit schämen, und wenn wir unsere monatliche Karte nach Hause schreiben, von der wir nicht einmal wissen, ob sie überhaupt ankommt — denn eine Antwort erhalten wir nie —, dann schreiben wir, daß wir bald nach Hause kommen. Bald. das ist ein relativer Begriff, dehnbar wie Gummi. An dieses Bild klammern wir uns, auch wenn wir nicht mehr daran glauben.

Was wird, wenn ich Janina liebe und dann entlassen werde? Ich kann sie doch nicht mitnehmen. Und ich weiß, daß wir uns nie, nie vergessen werden, wenn wir uns einmal gehört haben, daß wir daran zugrunde gehen, sie und ich.

Dr. Böhler ist drüben auf der Kommandantur. Er untersucht die Männer, die sich für den Eintritt in die KP gemeldet haben. Arme Kerle, die hoffen, damit ihre Leidenszeit abkürzen zu können. Der Russe weiß das auch, und er wird sie danach behandeln. Er wird sie treten und knechten, bis sie aufschreien und alles wieder von sich werfen. Dann wird es heißen: Ihr habt die Partei verraten! Ihr habt revoltiert gegen den Arbeiterstaat! Dreißig Jahre Zwangsarbeit! Und wieder marschieren Tausende in die Sümpfe und ans Eismeer, in die Urangruben von Swerdlowsk und Ufa, in die Bergwerke und die Kraftstationen von Irkutsk. Futter für den Moloch Rußland, Treibriemen für den Motor der Weltrevolution. Es ist zum Heulen, wenn man diese Männer sieht, die frierend im Schnee stehen und auf die Schlachtbank warten. Es half nichts, ihnen zuzureden… sie waren besessen von dem Glauben: Wir kommen früher in die Heimat! Auch Emil Pelz, unser Sanitäter, ist dabei. Der gute Kerl hofft, seine Frau in Berlin wiederzusehen.

Überall, wo man hinsieht, ist Hoffnung.

Sellnow hat gestern geschrieben. Einer der Männer, die in der Fabrik >Roter Oktober< arbeiten, brachte das Schreiben mit — er schmuggelte es durch die Torkontrolle, indem er den Brief zwischen seine Schenkel band.

Sellnow liegt seit zwei Tagen im Bett. Man weiß nicht, was es ist… eine Infektion, eine Vergiftung… sein Körper wurde plötzlich schlaff, die Beine knickten ein, er fiel in den Schnee und mußte von seinen Sanitätern in das behelfsmäßige Lazarett getragen werden. Dort begann er, sich selbst zu untersuchen, stellte Reflexstörungen fest und eine leichte Sehstörung. Die tieferen Ursachen dieser Funktionsausfälle konnte er nicht ergründen und ließ sich ins Bett tragen, wo er verbissen die Ereignisse der letzten Tage prüfte, um irgendwo einen Anhalt für eine Vergiftung oder eine Infektion zu entdecken.

Dr. Kresin, der ihn am Tage darauf besuchte, fand ihn im Bett sitzend und schimpfend. Vor seinem Bett standen die Soldaten, die sich krank gemeldet hatten. Einer nach dem anderen mußte sich vor ihm auf das Bett legen, er klopfte den Brustkorb ab und diktierte den Sanitätern die Diagnosen und Therapien.

Der Kommandant des Außenlagers Stalingrad-Stadt, ein junger russischer Leutnant aus der Komsomolzenschule, lehnte an der Wand und sah diesem Treiben grinsend und rauchend zu.

Dr. Kresin warf alle Gefangenen aus dem Zimmer und begann dann, Sellnow selbst eingehend zu untersuchen. Aber auch Kresin konn-te nicht feststellen, woher diese plötzliche Schwäche kommen konnte, und machte den Vorschlag, Sellnow zur Beobachtung in die staatliche Klinik von Stalingrad zu bringen.

«Als ob die da mehr könnten als Sie«, murrte Sellnow.»Ihr könnt nämlich alle nichts.«

Kresin setzte sich auf die Bettkante und nickte schwer.

«Man sollte Sie liegenlassen«, meinte er.

«Tun Sie's doch.«

«Man ist idiotisch, daß man sich mit Ihnen überhaupt befaßt.«

«Ich habe Sie nicht gerufen. Ich werde hier allein fertig. Und wenn ich nicht mehr kann, gebe ich Nachricht.«

«Wie Sie wollen!«Dr. Kresin war gegangen, hatte draußen einen der Sanitäter am Rock gefaßt und geknurrt:

«Wenn du mich nicht sofort unterrichtest, wenn sich der Zustand verschlechtert, kommst du ins Waldlager.«

Nun schreibt Sellnow, daß es ihm ein wenig besser gehe. Aber er hat den Geruch völlig verloren. Er führt das nun doch auf eine leichte Vergiftung zurück, wenn es auch unerklärlich ist, wer ihn vergiftet haben könnte, womit und warum.

Dr. Böhler hatte den Brief sinken lassen und war sehr nachdenklich geworden.»Es muß hier manches anders werden, Schultheiß«, hatte er zu mir gesagt.»Ich weiß nichts Bestimmtes, aber ich ahne etwas Schreckliches.«

Mehr sagte er nicht. Und ich weiß nicht, was er damit andeuten wollte… ich bin so ganz in meine Aufgabe versunken, Janina zu pflegen und ihr das kurze Leben, das noch vor ihr liegt, schön und glücklich zu machen.

Ob die Liebe wirklich heilt? Ob sie stärker ist als alle Medizin.?

Ich würde Janina lieben, wenn ich nicht selbst daran zerbrechen würde. Und das darf ich nicht. ich darf es nicht. Ich bin Arzt für Tausende gefangener, hilfloser Kameraden.

In der Kommandantur saß Kommissar Kuwakino mißmutig hin-ter dem Tisch und beobachtete Dr. Böhler, wie er die einzeln eintretenden Deutschen gründlich untersuchte. Die fünf Schreiber nahmen zunächst die Personalien auf: Name, Alter, heimatlichen Wohnort, Straße, Familienstand, ehemalige Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation, Block und Barackennummer, seit wann gefangen, und grinsten sich an, wenn Dr. Böhler zwölf oder dreizehn sagte.

Beim erstenmal hob Worotilow die Augenbrauen. Aber er schwieg. Kuwakino war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt und machte sich Vorwürfe, daß er so dumm gewesen war, dem deutschen Arzt, diesem verdammten Plenni, die Hand zu bieten, die er dann zurückziehen mußte, weil der Arzt sie übersah. Das erregte ihn so, daß er nur seinen Zorn nährte, von dem er erwartete, daß er ihm die nötige Härte geben würde, die Auserwählten, die künftigen Kommunisten, in die seelische Zwickmühle zu nehmen.

Leutnant Markow, der an der Tür stand und jeden Eintretenden mit einem Fußtritt bedachte — er betrachtete das als seinen Privatsport und machte sich ein Vergnügen daraus, seine Stiefelspitze so anzusetzen, daß sie schmerzhafte Weichteile berührte —, runzelte die Stirn, als er die ersten Zahlen hörte und das Grinsen auf den Gesichtern der fünf Schreiber bemerkte. Er trat von der Tür weg in das Zimmer und stieß Dr. Böhler unsanft in die Seite.

«Was soll Zallen?«

Dr. Böhler schwieg. Er legte sein Stethoskop auf den Tisch und griff nach seiner Steppjacke, die er bei der Wärme im Raum abgelegt hatte. Verblüfft sah ihn Major Worotilow an.

«Was machen Sie denn da?«fragte er.

«Ich ziehe mich an und gehe in mein Lazarett zurück. Die Untersuchung kann ja Dr. Kresin weiterführen. Ich bin es nicht gewöhnt, daß man mich während der Untersuchung in die Seite stößt.«

Worotilow wurde hochrot. Er starrte auf Markow, der grinsend neben Dr. Böhler stand und Sonnenblumenkerne kaute. Kuwaki-no hatte ebenfalls aufgeblickt und war zu zerstreut, um einzugreifen.

«Untersuchen Sie weiter!«sagte Worotilow streng.

«Nein!«

«Sie weigern sich? Sie sind Kriegsgefangener wie alle anderen auch!«

«Dann bitte ich als ein solcher behandelt zu werden, um Einweisung in eine Baracke und ein Arbeitskommando!«

Worotilow stützte sich mit beiden Händen schwer auf den Tisch. Er umklammerte die Platte und hielt sich daran fest, da er Lust empfand, aufzuspringen und um sich zu schlagen. An seinen Schläfen und über der Nasenwurzel schwollen die Adern an.

«Sie untersuchen!«

«Nein. «Dr. Böhler knöpfte seine Jacke zu und griff nach seiner Fellmütze. Leutnant Markow riß sie ihm aus der Hand und schleuderte sie in eine Ecke. Sein Gesicht strahlte. Rache! Rache!

Dr. Böhler sah seiner Fellmütze nach und nickte Worotilow zu.»Dann gehe ich ohne Fellmütze! So viele meiner Kameraden hatten keine Fellmütze und erfroren sich die Ohren. Ich habe im Jahre 1944 über siebzig Ohramputationen vorgenommen. «Er wandte sich um und wollte an Markow vorbei, als ihn dieser an der Steppjacke festhielt und zurückriß.

«Deutsches Schwein!«brüllte er.»Ich dich schlaggen tot!«

Die fünf Schreiber an den Tischen erstarrten. Ihr Stabsarzt! Ihr Dr. Böhler. Julius Kerner bebte.»Ersäufen!«flüsterte er zu Peter Fischer hin.»Morgen abend, in der Latrine! Und wenn wir alle draufgehen!«

«Halt die Fresse!«

Major Worotilow sah Leutnant Markow an. Es fiel ihm unendlich schwer, in Gegenwart der Kriegsgefangenen einen russischen Offizier zu tadeln und zurechtzuweisen. Markow wußte das, und rechnete damit, daß Worotilow schwieg. Er kostete den Triumph der Stunde voll aus und trat Dr. Böhler mit breitem Grinsen ins Gesäß. Der schlanke Körper des Arztes schnellte durch den Tritt nach vorn und krachte gegen den Tisch, an dem Kuwakino saß. Dieser sprang auf und tat etwas, was Leutnant Markow nie erwartet hätte. Er ergriff das Tintenfaß und warf es ihm an den Kopf. Mit einem Schrei prallte Markow gegen den Tisch und fiel zu Boden. Die

Tinte lief ihm über Stirn, Augen und die Uniform. Im Hintergrund sagte einer der Wartenden» Bravo!«

Worotilow schwieg und sah zur Tür. Wütend sprang Markow auf und verließ fast rennend den Raum. Kommissar Kuwakino setzte sich wieder und wandte sich an den schweratmenden Dr. Böhler.

«Untersuchen Sie bitte weiter. Ich werde diesen Vorfall in Moskau klären. Wir haben von der Zentrale Befehl, gerade die deutschen Ärzte besonders höflich zu behandeln. Ich darf es Ihnen sagen, weil ich mich entschuldigen muß für Leutnant Markow.«

Major Worotilow setzte sich. Er legte seine großen, dicht behaarten Hände auf die Tischplatte und sah auf sie nieder. Er hörte nur, wie sich Dr. Böhler aus seiner Steppjacke schälte und das Stethoskop wieder zur Hand nahm.

«Der nächste«, sagte seine Stimme. Und dann wieder das geheimnisvolle:»Zwölf.«

Emil Pelz trat in den Raum. Er lächelte seinen Stabsarzt an und machte den Oberkörper frei.»Gesund bis aufs Heimweh, Herr Stabsarzt«, sagte er dabei. Dr. Böhler beachtete ihn nicht — er untersuchte ihn wie alle anderen und blickte dann doch erstaunt auf, als er die Brust abzuhorchen hatte.

«Du hast ja einen Herzfehler?«sagte er.

«Möglich.«

«Und gemerkt hast du bis jetzt nichts?«

«Nee.«

«Zwölf. «sagte Dr. Böhler zu Julius Kerner, der grinsend etwas in die Liste schrieb.»Der nächste.«

Ein älterer Mann trat vor. Er hatte einen weißen Spitzbart und müde Augen.

«Wie alt bist du?«fragte ihn Dr. Böhler.

«Dreiundfünfzig Jahre, Herr Stabsarzt. «Der Mann schluckte.»Ich habe sieben Kinder zu Hause und eine kranke Frau.«

«Und du glaubst, daß dich die Kommunistische Partei nach Hause schickt?«

«Man hat es mir gesagt.«

Dr. Böhler wandte sich zu Major Worotilow um.»Stimmt das, Major?«

Worotilow schwieg. Kommissar Wadislav Kuwakino wurde unruhig und klopfte mit einem Bleistift auf den Tisch.

«Wir werden unser Versprechen halten. Im übrigen sollen Sie nicht fragen, sondern lediglich untersuchen.«

«Zwölf. «sagte Dr. Böhler. Und leise, während er noch einmal das Stethoskop auf die Brust des Alten legte und seinen Mund nahe zu ihm brachte, murmelte er:»Du bleibst hier. Es ist besser für dich.«

Blaß und schwankend verließ der Alte den Raum. Er sah jetzt wirklich wie ein Greis aus — der Schreinermeister aus Hameln, den sie den Alten nannten und der doch nur dreiundfünfzig Jahre zählte.

Major Worotilow hatte ein gutes Gehör und Gedächtnis. Er registrierte, daß Dr. Böhler mehr zwölf als dreizehn sagte, und daß die mit Dreizehn Bedachten durchweg kräftige, oft unangenehme Schlägertypen waren, wie sie bei allen Truppen zu finden sind, Soldaten, die für eine Scheibe Brot morden können und den besten Freund verraten, um weiterzukommen. Auch meldeten sich einige Altkommunisten, die schon vor 1933 in Deutschland der Jung-KPD angehörten. Sie wurden von Dr. Böhler oberflächlich abgehorcht und mit einer Dreizehn hinausgeschickt.

Dreizehn, dachte Worotilow. Die Unglückszahl für die, die reif für die Komsomolzenschule sind. Er versuchte, das Verhältnis zwischen den schon ausgesprochenen Zwölf und Dreizehn festzulegen und kam zu der Überzeugung, daß Dr. Böhler nach russischen Grundsätzen auf dem besten Wege war, die Kommunistische Partei zu sabotieren.

In Worotilow rang der Kommunist mit dem Menschen, der Russe mit dem Freund des Deutschen. Er hätte aufspringen können und dieses offensichtliche Theater der Untersuchung einfach abbrechen lassen, diese Komödie, die dem ahnungslosen Kuwakino vorgespielt wurde und ein Schlag ins Gesicht der russischen Ideologie bedeutete. Aber er tat es nicht — irgendein inneres Gefühl hinderte ihn daran. Er sah auf die lange Reihe der noch im Schnee Wartenden, sah sie zuschneien wie kleine, abgestorbene Büsche und empfand in der unentdeckten Seele so etwas wie Mitleid mit diesen Menschen, die der Glaube an Versprechungen in die Arme eines unersättlichen Molochs führte.

Der Kommissar beobachtete die Handlungen des Arztes von jetzt ab scharf. Aber er bemerkte keine Verfehlungen und schien zufrieden zu sein. Mit einem fast sadistischen Blick musterte er die in die Stube Stolpernden, die den Schnee abklopften und sich vor Kälte zitternd entkleideten. Ihre mageren Körper, ihre gelbweiße Haut, ihr sichtbares Gerippe schrie das Elend hinaus, in dem sie seit Jahren lebten.

Wadislav Kuwakino kannte kein Mitleid. Er kannte nur Befehle aus Moskau und das Parteiprogramm. Die Deutschen sind nicht wert, daß man sie begräbt, hatte er selbst auf einer Kommunistenversammlung in Gorkij gerufen. Laßt die Leichen liegen und verfaulen — sie düngen den russischen Boden, auf dem der Weizen wächst, der euch groß und stark für die Weltrevolution macht! Habt kein Mitleid für diese westlichen Hunde, knechtet sie, schlagt sie nieder, tötet sie! Die Winde des Ostens werden über Europa wehen und die Fahnen der Kapitalisten von den Stangen reißen!

Der Kommissar lächelte zufrieden. Er konnte reden. O ja, das konnte er. Er war ein guter Diener der Sowjets, ein Trommler vor dem Wagen Stalins. Und darauf war er stolz.

Dr. Böhler sah auf die Küchenuhr, die auf dem Tisch hinter Major Worotilow stand. Vier Stunden Untersuchung. Vier Stunden standen sie draußen im Schneesturm. Wenn sie dann hereingerufen wurden, waren sie halb erfroren und unfähig, die Arme hochzuheben. Sie kamen mit blauroten Gesichtern in das Zimmer und fielen fast zusammen, als ihnen die Wärme wie ein Fausthieb entgegenschlug. In ihren Augen stand die Qual der hilflosen Kreatur, vermischt mit der Reue, sich in die Hände des Kommissars gegeben zu haben.

Dr. Böhler biß die Zähne zusammen.

«Zwölf!«sagte er gepreßt.»Zwölf — zwölf — zwölf — zwölf!«

Major Worotilow wurde unruhig. Er hob die rechte Hand und sah den Kommissar an.»Sollen wir nicht eine Pause einlegen, Genosse Kommissar? Wir haben noch den ganzen Nachmittag vor uns, und Genosse Pjatjal hat in der Küche einen Hasen für Sie gebraten.«

Der Kommissar nickte. Einen Hasen bekam er in Moskau nicht so leicht, er war sehr teuer in den staatlichen Geschäften und kam nur auf die Tafel der oberen Funktionäre. Er nickte deshalb noch einmal und wandte sich an Dr. Böhler.

«Um drei Uhr wieder!«

Der Arzt steckte das Stethoskop in die Tasche und nahm seine wattierte Steppjacke auf. Peter Fischer rannte in die Ecke und brachte ihm die von Leutnant Markow weggeworfene Pelzmütze. Bewußt stramm, mit laut knallenden Hacken, überreichte er sie Dr. Böhler. Der Kommissar kniff die Augen zusammen und musterte den Gefangenen. Dann winkte er Major Worotilow zu.»Gehen wir«, sagte er.»Es ist schrecklich für mich, soviel deutschen Geruch einatmen zu müssen.«

Er ging an Dr. Böhler vorbei, ohne ihn zu beachten. Er hätte ihn umgerannt, wenn der Arzt nicht einen Schritt zurückgetreten wäre.

Wadislav Kuwakino lächelte im Hinausgehen.

Er hat meine Hand verschmäht, ich habe es ihm heimgezahlt. Er sollte vorsichtiger sein, dieser deutsche Arzt! Nicht alles erfährt Moskau, und am besten schweigen die Toten.

Alexandra Kasalinsskaja schlief seit Sellnows Weggang wieder ordnungsgemäß im Kommandanturgebäude. Sie lehnte im Morgenmantel am Rahmen des Fensters und blickte hinaus in die wirbelnden weißen Flocken. Der Schneesturm verhinderte ihre Fahrt zu den Außenlagern. Heute stand Lager 12 auf dem Plan, und sie stellte sich vor, wie der Feldwebel bis acht Uhr gewartet hatte, um dann die sich krank Meldenden wegzuschicken und die Kolonnen in die Wälder zu treiben. Das Holz mußte jetzt wie Eisen sein… die Äxte sprangen ab, als hieben sie auf Stahl, es war eine furchtbare Arbeit für

die halbverhungerten und frierenden Männer im Schneesturm.

Sie erinnerte sich an den Winter 1946, als sie im Lager 5110/36 bei Workuta, östlich des Urals, Gefangene untersuchte. Damals heulten die Wölfe rund um das Lager, die Kälte fraß sich durch alle Wände und Pelze, die Öfen waren machtlos vor der Gewalt der Natur, und die Deutschen lagen auf dem Boden der Baracken und schrien vor Schmerzen. Die Glieder froren ihnen ab… Hände, Finger, Nasen, Ohren, ganze Arme. es wurde nur amputiert. rücksichtslos, ohne Mitleid. was sollten sie auch anderes tun, als diese abgestorbenen Glieder abzutrennen, es blieb ja keine Wahl zwischen Tod und Krüppel. Als der Frühling kam, war das Lager nur noch ein großes Grab. Die Inspektion aus Moskau zog sich schnell zurück, als sie die Listen und den Haufen Elend sah. Das Lager wurde frisch gefüllt. es kamen siebentausend neue Deutsche, aus Swerd-lowsk, aus Interabes, Werchne Uralsk und Schtscherbakow.

Und heute schneite es — auch über Workuta —, und siebentausend Deutsche lagen um die Öfen und zitterten.

Alexandra wandte sich um und warf den Morgenmantel ab. Sie zog das Nachthemd über den Kopf und stand nackt im Raum. Ihre Brüste wölbten sich, als sie die Arme in die Luft streckte. Es war das Recken eines Tieres, schön wie die Wildnis, kraftvoll, edel und durchpulst von Rasse. Sie sah sich im Spiegel an und dachte an Sell-now. Ein Schauer überflog sie. sie drückte die Zähne in die Lippen und fuhr sich streichelnd über die Brüste. Das Gefühl, schreien zu müssen, nahm ihr den Atem. Keuchend ließ sie sich auf das Bett fallen und vergrub das Gesicht in den Kissen.

So traf sie Dr. Sergeij Basow Kresin an, als er ohne anzuklopfen eintrat.

Einen Augenblick blieb er verblüfft an der Tür stehen. Dann setzte er sich räuspernd auf einen Stuhl und lächelte sarkastisch, als Alexandra herumfuhr und das Bettuch über ihre Blöße zog.

«Bei der Morgengymnastik, Täubchen?«fragte Dr. Kresin ironisch.»Ein wenig anstrengend, finde ich.«

«Warum haben Sie nicht angeklopft? Was wollen Sie hier?«schrie ihn die Kasalinsskaja an. In ihren Augen flackerte der Jähzorn. Sie wickelte sich in das Laken und setzte sich auf den Bettrand.

«Was wollen Sie?!«schrie sie wieder. Das dünne Leinen klebte auf ihrem nackten Körper.

«Ich wollte Ihnen sagen, daß Sie krank sind, Alexandra.«

Sie lachte schrill auf und warf die Beine auf das Bett. Sie lag jetzt halb, nur der Oberkörper und der Kopf waren aufgerichtet.

«Was soll ich haben?«

«Eine innere Krankheit. Außerdem sind Sie sehr überarbeitet. Sie brauchen Ruhe!«Dr. Kresin kniff die Augen zusammen.»Was halten Sie von einer Ausspannung? Von Ferien? Sagen wir zwei Wochen.«

«Im Winter?«Alexandra sah Dr. Kresin mißtrauisch an.»Im Schneesturm?«

«Schneeluft ist rein und gesund.«

«Sie wollen mich abschieben, Genosse Kresin?«

«Alexandra. «Dr. Kresin hob beschwörend beide Hände.»Sie sind uns unentbehrlich. Aber Ihre Gesundheit geht uns vor! Sie haben in der letzten Zeit sehr nachgelassen — nicht in der Arbeit, das will ich damit nicht sagen, aber im Aussehen. Ihre Nerven machen nicht mehr mit. Ich werde Sie für vierzehn Tage nach Stalingrad schicken, in unser Erholungsheim.«

Die Kasalinsskaja zuckte mit den schönen bloßen Schultern. Sie waren ein bißchen gelblich… ihr ganzer Körper war es, eine Haut wie eine Kalmückin, wie eine Mandschufrau — gelbliches Weiß von porzellanhafter Zartheit und Durchsichtigkeit.

«Wenn Sie es so wollen, Genosse Kresin«, sagte sie mit gelangweilter Stimme.»Wann soll ich fahren?«

«Am besten übermorgen. Dann hat sich der Sturm gelegt. Ich bringe Sie selbst hin, Alexandra.«

«Das ist nett. «Sie lächelte rätselhaft.»Irre werden immer von ihren Ärzten begleitet.«

«Was Sie nur haben. «Er erhob sich und gab ihr die Hand. Ihre Finger waren kalt, wie abgestorben, und er hätte geschworen, daß sie heiß sein müßten. Ein leichtes Zittern ließ ihre Hand erbeben. Sie hat sich gut in der Gewalt, stellte er fest. Nur wenn sie allein ist, bricht sie zusammen. Sie hat die Achtung vor sich selbst verloren, das wird es sein. Sie schlägt über sich selbst zusammen wie Wellen an einer Klippe.

Als er hinausgehen wollte, hielt ihn ihre Stimme fest.

«Wie geht es Dr. von Sellnow?«fragte sie.

«Verhältnismäßig gut. Wir nehmen an, daß es eine Vergiftung war.«

«Eine Vergiftung? Wie kommen Sie darauf?«Ihr Blick wurde starr.

«Wegen der Symptome, Genossin. Es spricht vieles dafür. Nur wissen wir noch nicht, wie es geschah. Wenn wir das erst wissen, sehen wir weiter. Und Gnade Gott, wenn es ein Anschlag war. Den Täter bringe ich eigenhändig um!«

Er verließ den Raum. Als er die Tür hinter sich schloß, stand Alexandra immer noch wie erstarrt vor ihrem Bett.

Am Nachmittag, beim Nachlassen des Schneetreibens, wurden die Untersuchungen fortgeführt. Jetzt assistierte Dr. Kresin dem deutschen Arzt, während Worotilow mißmutig auf seinem Stuhl hockte und sich quälte, ein diensteifriges Gesicht zu zeigen. Kommissar Wadislav Kuwakino war sehr zufrieden. Der Hase hatte vorzüglich geschmeckt, der Wodka war alt und stark, Bascha hatte geile Augen gemacht, als er ihr beim Servieren in die volle Brust kniff. Ku-wakino war sehr fröhlich und machte sich ein Vergnügen daraus, mit einem langen Lineal den Gefangenen auf den nackten Hintern zu schlagen und jedes Klatschen mit einem genießerischen Nicken zu begleiten.

Leutnant Markow war nicht mehr gekommen. Er lag auf seinem Bett im Nebenzimmer und wälzte tausend Rachegedanken. Weniger das an seinen Kopf geschleuderte Tintenfaß regte ihn so auf, als vielmehr das Bravo, das aus der langen Reihe der wartenden Plen-nis gekommen war. Er nahm sich vor, nichts Menschliches mehr im Umgang mit den Deutschen zu zeigen, und er weidete sich an

den Bildern, die seine Phantasie vorspiegelte.

Dr. Böhler untersuchte schnell und energisch. Seine Stimme war fest, als er die Zahlen zwölf und dreizehn nannte. Dr. Kresin ließ ihm keine Wahl mehr: er stand neben ihm und untersuchte die Gefangenen >nach<. So kam es auch zu kleinen Meinungsverschiedenheiten, als am Ende der langen Reihe auch die fünf Schreiber sich vorstellten und Dr. Kresin ohne Zögern sagte:»Tauglich!«

«Zwölf!«rief Dr. Böhler.

«Gehen Sie mir mit den Nummern zwölf und dreizehn weg! Die Kerle haben sich gemeldet, sie sind bis auf die typischen Unterernährungserscheinungen gesund, sie haben keine Ruhr, keinen Typhus, keine Tbc, keine Dystrophie. sie haben nur zu wenig Fleisch auf den Knochen! Und das wird man in Moskau heranfüttern.«

Karl Georg sah Julius Kerner und Peter Fischer an. Seine Augen strahlten.»Nach Moskau, habt ihr gehört?«flüsterte er.

«Sieht aus, als wenn wir schnell wegkämen.«

In die Liste für die Neukommunisten kamen auch die fünf Schreiber. Gegen den Willen Dr. Böhlers.

Der Kommissar war sehr zufrieden. Er sah sich die Endzahl an und nickte. 285 Männer! Ein kleines Lager! Eine nette Horde zukünftiger Spitzel und Volkspolizisten für die Sowjetzone. Ein Stammpersonal, das man in Moskau gebrauchen konnte.

Wieder stapften die vermummten Gestalten durch den Schnee. Wieder warteten sie in langen Reihen vor der Kommandantur und schneiten zu. Der Abend war gekommen, die große Kälte setzte ein. Der Himmel wurde klar, der Schnee wie Glas. Nur der klirrende Frost lag über der weißen Erde.

Von den hölzernen Wachttürmen hörte man die Posten fluchen. Die zweite Schicht der Waldarbeiter kam zurück. müde und zitternd standen sie am großen Lagertor und wurden nachgezählt. Die Begleitsoldaten schimpften und sehnten sich nach der warmen Baracke. Von den Wäldern klang leise das ferne Heulen der Wölfe.

In der Kommandantur gingen die >Ausgewählten< am Tisch Wa-dislav Kuwakinos vorbei und unterschrieben die Verpflichtung für die Kommunistische Partei. Der Text war in russischer Sprache gehalten, eine Übersetzung war nicht beigefügt, und so wußte keiner, was er da unterzeichnete und wozu er sich verpflichtete. Allein der Gedanke, schnell in die Heimat zu kommen, trieb sie dazu, ihre Unterschrift auf die Blätter zu setzen.

Kuwakino strahlte. Er drückte Major Worotilow die Hand, nannte das Lager einen Musterbetrieb wie eine staatliche Kolchose und steckte die Papiere in seine dicke Aktenmappe. Selbst Dr. Böhler wurde mit einem freundlichen Kopfnicken bedacht, als er fragte:»Kann ich jetzt in mein Lazarett gehen? Meine Kranken warten auf mich.«

Kommissar Kuwakino sah Worotilow an und blickte dann über die 285 Jammergestalten, die wieder draußen in der Kälte standen und zitterten. Er grinste, seine weit auseinanderstehenden Augen blinzelten.

«Eine kleine Überraschung habe ich für die, die sich gemeldet haben«, sagte er händereibend. Er winkte, und ein russischer Soldat schleppte einen großen Pappkarton herbei, der bis zum Rand mit Briefen gefüllt war.

Mit deutschen Briefen!

Briefen aus der Heimat.

Dr. Böhler starrte auf diesen Karton. Seine Backenknochen mahlten. Post! Nach vier Jahren Post! Nach vier langen, qualvollen, hoffnungslosen Jahren Post!

Endlich Hoffnung. Endlich Liebe! Endlich Erlösung aus der Einsamkeit.

Die Heimat kam nach Rußland!

Julius Kerner begann zu zittern. Auch Peter Fischer und Karl Georg, Karl Eberhard Möller, Hans Sauerbrunn starrten entgeistert auf den Karton. Sie standen dem Soldaten am nächsten und lasen die ersten Adressen, die auf den Kuverts standen.

«Post«, stammelte Kerner.»Von meiner Frau. den Kindern.«

Der Russe stellte den Karton vor Kuwakino auf den Tisch. Der wühlte in den Briefen herum und sah Worotilow an.

«Ich möchte nur die Briefe an die Gefangenen herausgeben, die sich gemeldet haben«, sagte er. Worotilow wurde bleich und verschlossen.»Das wäre eine Härte gegen die anderen, Genosse Kommissar.«

«Sie können sich ja auch melden.«

«Man kann eine Weltanschauung nicht erpressen!«

«Man kann! Ich beweise es. «Kuwakino grinste wieder. Er wandte sich an die fünf Schreiber und wies auf den großen Karton.»Alle 'raussuchen, die in der Liste stehen! Die andern abliefern!«

Julius Kerner stürzte zu den Briefen hin und begann zu wühlen. Er suchte… suchte bis Peter Fischer ihn in die Rippen stieß und die Listen vor sich auf den Tisch legte.

«Einen nach dem anderen. Du wirst deinen schon finden. «Er leerte den Karton aus. Zu einem großen Haufen türmten sich die meist eng beschriebenen Antwortkarten der Kriegsgefangenen-Post. Monoton begannen Möller und Georg die Namen der Empfänger zu lesen, während Kerner, Fischer und Sauerbrunn sie mit der Liste verglichen.

Waldschmidt.

Eben.

Friedrich Siebach.

Emil Pelz.

«Der Sani, sieh an. «Kerner legte den Brief weg. Zwei Stunden sortierten sie die Karten und Kuverts.

Zwei Stunden standen die 285 Männer in schneidendem Frost, schlugen die Arme um den Körper und warteten.

Die Nacht war klar wie Eis. Wenn man sprach, war es, als würden die Worte zu Glas, das klirrend zersprang.

Eine weitere Stunde dauerte die Verteilung. 249 Gefangene bekamen Post.

249 Glückliche, die mit Tränen die wenigen Worte lasen. Die ersten seit vier Jahren.

Aus Deutschland.

In dieser Nacht wanderte der kleine, ausgemergelte Pastor von Ba-

racke zu Baracke. Er hatte viel zu trösten… die Weinenden und Verzweifelten… die Trostlosen und die Stumpfen… aber auch die Glücklichen, die zurückfanden zu Gott und beten wollten.

Denn Gott war mit der ersten Post gekommen.

Auf seiner Pritsche lag Julius Kerner, neben sich die Trompete, und starrte an die Decke. In der Baracke war es still.

Die Mehrzahl hatte Post bekommen. Nun las man die Zeilen, die Worte, die Silben hundertmal hintereinander.

Julius Kerner hatte einen Brief auf seiner Brust liegen. Sein Gesicht war starr, leblos, steinern. Als ihn Peter Fischer ansprach, drehte er sich zur Seite und schwieg.

«Den hat es umgehauen«, sagte Fischer leise zu Sauerbrunn und Georg.»Der hat Heimweh, daß er schreien könnte.«

Karl Eberhard Möller drehte sich um und rief zu Kerner hinauf:»Was schreibt denn deine Frau? Nun sag schon was.«

Julius Kerner schwieg. Aber nach einiger Zeit stand er auf, nahm seine Trompete und drückte sie Karl Georg in die Hand. Der ergriff sie verwundert und sah ihm nach, wie er aus der Baracke ging., ohne Jacke, ohne Mütze, nur mit Hemd und Hose bekleidet.

«Der wird auf der Latrine frieren«, sagte Möller stockend.»Mein Gott, ich könnte heulen, wenn ich Mutters Karte lese.«

Nach einer halben Stunde war Julius Kerner noch nicht zurück. Karl Georg sah die anderen ängstlich an.

«Da stimmt doch was nicht, Kinder. Da ist doch was los. «Er rief einen der Gefangenen an, die von draußen kamen.»Ist der Kerner auf der Latrine?«

«Nee.«

Peter Fischer sprang auf. Er ging zu Kerners Bett und sah mit Staunen, daß dort der Brief lag. Er nahm ihn auf, zog ihn aus dem Kuvert und begann, die wenigen Zeilen zu lesen.

«Mein Gott, mein Gott.«, sagte er. Blaß setzte er sich an den Tisch und legte den Brief leise auf die Platte.»Er hat keinen Menschen mehr, der Julius. Sein Schwager schreibt es ihm. die Frau und die Kinder liegen unter den Trümmern. Bomben.«

Karl Georg sah auf die Trompete, die ihm Kerner gegeben hatte, und wußte alles.

«Alle 'raus!«schrie er in die Baracke.»Der Kerner! Der Kerl tut sich was an! Alle 'raus!«

Sie rannten so, wie sie waren, aus der Baracke in die eisige Winternacht. Der Frost fiel sie an wie ein hungriger Wolf — sie rannten durch die Lagergassen und schoben die erstaunten Pendelposten einfach zur Seite.

Die Alarmsirene gellte schrill. Auf den Wachttürmen flammten die Scheinwerfer auf und hüllten das Lager in Tageshelle. Den Zaun, die Baracken, das Vorfeld.

Major Worotilow und Leutnant Markow stürzten aus der Kommandantur. Kommissar Kuwakino lehnte am Fenster und kaute an seiner Unterlippe. Dr. Böhler und Dr. Schultheiß standen in ihren Steppjacken und Fellmützen auf der Treppe des Lazaretts und blickten auf das wilde Durcheinander.

«Der Kerner ist verschwunden!«keuchte Emil Pelz, der gerade um die Ecke rannte.»Er hat einen Brief von Zuhause bekommen. Alle durch Bomben getötet.«

Dr. Böhler sah kurz zu Dr. Schultheiß hin.»Armer Kerl. Vier Jahre Rußland. Er hat sie durchgehalten! Und jetzt. «Er blickte zu Boden.»Lassen Sie ein Bett frei machen, Dr. Schultheiß.«

Nach einer halben Stunde fand man Julius Kerner in der äußersten Ecke des Lagers, nahe der Küche. Er hatte sich auch noch Hemd und Hose ausgezogen, nackt lag er im vereisten Schnee. Sein Körper war schon weiß und leblos. Die halbgeöffneten Augen starrten nach oben, und an den Lidern hingen gefrorene Tränen.

Major Worotilow stand vor ihm. Dr. Kresin kniete im Schnee und erhob sich kopfschüttelnd.

«Vorbei«, sagte er. Dann stapfte er wortlos durch die Nacht davon.

«Warum?!«fragte Worotilow den neben ihm stehenden Peter Fischer. Fischer weinte wie ein Kind.

«Er hat Frau und Kind verloren.«, schluchzte er.»Es stand in dem

Brief.«

«Tragt ihn hinein. «Der menschliche Russe Worotilow wandte sich ab.»Und wenn ihr ihn begrabt, gebt ihm seine Trompete mit.«

Leutnant Markow stand starr daneben, als man Julius Kerner aus dem Schnee hob und den steifgefrorenen, nackten Körper in eine Decke hüllte und forttrug.

Ein Deutscher weniger! Aber dann dachte er an seine kleine Frau Jascha und seine Tochter Wanda und daran, daß auch sie sterben könnten. Das machte ihn schwach und hilflos.

Schwankend ging er zu seinem Zimmer zurück.

An der Beerdigung von Julius Kerner hatten Major Worotilow, Leutnant Markow, Dr. Kresin und die Kasalinsskaja teilgenommen. Der kleine, verhärmte Pfarrer sprach mit stockender Stimme:»Herr, Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist Du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, der Du die Menschen lassest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lassest sie dahinfahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt.«

Drei Wochen nach der Beerdigung erschien Dr. Kresin bei Dr. Böhler und setzte sich stöhnend in einen der Sessel.

«Man hat Sorgen in Moskau, in der Zentralstelle für Kriegsgefangenenwesen. Große Sorgen sogar! Wir haben den Auftrag bekommen, alle Lager mit mustergültigen Lazaretten zu versehen und alles, was benötigt wird, sofort zu melden! Auch sollen neue kulturelle Einrichtungen geschaffen werden — eine Lagerbibliothek, Feierstunden, Theater, ein Lagerkino. «Dr. Kresin schüttelte den Kopf.»Ich weiß gar nicht, warum man euch gefangenhält, wenn ihr ein besseres Leben habt als die Millionen Bauern in unserem Lande.

Da soll sich einer auskennen! Wissen Sie, was in den Anweisungen steht?«Er hieb mit der Faust auf seine prallen Schenkel.»Es sollen eingeführt werden: Schachgruppen, Sportplätze, Fußballmannschaften, Leichtathletikkämpfe, Kunstausstellungen von Kriegsgefangenen und sowjetischen Künstlern!«Dr. Kresin sah den deutschen Arzt hilflos an.»Begreifen Sie das?! Kunstausstellungen bei den Plen-nis?! Fußball? Schach? Eine Wettkampfbahn! Man hat in Moskau den Überblick verloren!«

«Sport hat uns schon lange gefehlt. «Dr. Böhler schüttelte den Kopf.»Alles, was Sie jetzt sagen, würde sehr dazu beitragen, das Los der Gefangenen zu erleichtern und ihnen neuen seelischen Auftrieb geben! Man ist weise in Moskau — nur der halbwegs zufriedene Mensch leistet wirklich gute Arbeit!«

Dr. Kresin verzog sein Bulldoggengesicht.»Seelischer Auftrieb. Wenn ich mir Sellnow betrachte, weiß ich genug. Wenn der noch einen Auftrieb bekommt, sind wir in einem Karussell!«Er stockte und sah aus dem Fenster auf die vereiste Landschaft.»Übrigens… können Sie Schach?«

«Ja. Ich spiele es leidenschaftlich.«

«Hm. «Er sah auf seine dicken, großen Hände.»Wir Russen haben da einen Ausdruck: Kulturnaja shisnij! Kultiviertes Leben, würdet ihr dazu sagen… das will man jetzt bei den Plennis einführen. Wenn ihr mal nach Hause kommt, sollt ihr sagen: Uns ging es besser als den Russen in den deutschen KZ. «Er erhob sich und warf Dr. Böhler eine Liste zu.»Da — füllen Sie aus, was Sie brauchen! Man verlangt ein mustergültiges Lazarett! Es muß bis zum Frühjahr fertig sein! Eine Kommission kommt und prüft, ob es nach den Wünschen der Zentralleitung eingerichtet wurde.«

Dr. Böhler kam sich vor wie in einem Märchen.»Ich darf alles aufschreiben, was ich mir für mein Lazarett wünsche?«

«Sie sollen schreiben, was Sie brauchen für ein Musterlazarett.«

«Und ich bekomme es wirklich?«

«Hoffentlich.«

«Auch ausgebildetes Schwesternpersonal?«

Dr. Kresin grinste.»Das könnte Ihnen so passen«, sagte er mit fettem Lachen.

Dann füllten Dr. Böhler und Dr. Schultheiß die Listen aus. Sie vergaßen nichts — von der kleinsten Klemme bis zum komplizierten Rippenspreizer, von den Sulfonamiden bis zum Penicillin. Vor allem Betten, Betten, Betten. Sanitäre Anlagen. Desinfektionsmittel. Für die Lungenstation eine Pneumothorax-Einrichtung. Isolierstationen für die ansteckenden Krankheiten, wie Ruhr, Typhus, Malaria. Am Abend waren die Pläne so weit fertig, daß sie Dr. Kre-sin und Major Worotilow vorgelegt werden konnten. Dr. Böhler brachte die Listen selbst in die Kommandantur, wo noch immer Kommissar Kuwakino saß und die Namen der Neukommunisten nach bestimmten Gruppen ordnete. Er lächelte den Arzt an und nahm die Listen an sich.

«Moskau ist großzügig, Sie werden alles erhalten! Alles! Nur eins nicht — genügend zu essen!«

Dr. Böhler war es, als habe man ihm ins Gesicht geschlagen. Er starrte Worotilow an. Der Major sah zu Boden.

«Es ist keine Schikane«, sagte er langsam.»Das Jahr 1947 hat unter einer großen Dürre gelitten. Die Hitze hat die Felder versengt, die Ernte blieb zurück. Das Korn, das Gemüse, das Obst, alles verdorrte in der Sonne. Auch Rußland wird dieses Jahr hungern müssen. Ich werde froh sein, die Rationen, die wir jetzt haben, noch halten zu können. Wir werden nächste Woche zu Hirsebrei und Graupen übergehen müssen. Auch der Kohl ist knapp.«

«Und meine Magenkranken? Sie gehen daran zugrunde.«

«Auch in Rußland gibt es Tausende von Magenkranken. Wir können ihnen nicht helfen. Die Natur war stärker als unser Wille. «Wor-otilow legte seine Hand auf die Listen und sah Dr. Böhler groß an.»Sie werden ein Lazarett bekommen, wie es in Stalingrad besser nicht ist! Sie werden Sportplätze bekommen, einen Kinosaal, eine Bibliothek mit den modernsten Büchern aus Rußland und Deutschland. Man wird Zeitungen verteilen. Illustrierte und Romanhefte. Die Gefangenschaft wird eine Erholung sein. Nur — Sie werden

hungern müssen!«

«Und arbeiten! Sie werden verlangen, daß die Plennis mehr und besser schuften, weil sie alle Vorteile der Freiheit hinter Stacheldraht genießen! Man wird die Sollquoten in den Fabriken und Bergwerken höherschrauben und die Männer knechten, wenn sie vor Erschöpfung nicht mehr kriechen können. Was nützt mir ein Lazarett, was kann ein Sportplatz bedeuten, wenn die Männer, die Sport treiben sollen, vor Entkräftung keinen Ball aufheben können? Das ist doch Hohn!«

Kommissar Wadislav Kuwakino, dessen deutsche Sprachkenntnisse sehr mangelhaft waren, sah zu Worotilow.»Was sagt er?«

«Unwesentliches. «Major Worotilow wischte durch die Luft.»Er meint, daß Hunger weh tut.«

Kuwakino lachte meckernd und nickte beifällig. Worotilow blickte schräg zu Dr. Böhler.»Die Arbeitsbrigaden werden ab Frühjahr einen Teil des Lohnes ausbezahlt bekommen. Monatlich 250 Rubel… 450 Rubel erhält das Lager für Unterkunft und Verpflegung. Was über diesen Gesamtbetrag verdient wird, verfällt ebenfalls dem Lager. Vielleicht erhalten es die Leute ausgezahlt, wenn sie nach Deutschland entlassen werden. Vielleicht. Immerhin — jeder, der arbeitet, kann jetzt 250 Rubel haben und sich damit in der Stadt oder den Werkskantinen zusätzliche Lebensmittel kaufen. «Worotilow sah Dr. Böhler erwartungsvoll an.»Zwei Pfund Brot kosten 3 Rubel! Ein Pfund Margarine 9 Rubel! 250 Rubel sind ein Vermögen!«

«Und was geschieht mit denen, die nicht arbeiten können? Mit den Alten, den Verletzten, den Kranken?«

«Sie werden wie bisher von Graupen und Kohl, von Brot und Hirse leben müssen. «Worotilow zuckte mit den Schultern.»Ich nehme an, daß die deutsche Kameradschaft so weit geht, daß die Verdienenden die Armen mit durchhalten.«

Dr. Böhler nickte.»Darf ich das im Lager bekanntmachen?«

«Ja. Nur nennen Sie keine Daten. Die Bestimmungen sind von Moskau herausgegeben. wann der große neue Apparat zu arbeiten beginnt, weiß ich nicht.«»Es lebe Stalin!«sagte Kuwakino höhnisch.

Wortlos wandte sich Dr. Böhler ab und verließ die Kommandantur.

Die Nachricht flog wie eine Feuersbrunst durch das Lager.

Erregte Diskussionen durchschwirrten die Baracken.

«Nichts ist umsonst!«sage Peter Fischer.»Wenn der Russe uns etwas schenkt, nimmt er auch wieder etwas! Wo gibt's denn das: der Russe wird human!«

«Möglich ist alles. «Karl Georg saß wieder auf seinem Bett, in der Hand hielt er eine Zeitung. Es war die Komsomolskaja Prawda, die große Tageszeitung des Verbandes der Jungkommunisten. Woher er sie hatte, wußte niemand. Er kam immer an die neuesten russischen Blätter und studierte sie fleißig, um seine Sprachkenntnisse zu vervollständigen. Möller nannte Georg eine Intelligenzwanze, aber das regte ihn nicht auf.»Hier steht«, sagte er,»daß die Russen vor einer Währungsreform stehen und danach alles besser würde! Warum nicht auch bei uns?!«

«Weil wir Gefangene sind!«

«Aber Arbeiter für die Sowjets!«

Peter Fischer warf die Zeitung weg, die ihm Karl Georg gereicht hatte.»Wenn das so ist, warum haben wir uns dann überhaupt gemeldet?«

«Um schneller nach Hause zu kommen.«

«Gemerkt habe ich noch nichts. Der Kommissar ist noch immer hier. Über drei Wochen sind 'rum. Es muß sich doch endlich was tun!«

«Scheiße tut sich!«sagte Karl Eberhard Möller und sah Sauerbrunn an, der sein zerschlagenes Nasenbein kratzte.»Glaubst du daran, Hans?«

«Ich lass' mich überraschen.«

Und die Überraschung traf ein.

Drei Tage später rollten einige Autokolonnen über die gefrorene Straße ins Lager. Es waren russische Fahrer, Sträflinge aus den Skljut-schonnyilagern, die vielfach in der Nähe der deutschen Kriegsgefangenenlager errichtet waren und deren Sträflinge — meist kriminelle, aber auch viele politische — in den gleichen Fabriken arbeiteten. Es waren russische Straflager der ersten Stufe, in die man unbequeme Leute einsperrte und sie für den Staat nützlich einsetzte, kleine, an sich harmlose KZ, in denen die Zivilgefangenen nicht schlechter, aber auch nicht besser als die deutschen Plennis lebten.

Die Wagenkolonne, unter Führung eines Jeeps mit einem russischen Leutnant, fuhr vor das Lazarett und stoppte dort. Der Offizier sprang auf den verharschten Schnee, stampfte die Kälte aus seinen erstarrten Beinen und grüßte steif, als Major Worotilow in Begleitung des dick vermummten Dr. Kresin von der Kommandantur herüberkam.

«Die Ausstattungen, Genosse Major!«meldete der Leutnant.»Es ist nicht alles, aber was wir bekommen konnten, ist dabei.«

Dr. Kresin sah Worotilow erstaunt an.»Das neue Lazarett! Moskau hält tatsächlich Wort! Es ist zum Brüllen! Erst sterben Hunderttausende, und jetzt wird um den einzelnen gekämpft! Nur ein Idiot kennt sich in der Politik aus.«

«Wie gut, daß Sie keiner sind, Genosse«, bemerkte Worotilow ironisch. Brummend betrat Dr. Kresin das Lazarett und prallte an der Tür auf Dr. Böhler, der es gerade verlassen wollte. Sie stießen mit den Köpfen aneinander und fuhren erschrocken zurück.

«Ihr neues Lazarett«, schrie Dr. Kresin wütend.

«Deswegen brauchen Sie mir nicht den Schädel einzuschlagen!«

Lachend stand Major Worotilow daneben und rieb sich die klammen Hände. Kisten auf Kisten wurden ausgeladen und in den Schnee gestellt, viele davon mit amerikanischen Aufschriften, aus San Fran-zisko, New York, New Orleans, Milwaukee. Arzneien, zusammenklappbare Bahren, Operationstische, Schränke, Instrumentarien, Betten, die neuesten Metallschienen, ein vollkommenes Röntgengerät, eine Rotlichtlampe, Verbandeimer, eine Sterilisationsanlage.

Dr. Böhler drehte sich zu Dr. Schultheiß um, der aus der Laza-rettbaracke trat. Seine Augen glänzten.

«Verstehen Sie das, mein Junge?«rief er. Seine Stimme zitterte vor Freude.»Es ist, als ob ich wunschlos glücklich träume.«

Dr. Kresin sah sich brummend die Kisten an und verglich sie mit den Transportlisten, die ihm der junge Leutnant gab.

«Verfluchte Schweinerei!«schrie er plötzlich.»Wo ist die Kiste mit den Narkosemitteln?!«

«Welche Kiste?«Der Leutnant wurde rot und trat näher.

«Nummer 134/43 P!«schrie Dr. Kresin.

«Ich habe sie nicht gefressen!«sagte der Leutnant dreist.»Ich habe das aufgeladen, was man mir gab. Nicht mehr und nicht weniger.«

«Das alte Lied!«schrie Kresin außer sich.»Geklaut! Gibt es einen Russen, der nicht klaut?! Und ausgerechnet die Narkosekiste! Jetzt sitzen die Schweine in Stalingrad und vollführen Rauschgiftorgien! Das werde ich nach Moskau melden, Genosse Leutnant!«

Der junge Offizier war bleich geworden. Er verglich noch einmal die Transportlisten mit den Kisten, die man abgeladen hatte. Kein Zweifel — es fehlte die kleine Kiste mit dem Narkosematerial. Entweder hatte man sie beim Aufladen einfach zur Seite gestellt, oder sie war gar nicht mitgeliefert worden, war schon auf dem Weg nach Stalingrad verschwunden in einen dunklen Kanal, durch den man sie weiterschob.

Major Worotilow schaute die Lazarettbaracke entlang, wo an einem Fenster der schmale, blasse Kopf Janinas sichtbar wurde.

«Jetzt wirst du geheilt, mein Täubchen!«schrie er durch die Kälte.»Jetzt werden wir dich gesund machen — nicht wahr, Dr. Schultheiß?«

Der junge Arzt nickte schwach.»Wenn die Pneuapparatur da ist. ich habe dann Hoffnung.«

Major Worotilow ergriff im Überschwang des Augenblicks seine Hand:»Wenn Sie Janina retten, können Sie von mir haben, was Sie wollen!«

«Das haben Sie mir schon einmal versprochen.«

«Und ich werde es halten! Ich will dafür sorgen, daß Sie schnell zurück in Ihre Heimat kommen.«

Entgeistert sah Dr. Schultheiß ihm nach, als er zurück zur Kommandantur stapfte. In die Heimat… wie schrieb doch seine Mutter? Mein lieber, lieber Junge, sei tapfer, wir glauben alle an ein Wiedersehen. Vater ist aus englischer Gefangenschaft zurückgekommen, er ist alt geworden, aber er will seinen Dienst im Krankenhaus wieder aufnehmen. Die große Hoffnung, Dich wiederzusehen, ist die Kraft, die uns viel Schweres ertragen läßt. Wir küssen Dich, mein lieber Junge. Deine Mutter. Und der Vater schrieb darunter: Mein Jens. Ich weiß, daß Du wiederkommst. Du mußt es auch wissen. Du mußt! Ich umarme Dich. Dein Vater.

Und Worotilow versprach, ihn früh zu entlassen.

Er sah hinüber zu dem Fenster, an dem Janina stand. Sie blickte nicht dem weggehenden Worotilow nach — sie sah ihn an, groß, lächelnd und glücklich. In ihren Augen strahlte die Liebe.

Mit aufeinandergepreßten Lippen beugte er sich über die Kisten.

Wir glauben alle an ein Wiedersehen. schrieb die Mutter.

Ich weiß, daß Du wiederkommst. Du mußt es auch wissen. schrieb der Vater.

Und er würde nicht kommen, wenn er Janina liebte.

Alexandra Kasalinsskaja saß am Bett von Sellnow und hielt seine heißen Hände. Sie war seit zwei Wochen in der Fabrik >Roter Oktober und pflegte ihn.

Ihre Blässe hatte etwas nachgelassen. Die frische Schneeluft und die Ruhe, vor allem aber Sellnows Nähe wirkten heilend und kräftigend auf sie. In einem dicken Wollkleid, am Halse hochgeschlossen, von mittelgrauer Farbe, dicken Wollstrümpfen und hohen Schuhen sah sie aus wie eine der tausend Frauen in Stalingrad, die durch den Schnee eilen und vor den Läden der staatlichen Geschäfte anstehen. Um ihr linkes Handgelenk klirrte eine schwere goldene Kette, der einzige Schmuck, den sie trug. Nicht einmal eine Nadel hellte das dumpfe Grau des Kleides auf.

Sellnows Zustand war sehr wechselnd. Zwischen Fieberschauern und völlig gesunden Tagen pendelte er hin und her. Immer, wenn er die Hoffnung hatte, die Krankheit überwunden zu haben, warf ihn ein neuer Rückfall nieder und hielt ihn drei oder vier Tage im Bett, das er dann gesund und verwundert über diese Krankheit wieder verließ und weiterarbeitete, als sei er nie krank gewesen.

Auch die Kasalinsskaja konnte nicht sagen, welcher Art diese Krankheit war — zumindest behauptete sie, es nicht feststellen zu können, und pflegte Sellnow während der Anfälle mit rührender Hingabe.

Als sie auf Anraten Dr. Kresins ihre Ferien nahm und nach Stalingrad kam, hatte Sellnow gerade seine anfallfreien Tage, stand im Ordinationszimmer seines Behelfslazaretts vor dem Verbandstisch und versorgte eine Quetschwunde. Alexandra kam ohne anzuklopfen in den Raum und sah sich erstaunt um. Sellnow, der sie eintreten sah, nahm keinerlei Notiz von ihr, wenn auch sein Atem schneller ging und das Blut in seinem Hals zu klopfen begann.

«Nanu?!«rief die Kasalinsskaja.»Ist keiner da, der mich begrüßt?!«

«Stören Sie nicht!«erwiderte Sellnow.»Sie sehen doch, daß ich verbinde! Tür zu! Es zieht!«

Gehorsam, aber mit knirschenden Zähnen, schloß Alexandra die Tür und blieb regungslos stehen.»Sie haben seit vier Tagen keine Meldungen mehr an die Zentrale geschickt! Dr. Kresin ist sehr ungehalten.«

«Das soll er mir selbst sagen, aber nicht eine Frau schicken!«

Die Sanitäter sahen starr auf ihren Arzt. Wie sprach er mit der gefürchteten Kasalinsskaja? Sellnow untersuchte in aller Ruhe die Quetschung und verband sie. Dann drehte er sich um, ging an Alexandra vorbei, wusch sich in einer Schüssel die Hände und trocknete sie umständlich ab.

«Was stehen Sie eigentlich hier herum?!«fuhr er sie an.»Ich habe jetzt zu tun und keine Zeit, mir die Beschwerden des Herrn Dr. Kre-sin anzuhören!«

«Man sollte Sie zur Erschießung melden!«schrie die Kasalinsskaja. Die Soldaten in dem Zimmer erbleichten und traten zurück, nur

Sellnow lächelte.

«Das wäre doch zu schade«, meinte er.»Was man am Tage sagt, hat man schon oft in der Nacht bereut.«

Die Ärztin kniff die Augen zusammen. Gift und Gier sprang Sellnow aus diesem Blick an. Dann drehte sie sich brüsk um und riß die Tür auf. Mit langen Schritten eilte sie davon. Sellnow rief ihr nach:»Bitte das nächste Mal die Tür schließen!«

Er hörte, wie die Kasalinsskaja am Ende des Ganges vor Wut mit der Faust an die Mauer trommelte.

Nach dem Mittagessen in der Stolowaja, dem großen Eßsaal der Fabrik, ging er zurück, in sein Zimmer. Dort lehnte die Kasalinss-kaja an der Wand und wartete. Ihre schwarzen Augen waren verschleiert. Stumm standen sie sich gegenüber. Dann warf sie die Arme um seinen Hals, zerwühlte seine Haare und krallte sich in seinem Nacken fest. Wie eine Trunkene suchte sie immer wieder seine Lippen und stöhnte unter seinen Liebkosungen.»Du.«, flüsterte sie.»Du Wolf!Du Tiger.«

Schwer atmend saß sie dann auf seinem Bett und ordnete Haare und Kleidung. Er sah ihr zu, wie sie das Bein weit ausstreckte und den Strumpf befestigte. Ihre langen Schenkel leuchteten matt in dem grellen Licht. In ihren Augen lag unverhülltes Glück, eine wundervolle Seligkeit und Erlösung.

«Wann mußt du wieder fort?«fragte er leise.

«Wenn du willst… nie!«

«Du kannst bei mir bleiben?«stieß er glücklich hervor.

«Vierzehn Tage, Werner.«

«Vierzehn Ewigkeiten.«

Sie sprang auf und warf die Arme um ihn. Ihr Gesicht strich wie eine schmeichelnde Katze über seine Wange.

«Mein süßer, kleiner Plenni.«, flüsterte sie. Er drückte seine Finger in ihr Fleisch, daß sie aufschrie.

«Ich will das nicht hören«, sagte er heiser.»Ich will in deiner Nähe kein Plenni sein. Ich will frei sein in deinen Armen — frei wie ein Adler in der Luft.«

«Ich werde ihn herunterschießen und sein Herz essen!«flüsterte sie heiß.»Sein Herz aus der warmen, blutenden Brust!«Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände und küßte sein Gesicht, ihre Zähne nagten an seiner Haut.»Ich möchte ein Vampir sein«, stammelte sie,»ich möchte dir das Blut aussaugen.«

«Du bist eine asiatische Katze«, sagte er und entzog sich ihren Händen.

Umschlungen standen sie an dem kleinen Fenster, das hinausführte auf den Fabrikhof. Am Ende des Platzes war wieder der hohe Stacheldraht. Auf der breiten Mauer patrouillierte ein russischer Posten in einem langen, dicken Mantel. Die riesigen Schornsteine qualmten.

«Immer Stacheldraht«, sagte Sellnow. Seine Stimme war dunkel vor Kummer.»Er wird immer zwischen uns sein.«

«Einmal wird es vorbei sein. Man hat schon Tausende entlassen, Werner.«

Sellnow schloß die Augen, um ihrem Blick auszuweichen.»Und dann?«fragte er.

«Dann werden wir immer Zusammensein. ein ganzes Leben lang!«

«In Rußland?«

«Oder in Deutschland. Ich werde überall mitgehen, wohin du gehst.«

Er drückte ihren Kopf an sich und streichelte ihren Rücken. Über sie hinweg blickte er auf den Draht und den Posten, auf die deutschen Gefangenen, die unten im Hof den Schnee schaufelten, und auf den jungen Leutnant, der gerade aus der Wachstube trat und seine Tellermütze auf den kahlen Schädel drückte.

In Deutschland warteten Luise und zwei Kinder auf ihn. Eine schlanke, blonde, kühle, vornehme Frau, die Tochter eines Justizrates, gewöhnt, ein großes Haus zu führen, zu repräsentieren und zu glänzen durch ihre gläserne Schönheit. Sie hatte ihn, den jungen Assistenzarzt, aus Liebe geheiratet, sie hatte die ersten, schweren Jahre tapfer durchgestanden und den Aufbau der Praxis unterstützt, sie hatte sogar den weißen Kittel angezogen und ihm assistiert, um die Arzthilfe zu sparen. Dann war sie wieder die Tochter des reichen Vaters — sie gab Gesellschaften und trug den Namen ihres Mannes wie eine Standarte vor sich her. Als er sie das letzte Mal besuchte, bevor er nach Stalingrad geflogen wurde, um Dr. Böhler zu unterstützen, hatte sie beim Abschied nicht geweint, sondern ihn stumm umarmt. Erst draußen, bevor er in den Wagen stieg, sagte sie:»Was auch kommt, Werner… ich warte auf dich!«

Ich warte auf dich.

Sellnow sah auf den wilden, schwarzen Lockenkopf in seinen Armen. Ihre Hände lagen auf seiner Schulter, weiß, schlank, lang. Er fühlte den zärtlichen Druck ihres Körpers durch den Stoff.

Ich werde überall mitgehen, wohin du gehst.

Ich warte auf dich.

Ich werde überall mitgehen.

Die Angst vor dem Morgen schlug über ihm zusammen. Luise und Alexandra. Er ahnte die Einsamkeit, die ihn erwartete.

«Du bist nicht mehr krank?«fragte sie und streichelte sein Gesicht.»Aber blaß bist du, so blaß.«

Er küßte ihre Hände.»Ich liebe dich«, sagte er.

«Soll ich Dr. Kresin sagen, daß er dich wieder ins Hauptlager holt? Du brauchst Ruhe, mein kleiner Schwan.«

Er schüttelte den Kopf.»Mir geht es hier gut. Die Arbeit ist zu ertragen. Auch die Verpflegung geht an. Die Arbeitsbrigaden bekommen eine Sonder-Kascha. In der Kantine kann man manches kaufen. «Er legte seine Stirn gegen die ihre.»Ich habe mich so nach dir gesehnt.«

«Und jetzt bin ich da.«

«Ja. Jetzt bist du endlich da.«

«Vierzehn lange Tage und kurze Nächte. «Ihr Atem war heiß. Er trank ihn. Er dachte nicht mehr daran, was er Dr. Kresin gesagt hatte, daß er froh sei, der Kasalinsskaja entronnen zu sein. Sie lag in seinen Armen, er roch ihr Rosenparfüm. Während er sie küßte, verschloß er mit der linken Hand die Tür.

Vier Tage später erhielt Sellnow Post.

Auch für ihn war es die erste Nachricht nach vier Jahren. Enge, steile Buchstaben bedeckten die vorgezeichneten Zeilen. Unter ihnen erblickte er die kindlichen Kritzeleien seiner beiden Töchter.

«Lieber Pappi«, las er.

Er ließ die Karte sinken und senkte den Kopf. Barhäuptig stand er im Schnee. Die Kasalinsskaja war in die Stadt gefahren, sie wollte Fleisch für einen Festbraten besorgen.

Lieber Pappi.

Er zitterte, er konnte nicht weiterlesen. Es war ihm, als habe er das Recht verloren, diese Karte zu empfangen. Den ganzen Vormittag trug er sie mit sich herum und las sie nicht. Die erste Post nach vier Jahren Schweigen. Er dachte an die ersten beiden Jahre, wo er fast verzweifelte, daß die Heimat schwieg, wo sie an der Kommandantur standen und jeden Tag fragten:»Keine Briefe? Keine Karten? Nichts?«Und der Kommandant — damals war es ein russischer Hauptmann mit vollendeten Manieren — schüttelte traurig den Kopf und meinte, daß die Heimat sie vielleicht vergessen hätte, sie, die in Rußland langsam zugrunde gingen.Vergessen? Luise ihn vergessen? Ich warte auf dich — das waren ihre letzten Worte. Er konnte es nicht glauben, er hoffte auf ein Zeichen… zwei, drei, vier Jahre lang… und jetzt war es da… eine Karte, und auf ihr stand: Mein liebster Werner. Lieber Pappi. Und Alexandra war in Stalingrad, um Fleisch zu kaufen.

In einer Ecke des Hofes, nahe dem Stacheldraht und dem gähnenden Posten las Sellnow die Karte. Und allen geht es gut, und mit aller Liebe hoffen wir, daß es Dir nicht schlechter geht. Marei ist jetzt ein großes Mädchen und hilft mir schon in der Küche. Lis-beth ist in die Schule gekommen und schreibt so schön i und o. Unsere ganze Hoffnung und alle unsere Wünsche gelten nur Deiner Rückkehr. Ich denke immer an Dich, Werner, und weiß erst jetzt, wie sehr ich Dich liebe. Deine Luise. Lieber Pappi! Wir sind alle munter und froh. Jetzt ist Sommer, und ich gehe gleich in den Untersee schwimmen. Ich kann gut schwimmen. Pappi, komm bald

wieder. Es küßt Dich Marei und Lisbeth.

Sellnow lehnte sich gegen die rauhe Mauer. Tränen liefen ihm über die Backen. Luise — Marei — Lisbeth — Als er an Alexandra denken mußte, hatte er einen Augenblick die Versuchung, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen und ein Ende zu machen. Er brauchte sich nur in den Draht fallen zu lassen und zu versuchen, ihn zu erklettern. Dann würde der Posten schießen, und alles, alles war vorüber.

Zögernd stand er vor dem Zaun. Er starrte empor zu dem Mann im langen braunen Mantel mit der Maschinenpistole vor der Brust. Die Stiefel klapperten auf der Mauer.

Doch dann siegte die Vernunft. Er steckte die Karte ein und ging langsam zu seinem Steinbau am Ende des Platzes. Vor dem Eingang blieb er stehen. Er hatte Angst, den Raum zu betreten. Was sollte er Alexandra sagen? Sollte er ihr die Karte zeigen? Sie würde sie zerreißen und ihm das Gesicht zerkratzen, sie würde wahnsinnig werden und ihre Rache nicht an ihm, sondern an den Tausenden Plen-nis auslassen, die ihr wehrlos ausgeliefert waren. Ein reißendes Tier würde sie werden, unbeherrscht, unmenschlich wie in der Liebe zu ihm.

Um sich Mut zu machen, redete er sich zu, ein Opfer für seine Kameraden zu bringen. Solange er sie liebte, würde sie mild zu allen sein — im Gegensatz zur ersten Zeit, wo sie am Tage eine Furie des Grauens war, um in der Nacht eine Furie der Liebe zu werden. Seit ihrer örtlichen Trennung war sie weicher geworden, fraulicher, milder, duldsamer und verinnerlichter. Das zog ihn wieder zu ihr hin, das machte ihn willenlos. Und was mit einem Rausch begann, mit einem Ausbrechen urhafter Instinkte, das wandelte sich in Liebe, die sich mit jedem Kuß, jeder Umarmung erneuerte und wuchs.

In seinem Zimmer saß Sellnow am Fenster und stierte auf die verschneite Fabrik, bis die Kasalinsskaja eintrat. Ihr Gesicht war von der Kälte gerötet, ihre langen schwarzen Haare flossen unter der flachen Mütze hervor auf den Mantelkragen. In einem Netz trug sie viele Pakete. Sie eilte zu Sellnow an das Fenster und küßte ihn — ihre kalten, vollen Lippen ließen ihn zusammenschauern.

«Mein halbes Monatsgehalt ist weg«, sagte sie, indem sie sich aus dem Mantel schälte. Sellnow blickte zu Boden. Ihr biegsamer Körper war immer, in jeder Bewegung, in jeder Lage eine Lockung.»Ich habe Fleisch gekauft, Wurst, gute ukrainische Butter, Sonnenblumenöl, Kuchen und chinesischen Tee. Du sollst wieder ganz gesund werden, mein starker Wolf..«

Ihre Stimme strömte Zärtlichkeit aus. Sie war wie das Rauschen der Wolga. Man konnte die Augen schließen und nur dem Klange lauschen und wäre glücklich gewesen.

Sie packte die Sachen auf den Tisch und wickelte sie aus den Papieren. Er sah, mit welcher Freude sie es tat und wie sie glühte, ihn beglücken zu können. Da erhob er sich und trat neben sie. Er zwang sich, ihren Nacken zu küssen und sie von hinten zu umfassen. Sie lehnte sich in seine Arme und küßte ihn wieder.

«Freust du dich, Liebling?«

«Sehr, Alexandra. Du bist ein Engel.«

«Mit kleinen Fehlern.«, lachte sie glücklich.

Er nickte.»Der größte ist, daß du schön bist, so wild, so ganz Natur. Ich habe das nie gekannt. unser Leben war zu konventionell, zu verzärtelt, zu festgefroren in der gesellschaftlichen Etikette. Unser Leben war alter, ausgelagerter Wein, den man in Dämmerstunden am flammenden Kamin schlürft. Du bist gärender Most, rebellisch, überschäumend, mitreißend, bist in der Sonne gereift. Es reißt mich mit, es macht mich machtlos.«

«Bereust du es, mein gieriger Wolf?«

Er sah ihre Lippen dicht vor seinen Augen. Sie waren rot, voll, feucht, leicht geöffnet. Weiß schimmerten die Zähne darunter. Die Augen hielt sie geschlossen. Es durchzitterte ihn, als er es sah.»Nein«, log er tapfer.»Nein. Alexandra. «Er riß sie an sich und vergrub seinen Kopf an ihrer Brust.»Alexandra. ich wünschte mir, nie geboren zu sein.«

In seiner Tasche knitterte die Karte aus Deutschland. Es war wie eine Mahnung.

Lieber Pappi.

Komm bald wieder.

Unsere ganze Hoffnung und alle unsere Wünsche gelten nur Deiner Rückkehr. Ich denke immer an Dich, Werner, und weiß erst jetzt, wie sehr ich Dich liebe. Deine Luise.

Er stöhnte an Alexandras Brust auf und grub seine Finger in ihren Rücken. Sie keuchte und bog sich.

«Nicht jetzt.«, flüsterte sie.»Laß uns erst essen. Ich habe so viel Schönes für dich mitgebracht.«

Er nickte und setzte sich willenlos, fast stumpf, in einen der Sessel, die am Fenster standen. Alexandra hatte sie aus einer Stadtwohnung besorgt und hierherbringen lassen. Die üblichen Holzschemel der Gefangenen warf sie aus dem Fenster in den Hof, wo sie sofort von den Plennis >organisiert< wurden.

Während sie auf einem Petroleumkocher den Braten aufstellte und in einer Waschschüssel das Gemüse putzte, hockte er am Fenster und starrte auf den Posten, der frierend auf der Mauer hin und her pendelte. Es gab kein Entrinnen mehr. Keine Kompromisse, kein Ausweichen, kein einfaches Vergessen des Morgen und Gestern.

Der Duft des Bratens lag schwer und lockend im Raum. Er fühlte, wie der Speichel in seinem Munde zusammenlief. Fressen und Weiber, das ist die Hauptsache. Alles andere ist Tinneff! Aber dann schüttelte er die Schützengraben-Philosophie ab und wandte sich Alexandra zu.

Wie schwer war eine Entscheidung! Und wie grausam für alle! Er dachte an das Sakrament der Ehe, an die Unauflösbarkeit, an die religiöse Pflicht des Verzichtes und die Sünde des Ehebruchs. Aber galten solche Gesetze in der Gesetzlosigkeit der Gefangenschaft? Rechtfertigte ein Leben unter außergewöhnlichen Umständen nicht auch ein Ausbrechen aus der Ordnung moralischer Bindungen?

Sellnow schaute wieder aus dem Fenster auf die verschneite Fabrik >Roter Oktober<. Er wußte, daß all seine Überlegungen hohle Phrasen waren, mit denen er sein Gewissen einschläfern wollte. Eine einzige Postkarte aus Deutschland hatte genügt, ihn nachdenklich und wankend zu machen, ihn innerlich von der Kasalinsskaja zu lösen und zurückzuführen in die bürgerliche Welt seiner Ehe mit Luise. Wie würde es sein, wenn er erst ihr gegenüberstand und das Gestern sich hinter das Heute schob? Wie würde es sein, wenn er wieder im Maßanzug als Hausherr vor einer Gesellschaft stand, die flachen Cocktailschalen herumreichte und Konversation machte? Er konnte sich kaum noch erinnern, wie er in einem Maßanzug ausgesehen hatte. Vier Jahre Krieg, vier Jahre Gefangenschaft — das sind acht Jahre ohne gestärktes Hemd, ohne Bügelfalte, ohne Krawatte, ohne Weste und weiche Schuhe, in denen man wie auf Watte ging. Wir müssen die linke Schulter ein wenig heben, Herr Doktor. Sie haben eine kleine Ungleichheit in den Schultern. Nicht viel. Und sitzt der Rücken so richtig? Etwas salopp, das trägt man heute! Wie bitte, der Kragen schlägt eine winzige Falte? Wird sofort geändert. Und die Ärmel? Glatt. Ist die Rocklänge richtig? Und die Revers lang heruntergezogen. Sie werden zufrieden sein, Herr Doktor.

Er sah an sich nieder und roch den Schweiß in dem Anzug, auf den man mit weißer Farbe groß WP gemalt hatte.

Wojennoplenni.

Kriegsgefangener.

Wie schnell würde man dieses WP in der Heimat vergessen.

Stalingrad… die Fabrik >Roter Oktobers das Lager 5110/47, die Lazarettbaracke.

Und Alexandra Kasalinsskaja.

Hinter seinem Rücken bruzzelte der Braten. Alexandra trat einmal schnell hinter ihn und küßte ihn, ehe sie wieder zum Petroleumkocher eilte. Sie war glücklich.

Er griff in die Hosentasche und zerriß die Karte aus der Heimat. Es wird alles anders werden, tröstete er sich dabei. Mit der Entlassung wird alles hinter einem liegen, und das Leben wird neu beginnen — dort, wo es vor acht Jahren durch den Krieg unterbrochen wurde. Es ist so weise von Gott eingerichtet, daß sich über den Menschen im Laufe der Jahre das Vergessen senkt.

Er war zu feige, eine Entscheidung herbeizuführen.

Er war vor allem zu feige, sich den Braten entgehen zu lassen, den Alexandra in einer Blechschüssel auftrug.

Im Lager 5110/47 wurde fieberhaft am Ausbau des neuen Lazaretts gearbeitet. Dr. Böhler und Dr. Schultheiß arbeiteten Tag und Nacht, der Sanitäter Emil Pelz bekam vor Überarbeitung einen Herzanfall und war der erste Patient des neuen Barackenflügels, den man angegliedert hatte. Selbst Dr. Kresin half mit und fluchte über sich selbst, daß es ihm nicht möglich war, den äußeren Abstand zwischen Russen und Deutschen aufrechtzuerhalten. Auch Major Worotilow erschien öfter als sonst im Lazarett und sah den Arbeiten zu.

Als die ersten Neuerungen eingebaut waren, zog auch ein neuer Patient ein: Leutnant Piotr Markow. Er ging widerwillig ins Lazarett und beugte sich dem Spruch der verhaßten deutschen Ärzte, aber nun blieb ihm keine andere Wahl, wenn er sein Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzen wollte.

Piotr Markow hatte eine sehr ernste Blutvergiftung. Bis zuletzt hatte er sie geheimgehalten, sich nur in seinem Zimmer vor Schmerzen gekrümmt und im Spiegel verfolgt, wie sich die Entzündung immer weiter ausbreitete. Als ihm Kommissar Kuwakino das Tintenfaß an den Kopf warf, hatte sich Markow taumelnd festzuhalten versucht, war aber dabei so unglücklich gefallen, daß sich sein Tintenstift in die Brust bohrte. Zuerst sah die kleine Wunde harmlos aus und blutete nicht, nach zwei Tagen aber zeigte sich eine Entzündung, die von Tag zu Tag schlimmer wurde, eine Schwellung, ein roter, sich verbreitender Kreis auf der Brust, der sich immer höher zog und bis an den Hals kroch. Dabei stellten sich Schmerzen, Schüttelfrost, Schwindelgefühl und allgemeine Schlappheit ein.

Der Kopf Markows glühte. Er schwieg aus Trotz und Scham. Er ertrug die Pein zwei Wochen lang, bis sie so qualvoll wurde, daß er des Nachts laut stöhnte. Dieses Stöhnen hörte Dr. Kresin, der das Zimmer neben ihm bewohnte, und kam herüber. Er sah die rot geschwollene Brust des Leutnants und alarmierte Worotilow und Kuwakino.

Dr. Kresin tobte und schrie.

«Nichts mehr zu machen!«sagte er entsetzt.»Der Kerl stirbt! Bis jetzt hat er nichts gesagt! Man soll Idioten sterben lassen.«

Piotr Markow sah Dr. Kresin mit einem beschwörenden Blick an. Worotilow knöpfte seine Uniformjacke zu.»Ich hole sofort Dr. Böhler.«

«Nein«, röchelte Markow. Er hob matt die Hand.»Nicht den deutschen Arzt.«

«Dann laß ihn krepieren!«schrie Dr. Kresin brutal.

Markow nickte. Ja, sollte das heißen. Lieber sterben.

Kuwakino sah Worotilow an. Etwas wie Schuldbewußtsein lag in seinen Augen.»Gehen Sie zu Dr. Böhler«, sagte er.»Selbstverständlich!«

Piotr Markow sah Dr. Böhler nicht an, als er ihn kurz untersuchte. Die Brust war bis zum Hals hochrot entzündet.

«Sofort Operation!«sagte Dr. Böhler. Er richtete sich auf und wandte sich an Dr. Kresin.»Sind Sie einverstanden?«

«Schneiden Sie!«schrie Dr. Kresin.»Zerstückeln Sie den Kerl! Er hat's nicht anders verdient!«

Dr. Schultheiß jagte das neue Sanitätspersonal heraus. Er deckte den Körper bis auf das Operationsgebiet ab. Jetzt gab es sogar warme sterile Tücher aus einer elektrischen Trommel, man hatte Spreizer und Klemmen, Catgut, Seide, Narkosemittel, komplette chirurgische Bestecke. Dr. Kresin überflog die Einrichtung, während er sich an dem neuen Waschbecken die Hände schrubbte und sich von einem deutschen Sanitäter die Gummihandschuhe überziehen ließ. Dann trat er an den Operationstisch und sah in das rote Gesicht Leutnant Markows.

«Am besten wir schneiden ihm den Kopf ab«, sagte er laut.»Dann haben wir den Herd der Vergiftung an der Wurzel gepackt.«

Niemand antwortete ihm. Dr. Böhler überflog mit schnellem Blick den kleinen Instrumententisch. Er war vollkommen. Ein schwaches

Lächeln überzog sein Gesicht hinter dem Mundschutz.

Das Lazarett Stalingrad, dachte er. Das Musterlazarett. Es war sein Werk.

«Sind Sie soweit, Dr. Kresin?«fragte er laut.

Der russische Arzt nickte.

Leutnant Markow atmete schnell und heftig. Seine Hände, an den Seiten des Tisches festgeschnallt, wurden weiß. Im Hintergrund hockte Worotilow auf einem Schemel. Er blickte zu Boden. Er wußte, daß es ihm schlecht werden würde, wenn er auf den Operationstisch schaute. Aber er hielt im Zimmer aus.

Dr. Schultheiß nickte. Das Narkosegerät arbeitete.

Bevor Dr. Böhler den ersten Schnitt ausführte, blickte er noch einmal zu Worotilow hin.»Ob ich ihn retten kann, weiß ich nicht. Vor allen Dingen brauche ich Blut! Wir werden viel Blut brauchen.«

Worotilow sprang auf.»Ich werde sofort Spender besorgen!«Wie gejagt rannte er aus dem Zimmer.

Und während Dr. Böhler operierte, warf Worotilow alle Wachmannschaften aus den Betten und sah ihre Papiere durch. Blutgruppe AB.

Mit sieben widerstrebenden Blutspendern, die nicht wußten, was mit ihnen geschehen sollte, erschien er wieder. Er trieb sie in den Operationsraum, gerade in dem Augenblick, in dem Dr. Böhler den Herd der Vergiftung herausschnitt. Die Abdecktücher hatten sich mit Blut vollgesogen, es war bis auf die Gummischürze gespritzt. Die sieben russischen Soldaten starrten auf die Ärzte und wurden weiß. Ein Mongole begann zu schluchzen. Worotilow schlug ihm ins Gesicht, und er schwieg.

«Die Blutspender«, sagte der Major.»Sieben Stück, reicht das?«

Dr. Böhler nickte.»Sofort Transfusion«, sagte er.

Dr. Kresin trat mit blutiger Schürze und tropfenden Handschuhen zu den sieben Soldaten. Er nickte einem dicken, kräftigen Burschen zu.»Du da!«sagte er.

Der Russe zuckte zusammen. Er bekreuzigte sich, aber nach einem Blick auf den Genossen Major ging er tapfer mit zu einem an-deren Tisch, an dem Dr. Schultheiß schon die Bluttransfusion vorbereitete.

Der Russe wurde entkleidet und gewaschen. Zwei deutsche Sanitäter bemühten sich um ihn. Willenlos ließ er alles mit sich geschehen. Ein Blick auf den narkotisierten und aufgeschnittenen Markow hatte ihn schwach gemacht.

Dr. Kresin stieß ihn mit dem Knie auf den Tisch und tastete die Armvene ab.»Wenn es klappt, hast du drei Tage dienstfrei«, sagte er schroff.»Dann kannst du dir in Stalingrad das fehlende Blut wieder ansaufen.«

«Du willst Blut nehmen, Genosse Arzt?«sagte der Russe entsetzt.»Mein Blut.«

«Halt 's Maul! Arm her!«schrie Dr. Kresin. Dr. Schultheiß stieß die Hohlnadel in die Vene, der Russe begann zu jammern, aber er hielt still, weil Worotilow hinter ihm stand, die Hand auf der Pistole. Langsam quoll das Blut durch die Kontrollglasröhre in den Schlauch, der den Arm mit der Vene Markows verband. Während der Blutübertragung schloß Dr. Böhler die Operationswunde. Als er den letzten Stich mit Seide machte, war auch die Übertragung des Blutes beendet. Grinsend lag der Soldat auf seinem Bett und sah zu, wie man ein großes Pflaster über die Einstichstelle an seinem Arm klebte. Dr. Kresin nickte ihm zu, als er sich erhob und zu dem Major hinsah.

«Jetzt hau ab, mein Junge«, sagte dieser gutgelaunt.»Und in drei Tagen bist du wieder da!«

Zufrieden ging der Soldat aus dem Zimmer, vorbei an den wartenden anderen sechs, die ihn jetzt beneideten. Der heulende Mongole strich sich seinen dünnen Schnurrbart und rang die Hände. Drei Tage ohne Dienst. Mutter Gottes von Kasan. das wäre ein paar Liter Blut wert.

Dr. Kresin und Worotilow erboten sich, abwechselnd bei Markow zu wachen. Er wurde in das Zimmer gerollt, wo im Sommer der junge Oberfähnrich gelegen hatte. Der lief heute im Lager herum und hatte eine Art Ordnungsdienst unter sich. Seinen Darmausgang hatte er zwar noch immer, doch Dr. Böhler machte ihm Hoffnungen, den Darm nach einem Jahr — bei den neuen Möglichkeiten, die er jetzt besaß — wieder anzuschließen. Dann würde nur noch eine Narbe davon erzählen, wie nahe er dem Tode gewesen war — und was die Kunst eines Arztes sogar in Stalingrad vermochte.

Gegen fünf Uhr morgens, als Kresin gerade abgelöst hatte, sah Dr. Böhler ins Zimmer.»Alles klar?«

«Ja. Was wollen Sie denn schon? Legen Sie sich hin und schlafen Sie.«

«Ich stehe immer um diese Zeit auf. Im Labor warten meine Reihenblutuntersuchungen.«

«Quatsch! Sie überarbeiten sich, Dr. Böhler. «Kresin erhob sich leise und kam an die Tür.»Sie sollten diese Arbeit einem Assistenten überlassen.«

«Dr. Schultheiß hat mit seiner Lungenstation vollauf zu tun. Ich kann ihn nicht noch mit diesen Laborarbeiten belasten.«

«Dann hole ich Ihnen Sellnow wieder. Sie gehen mir ein, wenn Sie so weiterarbeiten!«

Dr. Böhler lächelte, dann verschwand er wieder in dem dunklen Gang. Er ließ einen sehr nachdenklichen Kresin zurück, der sich sinnend an Markows Bett stellte und scharf zu überlegen begann. Das Ergebnis schien zufriedenstellend zu sein, denn gegen seine sonstige Art fluchte er nicht hinterher, sondern lächelte still vor sich hin. Und wenn Dr. Kresin lächelte, mußte es etwas außergewöhnlich Gutes sein.

Am Morgen fuhr der russische Arzt nach Stalingrad. Nicht zu Dr. von Sellnow und seiner Alexandra, sondern zum General der russischen Division.

General Polowitzkij saß in seiner Kommandantur und trank ein Glas Wodka, als Dr. Kresin eintrat und grüßte. Als er sich umdrehte und den Arzt sah, stellte er schnell die Flasche hinter den Sessel, aber nicht so schnell, daß es Dr. Kresin nicht doch bemerkt hätte.

Der Arzt lächelte breit.»Wieder mal ein Sünder, Genosse General?«fragte er.»Ich habe Ihnen doch Alkohol verboten!«

«Das ist kein Alkohol, das ist Medizin«, knurrte General Polowitzkij. Er leerte das Glas mit einem Zug und stellte es demonstrativ auf den Tisch vor Dr. Kresin hin, der sich dem General gegenüber in einen anderen Sessel setzte.»Was wollen Sie überhaupt hier? Kommen Sie schon wieder wegen Ihres Lazaretts in 5110/47?«

«Ja, Genosse General.«

«Wollen Sie eigentlich aus dem Gefangenenlager einen Kurort machen?«

«So ähnlich. Leutnant Piotr Markow ist schon zur Kur dort. Dr. Böhler hat ihn operiert. Eine verrückte, waghalsige Operation mit Bluttransfusion. Markow hatte eine derartige Blutvergiftung, daß wir ihn alle — auch ich als Arzt — schon aufgegeben haben.«

«Und der Deutsche hat ihn gerettet?«

«Ja.«

General Polowitzkij griff nach hinten und zog die Flasche Wodka hervor. Eine Ordonnanz brachte noch ein Glas. Der General schüttete beide Gläser randvoll.»Ihr Lieblingskind, dieser Dr. Böhler, muß etwas können!«

«Wir haben ihm überhaupt zu verdanken, daß 5110/47 in den Jahren 1944 bis 1947 nicht wegen Menschenmangels aufgelöst werden mußte. Mit den primitivsten Mitteln hat er das Leben von Tausenden gerettet!«

«Das berühmte Taschenmesser«, lachte Polowitzkij.

«Sie scheinen das für einen Witz zu halten!«Kresin war ehrlich beleidigt.»Ich habe es selbst erlebt!«

«Jägerlatein, mein lieber Genosse Knochensäger!«

«Das Taschenmesser ist noch da! Ich habe es aufgehoben für alle Zeiten! Dr. Böhler hat eine Darmoperation mit einem Taschenmesser gemacht und die Wunde mit gerupfter und ausgekochter Seide aus einem gestohlenen Frauenschal genäht!«

«Und was wollen Sie jetzt für Ihren Wunderknaben?«Polowitzkij trank seinen Wodka und schnalzte mit der Zunge.»Wenn Rußland nichts hätte«, sagte er verzückt,»durch seinen Schnaps wäre

es für alle Zeiten berühmt!«

«Und Ihr vorzeitiger Tod ist er auch!«Kresin nahm dem General die Flasche aus der Hand, als er noch einmal eingießen wollte.»Sie haben eine gepfefferte Angina pectoris! Das habe ich Ihnen nicht verheimlicht. Einmal macht das Herz plupp — und aus ist es mit General Polowitzkij! Dann nützt Ihnen kein Lenin-Orden mehr und kein Titel >Held der Nation<! Dann sind Sie zwei Zentner Fleisch und Knochen, die schnell verwesen werden. Und alles wegen des herrlichen Wodkas! Schluß, Genosse!«

Polowitzkij lachte und legte seine breiten, affenartig behaarten Hände auf den Tisch.»Was wollen Sie hier, Genosse Kresin?«

«Ich brauche Lazarett-Hilfspersonal! Dr. Böhler ist bei großen Reihenuntersuchungen. Er schafft es nicht mehr allein! Seine Untersuchungen sind von großem Wert für Moskau, vor allem in bakteriologischer Hinsicht. Wir könnten die Ergebnisse unserer Forschungen auch auf alle anderen Lagergruppen nützlich anwenden und durch geeignete Vorbeugungs- und Heilungsmaßnahmen den Leistungsstand der Arbeiter steigern! Das liegt im Interesse Moskaus. «Dr. Kresin beugte sich über den Tisch vor.»Ich brauche vor allem Laborpersonal.«

General Polowitzkij sah auf den Grund seines geleerten Glases und hatte große Sehnsucht nach einem neuen Wodka.»Ich könnte Ihnen aus der Divisionsapotheke jemanden für das Labor geben.«

«Wunderbar! Wen?«

«Terufina Tschurilowa.«

«Ein Weib?!«Dr. Kresin fuhr hoch.»Nie!«

«Nanu?«Der General schielte zu Dr. Kresin empor.»Ich denke, Sie sind darüber erhaben?«

«Aber ich habe viele tausend Männer im Lager, die seit fünf Jahren keinen Unterrock mehr gesehen haben! Wenn die Tschurilowa ins Lager kommt — ich kenne sie, sie ist verteufelt hübsch, kommt aus Georgien wie Genosse Stalin — mein Gott, Genosse General, das gibt eine Treibjagd auf röhrende Hirsche im Lager.«

Polowitzkij lachte meckernd.»Kriegen zu viel zu fressen die Ker-le, was?«

Dr. Kresin sah den General schief an.»Ich glaube nicht, daß Sie einen Tag so etwas essen wie die Plennis. Aber davon wollen wir nicht reden! Ich brauche Laborpersonal. Und diese Terufina ist denkbar ungeeignet dafür. Sie bringt noch mehr Verwirrung. Habt ihr denn keine anderen Sanitäter als nur Frauen?«

«Die Tschurilowa kann etwas!«Polowitzkij angelte sich die neben Kresin stehende Wodkaflasche und goß sich, zufrieden knurrend, ein.»Außerdem kann ich sie entbehren, weil im Apothekenlabor doch nichts zu tun ist.«

«Und das ist alles, Genosse General?«

«Ja.«

Dr. Kresin erhob sich.»Dann brauche ich gar nicht weiterzusprechen! Leben Sie wohl, Genosse General. Und saufen Sie nicht zuviel!«Er stapfte zur Tür und drehte sich dort um.»Und die Tschurilowa brauchen Sie mir gar nicht zu schicken… ich verzichte darauf!«

General Polowitzkij nickte und trank sein Glas leer.

Wütend verließ Dr. Kresin die Kommandantur. Er besuchte noch Dr. von Sellnow auf seinem Krankenlager und bummelte dann durch die Stadt.

Am nächsten Morgen rollte ein Lastwagen in das Lager 5110/47 und spie einige Koffer, Kisten, ein Bett, einen Schrank und einen großen Spiegel aus.

Ihnen folgte ein schlankes, blondes Mädchen in hohen Stiefeln und einem Pelzmantel.

Terufina Tschurilowa war gekommen.

In seinem Zimmer tobte Dr. Kresin.

Dr. Böhler sah das Mädchen lange an, als es sich bei ihm vorstellte. Sie sprach ein ziemlich gutes Deutsch und war ein wenig schüchtern und befangen.

«Man hat Sie fürs Labor geschickt?«Dr. Böhler lächelte.»Haben Sie Erfahrungen in Blutuntersuchungen?«

«Ja. Ich habe sie in der Klinik in Tiflis gemacht.«

Ihre Stimme war weich und dunkel. Sie paßte gar nicht zu ihren blonden Haaren und dem schmalen, etwas blassen Gesicht. Als sie ihren Pelz auszog, trug sie darunter ein einfaches, blaues Wollkleid. Sie war sehr schlank, knabenhaft fast, mit langen, schönen Beinen und einem weißen Hals. Aber das Auffallendste an ihr waren die hellen, klaren Augen.

«Es wird eine schwere Arbeit sein, Fräulein Tschurilowa.«

Dr. Böhler zeigte ihr das neueingerichtete Labor und wies auf eine lange Reihe gefärbter Präparate in einem Holzgestell.»Ich habe im vorigen Sommer bei fast allen Gefangenen der Waldlager Malariaplasmodien festgestellt. Es gibt genug Mittel, sie zu bekämpfen, aber wir bekommen sie nicht. Deutschland ist weit und Amerika noch weiter. In Rußland — verzeihen Sie — ist die Arzneimittelindustrie ein sehr zurückgebliebener Zweig der Medizin. Vielleicht liegt es daran, daß der Russe von Natur aus ein gesunder, unverbrauchter Mensch ist und keine Modekrankheiten kennt. Ich habe mir gedacht, vielleicht helfen wir nicht nur meinen gefangenen Kameraden, sondern auch Ihren Landsleuten, wenn wir die Proben und Ergebnisse unserer Reihenuntersuchungen dem Zentralinstitut in Moskau zur Verfügung stellen. Aber bis dahin ist noch viel Arbeit.«

«Ich habe keine Angst. «Terufina Tschurilowa sah zu dem großen Arzt auf, sein langes, schmales Gesicht lag in einem breiten Strahl der Wintersonne, die durch das Fenster flutete.»Wenn Sie mit mir zufrieden sind.«

Dr. Böhler sah sie an, in seinem Blick lag die Bewunderung, die jeder Mann weiblicher Schönheit entgegenbringt.

«Wenn Sie so arbeiten, wie Sie aussehen, Terufina, dann werde ich sehr zufrieden sein.«

Sie schaute ihm lange nach, als er durch den Gang fortging, und eine leise Röte überflog ihr Gesicht. Dr. Kresin, der gerade in die Baracke trat und das sah, knallte die Tür zu und verschwand im Zimmer Markows. Dort saß Worotilow am Bett und kühlte die Stirn des Fiebernden.

«Die Sauerei beginnt schon!«brüllte Kresin außer sich.»Die Te-rufina macht dem Böhler heiße Augen! Ich will hier ein Lazarett haben und kein Hurennest!«

Major Worotilow legte den Finger auf die Lippen.»Psst!«machte er.»Er schläft doch.«

Einen Augenblick stand Dr. Kresin hilflos da, dann knirschte er:»Ich fahre noch einmal zu General Polowitzkij. Er nimmt die Tschurilowa wieder nach Stalingrad, oder ich bringe sie um!«Wütend wie ein gereizter Stier rannte er davon.

Aber seine Wut prallte in Stalingrad im Vorzimmer des Generals ab. Terufina Tschurilowa blieb.

Die Ankunft des blonden Mädchens löste bei Janina große Verwirrung und Erregung aus. Sie hatte beobachtet, wie Doktor Schultheiß Terufina begrüßte und ihre Hand länger als üblich festhielt, wie er ihr nachblickte, als sie ins Labor ging.

Nun zog sie sich an. Sie strich sich etwas Rouge auf die blassen Wangen, zog die dünnen Lippen nach und verschwendete lange Zeit damit, ihre Haare zu bürsten und ihnen dadurch Glanz zu geben. Dann ging sie langsam über den Gang und trat in das Zimmer von Dr. Schultheiß.

Er saß am Tisch und führte seine Krankengeschichten. Als er Janina eintreten sah, warf er den Bleistift weg und sprang auf.

«Du legst dich sofort wieder hin!«rief er entsetzt.»Wer hat dir erlaubt, aufzustehen?! Marsch, ins Bett.«

Sie lächelte schwach und setzte sich.»Nein«, sagte sie.

«Was heißt nein?«

«Ich lege mich nicht wieder hin. «Janina faltete die Hände in ihrem Schoß.»Ist sie schön?«fragte sie leise.

Dr. Schultheiß zuckte mit den Schultern.»Ich weiß es nicht.«

«Du hast ihre Hand sehr lange festgehalten.«

«So?«Er lächelte, als er sich wieder seinen Papieren zuwandte. Sie schien es zu ahnen, wenn sie es auch nicht sah, und stampfte mit dem Fuß.

«Sie ist häßlich!«sagte sie laut.

Dr. Schultheiß nickte.»Sie ist wirklich häßlich.«

Janina sah ihn mit zur Seite geneigtem Kopf an. Meinte er es ehrlich, oder machte er sich über sie lustig? Sie zögerte, etwas zu sagen oder zu tun, sie verkrampfte die gefalteten Hände und starrte an die Decke.»Was will sie hier?«

«Sie wird im Labor arbeiten.«

«Sie bleibt also länger?«

«Ja.«

«Und Alexandra Kasalinsskaja?«

«Wird nach Ablauf ihres Urlaubs auch zurückkommen.«

«Sie wird der Tschurilowa die Augen auskratzen!«sagte sie wild.

«Aber warum denn? Sie ist doch ein braves, stilles, nettes Mädchen.«

Janina fuhr auf. Ihre Augen glänzten fiebrig.»Eben hast du gesagt, sie ist häßlich!«

«Brav, still und nett hat mit Schönheit nichts zu tun — es sind Wesensmerkmale, Charaktereigenschaften.«

«Auch ihr Charakter ist häßlich!«sagte sie hart.

«Das kann ich nicht beurteilen.«

«Wenn ich sage, sie ist häßlich, dann ist sie es!«Sie stampfte wieder mit dem Fuß auf und biß die schmalen Lippen zusammen. Ihre Wangen begannen zu glühen.»Ich hasse sie.«

«Kennst du sie denn so gut?!«

«Ich habe gesehen, wie sie dir nachschaute! Ich werde sie töten, wenn sie dich nicht in Ruhe läßt!«schrie sie.

«Aber Janina. «Dr. Schultheiß trat zu ihr und legte den Arm um ihre Schulter. Plötzlich weinte sie und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Sie ergriff seine Hände und hielt sie fest.»Sag mir, daß du mich liebst! Daß du die Tschurilowa gar nicht siehst. Daß sie Luft ist, eine schmutzige Welle des Don. Sag es, Jens.«

Er nickte schwach.»Du mußt dich wieder hinlegen, Janina. Es ist zuviel für dich.«

«Sag es!«forderte sie mit kindlichem Trotz.

«Sie ist alles, was du sagst«, antwortete er gehorsam.»Aber nun leg dich wieder hin. Komm, ich begleite dich.«

Er faßte sie unter den Arm und zog sie vom Stuhl empor. Sie lehnte sich einen Augenblick an ihn, dann schnellte sie plötzlich empor und küßte ihn mit erschreckender Wildheit. Seufzend sank sie zurück und war wieder das kleine, schwache, hilfsbedürftige Mädchen, das sich abführen ließ. Plötzlich erfaßte sie ein Husten — sie wollte ihn verbergen, aber Doktor Schultheiß schüttelte nur den Kopf:»Solche Unvernunft! Du könntest sterben, Janina.«

In ihrem Zimmer knöpfte sie das Kleid auf und zog es über den Kopf. Geduldig und bewegungslos ließ sie sich das lange Nachthemd überstreifen, legte sich gehorsam hin und kuschelte sich in das weiche Kopfkissen. Glücklich sah sie Doktor Schultheiß an.»Bleibst du noch?«

«Ja. Bis du schläfst. Du mußt jetzt schlafen, Janina. Nur Ruhe kann dich wieder gesund machen. Völlige Ruhe.«

«Ich bin nur ruhig, wenn du da bist.«

Er hielt ihre Hand, ihr Atem wurde ruhiger. Bald merkte er, daß sie schlief. Vorsichtig tastete er nach ihrem Puls. Dann schlich er auf den Zehen aus dem Zimmer und schloß aufatmend die Tür hinter sich.

Er sah kurz zu Leutnant Markow hinein, wo Kommissar Kuwakino saß und las.

Auch Markow schlief. Er schlief schon seit der Operation mit kurzen Unterbrechungen. Dr. Kresin sagte, er sei immer schon faul gewesen und nutze seine Krankheit jetzt um so mehr aus.

«Haben Sie den Major gesehen?«fragte Dr. Schultheiß.

«Genosse Worotilow? Njet. «Kuwakino sah kurz von seinem Buch auf.»Vielleicht in Baracke.«

«Danke, Kommissar.«

Kuwakino kniff die Augen zusammen.»Eine Frage, Doktor.«

«Bitte, Kommissar.«

«Wollen Sie nicht werden Chefarzt in russische Klinik?«

Dr. Schultheiß lächelte abweisend.»Bedaure sehr, Kommissar. Ich habe nur einen Wunsch: Freiheit!«

Kuwakino zog unwillig die Stirn in Falten und blickte wieder ins

Buch. Als Dr. Schultheiß die Tür leise hinter sich schloß, murmelte er vor sich hin:»Deutsche Bande! Man sollte keinen, keinen mehr nach Deutschland zurückschicken.«

Draußen stemmte sich der junge Arzt gegen den Wind, der von den Wäldern kam und den Schnee vor sich herpeitschte. Auf den Wachttürmen verkrochen sich die Posten, schemenhaft lagen die Baracken in den hohen Schnee gebettet. Die Rauchfahnen aus den Kaminen flatterten zerrissen um ihre Dächer.

Im Zimmer Worotilows brannte Licht, als Dr. Schultheiß die Kommandantur erreichte. Einen Augenblick zögerte er vor der Tür, dann stieß er sie auf.

Worotilow mußte ihm helfen. Gegen Janina Salja. Ihr Leben hing davon ab.

Dr. Schultheiß wußte, daß er sich noch nie in eine solche persönliche Gefahr begeben hatte wie in diesem Augenblick.

In der Baracke war es seit dem Selbstmord Julius Kerners stiller geworden. Der Motor der frohen Laune, die Heiterkeit Kerners, fehlte. Peter Fischer hatte sein Vermächtnis angenommen und die Trompete behalten. Er lernte fleißig bei einem Musiker auf Block 9 und erschütterte die Baracke mit den Wimmerlauten seiner Übungen.

Hans Sauerbrunn profitierte noch immer von seiner eingeschlagenen Nase. Er hatte ein Arbeitskommando in der Küche bekommen und begann seine Arbeit damit, dem Küchenmädchen Bascha Tarrasowa schöne Augen zu machen. Der russische Küchenchef Michail Pjatjal ertappte ihn sogar einmal, wie er ihr ungeniert unter den Rock griff, und gab ihm dafür eine Ohrfeige. Sauerbrunn nahm sie hin mit dem Optimismus des Wissenden, daß eine Ohrfeige nicht soviel wert sei wie die Portionen Fett, die er von Bascha für diese Beweise seiner Zärtlichkeit erhalten würde. So sorgte er dafür, daß die immer kärglicher werdenden Rationen in seiner Baracke aufgefüllt wurden. Sechshundert Gramm feuchtes Brot, eine Schale Kohlsuppe und zweihundert Gramm Hirse waren verflucht wenig bei der Schwer-arbeit an den Baustellen im Wald und im Lager.

Für das kommende Weihnachtsfest, das man in der großen Freizeitbaracke feiern wollte, probten das Lagerorchester und der Lagerchor mit einigen Solisten, darunter der Kammersänger vom Nebenblock, eine Operette, die ein Plenni komponiert hatte und deren Text von einem neuen, aus Rostow verlegten Gefangenen stammte. Es war ein ziemlich sentimentales Machwerk mit Mondzauber und Bonbonsüße, mit schmelzenden Tönen und sogar einem Ballett, in dem auch Karl Georg mitwirkte, der dafür seit einer Woche am Bettrand Gelenkigkeitsübungen vornahm. Er riß die Beine hoch, beugte den Oberkörper vor, hüpfte auf den Zehen und warf graziös die Arme zur Seite, was bei Hans Sauerbrunn und Karl Eberhard Möller große Heiterkeit erregte und ihm den Namen >Sterbender Schwan< eintrug.

Beträchtliche Erregung durchzog das Lager, als Kommissar Ku-wakino aus Stalingrad Zeitungen mitbrachte. Zeitungen in deutscher Sprache!

Die in einem Lager bei Moskau gedruckten und redigierten Nachrichten für die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion< sowie die >Tägliche Rundschau< und die SED-Kulturzeitschrift >Der Aufbau<. Jede Baracke bekam eine Tageszeitung, jeder Block eine Monatsschrift, und dann saßen die Plennis vor ihren Betten und lasen nach Jahren wieder deutsche Worte.

Karl Georg hatte die >Tägliche Rundschau< vor und las die Außenpolitik.

«In der Heimat hungern sie auch«, sagte er leise.»Sie haben Lebensmittelkarten, wie im Krieg, nur viel weniger!«

«Von wann ist denn der Schmarren?«fragte Sauerbrunn, der im >Aufbau< eine Abhandlung über den Kommunismus Heinrich von Kleists las — und das, was er las, nicht verstand.

«Vom 17. Juni 1947.«

«Und da hungern sie noch?«

«Hier steht: Auf Abschnitt L gibt es in der kommenden Woche dreihundert Gramm Fisch pro Person! Die Eier auf E 12 können erst in vierzehn Tagen ausgegeben werden. An Stelle von Fisch kann es auch Wurstwaren im Wert von eins zu drei geben — das sind pro Kopf einhundert Gramm Wurst!«

«Fast wie bei uns. «Peter Fischer, der seine Trompete putzte und zuhörte, schüttelte den Kopf.»Da stimmt doch was nicht«, sagte er.»Meine Mutter schreibt, es geht ihr gut, und auch zu essen gibt es genug. Wenn sie dürfte, würde sie mir gern jede Woche ein Paket schicken.«

«Wo wohnt denn deine Mutter?«

«In Oldenburg.«

«Und die Zeitung kommt aus Ostberlin und ist gültig für die ganze Mark Brandenburg.«

«Da ist der Russe.«

«Und in Oldenburg?«

«Der Engländer.«

Sie sahen einander an und schwiegen. Endlich räusperte sich Georg.»Irgend etwas ist da faul! Warum bekommen die im Westen mehr zu essen als die im Osten? Man hat uns doch gesagt, daß sie im Westen in den Klauen der amerikanischen Kapitalisten verhungern und die Monopolisten daran sind, ganz Deutschland an den Rand des Abgrunds zu bringen. Darum sollen wir ja Kommunisten werden, um Deutschland vor dem Untergang zu retten, um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einzuführen, Gerechtigkeit und Brot für alle!«

Hans Sauerbrunn legte seinen >Aufbau< auf den Tisch und spuckte auf den Boden.»Ist ja alles Scheiße! Habt ihr mal was von einem Kleist gehört?«

Peter Fischer nickte.»Der hat sich erschossen, war ein deutscher Dichter. Und weil ihn keiner drucken und spielen wollte, machte er bumm!«

«Und der war Kommunist?«

«Quatsch! Da gab's noch gar keinen Kommunismus!«

«Aber hier steht: Kleists Schaffen war nichts anderes als eine Auflehnung der getretenen Kreatur gegen das beherrschende Kapital, ein kommunistischer Aufschrei der unterdrückten Rechtsnatur gegen die Sklavenhalter der Bourgeoisie! Sein Michael Kohlhaas ist ein Fanal, wie es nicht besser in den Schriften Lenins zu finden ist! — Das steht hier.«

«Quatsch!«sagte Karl Georg.

«Aber warum drucken sie es dann, wenn es Quatsch ist?«

«Weil es Propaganda ist!«

«Aber dann belügt man uns doch.«

«Das ist der Witz der Politik, den Menschen zu belügen und zu betrügen! In der Politik ist jedes Mittel recht, das zum Ziel führt!«

Hans Sauerbrunn warf den >Aufbau< auf den Tisch und rülpste. Das feuchte Brot lag ihm schwer im Magen.»Dann trete ich wieder aus der KP aus!«sagte er hart.»Ich gehe zum Kommissar und frage ihn, was hiermit«- er klopfte auf das >Aufbau<-Heft —»los ist, und wenn er mir keine klare Antwort geben kann, soll er mich am Arsch lecken mit seiner Partei!«

«Der wird dir das Nasenbein noch mal einschlagen«, meinte Peter Fischer, legte die Trompete zur Seite und griff nach der >Tägli-chen Rundschau<.»Es geht doch darum, daß wir schneller in die Heimat kommen! Sind wir erst da, dann können wir 'ne Schnauze riskieren. Jetzt sagen wir nur ja und singen die Internationale so oft, wie sie es von uns verlangen. Und wenn wir sie auskotzen müßten — wir singen sie!«Er blätterte in der großen Zeitung herum und schlug die Unterhaltungsseite auf.»Hier, lest lieber die Geschichten, und laßt die Politik beiseite! Man fragt uns doch nicht, ob sie es richtig machen oder nicht. Wir haben für die da oben nur die Knochen hinhalten dürfen und brummen jetzt in Rußland, damit sie wieder ihre politische Idee an den Mann bringen können. Und wer am lautesten schreit, der gewinnt die Tour und wird Minister und Staatschef! Ist doch die alte Kugel, die rollt, Jungs. Warum sich drüber aufregen? Erst in der Heimat sein, dann werden wir schon mitmischen!«

«Wenn man dich hört. «Karl Georg lachte.»Der waschechte Kommunist!«

Emil Pelz, der Sanitäter, kam in die Baracke.

«Im Lazarett ist schwerer Stunk«, sagte er ungerührt.»Seit die Tschurilowa da ist, kriegt die Salja Anfälle. Wie wird das erst, wenn nächste Woche die Kasalinsskaja zurückkommt? Außerdem heißt es, daß wir aus den Lagern Krassnopol und Stalino Krankenschwestern bekommen sollen.«

«Deutsche?«schrie Peter Fischer.

«Klar! Deutsche Schwestern!«

Karl Georg schnalzte mit der Zunge.»Karbolmäuschen! Das wär'n Ding! Dann melde ich mich krank. Ischias im Oberschenkel. «Er grinste breit.

«Alte Sau!«Emil Pelz setzte sich an den Tisch. Er schob die Zeitung weg und kratzte sich den Kopf.»Und das Neueste — wir bekommen eine Lagerbibliothek und können eine Fußballmannschaft aufstellen! Habe ich alles von Dr. Kresin.«

«Dann war er besoffen!«

«Aber nein. Das ist der neue Kurs aus Moskau. Wie sagt Kresin? Kulturnaja shisnj!«

«Ein Pfund Brot wäre mir lieber! Was habe ich davon, ob Kleist ein Kommunist war oder nicht?«Sauerbrunn räkelte sich. Kleist war sein Lieblingsthema geworden. Er brachte es an, wo er nur konnte. Emil Pelz sah ihn groß an.

«Welcher Kleist?«

«Der Dichter! Der sich damals erschossen hat! Er hat 'n paar Theaterstücke geschrieben und irgend so 'n Ding über den Kohl und die Hasen.«

«Und der war Kommunist?«fragte Emil Pelz.

«Nee. Aber er soll's werden.«

Karl Georg winkte ab.»Ihr seid alle Idioten. Aber das ist gut so, sonst gäb's keine Intelligenz. Bleiben wir beim Fußball, da versteht ihr was von! Wenn das wirklich wahr ist, Kinder, dann können wir im Frühjahr Fußball spielen!«

«Mit einem Liter Kohlsuppe im Bauch!«Peter Fischer drehte sich eine Zigarette aus Kippentabak und Zeitungspapier. Er riß dazu respektlos eine Ecke der >Täglichen Rundschau< ab.»Wenn die sich mit solchen Dingen befassen, oben in Moskau — Jungs, dann sieht es faul aus mit einer schnellen Rückkehr!«

Diese Gedankenverbindung schlug ein… es wurde still am Tisch. Man sah sich betreten an und merkte, daß Peter Fischer recht hatte. Man baut keine Fußballplätze und richtet keine Bibliotheken ein, man baut keine Lazarette aus und verlegt Krankenschwestern hin und her, wenn man die Absicht hat, die Gefangenen in absehbarer Zeit zu entlassen.

Karl Georg sprach aus, was alle dachten.»Ich glaube, die brüten da wieder eine hundsgemeine Schweinerei aus.«

Peter Fischer biß die Lippen aufeinander.»Verflucht und zugenäht«, murmelte er.

Sie dachten an Julius Kerner, der sich nackt in den Schnee gelegt hatte, um zu erfrieren.

Es war, als krieche die russische Winternacht durch die Ritzen der Baracke. Die kalte, erbarmungslose Nacht.

«Jetzt sind wir schon vier Jahre im Lager — und jetzt wollen wir uns unterkriegen lassen?«Emil Pelz warf den >Aufbau< auf ein leeres Bett und schob die gezeichneten Skatkarten auf die Tischplatte.»Los! Du gibst, Hans! Und wer jetzt noch was von Politik oder so 'n Quatsch redet, kriegt eins in die Fresse!«Er legte zehn Kopekenstücke auf den Tisch und sah sich um.»Spielen wir um ein Zehntel«, meinte er dann.»Abwechselnd je drei eine Runde!«

Hans Sauerbrunn mischte, er tat es mechanisch, wie schlafend.

Dann hob Emil Pelz ab, und die Karten flogen über den Tisch. Peter Fischer zog an seiner Kippenzigarette und spuckte die Tabakfasern hinter sich auf die Erde.»Schmeckt wie getrockneter Mist«, schimpfte er.

«Aber es qualmt«, sagte Karl Georg.

Ein wenig bedrückt spielten sie die erste Partie. Einen Grand, den Sauerbrunn hatte. Er gewann ihn knapp und strich die Kopeken zu sich hin. Karl Eberhard Möller saß am Bettpfosten und hatte die Augen geschlossen. Er dachte an seine Mutter, die ihm eine Kar-te geschrieben hatte, eine jener Antwortkarten, die an den Mitteilungen der Kriegsgefangenen zur Rückantwort hängen. Auch seine jüngere Schwester — sie war jetzt achtzehn — hatte geschrieben… ein paar Zeilen unter denen der Mutter. Sie verlobte sich zu Weihnachten. Weihnachten 1947! Vor einem Jahr also! Vielleicht war sie schon verheiratet? Möller dachte an das Mädchen, das er beim letzten Urlaub geküßt hatte. Komm wieder, hatte sie gesagt und sein Haar gestreichelt. Er hatte genickt und sie noch einmal geküßt. Sie waren in der Nacht zusammengeblieben, und dann stand sie am Bahnsteig und winkte ihm nach, während er aus dem Abteilfenster lehnte und seine Mütze schwenkte. Es war seine erste Nacht mit einem Mädchen gewesen, und die Erinnerung saß tief in seiner Seele durch alle Jahre hindurch. Vor sechs Jahren.»Gib die Karten her!«schrie er plötzlich und riß sie Peter Fischer aus der Hand.»Ich muß was tun, sonst werd' ich verrückt!«

Er knallte die Blätter auf den Tisch und gewann. Man ließ ihn gewinnen. stillschweigend, mit ein paar Blicken hatten sich die andern verständigt. Glücklich nahm Möller die Kopeken an sich.

Um die Baracke heulte der Schneesturm.

Worotilow saß am Radio und las die >Prawda<, als Dr. Schultheiß eintrat. Er hatte die Stiefel ausgezogen und den Ofen voll Kohlen und Holzscheite gestopft. Etwas schwitzend saß er nun in dem überheizten Zimmer und trank aus einer bauchigen Flasche süßen Krimwein. Er sah erstaunt und ein wenig ungläubig auf, als der deutsche Arzt eintrat und an der Tür stehenblieb.

«Ist etwas mit Leutnant Markow?«fragte Worotilow besorgt und winkte Dr. Schultheiß näherzutreten.

«Nein. Ich wollte Sie aus privaten Gründen sprechen, Major.«

«Privat?«Der Russe lächelte mokant. In sein breites Gesicht trat ein zynischer Zug.»Ich habe nicht gewußt, daß ein Plenni ein so starkes Privatleben besitzt, daß er es mit seinem russischen Kommandanten besprechen muß.«»Es geht auch um Ihr Leben, Major.«

«Das klingt geheimnisvoll wie eine Drohung.«

Dr. Schultheiß wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Hitze machte ihn schlaff und ließ sein Herz wie wahnwitzig schlagen.

«Es ist eine sehr ernste Angelegenheit. Es ist wegen Fräulein Sal-ja.«

«Janina?«Major Worotilow zog mit den bestrumpften Beinen einen Stuhl heran und wies auf ihn.»Setzen Sie sich, Dr. Schultheiß. «Er sah in sein Weinglas und vermied es, den Arzt anzusehen.»Sie haben schlechte Nachrichten?«

«Fräulein Salja befolgt den Rat der Ärzte nicht. Wir können für keine Gesundung oder auch nur Besserung garantieren, wenn sie weiterhin das tut, was wir streng verbieten: Aufstehen, Herumgehen in dünnen Kleidern, Aufregungen, kein Einnehmen der Medizin.«

«Ich werde noch heute mit ihr darüber sprechen«, sagte Major Wor-otilow.

Dr. Schultheiß schüttelte den Kopf.»Es wird nichts helfen. Ich habe es auch versucht, mit allen Argumenten. Sie leidet unter einem Komplex.«

«Wieso?«

«Sie ist eifersüchtig. «Dr. Schultheiß fühlte, wie es in ihm kalt wurde. Jetzt ist es gesagt. Jetzt muß er den Sachverhalt erklären, und die tödliche Feindschaft mußte zwischen ihnen beiden ausbrechen. Dr. Schultheiß war sich klar darüber, daß er der Unterlegene sein würde, er, der entrechtete Plenni, angewiesen auf das Wohlwollen seiner Bewacher und nur getragen von dem schnell verschwindenden Lächeln asiatischer Unergründlichkeit.

«Eifersüchtig?«fragte der Russe gedehnt.»Auf wen denn eifersüchtig?«

«Auf die neue Assistentin Terufina Tschurilowa.«

«Ich kenne sie ja kaum! Wie kann Janina auf sie eifersüchtig sein?«

«Weil ich oft in ihrer Nähe bin, Major.«

Worotilow senkte den Blick. Er umklammerte das Weinglas, und Dr. Schultheiß dachte, er würde es zerbrechen. Die Knöchel an den

Fingern waren weiß.

«So ist das?«sagte Worotilow leise. Seine Stimme war rauh und brüchig.

«Ja, so ist das, Major.«

«Weiß es Dr. Böhler?«

«Nein.«

«Dr. Kresin?«

«Nein. Es weiß keiner außer Ihnen, Janina und mir.«

«Und warum sagen Sie mir das?«Worotilow goß sich Wein ein. Seine Hand zitterte.»Ich kann Sie zertreten wie ein Insekt. Ich kann mich an Ihnen rächen, so fürchterlich, daß Ihr Tod schlimmer wäre als der eines Gefolterten! Wir Russen.«

«Ich weiß es, Major, und ich gebe mich ganz in Ihre Hand.«

«Sie wollen sterben?«

«Nein, durchaus nicht. Aber mir geht die Gesundheit Janinas über mein eigenes Leben. Sie muß gesund werden — dafür ist kein Opfer zu groß!«

Worotilow blickte auf. In seinen Augen lag die Kälte Sibiriens.»So lieben Sie Janina?«

«Ja.«

«Und Sie wagen es, mir das zu sagen!«Er sprang auf und lief in Socken erregt im Zimmer auf und ab.»Ich sollte Sie nackt in den Schneesturm jagen und erfrieren lassen. Ich sollte Sie einfach niederschießen!«Er sah auf den Haken, wo sein Koppel mit der langen Pistole hing.»Ich könnte sagen, daß Sie mich angreifen wollten.«

«Das könnten Sie. «Dr. Schultheiß nickte.»Aber Janina wird Sie nicht decken! Sie würde aussagen.«

«Ich würde sie nach Ihnen erschießen! Eine Russin, die mit einem deutschen Plenni. «Worotilow stockte, eine hektische Röte überzog sein Gesicht.»Wären Sie ein Russe, so würde ich mit Ihnen um Janina kämpfen. Aber Sie sind ein Deutscher — und Sie haben nicht nur mich, sondern meine ganze Nation beleidigt! Ich werde sie Moskau melden!«»Tun Sie es, Major. Aber wichtiger als ich ist Janina. Sie muß geheilt werden! Es geht um ihr Leben. Sie hat wieder Blutauswurf — Wir dürfen sie nicht erregen.«

«Erregen tun Sie sie! Liebe macht erregt!«

«Unsere Liebe ist sanft, Major. Es genügt uns, wenn wir uns sehen, wenn wir unsere Hände halten, wenn wir zusammen sprechen können — und in unseren Augen allein alle Sehnsucht sammeln und verglühen.«

«Der deutsche Romantiker!«Worotilow lachte grell und gequält.»Und das gefällt dem Täubchen. Von der Steppenfüchsin zum Domspätzchen!«Er blieb vor Dr. Schultheiß stehen und starrte ihn an.»Ich möchte Ihnen die Fresse zerschlagen!«

«Ihre Leidenschaft, Major, beschleunigt den Verfall Janinas! Sie ist ein zerbrechliches Geschöpf — wie chinesisches Porzellan, hauchzart und unter den Händen zerbrechend, wenn diese Hände zu grob sind.«

«Und Sie haben weichere, nicht wahr? Sie können sie streicheln, ohne daß sie blaue Flecke bekommt. Sie können sie küssen, ohne daß ihre Lippen bluten! Gehen Sie mir weg mit Ihrer deutschen Seele!«brüllte er plötzlich.»Warum leben Sie noch? Warum sind Sie im russischen Winter nicht erfroren? Warum nicht verhungert? Waren wir zu menschlich mit Ihnen? Gibt es wirklich zwanzig Millionen Deutsche zu viel auf der Welt? Sind Sie einer der Überzähligen? Ich möchte Sie zertreten!«

«Warum tun Sie es nicht?«

Major Worotilow wandte sich ab und rannte wieder durchs Zimmer. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verkrampft und gab sich Mühe, Dr. Schultheiß nicht mehr anzusehen.

«Was soll mit Janina geschehen?«fragte er.»Soll sie weg aus dem Lager?«

«Ja.«

«Und wohin?«

«In ein Sanatorium auf der Krim.«

«Und wer soll das bezahlen?«»Ihr so fortschrittlicher, arbeiterliebender Staat! Das Paradies der Werktätigen!«

Worotilow blieb mit einem Ruck stehen. Sein Rücken war dem deutschen Arzt zugewandt.»Warum sagen Sie das?«

«Weil es die Wahrheit ist.«

«Rußland hat Sie über vier Jahre ernährt! Sie können sich nicht beschweren!«

«Und Sie, Major?«

«Ich bin Soldat dieses Staates! Ich bin stolz auf mein Vaterland, mein Rußland!«

Dr. Schultheiß klinkte die Tür auf.»Dann lassen Sie Janina stolz sterben.«

Worotilow fuhr herum.»Wohin wollen Sie?!«brüllte er dröhnend.

«Hinüber ins Lazarett. Ich will versuchen, mit einem Pneumothorax die Lunge Janinas zu retten! Jetzt haben wir endlich das technische Material! Aber ein Pneu allein nützt nichts. Sie muß weg von hier, von Ihnen — und mir.«

«Oder Sie müssen weg!«

«Das wäre das kleinere Übel und würde den Verfall nur beschleunigen. Auf jeden Fall liegt die Wahl bei Ihnen, Major.«

«Bleiben Sie!«Worotilow ging an Dr. Schultheiß vorbei, schloß hinter ihm die Tür ab und steckte den Schlüssel in die Hosentasche. Er trat ans Fenster und zog die Übergardinen zu. Dann erst wandte er sich um. Schultheiß' Herz hämmerte zum Zerspringen.

«Geben Sie mir Antwort«, sagte Worotilow hart.»Würde Janina gesund werden, wenn Sie mit ihr.«

«Ich glaube ja.«

«Und warum tun Sie es nicht?!«

«Weil ich noch das Ehrgefühl besitze, einem Offizier — und wenn es der Gegner ist — die Braut nicht fortzunehmen. Ich habe mich bisher gegen diese Liebe gestemmt, aus Rücksicht auf Sie, Major. Aber jetzt ist ein Stadium erreicht, wo ich nicht länger schweigen darf. Ich beginne einzusehen, daß es Dummheit war, auf Sie Rücksicht zu nehmen, denn Sie würden Janina opfern, um weiterhin ihre

Liebe zu erpressen. Das kann ich nicht verhindern, ich bin nur ein Plenni. So bleibt mir nichts, als Ihnen alles zu sagen und Ihnen die Entscheidung zu überlassen. Wie ich die russische Seele kenne, werden Sie beide opfern — Janina und mich! Und die Ehre des betrogenen — des bis jetzt nur seelisch betrogenen Offiziers ist wiederhergestellt. Zwei Opfer… sie fallen nicht weiter auf in dem Wald von Kreuzen, der sich vom Eismeer bis zum Schwarzen Meer durch Rußland zieht.«

Worotilow trat dicht an Dr. Schultheiß heran. Wortlos hob er die Hand und schlug dem Arzt ins Gesicht.

«Das ist für die Beleidigung meines Vaterlandes«, sagte er dabei. Dann griff er in die Tasche und zog eine Packung türkischer Zigaretten hervor. Er klappte die Schachtel auf und hielt sie Dr. Schultheiß hin.»Und jetzt rauchen wir unter Männern eine Zigarette… das ist für Ihren Mut, Dr. Schultheiß!«

Der Arzt zögerte, dann griff er zu und ließ sich die Zigarette von Worotilow in Brand setzen. Seine Wange brannte. Er setzte sich an den Tisch und sah zu, wie Worotilow noch ein Glas holte und einschenkte.

«Es geht nur um eins — retten Sie Janina!«Worotilow goß sein Glas hinunter und atmete schwer.

Dr. Schultheiß setzte sein Glas ab, ohne zu trinken. Er erfuhr erst jetzt, wie sehr der Russe Janina liebte. Er gab sie frei, um sie zu retten. Es war das Opfer eines Mannes, der keinen anderen Ausweg mehr sah, als sich zurückzuziehen. Er, der Russe, der Sieger, der Stärkere, der Machtvolle — er begab sich freiwillig seiner Rechte für einen Plenni!

Dr. Schultheiß zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher. Auch die Zigarette schmeckte plötzlich bitter.»Es ist vielleicht doch besser, wenn Janina in die Krim fährt«, sagte er.»Besser für uns beide.«

«Sonst wird sie nicht gesund — Sie sagten es selbst.«

«Zumindest dauert die Heilung länger.«

Worotilow ließ seine große Hand durch die Luft kreisen.»Reden

Sie mit mir nicht als Arzt — reden Sie wie ein Mensch zum Menschen, ein Mann zum Mann. Wir sind allein, die Tür ist verriegelt, die Fenster sind verhängt. Wir sind völlig ungestört. Wir sind nicht Sieger und Besiegte, nicht Kommandant und Plenni — wir sind zwei Männer, die die gleiche Frau lieben und von denen einer verzichtet, weil es so besser ist. Das ist alles, Dr. Schultheiß.«

Er schob ihm das Glas Wein wieder hin und hob das seine.»Trinken wir auf den Funken Menschlichkeit und Anständigkeit, den wir uns über alle Zeiten hinweg gerettet haben.«

Dr. Schultheiß hob sein Glas und stieß an.»Sie sind wirklich ein seltener Mensch«, sagte er ehrlich.»Ich hatte Sie in vier Jahren fürchten gelernt — jetzt verehre ich Sie.«

Major Worotilow antwortete nicht. Er sah dem Rauch seiner Zigarette nach und schob gedankenlos mit der anderen Hand das Glas hin und her. Schweigend saßen sich die beiden Männer gegenüber.

Im Ofen knackten die Holzscheite, die Eisenplatte glühte.

Janina, dachte er, Janina.

O Gott, wäre doch nie dieser Krieg gekommen… dieser grausame, unselige Krieg.

Was nur ein Gerücht war, wurde drei Tage später sensationelle Wirklichkeit. Die Plennis standen verwundert und mit offenem Mund vor den Baracken im Schnee und sahen auf die beiden Lastwagen, die durch das große Lagertor rollten und auf dem Abstellplatz von Major Worotilow, Dr. Kresin und Dr. Böhler empfangen wurden.

Als sich die Planen hoben, sah man zuerst Kisten und Kartons, dann aber schälten sich einige in Pelze und Steppjacken vermummte Gestalten aus dem Inneren der Lastwagen und kletterten mit kälteerstarrten Gliedern die kleine Leiter hinunter.

Frauen! Mädchen!

Eine… zwei… drei.

Drei Frauen. Deutsche Krankenschwestern!

Sie kamen aus den Lagern 5110/43 Krassnopol und 5110/44 Sta-lino. Der Divisionsgeneral hatte sie von der Zentrale in Moskau für 5110/47 angefordert und einen langen Bericht über die mustergültigen Lazarettverhältnisse geschrieben, die Dr. Böhler mit seinen Ärzten in Stalingrad geschaffen hatte. Selbst Russen lägen in dem Lazarett des Lagers 5110/47 — unter ihnen auch der Genosse Leutnant Piotr Markow mit einer fast tödlichen Blutvergiftung. Dr. Böhler aber habe ihn operiert und ihn mit immer neuen Bluttransfusionen so gut wie gerettet.

Das war einer der maßgebenden Punkte, warum man in Moskau so schnell die Erlaubnis erteilte, aus Krassnopol und Stalino deutsche Schwestern in das Lager an der Wolga zu verlegen. Hinzu kam der lange Bericht des Genossen Kuwakino, der meldete, daß im Lager Stalingrad die Stimmung vorzüglich und man allgemein sehr kommunistenfreundlich eingestellt sei.

Dr. Böhler sah Worotilow an, als die drei Mädchen aus den Lastwagen stiegen und die steifen Glieder dehnten.»Haben Sie die deutschen Schwestern beantragt, Major?«fragte er ernst.

«Nein, Genosse Dr. Kresin. Ich wußte nur davon.«

Dr. Böhler wandte sich an Kresin:»Warum haben Sie das getan?«

«Um Ihnen zu helfen. Ich will, daß Sie hier ein Musterlazarett aufbauen — das beste aller Gefangenenlager.«

«Aber das Eintreffen der Mädels gibt Grund zu Gerede, Dr. Kre-sin! Sie werden sehen, ich habe innerhalb von zehn Stunden das Lazarett überfüllt! Es wird Krankenmeldungen rasseln!«

«Nicht, wenn ich die Auswahl der wirklich Kranken treffe!«sagte Dr. Kresin giftig.»Ihnen macht man aber auch gar nichts recht!«

«Sie werden sehen.«

Dr. Böhler trat zu den drei Mädchen und reichte ihnen die Hand.»Willkommen in Stalingrad«, sagte er ein wenig sarkastisch.»Es wäre besser gewesen, man hätte euch nach Hause gefahren.«

Er nickte ihnen ermutigend zu.»Ich bin Dr. Böhler, so was Ähnliches wie der Chef dieses Lazaretts!«

«Ingeborg Waiden«, sagte eines der Mädchen und drückte die dargebotene Hand.»Ich komme aus Kiel. Schwester, voll ausgebildet.«»Wie lange sind Sie in Rußland?«

«Seit 1943! Gefangen wurde ich erst 1945, bei Königsberg!«

Dr. Böhler sah die beiden anderen an.»Martha Kreutz«, sagte die eine,»Erna Bordner«, die andere.

«Beide aus Stalino«, meinte Martha Kreutz.»Wir kamen schon 1944 in Gefangenschaft und waren bisher in zehn Lagern als Schwesternhelferinnen. Zuletzt — vor Stalino — in Swerdlowsk, im sogenannten Narbenlager.«

Dr. Böhler sah sie verblüfft an.»Narbenlager?«

«Ja. Dort sind die versammelt, die die Blutgruppe unter dem Oberarm eintätowiert oder dort eine Narbe haben, weil sie sich das Zeichen ausbrennen ließen. Wer eine Narbe unter dem Oberarm hat, ist verdächtig und kommt nach Swerdlowsk. Viele sind auch in 5110/33, südlich Swerdlowsk.«

«Hm. «Dr. Böhler blickte die Mädchen an. Sie sahen gut genährt aus, nur die Falten um den Mund und die Ringe unter den Augen erzählten von den schweren Jahren und den schrecklichen Erlebnissen unter Tataren und Mongolen, Weißrussen und fanatischen Sowjets. Jetzt standen sie im Schnee von Stalingrad und sahen zu, wie der Begleitoffizier dem Major Worotilow ihre Papiere übergab. Worotilow nickte und grüßte. Dann wandte er sich an die kleine Gruppe, zu der sich nun auch Dr. Kresin und von der Treppe des Lazaretts her Terufina Tschurilowa gesellten.

«Ingeborg Waiden?«rief Worotilow.

«Hier!«sagte das Mädchen.

«Ich bin Major«, sagte Worotilow steif.

«Hier, Herr Major«, wiederholte Ingeborg Waiden sofort.

Dr. Böhler biß sich auf die Lippen und sah Dr. Kresin an. Der grinste und amüsierte sich. Vor den Baracken standen in Mengen die Plennis und sahen stumm zu.

«Erna Bordner?!«

«Hier, Herr Major.«

«Martha Kreutz?!«

«Hier, Herr Major.«

«Sie sind dem Lager 5110/47 als Schwestern zugeteilt. Was Sie zu tun haben, wird Ihnen Genosse Dr. Sergeij Basow Kresin sagen und der deutsche Arzt! Wenn ich erfahre, daß ihr mit deutschen Kriegsgefangenen oder russischen Wachmannschaften herumhurt, werdet ihr erschossen! Verstanden?«

«Ja, Herr Major«, sagten die drei Mädchen sofort.

Dr. Böhler wandte sich an Dr. Kresin. Er war rot im Gesicht geworden.

«Das ist eine Schweinerei«, sagte er wütend.»So behandelt man keine Krankenschwestern! Ich protestiere!«

«Halts Maul!«sagte Kresin grob.»Seien Sie froh, daß die Weiber hier sind. Der Genosse Major wird seinen Grund haben.«

«Sie unterstellen diesen Mädchen etwas, was für sie beleidigend sein muß! Ich verlange eine menschenwürdige Behandlung!«

«Sie haben gar nichts zu verlangen! Sie sind Gefangener, Dr. Böhler — das vergessen Sie wohl? Sie sind ein schmutziger Plenni! Ihre Erfolge haben Sie wohl größenwahnsinnig gemacht? Sie haben hier nichts zu verlangen, sondern nur zu gehorchen!«

Dr. Böhler sah Kresin verblüfft und entsetzt zugleich an. Diese Wandlung, durchfuhr es ihn. Was hat er bloß? Warum diese plötzliche Distanz und Strenge? Hatte man von Moskau aus einen neuen Kurs befohlen? Ein Befehl von Moskau streicht alle Freundschaft und alle Vergangenheit — in Moskau regieren die einzigen Götter des Russen, ihr Wort ist ein Gebot, ein Heiligtum, ein Evangelium.

Major Worotilow steckte die Papiere in seine Brusttasche. Er wandte sich an Dr. Böhler und war sehr ernst.»Haben Sie die Räume für die Schwestern bereit?«

«Ja. In der neuen Baracke ist ein Raum frei.«

Worotilow nickte.»Ich werde mich selbst überzeugen, wie sich die Schwestern einfügen. Sie unterstehen personell der Genossin Dr. Ka-salinsskaja und deren Stellvertreterin Genossin Tschurilowa! Nach mir, natürlich! Sie haben lediglich die Mädchen zur Verfügung Ihres Lazaretts. In allen Dingen, die die Mädchen angehen, haben Sie zu mir zu kommen!«

Dr. Böhler schwieg verbissen. Er sah Worotilow stumm an.

«Haben Sie mich verstanden?!«fragte Worotilow scharf.

«Ja — Herr Major.«

Worotilow kniff bei dem Wort Herr die Augen zu und drehte sich schroff herum. Mit seinen dicken Beinen stampfte er durch den Schnee der Kommandantur zu. Dr. Kresin sah ihm nach und wandte sich dann zu Dr. Böhler.

«Ich habe Angst um Worotilow«, sagte er leise und wirklich besorgt.»Er ist seit gestern anders — stiller, verbissener, zwischen Haß und Freundschaft schwankend. Ich glaube«- er stockte und sah sich um, ob es jemand hörte —,»ich glaube, er ist kein guter Kommunist mehr.«

«Und wenn?«Dr. Böhler hob die Schultern.

«Es wäre das Ende seiner Offizierslaufbahn. «Dr. Kresin hauchte in seine kalten Handflächen, ehe er die Handschuhe anzog.»Wa-dislav Kuwakino würde ihn rücksichtslos nach Moskau melden.«

Nachdenklich wandte sich Dr. Böhler ab und winkte den drei Mädchen. Auf der Treppe zum Lazarett stand die Tschurilowa und sah ihnen entgegen. Ihr Gesicht war blaß und verzerrt. Sie haßte die drei Mädchen schon deswegen, weil sie jetzt da waren und neben Dr. Böhler gingen.

Vom Fenster aus blickte ihnen auch Janina Salja nach. Sie hatte den Bademantel umgeworfen und musterte kritisch die drei in ihren dicken Mänteln.

Eine Tür klappte hinter ihr. Sie drehte sich erschrocken um. Dr. Schultheiß stand im Zimmer und sah sie strafend an.

«Jetzt sind sie da, Jens«, sagte sie leise, fast weinend.

«Wer?«

«Deine deutschen Mädchen! Sie sind schön. Groß, schlank, kräftig — viel, viel schöner als ich! Ich bin eine Leiche, die atmet. Nur noch eine Leiche. Die deutschen Mädchen sind viel hübscher als ich.«

Dr. Schultheiß umfaßte ihre schmalen, zuckenden Schultern und sah neben ihr hinaus auf den verschneiten Platz. Zärtlich drückte er seine Wange gegen ihr Gesicht.»Niemand ist schöner als du, Ja-ninaschka.«

«Ich bin eine atmende Leiche, Jens.«

«Du wirst leben, Janinaschka. Du mußt leben, weil ich dich liebe.«

Sie nickte schwach und suchte seine Lippen. Sie küßten sich lange und innig. Behutsam und zärtlich löste er sich dann aus ihren nackten, warmen Armen und küßte ihre geschlossenen Lider.

«Du mußt brav sein, Janinaschka, und im Bett bleiben«, sagte er stockend. Ihre großen, fieberglänzenden Augen flehten ihn an. Ihre Hände tasteten zitternd über seine Brust. Er biß die Zähne in die Unterlippe und senkte den Blick.

«Du mußt dich hinlegen«, wiederholte er leise.

«Ich liebe dich«, flüsterte sie mit fast erstorbener Stimme.»Ich sterbe, wenn du mich nicht. «Plötzlich warf sie sich an ihn und krallte sich an ihm fest. Ihr Atem flog. Sie riß mit der rechten Hand das Hemd über seiner Brust auf und versuchte, es abzustreifen. Er hinderte sie daran — fast ringend standen sie im Zimmer, ihr nackter Oberkörper zuckte und warf sich ihm entgegen.»Halte mich!«stöhnte sie.»Halt mich fest, schlag mich — nur tu etwas, erwürg mich, laß mich unter deinen Händen sterben. Ich halte es nicht mehr aus ohne dich.!«

Ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte sie. Sie sank aufs Bett und preßte die Hand vor den Mund. In ihren Augen flackerte die Todesangst. Zwischen ihren Fingern rann ein dünner, roter Streifen hervor.

Dr. Schultheiß rannte in die Ecke des Zimmers und kam mit einer Platte Zellstoff zurück. Er riß ihre Hände vom Gesicht, tupfte das aus dem Mund rinnende Blut ab.

«Still«, sagte er dabei.»Ganz still, Janinaschka. «Er legte sie zurück in die Kissen und deckte sie bis zum Hals zu. Dann setzte er sich auf die Bettkante, nahm ihre schmale Hand — eine Kinderhand, dachte er — und spielte mit ihren Fingern. Sie sah ihn an und lächelte.

«Mein blonder Wolf«, sagte sie zärtlich.

«Ich werde in dieser Nacht bei dir sein. «Er küßte ihre Finger und drückte ihre Hand gegen seine Augen. Ihre Fingerspitzen streichelten seine Brauen und Wimpern.

«Die ganze Nacht?«flüsterte sie glücklich.

«Die ganze Nacht, Janinaschka.«

«Und wenn wir ganz glücklich sind, werden wir das Fenster öffnen und lauschen, wie die Wälder rauschen. Die Wälder der Wolga. «Sie legte sich zurück und schloß die Augen.»Und ich werde dich in meinen Armen halten, ganz, ganz fest und dicht, dein Atem wird über mich gleiten. Kennst du Hafis?«

«Den persischen Dichter?«

«Ja. «Sie zog seinen Kopf zu sich herab und flüsterte ihm ins Ohr.»Er begann ein Lied, das er nie zu Ende schrieb:

Eine Riesenmuschel ist die Welt, die als einzige Perle dich enthält.

Ist es nicht schön, dieses Lied.«

«Sehr schön, Janinaschka.«

Sie schloß die Augen, sein Kopf lag auf ihrer Brust.

«Ich bin so müde, Jens. So müde.«

Er schwieg. Als sie vor Erschöpfung eingeschlafen war, löste er sich leise von ihr und deckte ihre nackten Arme zu. Er sah noch einmal nach dem Ofen, legte ein paar dicke Holzscheite hinein und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer.

Auf dem Gang kam ihm Dr. Böhler, noch immer wütend über Worotilow, entgegen.

«Unsere Schwestern sind gekommen, Schultheiß.«

«Ich habe sie vom Fenster aus gesehen, Herr Stabsarzt.«

«Worotilow hat sie behandelt wie Rotz am Ärmel! Ich möchte wissen, was in den Major gefahren ist! Seit gestern ist er wie ausgewechselt.«

Dr. Schultheiß schwieg, er wurde nicht einmal rot oder verlegen. Worotilow trug es schwer, das wußte er. Er liebte Janina ehrlich. Und es war unglaubhaft, daß er ihn nicht einfach über den Haufen geschossen und nach Moskau gemeldet hatte: In Notwehr getötet.

Dr. Böhler blätterte in den Papieren, die ihm Dr. Kresin gegeben hatte.

«Die ausgebildete Rote-Kreuz-Schwester Ingeborg Waiden hat zwei Jahre auf Lungenstation gearbeitet und selbständig Pneus angelegt. Ich werde sie Ihnen zuteilen, Schultheiß. Dann sind Sie entlastet. Die beiden anderen Mädels werde ich in die chirurgische Abteilung stecken. In der internistischen brauchen wir keine Hilfe — das macht der Pelz allein. Vor allem sind wir dann sicher, daß wir keine Simulanten bekommen. Magenkrämpfe kann man gut nachmachen, und herzkrank sind sie alle — aber jeder wird sich hüten, sich ein Loch in den Leib schneiden zu lassen, nur um in der Nähe eines Mädchens zu sein!«

Dr. Schultheiß nahm die Papiere von Ingeborg Waiden an sich und sah sie kurz durch.

«Aus Kiel?«fragte er.

«Aus Ihrer Heimat, Jens. «Dr. Böhler hob lächelnd den Finger.»Nun machen Sie mir nur keine Dummheiten!«

«Bestimmt nicht, Herr Stabsarzt.«

«Übermorgen kommt die Kasalinsskaja wieder. Ich bin gespannt, was sie zu unseren Neuerwerbungen sagen wird.«

«Bestimmt nichts Gutes.«

«Davon bin auch ich überzeugt.«

Aus dem Zimmer, in dem Leutnant Markow lag, erklang Stöhnen. Dr. Böhler sah auf die geschlossene Tür.

«Wenn ich den durchbekomme, bin ich glücklich«, sagte er leise.»Kuwakino ist wieder bei ihm. Der Kommissar hat so etwas wie sein Herz entdeckt. Haben Sie jetzt noch zu tun?«

«Nein, Herr Stabsarzt.«

«Dann kommen Sie mit zu Markow. Ich will mir seine Blutvergiftung mal ansehen.«

«Übermorgen muß ich wieder fort, Werner«, sagte Alexandra und schmiegte sich zärtlich an Sellnow.»Dann werden wir uns eine gan-ze Woche lang nicht sehen.«

Das ist gut, dachte er. Er kam sich ekelhaft, gemein und feig vor. Er hatte seine Frau betrogen — zum erstenmal mit Bewußtsein und Willen betrogen. Er hatte seine Kinder betrogen, er hatte ihr Vertrauen, ihren Glauben, ihre Liebe geschändet, und er fühlte sich jetzt ausgestoßen und verworfen. Er spürte die Wärme Alexandras an seiner Haut, er roch ihren Körper. Das schwarze Haar kitzelte an seiner Schulter — es roch nach Rosen und Thymian.

«Du sagst gar nichts«, fragte sie drängend.

«Ich bin traurig, daß du gehen mußt«, log er.

«Wir haben noch zwei Nächte vor uns, in denen ich dich zerfleischen kann. «Sie lachte mit ihrer dunklen Stimme, die ihn immer wieder erschauern ließ. Ihre Raubtierzähne glänzten vor seinen Augen. Die Lippen waren rot und feucht. Mit einem Satz sprang sie auf und dehnte den nackten Körper in der Sonne. Sie tastete mit den Zehen nach ihren gestickten Pantoffeln und trippelte zum Petroleumkocher. Nackt wie sie war, lief sie im Zimmer hin und her und begann, Kaffee zu kochen. Sellnow verfolgte ihre Gestalt mit den Blicken und nahm das Bild dieser wilden, unersättlichen Frau auf, wie man ein Gemälde ansieht, von dem man weiß, daß man es nie wieder sehen wird.

«Ich werde Dr. Böhler und Dr. Kresin bitten, dich wieder ins Lager zu holen«, sagte Alexandra, während sie das sprudelnde Wasser aufgoß.

«Ich werde hier gebraucht«, wich er aus.»Was sollen die Gefangenen denken, wenn ich jetzt weggehe. Ich habe mich an die Fabrik gewöhnt.«

«Aber wir können uns dann nicht sehen, Werner. «Alexandra setzte sich und streifte den Büstenhalter über. Dann zog sie die Strümpfe an. Sellnow sah zur Seite — sein Blut begann wieder zu singen. Er verfluchte sie innerlich, er ballte die Fäuste unter der Decke. Nie, nie wieder ins Lager, dachte er. Ich will Alexandra vergessen, ich will sie hassen lernen!

Die Kasalinsskaja zog sich langsam an. Bevor sie das Kleid überwarf, wusch sie sich in dem Becken neben der Tür.

«Willst du nicht aufstehen, Werner? Soll ich die Männer untersuchen? Ruh dich aus… ich gehe hinunter.«, sagte sie.

«Nein, danke. «Sellnow sprang auf und schämte sich plötzlich seiner Blöße. Schnell zog er sich ebenfalls an und vermied es, sie dabei anzusehen. Er schaute aus dem Fenster und sah auf dem Hof die Schlange der wartenden Kranken im Schnee stehen. Auf der Mauer im Stacheldraht pendelte wieder der Posten und rauchte. Einer der Sanitäter ging von Mann zu Mann und stellte fest, was sie an Krankheiten melden wollten. Man schien ihn zu fragen, wo der Arzt bliebe, denn er zuckte ein paarmal mit den Schultern und wies nach der Tür des Untersuchungszimmers hin.

Plötzlich erinnerte sich Sellnow einer Unterhaltung mit Dr. Böhler, die damit endete, daß er sagte:»Das Grundübel unserer Menschheit ist das Gewissen! Nur der Gewissenlose gewinnt, nur der Skrupellose siegt! Das Ideal der schönen Seele, des Ehrgefühls um jeden Preis — das alles ist eine blöde, überlebte, überholte Sache! Fahnenehre, Dr. Böhler — das war so ein Mist. Die Fahne ist mehr als der Tod! Ich pfeife auf diese Ehre, wenn ich leben kann! Offiziersehre! Mein Gott, wir tragen sie wie einen Orden auf der Brust und kokettieren mit ihr. Dabei sind wir im Innern genauso elende Schweine wie jeder andere. Akademikerehre! Ach nee — so lange wir Couleur trugen und in Wichs mit den Schlägern präsentierten und Hurra schrien, unseren Salamander rieben und beim Kommers den Stiefel aussoffen, so lange waren wir die Herren der Welt. Aber dann, auf die Menschheit losgelassen, wurden wir genauso idiotisch wie die anderen und denunzierten, ignorierten, boykottierten und schikanierten die Kollegen, nur um eine Praxis zu bekommen oder die Patienten zu behalten. Es ist ein wahrer Spruch: Am futterneidischsten sind die Ärzte! Und dann die nächste Ehre — die Ehre als Mensch an sich! Das ist ja ganz und gar blöde! Was unterscheidet den Menschen denn vom Tier? Die Intelligenz? Gut. Aber sonst? Er säuft, frißt, schläft, begattet sich, gebiert, stirbt, verfault! Aus! Was dazwischenliegt, ist Zivilisation und ein bißchen krampfhafte Kultur, gezüchtet als Mäntelchen für unsere Unzulänglichkeit! Wo bleibt da noch die schöne Seele und die absolute Ehre? Und das Gewissen? Es ist alles Mist! Große Worte, sonst nichts, lieber Stabsarzt.«

Dr. Böhler hat damals geschwiegen und ihn nur groß angesehen. Dann hatte er etwas gesagt, was Sellnow seit diesem Tag innerlich verfolgte:»Sie tun mir sehr leid, Werner — Ihnen fehlt das Schönste und Wichtigste unseres Lebens: die Persönlichkeit!«

Daran erinnerte er sich jetzt, als er vor dem Fenster stand und auf die wartende Schlange seiner Patienten starrte. Hinter sich hörte er die Kasalinsskaja wirtschaften — sie machte das Frühstück fertig. Ein aufbrechender Haß ließ ihn fast zittern; er hatte den Wunsch, diese schöne Frau zu erwürgen und sich an ihrem Tod zu weiden.»Ich bin ein Mensch!«wollte er dabei schreien.»Ich will sühnen! Ich will büßen! Ich bin ein Mensch mit Ehre!«Und während er das dachte, spürte er, wie hohl und pathetisch das alles und wie verloren er in Wahrheit war.

Er malte sich aus, wie befreiend es sein mußte, ihr ins Gesicht zu sagen: >Geh, du Hure! 'raus mit dir! Ich habe zwölf Nächte mit dir verbracht — bezahlen kann ich dich nicht. Aber ich kann dir sagen, daß du ein Schwein bist, ein elendes, mistiges Schwein, und daß ich kotzen müßte, wenn ich dich noch einmal berühren würde…< Und gleichzeitig hatte er Verlangen nach ihren Lippen, ihren Brüsten und Schenkeln und ihrem dumpfen, aufquellenden Schreien und Stammeln, wenn ihr Wille unter seinen Händen zerschmolz.

Er drehte sich um und ging an den kleinen Tisch. Der Kaffee duftete. Frisches Weißbrot lag auf einem Holzteller. In Rußland hungerten sie diesen Winter, aber sie aßen Weißbrot, Butter, fette Milch, Käse, Wurst und sogar zwei Eier.

«Du bist ein Rätsel«, sagte er und strich Alexandra über die schwarzen Haare.»Was würdest du tun, wenn ich dich verließe?«

«Umbringen!«sagte sie sofort. Dabei lächelte sie.

«Mich?«

«Uns beide, Sascha. «Wenn sie besonders zärtlich zu ihm sein wollte, nannte sie ihn Sascha. Er wußte nicht warum, er nahm es hin und freute sich am Klang ihrer tiefen Stimme.

Er belegte eine Scheibe Weißbrot mit roter, sichtlich gefärbter Zervelatwurst und klopfte sein Ei auf.

«Das würdest du tun?«fragte er dabei.

«Ja! Sofort! Ohne Reue!«Sie beugte sich über den Tisch zu ihm.»Du gehörst mir — und keiner anderen mehr! Keiner!«

Sellnow tauchte den Löffel in das Eigelb. Der Tod — ob das eine Lösung war? Er tat so, als suche er nach einem Taschentuch und tastete in der Hosentasche nach der zerrissenen Karte. Lieber Pap-pi, stand darauf. Sein Kopf sank tiefer. Alexandra sah ihn erstaunt an.

«Bist du wieder krank, Sascha, mein Liebling? Kommt das Fieber wieder?«Sie sprang auf und legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie tastete nach seinem Puls; er ließ es geschehen, obgleich er wußte, daß er kein Fieber hatte.

Die Kasalinsskaja hob mit der Hand sein Gesicht zu sich empor.»Du bist so merkwürdig«, sagte sie leise.»Was hast du, Werner?«

«Nichts, Alexandraschka, nichts. Bestimmt nicht.«

Feigling, dachte er dabei, erbärmlicher Feigling! Würgend aß er weiter und schob dann den Stuhl zurück.»Ich muß hinunter. Wartest du hier auf mich?«

«Ich gehe in die Stadt einkaufen.«

«Gut.«

Er küßte sie hastig und rannte wie gejagt die Eisentreppe hinunter. Das Gefühl, mit Alexandra verheiratet zu sein, überwältigte ihn. Es war wie früher, in Deutschland, bei seiner Frau. Er ging in die Praxis, sie fuhr in die Stadt und kaufte ein für das Mittagessen. Sie sorgte für ihn, sie kochte und nähte, an den Abenden saßen sie zusammen, und in der Nacht fanden sie sich. Dort Luise. hier Alexandra. Was war eigentlich anders geworden? Der Ort. das Land. der Körper. der Name. was geblieben war, nannte sich schlicht Frau und Mann. Das blieb immer. überall.

Der Sanitäter legte ihm die Listen der Krankmeldungen vor. Sell-now sah sie gar nicht durch. Er winkte, und die Plennis strömten in das Zimmer. Kurz sah er sie der Reihe nach an und nickte.»Arbeitsunfähig«, sagte er hart.»Alle!«

Er sah nicht die erstaunten und glücklichen Augen der Gefangenen, nicht das Kopfschütteln des Sanitäters. Er war froh, als er nach wenigen Minuten wieder allein war. Einen Augenblick irrte sein Blick zu dem kleinen Wandschrank, wo die Morphiumampullen verwahrt wurden. Es wäre ein schönerer Tod als der, den ihm Alexandra bereiten würde, wenn sie erfuhr, daß er zu Hause Frau und Kinder hatte. Er saß hinter seinem Tisch und starrte auf den Fleck Licht, den die Sonne durch die Ritze der zugezogenen Gardine warf. Seine Hand lag auf den Fetzen der Karte. Wir warten auf dich.

Er hörte, wie Alexandra das Haus verließ, wie der Posten ihr, der Frau im Offiziersrang, seine Meldung entgegenschrie.

In diesen Minuten begann er zu beten — und er befürchtete, daß Gott, den er haßte, schweigen würde. Aber Gott schwieg nicht. Er half ihm, indem er wieder das Fieber schickte.

Es war eine schreckliche Hilfe, aber sie enthob ihn der Entscheidung. Sie gab ihm Zeit… für morgen… für übermorgen. Und übermorgen fuhr Alexandra zurück ins Lager!

Der Sanitäter, der dazukam, als er sich schwankend erhob, stützte ihn, zog ihn oben im Zimmer aus und half ihm ins Bett.

Als die Kasalinsskaja aus Stalingrad zurückkehrte, fand sie ihn in wilden Fieberphantasien. Sie jagte den Sanitäter aus dem Zimmer und zog die Spritze auf, die sie immer bereithielt. Sie allein wußte, wie das Fieber zu bekämpfen war — sie allein.

Blaß saß sie an seinem Bett und beobachtete ihn. Ein Abend stand in ihrer Erinnerung. Sellnow kam aus der Lungenstation und aß aus seiner Blechschüssel das Abendessen. Es war Kohlsuppe — und der Geschmack des Kohls verdrängte den Geschmack des Pulvers.

Rache, dachte sie damals, Rache, du deutsches Schwein! Du hast mich überwältigt, mich genommen. Jetzt sollst du dafür verrecken!

Alexandra senkte den Kopf auf das Bett, neben die heißen Hände Sellnows. Sie weinte — wild, hemmungslos und laut. Sie schrie in die Kissen.

Auf der Mauer lösten sich die Posten ab.»Nichts Neues, Genosse!«sagte der eine.»Nichts, Genosse!«