37724.fb2 Der Arzt von Stalingrad - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 4

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DRITTES BUCH

In diesem Winter ereignete sich viel Neues im Lager 5110/47. Nicht nur das Lazarett wurde neu eingerichtet — auch eine Bibliothek kam aus Stalingrad, die Spielgruppe bekam Holz und Pappe für die Kulissen, und Farbe wurde von den Rubeln gekauft, die man in den Fabriken und Gruben verdiente und bei der Kommandantur gewissenhaft und mit bürokratischer Genauigkeit verbuchte. Die größte Neuerung aber war, daß von Moskau ein Schreiben kam, das den Geistlichen erlaubte, in den Lagern Gottesdienste und Bibelstunden abzuhalten.

Dr. Kresin saß bei Dr. Böhler im Zimmer und fächelte sich mit dem Schreiben aus Moskau Luft zu. Sein Gesicht war weingerötet — er hatte heute Geburtstag, und keiner wußte es.

«Es darf gewimmert werden!«sagte er laut.»Großer Gott, wir loben Dich!«Er lachte.»Man hat in Moskau noch Humor — ich habe es bis heute bezweifelt! Es darf gepredigt werden! Bibelstunden! Gottesdienste! >Religion ist Opium für das Volk!< Also geben wir euch Opium, damit ihr weiter dahindämmert und die langen Jahre sich leichter aneinanderreihen, in denen ihr für uns arbeitet! Gar nicht so dumm von den Moskowiten! Wer Heimweh hat — schnell ein Pfäff-lein her und die Händchen gefaltet!«

Dr. Böhler schüttelte den Kopf.»Warum reden Sie so, Dr. Kre-sin? Sie sind ja in Wahrheit gar nicht so. Sie glauben ja selbst an Gott!«

«Ich?!«Kresin lachte schrill.»Mein Gott ist die Flasche! Früher waren es die kleinen Mädchen — aber das ist vorbei!«Er beugte sich vor.»Wer ist eigentlich Ihr Gott, Dr. Böhler?«

«Unser aller Vater!«

«Prost! Und was hat er für Aufgaben?«

«Zu richten und zu verzeihen.«

«Bequemer alter Herr, Ihr Gott, Doktor. Im Augenblick scheint er Migräne zu haben; er hat euch Plennis ganz schön vergessen.«

«Nein. Er hat uns viel, immer geholfen in diesen Jahren. Er hat unser Leben erhalten, er hat uns ein schönes Lazarett gegeben, eine Bibliothek, Schwestern zur Hilfe.«»Stopp!«schrie Dr. Kresin, sein Gesicht war dunkelrot.»Wiederholen Sie! Wer hat Ihnen das gegeben? Gott? Moskau hat es Ihnen gegeben! Ohne Moskau und allein mit euerem Gott wärt ihr alle verhungert und verreckt! Wer hat Ihnen das Lazarett gegeben? Ich! Euer Gott hat nichts dazu getan. Ich habe bei dem General darum gebettelt wie ein Hund!«

Dr. Böhler nickte.»Ja, Sie, Dr. Kresin. weil Sie an Gott glauben!«

«Unsinn! Weil ich Spaß an der Sache habe.«

«Und diesen Spaß — wie Sie es nennen — gab Ihnen Gott!«

Der russische Arzt sah Dr. Böhler starr an, dann atmete er schwer, drehte sich herum, verließ das Zimmer und warf krachend die Tür zu. Lächelnd beugte sich Dr. Böhler wieder über seine Papiere.

Er hatte noch nicht lange gearbeitet, als die Tür aufgerissen wurde und Terufina Tschurilowa hereinstürzte. Atemlos lehnte sie sich an den Türrahmen. In ihren Augen standen Entsetzen und wildes Grauen.

«Kommen Sie!«stieß sie hervor.»Kommen Sie! Block 12! Es ist furchtbar!«

Dr. Böhler war aufgesprungen und sah schnell aus dem Fenster. Still, verschneit, in klirrender Kälte, lag der große Platz. Nichts deutete auf ein außergewöhnliches Ereignis hin.

«Was haben Sie denn?«fragte er beruhigend. Die Tschurilowa schlug die Hände vors Gesicht und wimmerte:

«Sie haben einen umgebracht… im Block 12!«

«Was?!«Dr. Böhler wurde bleich.»Sie haben.«

«Er ist noch nicht tot. Man fand ihn in der Latrine, fast erstickt im Kot! Dr. Schultheiß ist schon da — er war gerade auf Visite in den Blockrevieren!«

Dr. Böhler riß seine Steppjacke vom Haken und warf sie über. An der bleichen Tschurilowa vorbei stürzte er aus dem Lazarett und traf auf dem Platz schon Major Worotilow und sieben Wachmannschaften, während Dr. Kresin schnaufend aus seiner Baracke kam.

Worotilow sah Dr. Böhler entgegen. Sein Gesicht war verschlos-sen.

«Das ist übel, Doktor!«sagte er hart.»Man hat einen Mann ermorden wollen! In meinem Lager! Ich werde für sieben Tage zunächst die Portionen kürzen.«

Dr. Böhler antwortete nicht. Er lief an dem Major vorbei zu Block 12, wo aus den Baracken die Gefangenen quollen und zur Latrine strömten. Schimpfende russische Soldaten trieben sie mit der Maschinenpistole zurück und riegelten den kleinen Bau ab, in dem die Latrine und eine lange Waschkaue untergebracht waren. Dr. Böhler konnte ungehindert die Postenkette durchlaufen. Hinter sich hörte er das Hackenknallen der Soldaten, als Worotilow ihm folgte, er hörte auch das Brüllen Dr. Kresins, der die Plennis zurücktrieb.

In der Baracke kam ihm Ingeborg entgegen. Sie sah völlig verstört aus.»Dr. Schultheiß macht schon Wiederbelebungsversuche«, sagte sie.»Es ist schrecklich. schrecklich.«

Er stieß die Tür zum Nebenraum auf. Ein penetranter Geruch von Kot und Urin schlug ihm entgegen und nahm ihm einen Augenblick den Atem. Dann sah er inmitten des Zimmers neben einem Tisch Dr. Schultheiß stehen, hemdärmelig, bespritzt mit Kot.

«Wer hat ihn gefunden?«fragte Dr. Böhler.

«Emil Pelz. «Dr. Schultheiß unterbrach seine künstliche Atmung.»Er hätte es nicht bemerkt und keiner hätte es gemeldet, wenn er nicht eine Ente hätte ausleeren müssen. Er fand den Mann auf dem Rücken in der Kotgrube liegen. Man sah, daß jemand versucht hatte, ihn unterzutauchen.«

«Kein Selbstmordversuch?«

«Ausgeschlossen! Es gibt schönere Arten, aus dem Leben zu scheiden.«

Die Tür wurde aufgerissen. Worotilow und Dr. Kresin traten ein. Worotilow zog die Nase hoch, Dr. Kresins Gesicht grinste breit.»Eine ausgesprochen beschissene Sache«, sagte er laut.

Worotilow warf einen Blick auf den Mann und sah zu Dr. Böhler.

«Tot?«Seine Stimme klang belegt.

«Nein«, antwortete Dr. Schultheiß an Böhlers Stelle.»Noch ist er zu retten. Er muß sofort ins Lazarett unter den Sauerstoffapparat. Ich habe Schwester Waiden hinübergeschickt wegen einer Trage.«

«Gut! Retten Sie den Mann auf jeden Fall! Er muß aussagen! Er muß, verstehen Sie?!«Er wandte sich ab, riß die Tür auf und schrie ein paar Kommandos hinaus. Dr. Kresin wurde ernst.

«Er läßt den ganzen Block zusammentreiben«, sagte er zu Dr. Böhler.

«Ja, ich weiß. «Hinter ihnen hörte man das Keuchen Dr. Schultheiß', der wieder mit der künstlichen Atmung einsetzte.»Kennen Sie den Mann, Dr. Kresin?«

«Ja«, sagte der russische Arzt steif.»Er heißt Walter Grosse.«

Dr. Böhler blickte sich um. Emil Pelz war gerade dabei, die bleiche Gestalt mit einer großen Blechschüssel vom Kot zu reinigen.»So eine Sauerei!«sagte er dabei.

«Walter Grosse.«, wiederholte Böhler.»Das wird unangenehm für uns alle werden — für alle im Lager 5110/47?«

Dr. Kresin sah ihn fragend an.

«Der Plenni Walter Grosse war ein Spitzel-Verbindungsmann zum MWD, so nennen Sie das wohl, Dr. Kresin.«

«Dieser Mann da?«

«Ja. Er hat Kommissar Kuwakino die internen Informationen aus dem Lager geliefert. «Dr. Böhler sah wieder auf den Ohnmächtigen, seine Backenknochen mahlten.»Heute möchte ich kein Arzt sein«, sagte er leise.

«Aber Sie sind es immer, Doktor. «Dr. Kresin trat nahe an ihn heran.»Machen Sie jetzt keinen Unsinn, mein Freund! Ich kann verstehen, wie es jetzt bei Ihnen da drinnen«- er tippte Dr. Böhler auf die Brust —»aussieht. Aber Zähne zusammenbeißen! Denken Sie zuerst immer daran: Er ist ein Mensch! Nur ein Mensch. Ohne Namen, ohne Beruf, ohne Persönlichkeit. ein nackter, armer Mensch! Ein Mensch, der jetzt um Hilfe schreit. um die Hilfe eines Arztes! Und das sind Sie!«

Dr. Böhler sah Dr. Kresin starr an.»Das sagen Sie mir, Kresin! Sie, der vor einer halben Stunde Gott leugnete. Ich danke Ihnen. Sie haben mehr innere Größe als ich.«

«Idiot!«knurrte Dr. Kresin. Verschämt wandte er sich ab und brüllte die zwei Träger an, die mit der Bahre hereinkamen.»Schneller! Schneller!«schrie er.

Von draußen hörte man das Trillern der Pfeifen, Schuhe klapperten über den vereisten Schnee, Stimmen wurden laut, Kommandorufe, Flüche, Schreie.

Block 12 wurde zusammengetrieben.

Auch Block 11 und Block 10, die daneben lagen, waren alarmiert worden und traten mit an. 2.439 Männer.

Major Worotilow schlug mit der Reitgerte gegen die hohen, faltigen Juchtenstiefel. Seine Tellermütze saß gerade und korrekt auf dem Kopf. Das wirkte wie eine Warnung — die Unnahbarkeit des Stärkeren.

Die 2.439 Männer schwiegen. Wie ein Lauffeuer war es durch das Lager gegangen, wen man in die Latrine gestoßen hatte. Walter Grosse, ehemaliger Politischer Leiter in Stuttgart, Kreis-Organisationsleiter der NSDAP — seit drei Jahren als deutscher V-Mann beim MWD und Spion bei den eigenen gefangenen Kameraden.

Die 2.439 Männer sahen verbissen auf Worotilow. In ihren Augen stand der Trotz, die innere Auflehnung, die Revolte. Worotilow sah es, er wurde steif und spürte Brutalität in sich aufsteigen. Das erschreckte ihn, aber er wehrte sich nicht dagegen. Es ist meine Natur, dachte er. Ich bin ein Russe! Ich bin der Sieger! Seine Reitgerte fuhr zischend durch die eisige Luft.

«Ruhe!«brüllte er.

Der Dolmetscher Jakob Aaron Utschomi schlich heran. Der kleine Jude war bleich und zitterte. Er allein schien zu wissen, was gleich mit den Blocks 10, 11 und 12 geschehen würde. Er stellte sich neben den Major. Wenn Worotilow mit den Gefangenen sprach, konnte er kein Deutsch mehr.

In der Latrinenbaracke bettete man Walter Grosse auf die Bahre. Dr. Schultheiß stand, beschmiert wie er war, daneben und fühlte den Puls des fast Leblosen.

«Nicht mehr tastbar«, sagte er zu Dr. Böhler.

Die Bahre wurde hinausgetragen. Der Gestank des Kots flog voraus. Vorbei an der Mauer der angetretenen 2.439 Männer rannten die Träger zum Lazarett. Dr. Böhler folgte ihnen, während Kresin sich hinter Worotilow stellte.

«Abzählen«, sagte Worotilow zu Utschomi.»Zu zwanzig! Jeder zwanzigste soll vortreten. «Der kleine Dolmetscher schrie es mit seiner hellen Stimme über den Platz. Schweiß stand unter seiner hohen Pelzmütze. Jeder zwanzigste — er zitterte.

Die Zahlen flogen durch die klirrende Luft. Schritte knirschten. Die abgezählten Plennis traten vor. Stumm, starr, verbissen.

Major Worotilow sah sie an, er winkte den russischen Posten — sie bildeten einen Kreis um die Abgezählten. Die Läufe ihrer kurzen, klobigen Maschinenpistolen zeigten auf sie.

«Diese Männer werden erschossen, wenn Walter Grosse stirbt und sich die Attentäter nicht melden!«Worotilow sah auf die Mauer der Gefangenen.»Bis dahin gibt es für alle drei Blocks nur halbe Rationen! Die Arbeitskommandos bleiben eine und eine halbe Schicht draußen! Ohne Bezahlung!«Er fuhr wieder mit der Peitsche durch die Luft.»Wegtreten!«

Utschomi wiederholte es… die Mauer stand.

«Wegtreten!«schrie Worotilow.

Die 2.439 standen. Keiner rührte sich. Dr. Kresin biß sich auf die Unterlippe — Verdammt, wenn das Moskau erfährt! Verdammt! Er dachte an Kommissar Kuwakino, der wieder am Bett Leutnant Markows hockte. Gut, daß er das hier nicht sah.

Major Worotilow starrte die Mauer der stummen Männer entlang. Er sah tausend Augen auf sich gerichtet, Augen voll Haß und Hunger, voll Schrecken und Trotz.

«Wegtreten!«brüllte er heiser auf deutsch. Die Plennis, die Verdammten, standen.

Da wandte er sich ab, winkte den Posten und stapfte allein davon. Er stieß den gefrorenen Schnee vor sich her, er stampfte sei-nen Zorn in den Boden. Hinter sich hörte er, wie die abgezählten Zwanzigsten von den Posten in die Mitte genommen und abgeführt wurden. Sie kamen in eine Baracke neben der Kommandantur. Zehn Posten bewachten sie von jetzt ab Tag und Nacht.

Die anderen Männer standen noch immer. Standen im Schnee, in klirrender Kälte. Sie standen wie Pflöcke, die man in die Erde gerammt hat, starr, unerbittlich und unbeweglich.

Jakob Aaron Utschomi stand vor ihnen und beschwor sie, in die Baracken zurückzugehen. Er rang die Hände, er bettelte fast. Die Männer standen. Nur aus einer der hinteren Reihen kam kurz eine laute Stimme.

«Hau ab, du mistige Wanze!«

Bleich ging auch Utschomi. Er drehte sich noch ein paarmal um und starrte auf die dunkle Mauer von Menschen. Fast weinend ging er in sein Zimmer und setzte sich ans Fenster. Auch er dachte an Kommissar Kuwakino.

In der Kommandantur hieb Major Worotilow immer und immer wieder mit der Reitgerte auf den Tisch.»Ich lasse sie alle erschießen!«schrie er Dr. Kresin an. Er glühte vor Wut und berauschte sich an blutigen Bildern.»Alle, alle werde ich erschießen lassen. Alle 2.439 Mann! Mit vier Maschinengewehren, an der Mauer! Ich lasse mir das nicht bieten! Sie sind Gefangene… da gibt es keine Auflehnung! Ich werde sie zerbrechen, wie man Holz über den Knien zerbricht!«

Dr. Kresin zündete sich eine Zigarette an. Er machte ein nachdenkliches Gesicht.»Denken Sie an Moskau, Genosse Major. Man wird Rechenschaft von Ihnen fordern.«

«Ich lasse mir das nicht bieten!«schrie Worotilow außer sich vor Wut.

«Sperren Sie ihnen alle Vergünstigungen. streichen Sie die Operettenaufführung zu Weihnachten, ziehen Sie die Instrumente der Lagerkapelle ein, halbe Portion Essen, lassen Sie die Bibliothek schließen, sammeln Sie alle deutschen Zeitungen und Zeitschriften ein, machen Sie aus dem Lager ein dumpfes Gefängnis, sperren Sie das Licht ab neun Uhr abends, aber lassen Sie die Männer selbst in Ruhe. Nichts bedrückt sie mehr als die Streichung aller Vergünstigungen.«

Major Worotilow sah an die Decke, von der eine billige Lampe über den Tisch hing, eine Lampe mit einem häßlichen dunkelgrünen Stoffschirm.

«Das sind gute Ideen, Dr. Kresin! Ich werde das Lager in eine bewohnte Einöde verwandeln, bis sich die Mörder melden!«

«Und was wollen Sie mit den Mördern machen?«

«Ich werde sie dem Genossen Kommissar übergeben.«

Dr. Kresin wiegte den mächtigen Kopf hin und her. Seine Augen waren halb geschlossen.»Das wäre grundfalsch, Genosse Major. Wir alle achten Sie, nur einen Feind haben Sie: Kuwakino. Nicht einen persönlichen — dazu hätte er keinen Grund, aber einen ideologischen. Das ist viel schlimmer. Kuwakino ist ein Fanatiker. Er sucht Opfer, über die er nach oben ins obere Politbüro der Partei kommt. Er will einen Knüppeldamm aus Knochen bauen, denn der Weg nach Moskau ist schlammig und schlüpfrig und sehr glatt. Er würde sich nicht scheuen, auch Sie auf seinen Weg zu legen. Der Kommandant von Lager 5110/47, der es nicht fertigbringt, seine Gefangenen in Ordnung zu halten. Der sowjetrussische Major mit einem Herz für das Deutsche, der Offizier, der nicht vergessen kann, daß er deutsche Ausbilder hatte und der abends Clausewitz liest und die Erinnerungen von Moltke und Hindenburg!«

«Seien Sie still, Genosse!«sagte Worotilow schwach.

«Ich weiß es. auch Dr. Böhler ahnt es. Kuwakino beobachtet Sie, er weiß es nicht… noch nicht!«Dr. Kresin warf seine Zigarette in den glühenden Ofen.»Ich möchte fast wünschen, daß dieser Walter Grosse nicht durchkommt, um nicht aussagen zu können.«

«Sagen Sie das Dr. Böhler, Genosse.«

«Ich werde mich hüten! Er ist Arzt wie ich. Auch ich würde ihn zu retten versuchen, und wenn ich bis zum Hals in dieser furchtbaren Geschichte steckte. Für uns Ärzte gilt nur der hilflose Mensch — was später kommt, darf uns nicht verhindern, zu helfen!«

«Sie könnten am nächsten Sonntag im Lager die Predigt halten!«sagte Worotilow giftig.

Ohne Antwort verließ Dr. Kresin die Kommandantur.

In dem neuen Operationsraum des Lazaretts lag Walter Grosse auf dem Operationstisch; während die beiden Schwestern Martha Kreutz und Erna Bordner ihn mit einer Alkohollösung reinigten, regulierte Dr. Schultheiß an der Sauerstoffflasche den Luftstrom, den Dr. Böhler durch einen Glastrichter in den geöffneten Mund fließen ließ. Dabei preßte er die Seiten und die Brust des Patienten und ließ Martha Kreutz mit den Armen pumpen.

«Die Brust hebt sich«, sagte er plötzlich.

«Gott sei Dank!«Dr. Schultheiß wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er sah zu, wie Erna Bordner mit einem Zerstäuber den penetranten Geruch im Raum bekämpfte.

«Wir haben ihn durch. «Dr. Böhler gab den Glastrichter an Emil Pelz und ging zum Waschbecken.»Wenn er aus der Ohnmacht erwacht, rufen Sie mich sofort, ehe Sie einen anderen heranlassen! Auch nicht Worotilow oder Dr. Kresin.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Dr. Kresin trat ein.»Ich hörte meinen Namen?«fragte er.

«Ganz recht. Ich verbot eben allen, jemanden zu dem Patienten zu lassen, auch Sie nicht!«

«Sie haben ihn durchbekommen?«Dr. Kresin blickte zu dem Tisch hin, wo Emil Pelz begann, die Brust und die Seiten zu massieren.»Sie haben ihn wirklich gerettet?!«

«Wie Sie sehen.«

«Eine edle menschliche Tat, Herr Kollege! Mit ihr werden schöne Schwierigkeiten beginnen.«

«Das weiß ich. Deshalb möchte ich auch zuerst allein mit ihm sprechen.«

Dr. Kresin schob die Unterlippe vor.»Das war ein guter Gedanke. «Er wollte weitersprechen, aber die Tür wurde aufgerissen. Die Kasalinsskaja stand im Raum. Sie war aufs höchste erregt.

«Die Kerle stehen noch immer draußen!«schrie sie.

Dr. Böhlers Kopf fuhr herum.»Die drei Blocks?!«

«Ja. Zweitausend Mann. Sie stehen da seit einer Stunde! Sie rühren sich nicht! Sieben sind vor Kälte umgefallen… sie liegen neben den Reihen. aber die Reihen stehen!«

«Das ist eine Revolte!«schrie Dr. Kresin.

«Kommen Sie!«Dr. Böhler warf seine Jacke um und eilte aus dem Zimmer. Die Kasalinsskaja und Dr. Kresin folgten ihm. Auf dem Platz sahen sie schon von weitem die starre, dunkle Mauer der Männer. So, wie sie vor einer Stunde zusammengerufen worden waren, standen sie noch. Zwischen ihnen die Lücken: neunzehn Mann — eine Lücke… neunzehn Mann — eine Lücke.

Dr. Böhler sah sie an. Er sah in ihre verbissenen Augen, er blickte auf ihre blaugefrorenen Lippen.

«Geht in die Baracken«, sagte er mild.»Walter Grosse ist gerettet.«

«Dann werden wir ihn später ersäufen!«schrie jemand aus dem unbeweglichen Block. Die russischen Posten standen herum und wußten nicht, was sie tun sollten.

«Er ist ein Verräter!«rief einer aus der Menschenmauer.»Er hat uns ausspioniert! Wir gehen nicht eher weg, als bis die anderen aus der Strafbaracke entlassen werden!«

«Ihr könnt hier doch nicht stundenlang stehenbleiben!«

«Wir können!«schrie ein anderer.

«Nicht jeder zwanzigste ist schuldig, sondern wir alle!«rief ein dritter.

Von der Kommandantur her kam Major Worotilow. Er war unheimlich blaß. Hinter ihm liefen vier Gruppen Wachtposten mit je einem schweren Maschinengewehr in der Mitte. Sie verteilten sich über den Platz und brachten die Waffen in Stellung. Drohend starrten die schwarzen Läufe auf die Menschenmauer. Die Gurte rasselten durch das Schloß, die Schützen luden durch. Worotilow stellte sich

neben Dr. Böhler.

«Wegtreten!«brüllte er heiser.

Keiner der 2.000 rührte sich. Sie sahen auf die Läufe der Maschinengewehre und schienen zu warten. In diesem Augenblick durchjagte Dr. Kresin eine Erleuchtung. Er griff nach vorn, riß Dr. Böhler am Jackenkragen zu sich heran, schleifte den Verblüfften vor ein Maschinengewehr und stieß ihn brutal an den Lauf, der kurz ein wenig nach oben schwenkte.

«Ihr geht sofort in die Baracken!«schrie er über den Platz und hob den Arm.»Wenn ich die Hand senke, und ihr steht noch hier, lasse ich Dr. Böhler erschießen!«

Ein Knirschen ging durch die Reihen. Dr. Böhler blickte Kresin an. An seinen Augen sah er, daß es Ernst war, kein Bluff, kein Theater… wilde Entschlossenheit stand in diesen Augen. Worotilow war herumgefahren. Er starrte auf die beiden Ärzte und begann zu zittern. Nein! wollte er schreien, aber das Entsetzen lähmte ihn, und seine Stimme versagte.

Dr. Kresin sah hinüber zu den 2.000 Gefangenen. Er wartete ein paar Sekunden, dann senkte sich langsam seine Hand. Der Posten am Maschinengewehr, ein Mongole, grinste dumm und legte den Finger an den Abzug.

Die ersten Reihen des Blocks begannen zu schwanken… langsam bröckelte die Mauer ab. Einzeln schlichen die Männer zu den Baracken zurück, sie blickten sich um und sahen noch immer Dr. Kre-sin mit halb erhobener Hand stehen. Immer schneller lösten sich die Reihen auf, die letzten trugen die sieben ohnmächtigen Kameraden fort in das Revier. Regungslos starrte Worotilow auf den sich leerenden Platz, die Kasalinsskaja hatte die Augen geschlossen. Dr. Böhler wandte sich zu Kresin um. Der grinste. ein verzweifeltes, verzerrtes Grinsen.

Der Platz war leer. Kresin trat gegen den Lauf des Maschinengewehres und ließ die Hand sinken. Er ließ den Jackenkragen Dr. Böhlers los, wandte sich ab und ging stumm, allein, nach vorn gebeugt davon. Keiner schloß sich ihm an… alle warteten, bis er zwischen den Blocks verschwunden war. Dann erst ging auch die Kasalinss-kaja. Sie vermied es, Dr. Böhler anzusehen.

Sie schämte sich.

Die Posten marschierten ab. Der Platz lag leer in der klirrenden Kälte, nur Dr. Böhler und Worotilow standen noch da. Langsam ging der Major auf den Arzt zu.

«Verzeihen Sie«, sagte er leise.

«Was?«

«Ich danke Ihnen. «Worotilow senkte den Kopf.»Sie haben Walter Grosse das Leben gerettet, Leutnant Markow und vielen, vielen anderen. Heute, soeben haben Dr. Kresin und Sie mir das Leben gerettet.«

Er wollte Dr. Böhler die Hand geben, aber dann zog er die halb ausgestreckte Hand zurück und drehte sich um. Mit großen Schritten eilte er davon.

Aus der Ecke einer Baracke löste sich eine Gestalt. Klein, schmal, frierend stand sie im Schnee. Ohne Mütze, ohne Mantel, ohne Handschuhe. Die blonden Locken umgaben das bleiche Gesicht: Terufina Tschurilowa. Sie weinte.

Dr. Böhler sah sie nicht mehr. Er war schon auf dem Weg zum Lazarett.

In der Nacht kam Walter Grosse wieder zur Besinnung. Dr. Schultheiß hockte an seinem Bett, Ingeborg Waiden saß an der Tür und drehte Tupfer für Operationen.

Grosse sah sich ängstlich um und versuchte, sich im Bett aufzurichten. Als Dr. Schultheiß ihn sanft niederdrückte, schlug er mit beiden Armen um sich und schrie grell.

«Nein! Nein! Laßt mich! Laßt mich los! Ich will nichts verraten! Ich will euch alles sagen! Laßt mich los! Hilfe! Hilfe! Nicht in die Scheiße! Hilfe! Gnade. Gnade. «Er wimmerte und schlug die Hände vor die Augen. Speichel rann aus seinem Mund. Sein Körper bäumte sich.

Ingeborg Waiden trat an das Bett und nahm Grosse sanft die Hände von den Augen.»Sei still«, sagte sie fast zärtlich.»Du bist doch in Sicherheit.«

Beim Klang der Frauenstimme öffnete Walter Grosse die Augen. Er starrte die Schwester ungläubig an und wandte den Kopf zu Dr. Schultheiß.

«Herr Doktor.«, stammelte er. Er tastete nach seiner Hand und hielt sie ganz fest. In seinen Augen flackerte wieder die Angst.»Sie werden mir nichts wieder tun.?«

«Nein. Hier sind Sie in Sicherheit.«

«Sie wollten mich in der Latrine ersäufen!«Walter Grosse schluchzte und drehte den Kopf zur Seite.»Sie haben mich in die Scheiße geworfen und wollten mich mit Stangen unter den Brei stoßen. O mein Gott… mein Gott. «Er weinte wie ein kleines Kind, hell, plärrend, unterbrochen von lautem Schluchzen.

Dr. Schultheiß nickte Ingeborg Waiden zu. Sie verließ leise das Zimmer, um Dr. Böhler zu benachrichtigen. Der Arzt drehte den Kopf des Wimmernden wieder zu sich herum.

«Nun ist alles gut, Walter. Wir haben dich gerettet, und nun lebst du weiter.«

«Wie lange noch?«

«Bis deine Zeit abgelaufen ist.«

Grosse klammerte sich an den Armen des Arztes fest. Seine Augen bettelten.

«Werden sie mir bestimmt nichts mehr tun?«Sein Atem keuchte.»Sie werden mich wieder in die Latrine stoßen, wenn ich aus dem Lazarett komme. «Er ließ sich zurückfallen ins Bett und weinte wieder.»Ich habe solche Angst.«

So lag er einige Zeit, bis sich die Tür öffnete und Dr. Böhler eintrat. Walter Grosse kreischte auf. Er konnte vom Bett aus nicht sehen, wer hereinkam.

«Sie kommen mich holen! Hilfe! Hilfe!«Er wollte aus dem Bett springen, aber Ingeborg Waiden trat in den Lichtkreis. Das beruhigte Grosse, er ließ sich zurückgleiten. Dr. Böhler trat an das Bett.

Mit einem Nicken erhob sich Dr. Schultheiß und verließ mit In-geborg Waiden das Zimmer.

Dr. Böhler nahm Grosses schlaffe Hand.»Nun sind wir allein, Walter Grosse, ganz allein. Du kennst mich?«

«Ja, Herr Stabsarzt. «Grosse nickte beruhigt.»Sie haben mich gerettet, Sie sind gut.«

«Warum hat man dich in die Latrine geworfen?«fragte Dr. Böhler hart.»Bist du so ein Schwein, daß man dich ersäufen muß? Nun sag die Wahrheit, Walter Grosse.«

In die Augen des Geretteten trat ein gehetzter Blick. Wie ein getretenes Tier sah er Dr. Böhler an.

«Sie auch?«stammelte er ängstlich.

«Ich habe dich gerettet, weil ich Arzt bin. Jetzt bist du außer Gefahr. und jetzt frage ich dich als Plenni! Als einer deiner Kameraden, die bei Stalingrad gefangen wurden und seit fünf Jahren auf die Heimkehr hoffen. Ein Plenni wie du. Oder bist du gar kein Plen-ni, Walter Grosse?«

Der Mann im Bett zitterte, als werfe ihn ein eisiger Sturm hin und her. Seine Zähne klapperten hörbar vor Angst und Entsetzen.

«Antwort!«herrschte Dr. Böhler ihn an.

«Doch! Doch!«Walter Grosse weinte wieder.»Ich bin ein Plenni. Aber der Kommissar.«

«Wadislav Kuwakino.«

«Ja. Er legte mir eine Liste vor, die er aus Deutschland bekommen hatte. Er wußte jetzt, daß ich einmal Kreisorganisationsleiter in Stuttgart war, Politischer Leiter, und daß man mich in Stuttgart bei den Amis angezeigt hatte, ich hätte 1943 russische Fremdarbeiter geschlagen. «Grosse hob beide Arme.»Ich schwöre bei Gott: Es ist nicht wahr!«

«Weiter!«sagte Dr. Böhler ungerührt.

«Der Kommissar sagte mir, damit sei mein Todesurteil bereits gesprochen. Er brauche nur zu winken, dann käme einer ins Zimmer und gäbe mir den Genickschuß. Ich fiel zusammen, ich heulte und kroch auf den Dielen herum. Ich war so feige, so elend feig. Ich woll-te leben! Da sagte der Kommissar, daß er mich retten könnte, wenn ich ein V-Mann zum MWD würde, wenn ich meine Kameraden im Lager bespitzeln und es ihm melden würde und alle anzeigte, die schlecht über Rußland und die Kommunistische Partei sprechen. Ich habe ihm die Hände geküßt und den Schein unterschrieben! Damit war ich frei… keiner gab mir den Genickschuß, ich bekam sogar in der Küche von Pjatjal mehr zu essen als die anderen. Und ich meldete alles, was ich hörte und sah.«

«Dann warst du doch ein elendes Schwein!«

«Ich bin Vater von vier Kindern. Ich will wieder nach Hause!«

«Und wieviel Familienväter hast du denunziert? Daran hast du nicht gedacht! Nur immer ich! Ich! In der Gefangenschaft heißt es >wir<! Das >wir< ist das große Symbol der Kameradschaft. Du hast es in den Dreck gezogen und solltest im Dreck ersticken. Das war nur gerecht. Siehst du das ein?«

Walter Grosse kroch in sich zusammen.»Ja.«, röchelte er.

Dr. Böhler schob die Hand weg, die zaghaft nach ihm tastete.»Noch etwas«, sagte er hart.»Worotilow wird dich verhören, auch Dr. Kresin, vielleicht auch Kuwakino. Du weißt nicht, wer dich in die Latrine warf!Du hast sie nicht erkannt! Verstanden? Wenn du nur einen Namen nennst, wirst du wieder in die Latrine fliegen. und dann werde ich vergessen, daß ich Arzt bin, und dich nicht retten! Ich werde es auf mein Gewissen vor Gott nehmen, dir jede Hilfe zu verweigern! Hast du mich verstanden?!«

«Ja. «Walter Grosse zitterte, die Tränen rannen über sein Gesicht.»Ich habe es doch nur aus Angst getan. Man wollte mich erschießen. und ich habe vier Kinder.«

Die Tür sprang auf, Major Worotilow stand im Rahmen. Walter Grosse fiel in die Kissen zurück, er wimmerte vor Angst.

«Sie allein mit Grosse?«fragte Worotilow sarkastisch.»Darf ich mich Ihrem Verhör anschließen, Doktor?«

«Ich untersuche nur den Patienten.«

«Seelisch, ich verstehe.«

«Er ist vernehmungsfähig. Aber ich muß als Arzt bemerken, daß sein Herz einen Schock bekommen hat und bei Überanstrengung ein Herzschlag eintreten kann.«

Major Worotilow lachte leise.»Ich verstehe nichts von Medizin, aber so idiotisch bin ich nicht, um nicht zu wissen, daß so ein Schock im Herzen völliger Quatsch ist! Das gibt es nicht. Grosse ist gesund… vielleicht noch ein wenig nervenschwach. Aber das gibt sich. «Er trat an das Bett. Walter Grosse starrte ihn aus tief in den Höhlen liegenden Augen an.»Nun, du Schwein«, sagte Worotilow.»Schade, daß du nicht mehr Scheiße gefressen hast!«Mit den Beinen angelte er sich einen Schemel heran und setzte sich. Unwillkürlich rückte Walter Grosse in die äußerste Ecke des Bettes.

«Wer hat dich in die Latrine geworfen?«

Grosse starrte Major Worotilow an.»Ich habe sie nicht erkannt.«

«Ich lasse dich erschießen, wenn du mir die Namen nicht nennst!«

«Ich weiß es nicht!«schrie Grosse gellend. Er warf sich aufs Gesicht und krallte die Finger in das Bett. Auf und nieder zuckte sein Körper.

«Er ist nicht mehr vernehmungsfähig«, sagte Dr. Böhler aus seiner Ecke heraus.

Worotilow erhob sich schnell.»Gut haben Sie das gemacht. Sehr gut! Ein wenig Seelenmassage, was? Glauben Sie, daß sie anhält?«

«Ja.«

Worotilow nickte. Er lächelte breit und hob grüßend die Hand.»Wie gut Sie mich damals verstanden haben, Herr Doktor«, sagte er voll scharfen Hohns.»Der Sieg der Macht! Die Macht des Grauens! Ich hätte Sie nicht darüber zu unterrichten brauchen. ich sehe, daß unsere Methode auch in Ihren Händen gut ist!«Er ging zur Tür und öffnete sie.»Erinnern Sie sich Ihrer Zeit in dem Waldlager? Im Sommer? Denken Sie an unsere ideologischen Gespräche?«Er legte die Hand an seine Tellermütze.»Ich grüße jetzt meine Idee in Ihnen, Herr Doktor.«

Als die Tür zuklappte, kaute Dr. Böhler an der Unterlippe. Er schaute auf den weinenden Walter Grosse, den Angst und Grauen schüttelten. Die Angst trieb ihn in das Lager des russischen Geheimdienstes, die Angst trieb ihn zurück zu seinen deutschen Kameraden. Und zwischen diesen Ängsten wurde sein Leben zermahlen — zu Mehl, zu Staub, der im leisesten Wind zerflattern würde. Der ein Nichts werden würde… die grauenhafte Leere, die hinter der Angst steht.

«Ekelhaft«, sagte Dr. Böhler leise. Denn auch er hatte plötzlich Angst. Ein Name trat in sein Bewußtsein, der ihn zaghaft machte: Wadislav Kuwakino.

Noch saß er nebenan bei Leutnant Markow.

Noch! Doch was war, wenn er herausbekam, was geschehen war? Wenn er Grosse verhörte? Würde dann die Angst vor den Russen nicht doch stärker sein?

In diesem Augenblick wünschte sich Dr. Böhler, daß Walter Grosse nie wieder erwacht wäre. Er sah die Schwäche, auf die er baute, und wußte, daß Grosse dem Druck Kuwakinos nicht standhalten würde.

Die Lage begann kritisch zu werden, als am Abend des gleichen Tages das Lagerorchester zusammenkam und die Ouvertüre der Operette durchproben wollte. Peter Fischer suchte seine von Julius Kerner geerbte Trompete, jeder suchte sein Instrument in der großen Saalbaracke, der Stolowaja, wie der Russe sie nannte. Aber dort, wo man sie abgestellt hatte, war der Platz leer — selbst die Notenständer, aus Knüppeln gezimmert, waren verschwunden. Der Dirigent des Orchesters, ehemaliger Kapellmeister der Krefelder Oper, sah sich um.

«Die haben unsere Instrumente weggenommen«, sagte er hilflos.»Anders ist es nicht zu erklären.«

Betreten standen die Musiker herum, bis Karl Georg, der Schlagzeug spielte, von draußen wieder hereinkam. Sein Gesicht war wutverzerrt.

«Der Posten sagt — beschlagnahmt!«schrie er.»Wegen der Sache mit Grosse! So lange beschlagnahmt, bis sich die Täter melden! Außerdem ist es verboten, weiter zu proben! Es gibt keine Bibliothek mehr, nur noch halbes Essen für das ganze Lager, keine Zeitungen, ab neun Uhr — das ist in 20 Minuten — kein Licht mehr! Zum Kotzen ist das!«

Peter Fischer hockte auf einem Schemel, ein Häuflein Unglück.

«Das hätte sich der Kerner mit seiner Trompete nicht gefallen lassen. Er wäre zu Worotilow gegangen.«

«Dann geh doch, du Idiot!«schrie Karl Georg.»Dir fehlt auch so 'ne Nase wie dem Sauerbrunn seine.«

Der Dirigent ordnete die handgeschriebenen Noten; dann verteilte er sie nach Instrumenten.»Proben wir so«, sagte er.»Jeder kennt sein Instrument. üben wir jetzt bloß die Einsätze. Ich markiere die Instrumentalgruppen. «Er hob den Taktstock — aus einer Birke geschnitten, weiß, lang, zart.»Die Bläser beginnen. Tata… tata. Erst die Trompeten. dann nach sieben Takten die Flöten und Klarinetten. Nach Takt zwölf Einsatz der Pauke.«

Die Musiker umstanden den Dirigenten. In ihren Ohren klangen die Melodien, während sie stumm auf die Noten starrten, die Takte zählten und auf den Taktstock achteten, der die Tempi angab, während die linke Hand den Instrumenten den Einsatz zuwinkte. Es war eine gespenstische Szene — 32 Männer, stumm, Noten in den Händen, und ein Dirigent, der voll dirigierte.

Um neun Uhr erlosch das Licht. Dunkel, feindlich lagen die Baracken im Schnee unter dem kalten Himmel. Nur im Lazarett brannten die Lampen.

Peter Fischer ging zu dem Ofen, den man in der Ecke des Saales angesteckt hatte, und hielt einen Holzkloben in die Glut. Als das Scheit brannte, zog er es heraus und hielt es hoch über seinen Kopf. Flammendes Licht umspielte die stummen Musiker und warf zuk-kende Schatten gegen die Wände.

«Proben wir weiter«, sagte der Dirigent. Seine Stimme war brüchig vor Ergriffenheit.»Zweiter Teil, ab Takt 34. Die ersten Geigen setzen ein. Langsamer Bogenstrich, singend. Und genau auf die Tempi achten, da gleich die Celli einsetzen.«

Dreimal wechselte Peter Fischer das brennende Scheit, dann hat-te der Posten dem Major gemeldet, daß in der Stolowaja die Gefangenen trotz Dunkelheit und ohne Instrumente probten. Worotilow hatte den Russen ungläubig angesehen und war ein Stück mitgekommen. Vor der Baracke hatte er durch das Fenster geblickt und das stumme Orchester mit dem fackelschwingenden Peter Fischer beobachtet. Er hatte dem Posten zugenickt und war zurück in seine Kommandantur gegangen. Lange stand er zögernd vor dem Hauptschalter. Nur ein Griff — und im Lager war Licht. Worotilow hatte schon die Hand ausgestreckt, hastig zog er sie wieder zurück.

Es sind Gefangene… es sind Verdammte! Der Sieger ist Rußland! Sie haben zu gehorchen. Er starrte auf den schwarzen Hebel — zögernd wandte er sich ab und ging in sein Zimmer.

Am nächsten Morgen wurden nur die halben Portionen ausgeteilt. Michail Pjatjal ließ sich bei den Essenholern nicht blicken — er schickte Bascha Tarrasowa vor und ließ sie die Flüche der Plennis anhören.»Ihr freßt euch dick und hurt wie die Karnickelböcke!«schrie einer der Essenholer.»Und wir sollen bei 300 Gramm Brot und 'nem halben Liter Suppe arbeiten können!«

«Befehlll von Majorr!«sagte Bascha und lächelte vielsagend.

«Leck mich am Arsch!«Die Kohlwassersuppe wurde in die großen Kessel gefüllt. Man tat es mit Wut… oft spritzte die Suppe über den Kesselrand in den Schnee. Michail Pjatjal, der Küchenleiter, beobachtete es von seinem Zimmerfenster aus und grinste.»Was überläuft, abziehen, Bascha!«rief er dem Mädchen auf russisch zu.»Die Kerle werden sonst zu fett.«

«Da ist ja der alte Hurenbock!«rief einer aus der Schlange.»Dir schlagen sie auch noch mal die weiche Birne ein!«

Pjatjal lächelte und schloß die Fenster. Er dachte an den schönen Rinderbraten, der in der Küche bruzzelte.

Im Lazarett stand Dr. Böhler vor seinem Sanitätspersonal. Er blickte von einem zum anderen — Dr. Schultheiß, Ingeborg Waiden, Martha Kreutz, Erna Bordner, Emil Pelz und vier Hilfssanitäter. Sein

Gesicht war sehr ernst.

«Worotilow läßt nur halbe Portionen ausgeben«, sagte er langsam.»Das bedeutet, daß wir innerhalb von drei Wochen die ersten Fälle von Hungerödem bekommen. Von Herzschäden ganz zu schweigen! Ich bin gewillt, diese Strafmaßnahme nicht hinzunehmen!«

Ingeborg Waiden sah ihren Chef verblüfft an.

«Was wollen Sie dagegen tun?«fragte sie kleinlaut.

«Ich werde das Lazarett schließen.«

«Was werden Sie?«Dr. Schultheiß schüttelte den Kopf.»Das geht doch nicht! Wir haben voll belegt. Leutnant Markow liegt hier.«

«Um den kann sich Dr. Kresin kümmern. Außerdem haben die Russen ja die Kasalinsskaja und die Tschurilowa! Wenn ihr alle Mut habt, ein wenig Zivilcourage und bereit seid, die Folgen zu tragen, legen wir ab heute die Arbeit nieder, bis wieder normale Verhältnisse im Lager herrschen. Ich nehme es allein auf mich: Ihr habt alle nur unter meinem Befehl gehandelt.«

Dr. Schultheiß trat vor. Sein junges Gesicht mit den blonden Haaren darüber war gerötet.»Wir lassen Sie nicht allein, Herr Stabsarzt!«

«Dann kann ich dem Major melden, daß wir nicht mehr arbeiten?«

«Ja, Herr Stabsarzt.«

Dr. Böhler wandte sich ab und verließ das Lazarett. Bevor er aber zu Worotilow ging, schrieb er noch einen Brief und gab ihn Dr. Schultheiß.»Bewahren Sie ihn gut«, sagte er mit belegter Stimme.»Es kann sein, daß ich nicht zurückkomme. In diesem Falle behalten Sie den Brief und geben ihn meiner Frau, wenn Sie dazu Gelegenheit haben. Einmal werden Sie ja doch aus Rußland herauskommen.«

Dr. Schultheiß legte den Brief zur Seite auf den Tisch. Seine Augen glänzten.»Ich lasse Sie nicht allein gehen, Herr Stabsarzt! Ich gehe mit zu Worotilow!«

«Sie bleiben! Einer muß doch auf Ordnung sehen. Und meinen Brief müssen Sie an die Adresse meiner Frau besorgen. Das ist mir wichtiger als Ihr Heldentum! Vergessen Sie das nicht.«

Dr. Schultheiß zögerte. In seinen Zügen arbeitete es.»Nein«, sagte er stockend.»Ich werde es nicht vergessen.«

Er begleitete Dr. Böhler bis zur Treppe des Lazaretts und blieb dort stehen. Er blickte ihm nach, wie er schlank, in seiner wattierten Jacke, die Klappenmütze auf dem schmalen Kopf, durch den Schnee stapfte, der Kommandantur entgegen. Ein Posten, der von den Türmen kam, sah ihm nach. Einige Gefangene, die aus der Tischlerwerkstatt traten, grüßten stramm. Fast wie auf einem winterlichen Kasernenhof, wären die Türme und der Drahtzaun, die ausgehungerten Gesichter und die Sehnsucht nach der Heimat nicht gewesen.

Dr. Schultheiß sah, wie Dr. Böhler an der Kommandantur seine Stiefel abklopfte und die Tür aufriß. Dann war er im Innern verschwunden, und Dr. Schultheiß hatte das Gefühl, er werde ihn nie wiedersehen.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Ingeborg Waiden stand hinter ihm. Sie hatte Tränen in den Augen.

«Ich habe Angst«, sagte sie leise.

«Ich auch, kleine Schwester. «Er legte den Arm um ihre Schulter.»Aber das Leben wird weitergehen, wenn es sein muß, auch ohne den Chef. Tausende brauchen uns, wie wir Dr. Böhler brauchen. «Er strich ihr mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und zog sie in die Baracke.

Am Fenster des Nebengebäudes stand Janina Salja und beobachtete sie. Sie sah, wie er sie umfaßte, wie seine Hand über ihre Wangen strich. Ihre Augen brannten, rote Flecke zeichneten sich auf ihrer blaßgelben Haut ab.

Die deutsche Schwester! Diese verfluchte, hübsche Deutsche!

Sie trat zurück in ihr Zimmer und griff unter das Kopfpolster des Bettes. Eine kleine Pistole lag in ihrer Hand. Sie betrachtete sie nachdenklich, ehe sie die Waffe in die Tasche ihres Morgenrockes steckte. Dann trat sie an die Tür und rief in den Gang hinaus:»Dr. Schultheiß soll kommen!«

Füße trappelten. Ein Sanitäter lief, den Arzt zu holen.

In der Tasche des Morgenrockes hielt Janina den Griff der Waffe umklammert, ihr Körper bebte.

Sie hörte durch den Spalt der geöffneten Tür auf dem Gang seinen schnellen, festen Schritt.

Jens, dachte sie. Jetzt geht er in den Tod. aber nicht allein. Ich gehe mit ihm.

Wenn die Tür öffnet, werde ich abdrücken… erst er, dann ich. Dann haben wir Ruhe, soviel Ruhe. Und seine Liebe gehört nur mir allein.

Mit einem Ruck wurde die Tür aufgerissen. Die Pistole in ihrer Hand fuhr empor. In der Tür stand Dr. Kresin.

Major Worotilow stand am Fenster und starrte auf die verschneiten Baracken. Er stand mit dem Rücken zu Dr. Böhler, der am Tisch saß und eine von Worotilows türkischen Zigaretten rauchte. Die Finger des Majors trommelten nervös auf die vereiste Scheibe. es war das einzige Geräusch, das im Zimmer zu hören war.

«Ich muß Ihre Meuterei nach Moskau melden«, sagte Worotilow plötzlich. Seine Stimme zerriß die Stille. Fast erschrocken über diesen plötzlichen Laut blickte Dr. Böhler auf.

«Das sollen Sie auch.«

«Man wird Sie nach 5110/36 bringen. Nach Workuta am Eismeer! Dort haben Sie keinerlei Hoffnung mehr, Köln je wiederzusehen. In Workuta sind bis jetzt 300.000 Sträflinge gestorben.«

«Und darauf sind Sie als Russe stolz!«

Worotilow wich einer Antwort aus — er trommelte wieder gegen die Scheibe.»Es wird sich nichts ändern, wenn Sie weg sind. Ich werde die halben Portionen ausgeben und alle Vergünstigungen sperren, bis sich die Täter gemeldet haben! Wir kommen auch ohne einen Dr. Böhler aus.«

«Das glaube ich gern. Darum möchte ich auch gehen. Ich will nicht zusehen, wie Tausende vor die Hunde gehen, nur weil ein russischer Major die Wahnidee hat, daß das Grauen, daß die Grausamkeit al-lein Sieger über den Menschen ist! Sie sind Russe, aber Sie sind auch Offizier. Und davon kommen Sie nicht los. das ist die Tragik Ihres Lebens! Sie müssen ein Sowjet sein — und wären doch lieber ein Soldat im Sinne von Clausewitz.«

«Halten Sie den Mund!«schrie Worotilow vom Fenster her.»Ich habe bereits Kommissar Kuwakino von Ihrer Meuterei berichtet — genügt Ihnen das?! Ihre Stelle wird Dr. von Sellnow einnehmen, der übermorgen von Stalingrad-Stadt geholt wird! Dr. Schultheiß bleibt auch, die deutschen Schwestern.«

«Dr. Schultheiß, die Schwestern und das gesamte Sanitätspersonal legen gleichfalls die Arbeit nieder.«

«Dann kommen auch sie in ein Straflager!«brüllte Worotilow.»Ich werde das Lazarett mit meinen russischen Ärzten weiterführen, bis ich aus anderen Lagern wieder deutsche Ärzte bekommen habe. Es gibt Tausende von gefangenen Ärzten!«

«Das streite ich nicht ab. Aber auch sie werden nicht anders reagieren, wenn sie sehen, was hier gespielt wird! Man hat einen Verräter, einen Lumpen, einen Spion zu ersäufen versucht. Walter Grosse ist in unseren Augen ein Schwein, auch wenn er unter dem Druck Kuwakinos handelte. Er gab sich aus Feigheit in seine Hand und opferte seiner Angst Hunderte von Kameraden! Ich möchte wissen, Major Worotilow, was man in Rußland täte, würde man solche Männer in den Reihen der Sowjetsoldaten entdecken. Wie würde die Rote Armee handeln, Major Worotilow?!«

«Warum unterhalte ich mich überhaupt mit Ihnen?«Worotilow drehte sich herum.»Sie sind ein Plenni! Das scheinen Sie wohl ganz vergessen zu haben! Machen Sie, daß Sie 'rauskommen!«

Dr. Böhler erhob sich. Er drückte seine Zigarette aus und nahm seine Fellmütze vom Tisch.»Ich werde das Lazarett gleich räumen und mir in einer Baracke eine Schlafstelle suchen.«

«Sie bleiben im Lazarett, bis man Sie abholt!«

«Aber ich werde nicht praktizieren.«

«Sie werden!«Worotilow trat näher. Er griff nach seinem Koppel zog die langläufige Pistole aus dem Futteral und legte sie auf den

Tisch vor Dr. Böhler.»Ich werde neben Ihnen stehen mit dieser Pistole. Und neben dieser Pistole werden Sie operieren!«

«Das werde ich nicht! Eher werden Sie schießen!«

«Ich werde nicht zögern.«

«Dann sind wir uns ja einig. «Dr. Böhler grüßte.»Um halb elf soll eine erfrorene Hand amputiert werden. Ich erwarte Sie um halb elf im Operationszimmer. Mit Pistole, Major. Wenn Sie mich erschossen haben, wird ja wohl Dr. Kresin die Amputation machen.«

Worotilow schüttelte den Kopf.»Nein, Dr. Böhler. Wir werden den Mann mit der erfrorenen Hand wieder zurückbringen.«

«Das wäre sein Tod! Er würde den Brand bekommen!«

«Wenn auch! Sie wollten nicht operieren. Dr. Kresin braucht nicht zu operieren! Einen anderen Chirurgen haben wir nicht da! Also wird der Mann sterben — und nicht nur dieser, sondern alle, die in Zukunft operiert werden müssen. Es wird allein die Schuld von Dr. Böhler sein.«

Der Arzt sah zu Boden. In sein schmales Gesicht stieg heiße Röte. Er sah plötzlich die Auswirkungen seines Entschlusses und erinnerte sich der Worte, die er eben noch Dr. Schultheiß gesagt hatte. Was wird, ist wichtig, nicht das Heldentum! Und gerade er war jetzt dabei, seine Kameraden zu verlassen, sie zu verraten, sie einfach sterben zu lassen, weil er im Zorn über die Strafmaßnahmen der Lagerleitung sein Amt zur Verfügung stellte. Ein Zorn, der nichts änderte, sondern nur alles verschlimmerte und die Plennis tiefer hineinstieß in die Hoffnungslosigkeit als je zuvor. Er hatte gedacht, Wor-otilow mit seinem Verzicht zur Aufgabe der Strafen zu bewegen, und war nun gezwungen, sich selbst zu erniedrigen. Worotilow war der Stärkere, er war der Sieger, er hatte in seinen Händen die Gewalt der Grausamkeit. Es war seine Idee! Und sie war erfolgreich. Das entschied.

Dr. Böhler blickte Worotilow an.»Ich operiere um halb elf. «sagte er leise.

Am Abend brannten um zehn noch die Lampen im Lager, und das Orchester probte in der Stolowaja mit seinen Instrumenten. Nur

das Essen blieb noch um die Hälfte reduziert. Worotilow war mit sich und der Welt sehr zufrieden.

Drei Tage nach diesen Ereignissen kam Kommissar Wadislav Ku-wakino in das Zimmer Dr. Böhlers. Seine weit auseinanderstehenden Augen glänzten vor Triumph.

Dr. Böhler wurde es kalt unter diesen Augen. Angst kroch in ihm hoch, aber er hielt dem Blick des kleinen Asiaten stand. Kuwaki-no faltete die Hände, als wolle er beten. Es war bei ihm eine groteske Geste, und Dr. Böhler mußte sich Mühe geben, nicht zu lächeln — trotz der Gefährlichkeit der Situation.

«So sieht auß Mann, derr komtt in Sumpf!«sagte der Kommissar langsam und betrachtete den Arzt voller Verachtung.»In Sumpf von Kasymsskoje, wo Todd ist.«

Dr. Böhler biß die Zähne zusammen. Was er nie geglaubt hatte, war doch Wahrheit geworden: Worotilow hatte ihn bei Kuwakino angezeigt. Er hatte seine Drohung ausgeführt. Er hatte sich durchgerungen, ein Russe zu sein und nicht ein Freund der Deutschen. Er opferte ihn, um zu beweisen, daß er der Herr der Macht war.

«Auch in Kasymsskoje wird es Kranke geben.«

Kuwakino nickte.»Abber nicht Arzt!«Er grinste.»Du dort Ar-beitter! Wie alle! Nicht Arzt!«

Dr. Böhler erhob sich und wanderte im Zimmer hin und her. Die Blicke aus den Fuchsaugen des Kommissars wanderten mit. Er trat ans Fenster und sah, wie ein Lastwagen auf dem Platz ausgeladen wurde. Die Kasalinsskaja stand dabei und sprach erregt auf einen vermummten Mann ein. Sein Pelzmantel schleifte fast über den Schnee, die Mütze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Jetzt drehte sich der Mann herum und blickte zum Lazarett. Dr. Böhlers Herz stockte einen Augenblick.

Werner von Sellnow.

Er kam, ihn abzulösen. Es war Ernst geworden.

Moskau schrieb den Arzt, den Chirurgen Dr. Fritz Böhler ab.

Hinter sich hörte er leises Atmen. Kommissar Kuwakino sah ihm über die Schulter.

«Nachfolgerr!«sagte er leise.

«Sie hätten keinen Besseren finden können. Dr. von Sellnow ist ein vorzüglicher Arzt.«

«Und Kommunist.«

«So?«Dr. Böhler wandte sich ab. Sellnow ein Kommunist? Sollte die Kasalinsskaja ihn ganz in ihr Lager hinübergezogen haben? Er schloß das Aktenstück, das auf seinem Tisch lag, und kam sich allein und von allen verlassen vor. Dr. Kresin ließ sich nicht blicken, Worotilow nicht, Dr. Schultheiß machte mit den Schwestern Visite, die Kasalinsskaja stand bei ihrem Geliebten, die Tschurilowa saß im Laboratorium. Er war allein. Allein mit Kuwakino.

«Wann werde ich abtransportiert?«

«Am Mittwoch nächster Woche. «Kuwakino lächelte.»Ohne Gepäck.«

Ohne Gepäck. Dr. Böhler kannte diesen Ausdruck. Ohne Gepäck hieß: Du brauchst keinen Ballast mehr, denn du kommst doch nie wieder zurück zu den Lebenden. Du bist abgeschrieben, du stehst in keiner Liste mehr. du bist Freiwild, eine Null, ein Nichts!

Kommissar Wadislav Kuwakino warf noch einen Blick auf den schweigenden Arzt, dann verließ er das Zimmer und prallte auf dem Flur mit Dr. von Sellnow zusammen, dem die Kasalinsskaja folgte. Sellnow war hochrot im Gesicht. Er bebte vor Zorn und stellte sich dem kleinen Asiaten in den Weg.

«Wo ist der Stabsarzt, Kommissar?«brüllte er.

«Im Zimmer.«

Sellnow schob Kuwakino zur Seite und rannte den Gang entlang. Er riß gerade die Tür auf, als der Kommissar leise zu der Kasalinsskaja sagte:»Wir müssen auch ihn beobachten! Er ist ein Deutscher! Er ist immer gefährlich! Er wird vielleicht der nächste sein.«

Dann ging er weiter. Mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen sah ihm die Kasalinsskaja nach.

Die kalte Hand Moskaus lag über dem Lager 5110/47.

Dr. von Sellnow stand im Zimmer. Er hatte sich gegen die Tür gelehnt, die er von innen verschlossen hatte. Seine Pelzmütze lag auf dem Boden zwischen ihm und Dr. Böhler.

«Guten Tag, Werner«, sagte Dr. Böhler freundlich.

Sellnow ballte die Fäuste.»Du Idiot!«zischte er.»Du heilloser Idealist! Du romantischer Feigling!«

«Ist das alles, was du mir nach so langer Abwesenheit zu sagen hast?«

«Ich könnte dir noch mehr sagen, ich könnte dir all das, was ich in mir aufgespeichert habe, ins Gesicht schleudern wie einen Eimer Dreck… aber es hätte ja doch alles keinen Sinn!«

«Wie gut du mich kennst. «Dr. Böhler streckte den Arm aus, zu Sellnow hin.»Komm, gib mir die Hand.«

Sellnow rührte sich nicht.»Es stimmt, was man mir erzählt hat. Du hast gemeutert, und ich übernehme das Lazarett?«

«Ja.«

«Du kommst als gemeiner Plenni in ein Straflager?«

«Ja. Nach Kasymsskoje, in die Sümpfe von Westsibirien.«

«Das weißt du?«

«Kuwakino hat es mir eben gesagt. Mittwoch werde ich abtransportiert. Bis dahin hast du Zeit, dich wieder einzuarbeiten. Wir haben jetzt drei deutsche Schwestern, eine russische Laborantin.«

«Hör mir auf mit den Weibern!«Sellnow schleuderte seine Jacke ab. Vor Erregung vibrierend stand er vor Böhler.»Und du schämst dich nicht, uns zu verlassen?!«

«Ich gehe für unser Recht! Man hat an meinen Kameraden rechtlos gehandelt. und da mache ich nicht mit!«

«Recht! In der Gefangenschaft Recht! Wenn ich das höre! Man könnte sich vor soviel Blödheit die Haare raufen! Du kennst Kre-sin, kennst Worotilow. es sind gute Kerle, die oft anders müssen, als sie selbst wollen! Auch sie haben einen über sich, der mit der Naßaika winkt, wenn sie nicht spuren. Das weißt du alles… und da stellst du dich hin, der Herr Stabsarzt Dr. Fritz Böhler, stellst dich hin in deiner ganzen Größe und spuckst große Bogen von we-gen Menschenrecht um jeden Preis.«

Dr. Böhler wandte sich ab.»Deine Unsachlichkeit hat in Stalingrad noch zugenommen«, sagte er ruhig.»Es geht hier um mehr als Äußerlichkeiten. Es geht um die Grundeinstellung! Man hat versucht.«

«Ich weiß, ich weiß!«Sellnow winkte mit beiden Armen ab.»Alexandra hat's mir erzählt. Sie haben den Walter Grosse in der Latrine ersäufen wollen, und du Idiot hast ihn gerettet.«

«Ich bin Arzt.«

«Herrlich! Ich bin Arzt! Wäre Grosse ersoffen, in der Scheiße untergetaucht, so hätte man sein Verschwinden lange nicht gemerkt. Beim Appell hätte einer für ihn >hier< gerufen, bis es Kuwakino aufgefallen wäre, daß keine Meldungen mehr eintrafen. Dann aber wären alle Spuren längst verwischt gewesen! So aber wird der Grosse aussagen… man wird ihn kirre kriegen. Mit Foltern, mit Seelenmassage, mit der Drohung, seine Frau und Kinder als Geiseln festzunehmen. Das wirft den stärksten Seemann um! Und dann marschieren nicht du allein, sondern noch sieben andere Männer in die Sümpfe.«

«Wieso sieben?«Dr. Böhler sah Sellnow groß an.

«Weil ich sie kenne!«Er wurde ein wenig verlegen und sah an die Decke.»Ich habe in der Fabrik >Roter Oktober< nicht auf dem Mond gelebt. Ich habe die Namen am nächsten Tag gewußt.«

«Von wem?«Dr. Böhler trat einen Schritt vor. Als Sellnow auswich, faßte er ihn an den Rockaufschlägen und zog ihn zu sich heran.»Werner, ich will wissen, woher du die Namen kennst. Ich muß die sieben Männer schützen. ich muß sie vor Grosse und Kuwakino schützen. Sie bilden die einzige Gefahr. Sie müssen sicher sein, bevor ich am Mittwoch abtransportiert werde. Wer weiß die Namen noch?«

Sellnow senkte den Kopf.»Alexandra«, sagte er leise.

Verblüfft ließ Dr. Böhler ihn los.»Die Kasalinsskaja? Und sie schweigt? Sie. die gefürchtetste Frau im ganzen Bezirk Stalingrad.«

«Ja, sie schweigt. «Sellnow schob Dr. Böhler zur Seite und trat an den Tisch.»Aber das ist unwichtig. Alles ist unwichtig. Du darfst auf keinen Fall nach Kasymsskoje. Dort gehst du innerhalb von vierzehn Tagen vor die Hunde!«

«Das weiß ich. Aber ich bettle nicht. Worotilow hat mich bei Ku-wakino verraten. Das war meine größte Enttäuschung seit Jahren. Kresin kann mir gegen Kuwakino nicht helfen — ich werde also gehen.«

Sellnow schwieg. Er starrte auf die Tischplatte. In seinem Kopf entwickelte sich ein Plan, ein schrecklicher, ein verzweifelter Plan. Dr. Böhler beobachtete ihn verblüfft, er wollte etwas sagen, aber Sellnow drehte sich schon um und kam auf ihn zu.

«Was auch kommen mag, Fritz, versprichst du mir, ruhig zu bleiben?«

«Was soll das, Werner? Was hast du vor?«

«Willst du still sein, Fritz? Versprich es mir. Gib mir die Hand, daß du keinen Finger rühren wirst. Daß du nichts unternimmst.«

Dr. Böhler schüttelte den Kopf. Eine unbestimmte Ahnung hielt ihn zurück, sein Wort zu geben.

«Wenn ich nicht weiß, was es ist.«

Sellnow zögerte wieder, doch dann ergriff er seine Jacke, hing sie lose um die Schultern, setzte seine Pelzmütze auf den Kopf und schloß die Tür auf.

«Leb wohl, Fritz«, sagte er leise. Seine Stimme schwankte ein wenig.»Ich war manchmal grob und ein scheußliches Ekel. Ich habe euch oft Sorgen gemacht und dir viel gesagt, was ich eigentlich gar nicht so meinte. Vergiß alles, und bleibe so, wie du bist.«

Dr. Böhler kroch die Angst im Halse hoch. Er spürte, wie sie ihn würgte.»Was soll das, Werner?«sagte er drängend.»Du hast wieder eine Dummheit vor. Werner!«

Er lief ihm nach — aber Sellnow war schon im Flur und rannte ihn entlang. Plötzlich wußte Dr. Böhler, was er plante, und eine wilde Verzweiflung erfaßte ihn.

«Werner! Bleib!«schrie er durch das Lazarett. Die Kasalinsskaja tauchte am Ende des Ganges auf und stellte sich dem davonstür-menden Sellnow in den Weg.

«Halten Sie ihn fest, Alexandra!«schrie Dr. Böhler.»Er macht eine Dummheit! Halten Sie ihn!«

In vollem Lauf prallte Sellnow gegen die Ärztin, er wirbelte sie mit sich herum, stürmte an ihr vorbei und riß die Außentür auf. Ingeborg Waiden, die aus der Lungenstation kam, war nicht fähig, den rennenden Mann aufzuhalten. Sie sah entsetzt zu, und erst der Aufschrei der Kasalinsskaja weckte sie aus ihrer Erstarrung.

Sellnow rannte über den vereisten Platz. Seine Jacke flatterte… sie wehte davon, fiel in den Schnee als ein dunkler, welliger Haufen. Sellnow merkte es nicht. Er hetzte über den weiten Platz, er rannte zur Kommandantur, vor der gerade Kommissar Kuwakino seine Stiefel bürstete.

Die Kasalinsskaja jagte mit flatternden Haaren ihm nach. Dr. Böhler stand an einem offenen Fenster und brüllte die von der Küche kommenden Soldaten an:»Aufhalten! Haltet ihn fest! Festhalten!!«

Sellnows Atem flog. Wie ein Besessener rannte er über das Eis… dann hatte er den Kommissar Kuwakino erreicht.

Ehe Alexandra bei ihm war oder die Soldaten zugreifen konnten, hatte er sich auf den kleinen Asiaten gestürzt und schlug ihm mit beiden Fäusten ins Gesicht. Kuwakino schrie auf. die Trillerpfeifen der Posten auf den beiden Türmen schrillten… aus dem Postenhaus rannten die Russen. Worotilow erschien am Fenster. ungläubig, erblassend sah er auf die Szene vor seiner Kommandantur.

Sellnow hieb auf Kuwakino ein, der wimmernd zu Boden fiel. Dann trat Sellnow auf seinem Körper herum, es war, als wollte er ihn in das Eis stampfen. Dabei hielt er die Augen geschlossen und trat. trat.

Dr. Böhler sank mit dem Kopf gegen das Fenster. Er zitterte und kämpfte mit einem lauten Schluchzen.

Aus! dachte er nur. Aus! Aus!

Die ersten Posten waren bei der Gruppe. ein Kolbenhieb warf Sellnow neben Kuwakino in den Schnee.

In die Arme des herausstürzenden Worotilow fiel die Kasalinss-kaja. Sie schrie noch einmal grell auf, ehe sie besinnungslos zusammenbrach.

Und um sie herum standen die deutschen Gefangenen. stumm, unbeweglich, mit harten Augen.

Sanitäter eilten herbei. sie luden den blutüberströmten, kaum noch atmenden Kuwakino auf eine Bahre und rannten zurück zum Lazarett. Dr. Kresin erschien und raufte sich die Haare.

«Dynamit her!«schrie er über den Platz.»Dynamit, um das ganze Lager in die Luft zu sprengen!«

Ruhig, als sei nichts geschehen, trotteten die Plennis zu den Baracken zurück. Sie kümmerten sich nicht um die Befehle, die Wor-otilow hinausbrüllte. seit Tagen aßen sie die halbe Portion. was gab es noch Schlimmeres als das?

Bis in die Nacht hinein arbeiteten Dr. Kresin, Dr. Böhler und die beiden Schwestern Martha Kreutz und Erna Bordner im Operationssaal an Wadislav Kuwakino. Dann hatten sie seine Rippenbrüche und seine Schädelverletzungen verbunden, eine Bluttransfusion gemacht und die Knochen geschient. Die Kasalinsskaja lag in ihrem Zimmer. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch. Ingeborg Waiden gab ihr Morphium, die Tschurilowa wachte bei ihr.

Dr. Kresin blickte auf Dr. Böhler, als sie sich nebeneinander die Hände wuschen. Der Russe war erschöpft… er atmete rasch und keuchend.

«Er wird auf einem Auge blind bleiben«, sagte er leise.»Der Stiefelabsatz hat das Auge ausgeschlagen.«

«Ich habe es gesehen«, antwortete Dr. Böhler erschüttert.

«Das ist das Todesurteil für Sellnow. «Kresin sagte es, als sei es sein eigenes Urteil.

Stumm wandte sich Dr. Böhler ab und verließ den Raum. Auf dem Flur lehnte er den Kopf gegen die Holzwand und schluchzte.

So fand ihn Dr. Schultheiß… er zog ihn in sein Zimmer, drückte ihn auf das Bett und löschte das Licht.

Zwei Tage später wurde Dr. von Sellnow von einem Lastwagen der Division in Stalingrad abgeholt. Worotilow stand dabei und kaute an der Unterlippe.

Vier Mongolen führten den Arzt, in Ketten, mit einem verquollenen, zerschlagenen, blutunterlaufenen Gesicht.

Nur einmal zögerte Sellnow und blickte zurück zu der großen, schönen Lazarettbaracke. Dr. Böhler stand an einem der Fenster, bleich und übernächtig.

Ein Kolbenstoß in den Rücken. Sellnow bestieg den Lastwagen. die vier Mongolen schwangen sich hinterher… die Plane fiel. Dr. Kresin saß in seinem Zimmer und hörte, wie der Motor aufheulte. Da warf er die Hände an die Ohren und brüllte, um das Rattern der Maschine zu übertönen.

Langsam fuhr der Wagen aus dem Lager… allein stand Major Worotilow am großen Tor und blickte ihm nach. Er wurde kleiner. die Straße senkte sich etwas an der Kurve hinter dem Wald. Noch einmal sah er die schaukelnde Plane. dann war nur noch der Schnee da. die grenzenlose Weite. das Schweigen des Landes an der Wolga.

Am Abend dieses Tages schnitt sich Alexandra Kasalinsskaja beide Pulsadern auf. Wadislav Kuwakino würde gesunden. Aber sein linkes Auge war nicht zu retten gewesen.

Die Kasalinsskaja lief mit bandagierten Handgelenken herum. Dr. Böhler hatte sie mit zwölf Bluttransfusionen, von denen drei die Schwester Martha Kreutz spendete, vor dem Hinüberdämmern bewahrt. Zurückgeblieben war bei ihr ein Nervenschock, der sich in plötzlichen Schreikrämpfen äußerte und in tiefen Ohnmächten. Dr. Kresin hatte bereits mit Stalingrad telefoniert und war beim General vorstellig geworden, um eine elektrische Schockbehandlung durchzusetzen.

«Mit diesen Schocks treiben wir ihr auch die Mannstollheit aus!«sagte er giftig zu Dr. Böhler.»Wenn die wieder gesund ist, kennt sie sich selbst nicht mehr und muß sich vor dem Spiegel vorstellen: Gestatten, Genossin Kasalinsskaja.«

Leutnant Piotr Markow lief wieder herum. Sein Gesicht war noch etwas bläulich, aber er nahm schon wieder den Kampf gegen das Lagerorchester auf, was ein sicherer Beweis dafür war, daß er sich wohl fühlte. Mit Dr. Böhler vermied er zu sprechen. Er wußte, daß er ihm sein Leben verdankte, und er war zu sehr Kommunist, um einem deutschen Plenni zum Dank die Hand zu drücken. Nur ab und zu merkte man, daß er so etwas wie ein Schuldgefühl im Herzen trug. Dann sah er bei gewissen Dingen einfach weg, bei denen er früher wie ein Stier gebrüllt hätte.

Von Dr. von Sellnow hatte man keine Nachricht mehr. Sosehr die Kasalinsskaja ihre Beziehungen in Stalingrad und in der Partei spielen ließ, sosehr sie Janina Salja anflehte und diese über die Sanitätsbrigade alle Stellen anrief. man hatte seit dem Abtransport nichts wieder von ihm gehört. Dr. Kresin nahm an, daß er bereits tot sei, daß er das Straflager gar nicht mehr erreicht habe.

Von einer Verlegung Dr. Böhlers in die Sümpfe wurde nicht mehr gesprochen. Er blieb, auch als der Mittwoch kam und die Transporte der leeren Kisten aus der Lagerküche nach Stalingrad zusammengestellt wurden. Somit war der Sinn des Überfalls auf Kuwakino erfüllt. Sellnow hatte sich geopfert, um Dr. Böhler im Lager zu lassen. Keiner sprach darüber, selbst der grobe Markow nicht — nur Dr Böhler trug schwer an der inneren Last und wurde stiller als zuvor, verschlossen, in sich versenkt. Das Opfer seines Freundes blieb ihm im letzten Grunde unverständlich. Worotilow ging ihm aus dem Weg, um ihm keine Erklärungen geben zu müssen. Die einzigen Russen, mit denen er sprach, waren die Kasalinsska-ja, die Tschurilowa, Dr. Kresin und ab und zu Janina Salja.

Seitdem Vorsatz, Dr. Schultheiß zu erschießen, war mit ihr eine große Wandlung vorgegangen. Sie war ruhiger geworden, gefaßter. Dr. Kresin hatte nicht darüber gesprochen, was er an diesem Vormittag getan hatte, als er in das Zimmer trat und die Janina vor sich sah, den Zeigefinger am Drücker. Er hatte nur schnell die Tür geschlossen und die plötzlich Zusammensinkende aufgefangen. Dann hatte er sie erst einmal geohrfeigt, regelrecht geohrfeigt, wie ein Vater sein Kind züchtigt, wenn er es auf einer schlimmen Tat ertappt. Janina hatte es stumm ertragen und Dr. Kresin nur aus großen Augen flehend angesehen. Die Pistole lag auf der Erde mitten im Zimmer. Der Lauf war durchgeladen, der Sicherungsflügel weggeklappt.

«Ich müßte dich totschlagen«, hatte Dr. Kresin nach den Ohrfeigen gesagt.»Du unvernünftiges, geiles Luder!«Dann hatte er sich in seiner alten Manier die Haare gerauft und gestöhnt.»Die Kasalinsskaja ist nymphoman, jetzt geht es bei der Salja auch damit los! Mein Gott — gibt es denn keine anderen Männer als diese Deutschen? Da fängt man diese Burschen, sperrt sie aus Strafe, weil sie Mütterchen Rußland verwüsteten, ein. und was geschieht? Ihre bloße Anwesenheit macht die russischen Weiber zu Huren!«

Janina lag mit geschlossenen Augen in den Kissen. Tränen rannen ihr über die Wangen.

«Jetzt heult sie auch noch!«brummte Dr. Kresin.

«Sie sind ein Schwein, Doktor! Ich liebe Jens.«

«Das ist im Endeffekt doch immer gleich! Es geht euch doch nur darum.«

«Waren Sie nie jung, Doktor?«schluchzte sie.

«Jung, ja! Aber wir waren anders! Wir lebten damals doch unter Väterchen Zar und nannten unsere Eltern Sie! Wenn wir ein Mädchen küßten, waren wir verlobt… verflucht noch mal… die Leichtigkeit, mit der ihr liebt, die Selbstverständlichkeit, mit der ihr euch auf den Rücken legt und den Männern winkt, die haben wir bei Gott nie gekannt! Wir hatten eine Ehre. und wenn wir liebten, dann war es bitter ernst, und wir rückten mit Blumen bei den Eltern an! Das andere, das Abladen der jungen Kraft.«, Kresin lachte auf,»dafür gab es in St. Petersburg genug Mädchen, die für fünf Rubel.«

Janina wandte sich ab.»Sie sind schrecklich. Bitte, gehen Sie!«

«Das werde ich nicht. Ich werde dir Moralpauken halten. Die Ohrfeigen waren nur die Einleitung! Auf Dr. Schultheiß schießen! So ein Blödsinn! Und warum? Warum, du Idiotin?«

«Er hat die deutsche Schwester umarmt und gestreichelt.«

«Er hat. er hat. Bist du mit ihm verheiratet?!«

«Vor Gott — ja.«

Dr. Kresin blieb der Mund offen. verblüfft sah er Janina an. Sie lächelte.

«Was heißt das?«brummte Kresin.»Er hat bei dir geschlafen, was?«

«Ja. Er gehört mir, mir ganz allein! Lippe an Lippe haben wir gelegen und Seite an Seite. Wir haben unseren Atem getrunken und waren wie ein Feuer, das schlackenlos verbrennt.«

«So was«, stöhnte Dr. Kresin.»Wie eine Siebzehnjährige. Eine Nacht ist doch kein Versprechen fürs Leben!«

«Bei uns doch! Bei mir doch!«schrie Janina.»Mit sechzehn hat man mich auf der Komsomolzenschule vergewaltigt. damals haßte ich alle Männer. Worotilow zwang mich in sein Bett, weil er stark war und keine Widerrede duldete. Er zerbrach mich jede Nacht. Aber Jens. «Sie legte sich zurück und sah an die Decke — Glück überzog ihre blassen Züge.»Jens war wie der Frühlingswind, der über die Weizenfelder streicht, der die Wasser kräuselt, der die Bäume rauschen läßt, der die Blumen aus der Erde lockt.«

Dr. Kresin sah Janina mit schiefem Kopf an. Die Unmöglichkeit, mit seinem robusten Sinn dem schwärmerischen Glück Janinas zu folgen, ließ ihn knurren. Er stand von dem Bett auf und nahm die Pistole an sich, die auf dem Boden lag, fachmännisch musterte er sie.

«Amerikanisches Modell. Woher?«

«Ausrüstung als Partisanin! Wir bekamen sie, als die Deutschen Stalingrad genommen hatten.«

«Und so lange trägst du sie mit dir herum?«

«Ja. «Janinas Gesicht verfiel wieder. Es war, als ob jede seelische Regung sich in ihrem Antlitz spiegelte.»Ich wollte mich mit ihr erschießen, wenn ich unheilbar lungenkrank sein würde.«

Dr. Kresin sah die Pistole noch einmal an. Er legte den Sicherungsflügel herum, nachdem er die Waffe entladen hatte.»Hier«, sagte er, indem er ihr die Pistole zuwarf.»Nimm sie wieder. Ich werde dir sagen, wann du sie an die schöne Schläfe setzen kannst.«

«Durch den Mund ist sicherer!«sagte Janina giftig. Sie faßte die Waffe nicht an.

«Gut. Auch durch den Mund. Aber vergiß nicht, vorher noch einmal deinen Jens zu küssen. hinterher wird es unästhetisch!«

Er verließ das Zimmer. Starr saß Janina im Bett.

«Bestie!«sagte sie laut.

Dann warf sie die Pistole in die Ecke.

Dr. Kresin hatte nie darüber gesprochen, wie er auch jetzt mit Dr. Böhler nicht über Sellnow sprach, der nach seiner Ansicht längst nicht mehr unter den Lebenden war.

So wurde es Dezember. Das Weihnachtsfest stand bevor… in der Stolowaja probten jetzt Orchester, Chor, Solisten. Die Kulissen waren gemalt, die Beleuchtung montiert, der Regisseur schimpfte mit den Darstellern, der Dirigent schnauzte mit den Musikern — einmal warf Peter Fischer sogar seine Trompete hin und schrie sein berühmtes:»Leckt mich am Arsch! Wenn ich auf der Trompete furzen soll, dann soll mir das einer vormachen!«Es war vollendetes Theater mit Krach und Proben, mit Haareraufen und darstellerischen Meisterleistungen. Ab und zu erschien Leutnant Markow in der Sto-lowaja und brüllte:»Stillgestanden!«Dann fuhr alles empor, es wurde Ruhe, man stand stramm, Markow ging von Mann zu Mann, besah sich die Kulissen, spuckte auf die Partitur des Dirigenten und verließ den Saal.

«Daß der noch lebt«, sagte Hans Sauerbrunn.»Der müßte vor Haß schon längst geplatzt sein.«

Karl Georg winkte ab und schraubte an seiner Trommel herum.»Der ist sehr friedlich geworden«, meinte er.»Früher hätte er uns die Instrumente zertreten. Heute spuckt er nur dem Dirigenten aufs Notenblatt. Das ist ein gutes Zeichen.«

Vier Tage vor Weihnachten. Die Arbeitskommandos hatten aus den Wäldern schon Tannen geholt, was Worotilow übersah, denn es lagen von der Division noch keine Bestimmungen vor, ob Weihnachten mit Tannenbäumen gefeiert werden durfte oder nicht. Gottesdienste waren seit einiger Zeit wieder erlaubt, und der kleine, schmalbrüstige, verhungerte Pastor schwankte von Block zu Block und hielt seine Bibelstunden und sonntags in der Stolowaja vor einem Kistenaltar, mit einem Sack als Altardecke und einem rührend roh gezimmerten Kruzifix seinen Gottesdienst. Er wußte nicht, daß ein Kunststudent aus Dresden seit Monaten an den Abenden an einem großen Kruzifix schnitzte, dessen Holz man im Außenlager 81 gesucht hatte.

An diesem vierten Tag vor Weihnachten, als man die Kulissen wieder aufbaute und die Generalprobe steigen sollte, als die letzte Kostümprobe mit Orchester und Beleuchtung unter Krach endete und Peter Fischer laut» Scheiße!«schrie — an diesem Tag kam eine Nachricht in das Lager, die bei der Kasalinsskaja einen Schreikrampf auslöste.

Ein russischer Fahrer, der Verpflegung brachte, hatte Nachricht von Dr. von Sellnow.

Er war nicht tot, wie Dr. Kresin fest annahm, er war nicht einmal in die Sümpfe von Kasymsskoje transportiert worden, sondern er lebte in einem kleinen, bisher unbekannten Schweigelager bei Nish-nij Balykleij, nördlich von Stalingrad, an der Wolga — dort, wo sich der breite Wasserlauf teilte und viele Sandbänke inmitten des russischsten aller Flüsse liegen. In diesem Lager mit der geheimnisvollen Nummer 53/4 lebte er in einer kleinen Baracke, aß gekochte Kartoffelschalen und mußte acht Stunden lang das Eis der Wolga für die Fischer aufhacken, die durch die Eislöcher ihre schmalen Netze zogen.

Die Kasalinsskaja schrie und lachte, weinte und tanzte in einem. Sie war völlig aufgelöst und küßte das Bulldoggengesicht Dr. Kre-sins, fiel Dr. Böhler um den Hals und schloß sich dann in ihrem Zimmer ein, wo man sie laut schluchzen hörte.

Worotilow war zu Dr. Böhler gekommen und hatte sich auf die Kante des Tisches gesetzt. Sein Gesicht war hell und zufrieden.

«Ich kenne Nishnij Balykleij nicht, aber es kann nicht schlimmer sein als Kasymsskoje oder Workuta. Auf jeden Fall ist er in der Nähe. Ich werde versuchen, in Stalingrad mit dem General zu sprechen. Vielleicht können wir ihn einmal besuchen.«

«Man weiß noch nicht, daß Wadislav Kuwakino auf einem Auge blind bleiben wird. Kuwakino weiß es selbst noch nicht. er trägt noch den Verband um den Kopf. Bisher hat keiner gewagt, es ihm zu sagen. Wenn er es erfährt, wird Sellnow erledigt sein. Darüber mache ich mir gar keine Illusionen.«

Dr. Böhler sah ergriffen zu Boden.»Es ist furchtbar, daß er es tat, um mich zu retten. Sie hatten mich angezeigt, Major.«

«Ich bin Russe!«Worotilow erhob sich steif und abweisend.»Ich dulde keine Meuterei! Auch nicht von Männern, die ich schätze! Die äußere Disziplin hat mit der inneren Einstellung nichts zu tun! Es gab einmal einen Offizier — in Ihrer Wehrmacht, Herr Dr. Böhler —, der sagte: >Im Dienst bin ich ein Schwein — und ich bin immer im Dienst!< Daran habe ich gedacht, als ich Sie bei Kuwakino meldete. «Er hob die Schultern.»Das Leben ist grausam… ich habe mich damit abgefunden.«

Er sah aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. An dem Lastwagen stand die Kasalinsskaja und verhandelte erregt mit einem Leutnant. Worotilow klopfte mit den Fingern auf die schmale hölzerne Fensterbank.»Die Genossin Ärztin will nach Nishnij Balykleij fahren«, sagte er sinnend, als spräche er mit sich selbst.»Sie versucht, den Transportoffizier zu überreden.«

Bei den Wachbaracken herrschte reges Leben. Die Kisten wurden weggeschleppt. Waffen und Munition wurden von den Wachoffizieren gezählt… noch drei Lastwagen kamen die Straße herauf und fuhren brummend in den Hof. Hochgebaute Ford-Sons, noch aus der amerikanischen Materiallieferung an Rußland stammend, gute, schwere, robuste Wagen mit einem V-8-Reihenmotor, winterfest und geländegängig. Die Monatslieferungen für die Wachmannschaften kamen an, die Auffüllung der Kantinen, der Küchenbestände, Wodka traf in großen 20-Liter-Flaschen ein, Sonnenblumenöl, Gefrierfleisch, riesige Mengen mit Eis überzogenen

Kohls, Medikamente, Trockenkartoffeln, grobgemahlenes Mehl und große Säcke mit Hirse. Es galt, im Lager 5110/47 675 sowjetische Soldaten und 21 Offiziere zu verpflegen. Von den Wachttürmen riefen die Soldaten den ausladenden Kameraden Witze zu. Michail Pjatjal, der Küchenleiter, erschien mit seiner drallen Bascha und beschwerte sich, daß einige Waren, die er bestellt hatte, nicht mitgekommen waren. Plennis, die Lagerdienst hatten, schleppten die Säcke in die Vorratskeller der großen Küche. Auch Peter Fischer und Karl Georg, kurz darauf auch Hans Sauerbrunn, tauchten inmitten des wimmelnden Menschenhaufens auf und schleppten Kisten und Beutel mit. Dabei stahlen sie, was nur zu stehlen war. Büchsen, Fett und Taschen voll Hirsekörner… im Keller bearbeitete Peter Fischer fluchend ein großes Lendenstück Gefrierfleisch und schnitt nach vielen Versuchen ein fast fünfpfündiges Stück heraus. Er steckte es unter seine Steppjacke, verbiß sich die Schauer, die das gefrorene Fleisch durch seinen Körper jagte, und schlich zur Baracke zurück. Dort stopfte er das Fleisch und zwei Büchsen unter den Strohsack von Karl Eberhard Möller, der in Stalingrad auf einem Bau arbeitete. Hans Sauerbrunn erschien plötzlich mit vier Büchsen Fett und fünf Taschen voll Hirse. Karl Georg stand Schmiere und kundschaftete neue Möglichkeiten aus. Eine Kiste mit Eiern fiel ihm auf — er trat einem Soldaten, der sie in die Küche tragen wollte, in den Hintern und rief:»Dafür hat man mich eingeteilt, du sollst das Mehl schleppen!«Dann wuchtete er die Eierkiste auf seine Schulter und trabte an Pjatjal vorbei, der ihm nachdenklich zusah, in den Keller. Dort lockerte er am unteren Teil der Kiste ein Brett und fing die einzeln herausrollenden Eier auf, bis er alle Taschen vollgestopft hatte. Pfeifend ging er dann wieder an Michail Pjatjal vorbei über den Platz und betätigte sich mit seinen vollen Taschen noch bei der Hirseabladung, ehe er unauffällig in die Baracke entwischte und die Eier unter seinem Bett versteckte.

Hans Sauerbrunn blieb von diesem Augenblick an in der Baracke und bewachte die hereingeholten Schätze. Er zählte und legte eine peinlich genaue Liste an: Neun Dosen Fett, fünf Pfund Gefrierfleisch,

Rindslende, etwa fünf Pfund Hirse, 27 Eier, eine Literflasche Wodka — Karl Georg hatte sie an sich genommen, bevor er die Eierkiste sah. Peter Fischer brachte noch einen länglichen Beutel, in dem sich getrocknete Kartoffelschnitzel befanden.

«Jetzt wird gefressen zu Weihnachten«, sagte er grinsend.»Und wenn ich platze… ich fresse so lange, bis ich mit 'm Finger oben dran fühlen kann.«

Michail Pjatjal kam aus dem Keller. Sein Kopf war rot wie eine Tomate. Er hatte das angeschnittene Lendenstück bemerkt und zitterte vor Wut.

«Wer hat getraggen Fleisch?!«brüllte er über den Platz.

Keiner der Plennis antwortete.

«Wer?!«

Die Gefangenen arbeiteten ruhig weiter. Sie schleppten jetzt die Munition in die Wachbaracken. Dabei tauschten sie gestohlenen Tabak gegen Rubelstücke oder Fett ein. Michail Pjatjal tobte. Er sah Bascha an, die die Listen der ausgeladenen Lebensmittel prüfte.»Sie haben geklaut wie die Raben!«sagte er wild.»Ich lasse das ganze Lager untersuchen! Mein schönes Fleisch!«Und zu den Plennis schrie er grell:»Alles weggg! Ich traggen allein! Weggg!«

Die Kasalinsskaja verhandelte noch immer mit dem jungen Leutnant. Ihre schwarzen Augen brannten.

«Es geht nicht, Genossin Kapitän«, sagte der Leutnant bedauernd.»Ich fahre nach Stalingrad zurück. Ich habe meine Befehle. Und nach Nishnij Balykleij fährt überhaupt keiner von unserer Transportbrigade. Das Lager wird gesondert beliefert, von einer Spezialabteilung der Division. Du müßtest dich an Väterchen General wenden. vielleicht, daß er.«

Er zuckte mit den Achseln. Seine breiten Schulterstücke glänzten in der kalten Wintersonne. Er war ein hübscher Kerl, jung, eben erst von der Kriegsschule in Moskau gekommen, wo Offiziere der Gruppe >Nationalkomitee Freies Deutschland< in Taktik und Kriegsgeschichte ausbildeten. Er war stolz, ein Rotarmist zu sein, und musterte erstaunt und innerlich abweisend die schöne Ärztin, die rangmäßig über ihm stand, aber so viel Interesse für deutsche Gefangene hatte, für diese Deutschen, die den Kommunismus ausrotten wollten, das Idol der russischen Jugend.

«Welche Transportbrigade bringt denn die Sachen nach Lager 53/4?«fragte die Kasalinsskaja.»Sie müssen doch auch von Stalingrad aus verpflegt werden.«

«Soviel ich weiß, unterstehen sie dem Kommando über die Sakljut-schonnyis. Das Straflager 53/4 und die Lager der zivilen Strafgefangenen sind verpflegungstechnisch miteinander verbunden. Sie liegen auch nebeneinander an der Straße nach Saratow. «Er hob beide Hände und wandte sich ab.»Ich kann dir nicht helfen, Genossin Kapitän.«

Die Kasalinsskaja drehte sich um und lief über den Platz zurück zum Lazarett. In ihrem Zimmer setzte sie sich hin und überdachte die Lage. Sie sah die Wolga vor sich, das breite Band, das durch die Ebene zog, und an deren Ufer die kleine Stadt Nishnij Balykleij lag, an die Erde hingeduckte Hütten, in denen Schiffer und Fischer wohnten, arme Bauern und einige Händler, die Felle aus den Wäldern aufkauften oder kleine Schleppkähne den Fluß hinauf- und hinabschickten. Eine Stadt ohne Gesicht, eine Siedlung, die im Schnee aussah wie weit verteilte Maulwurfshügel — und nahe bei ihr ein kleines Lager: acht Wachttürme, zehn Baracken, ein hoher doppelter Drahtzaun, elektrisch geladen. Ein Leutnant und 59 Mann. Kalmücken, Tataren, kleine, braune Freiwillige aus Aserbeidschan, Kirgisen und Schlitzäugige vom Baikalsee bei Irkutsk. Der Wind heulte um die Baracken. der Schnee trieb über sie hinweg, das Eis der Wolga krachte. In den Wäldern heulten die hungrigen Wölfe. in der Nacht kamen sie bis an das Lager und umschlichen den Drahtzaun. Die Wölfe, die man von den Türmen aus erschoß, wurden von den anderen zerrissen. das warme Fleisch verschlungen, das Blut aus dem Schnee geleckt. Am Morgen lagen die abgenagten Felle um das Lager.

Die Kasalinsskaja schauderte. Sie sah Sellnow auf dem Eis der Wolga stehen und Löcher in die dicke Decke hacken. Ein Kalmücke stand hinter ihm und beobachtete ihn.»Dawai! Dawai!«schrie er und hieb auf ihn ein.

Alexandra Kasalinsskaja drückte beide Hände gegen die Augen, als könne sie die Bilder damit verscheuchen. Ihr Entschluß stand fest, es gab kein Besinnen mehr, nur noch die Tat, über alle Hemmungen hinweg, über alle Ordnung, über alle Doktrin der Partei und der Roten Armee. Sie sprang auf und packte einen Koffer mit den nötigsten Dingen zusammen. Einige Kleider, Unterwäsche, Seife, einen kleinen, aber sorgfältig gefüllten Medizinkasten, ein chirurgisches Reisebesteck, Injektionsspritzen, Ampullenschachteln und zwei Phiolen mit Zyankali.

Dabei überraschte sie Dr. Kresin. Er sah sich um, nickte über die Unordnung, den ausgeräumten Schrank, die herumliegenden Kleider und den halbgepackten Koffer und setzte sich auf einen noch freien Schemel.

Die Kasalinsskaja sah ihn von der Seite an. Die schwarzen Locken hingen ihr ins Gesicht. Sie spürte die Gefahr, die von Dr. Kresin ausging. Mit bebenden Händen packte sie weiter.

«Sagen Sie jetzt bloß nicht, daß ich hierbleiben soll«, sagte sie dabei.

«Keineswegs. Sie müssen wissen, was Sie tun. «Dr. Kresin hob ein Kleid in die Höhe und betrachtete es.»Guter Wollstoff.Sieht man selten im Mütterchen Rußland. Wohl Import?«

«Ja, aus der Türkei.«

«Sehr gut. Janina wird es sich umändern… etwas enger vielleicht. die Länge könnte passen.«

Die Kasalinsskaja blieb stehen und stützte sich auf den Kofferdeckel.»Sind Sie schneekrank, Dr. Kresin?«

«Nicht ganz. Aber einer muß doch die Kleider auftragen, wenn die russische Kapitän-Ärztin Alexandra Kasalinsskaja wegen Zersetzung der sowjetischen Wehrkraft zum Tode verurteilt wird.«

Alexandra ließ die Arme sinken. Eisiger Schrecken durchfuhr sie. Dr. Kresin legte das Kleid wieder zurück und betrachtete einen weißen Büstenhalter aus Atlasseide.»Der dürfte für die Salja zu groß sein. Schade um die Brüste, die er straff hielt! In sie werden sich die Maden zuerst 'reinfressen. Schön fett werden sie werden.«

«Hören Sie auf, Sie Sadist!«schrie die Kasalinsskaja.»Ich fahre zu Sellnow! Auch wenn ich nachher wirklich zum Tode verurteilt werde!«Sie riß ihm den Büstenhalter aus der Hand und warf ihn in den Koffer.»Was geht Sie meine Brust an! Und wenn Millionen Maden in ihr nisten.«

«Es ist nur meine Pflicht, Genossin Kasalinsskaja, Sie darauf hinweisen, daß das, was Sie jetzt vorhaben, Selbstmord ist. Man würde Sie überhaupt gar nicht in das Lager 53/4 hineinlassen. Auch nicht, wenn Sie in Uniform kommen! Der Besuch der Straf- und Schweigelager erfordert einen besonderen, vom Zentralkomitee in Moskau ausgestellten Paß. Selbst ich als Divisionsarzt käme nicht in die Sakljutschonnyis. Sogar die Natschalniks, die die Zwangsarbeiter aussuchen für ihre Betriebe, kommen nicht ins Lager. Sie bekommen Listen und wählen sich daraus die Facharbeiter aus. Eine russische Ärztin«- Dr. Kresin schüttelte den dicken Kopf —»die gilt überhaupt nichts in den Straflagern.«

«Aber ich muß ihn sehen!«schrie die Kasalinsskaja wild und unbeherrscht.

«Die Umgebung der Lager ist ebenfalls gesperrt. Selbst auf dem Eis der Wolga kannst du ihn nicht sehen, mein Täubchen«, sagte Dr. Kresin mild.»Die Posten haben Anweisung, sofort und ohne Anruf zu schießen, wenn sich einer dem Sperrgürtel nähert. Und sie schießen, meine Taigarose. es sind Asiaten, denen ein Leben nichts gilt.«

«Aber ich muß ihn sehen«, sagte sie wie ein ungezogenes Kind.»Er muß weg von dort. Er hat doch nichts getan!«

«Er hat einen Mann halb blind geschlagen. Einen Kommissar der Partei!«

«Kuwakino ist ein Mistvieh!«

«Die erste Vorbedingung, Karriere zu machen. «Dr. Kresin lachte leise.»Meine liebe Alexandraschka — du müßtest doch wissen, wie morsch es wird, je weiter du nach oben gehst. Die wirklichen

Kommunisten sind noch die kleinen Leute, denen man so schöne Dinge erzählt und die so blöd sind, es zu glauben. Die nichts anderes gesehen haben als ihre Kate und ihren Lehmofen, auf dem sie im Winter schlafen und wo das älteste Kind zusieht, wie das jüngste entsteht. Sie wissen nicht, wie es außerhalb ihres Dorfes aussieht. Sie können sich nicht denken, daß es überhaupt woanders nicht so aussieht. Und kommen sie mal in solch ein Drecknest wie Kislowo, dann gehen sie durch die Straßen wie durch ein Märchen. Aber hinter Kislowo hört dann die Welt endgültig auf. Das sind die Träger der sowjetischen Idee! Die Männer im Sonnenblumenfeld, die drallen Weiber am Ziehbrunnen, die dreckigen Kinder im Stall, die Matkas, die im Sommer im Heu liegen und wie die Karnickel hecken. «Dr. Kresin schnaubte durch die Nase und stieß den Kofferdeckel zu.»Das sind die Gefolgsleute des Genossen Kommissar Kuwakino. Er muß ein Mistvieh sein… aber deswegen schlägt man ihm noch lange kein Auge aus!«

Hilflos saß die Kasalinsskaja zwischen ihren verstreuten Kleidern. Sie hatte den Kopf in beide Hände gestützt und stierte vor sich auf den rohen Dielenboden. Um ihre Handgelenke lagen noch immer die Pflaster und schmale Gummimanschetten.

«Man sollte Schluß machen«, sagte sie dumpf.»Schluß mit allem! Warum lebt man eigentlich noch?«

«Weil das Leben schön ist, mein Täubchen. trotz allem! Oder war es nicht schön?«

«Es begann, schön zu werden, als Werner bei mir war.«

Dr. Kresin schüttelte wieder den Kopf.»Mein Gott, gibt es nichts anderes als die Männer?«brummte er.»Sieh doch hinaus. Der Wald. wie herrlich steht er im Schnee. Geh zur Wolga, wenn es Frühling ist. Du könntest singen mit dem Rauschen ihrer Wasser. Wandere doch im Sommer hinaus in die Steppe: du riechst den Atem von Mütterchen Rußland. Er ist herb, voll Natur, er ist unsterblich. Die Blüten leuchten in der Sonne, der Himmel ist weit wie ein endloses blaues Leinentuch, auf das eine unsichtbare Hand vor deinen Augen weiße Rosen stickt.«

Die Kasalinsskaja sah auf. In ihren Augen stand großes Staunen.»Dr. Kresin.«, sagte sie verblüfft.

Der Arzt senkte den Kopf.»Verdammt«, schimpfte er.»Was solch ein Weib alles kann! Jetzt werde ich wie Puschkin und besinge das Land. «Er erhob sich und trat gegen den Koffer. Er fiel vom Stuhl, öffnete sich, und der Inhalt flog über die Dielen.»Schluß!«schrie er in seiner üblichen Art.»Du bleibst hier, du streunende Katze! In einer Stunde untersuchst du die Blocks 10 bis 15! Der Bauunternehmer Serge Kislew braucht 25 Mann für den Bau eines Verwaltungsgebäudes bei Krassnaja Sloboda! Sie müssen gesund und kräftig sein! Morgen ist die erste Schicht! Verstanden?!«

«Ja«, sagte die Kasalinsskaja widerstrebend.»Ja… ich werde untersuchen.«

Aber als Dr. Kresin fort war, packte sie weiter.

Die Weihnachtsfeier im Lager 5110/47 war das ergreifendste Fest der Gefangenschaft. Schluchzend trug der kleine Pastor das große, geschnitzte Kruzifix zum Altar, den man auf der Bretterbühne der Sto-lowaja errichtet hatte. Eine ganze Weile stand er stumm vor dem leidenden Antlitz Christi, ehe er sich umwandte und den Blick über den gefüllten Saal schweifen ließ. Ein Chor, begleitet von den Streichern des Lagerorchesters, sang das Lied von Christian Fürchtegott Geliert >Dies ist der Tag, den Gott gemacht, sein werd' in aller Welt gedacht; ihn preise, was durch Jesum Christ im Himmel und auf Erden ist.<

Im Hintergrund an der Tür standen einige russische Offiziere und Rotarmisten. Leutnant Markow lehnte an einem der verklebten Fenster, Major Worotilow saß in der ersten Reihe vor der Bühne neben Dr. Kresin, Kuwakino, der Kasalinsskaja, der Tschurilowa und Dr. Böhler. Dr. Schultheiß, das Pflegepersonal und Janina Salja saßen in der zweiten Reihe.

Der kleine Pastor hob die schmale, ausgedörrte Hand. Seine dünne Stimme zitterte durch den Raum.

«Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste. Amen.«

Als sich alle erhoben, um die ersten Bibelworte stehend anzuhören, blieb nur Dr. Kresin sitzen. Sogar Kommissar Kuwakino erhob sich. Als er Kresin sitzen sah, wurde er rot und nahm wieder Platz. Kre-sin grinste ihn an. Wütend blickte Kuwakino weg auf das Kruzifix. Er mußte plötzlich an seine Mutter denken, die bei der Revolution erschossen wurde. Sie starb mit dem Kreuz auf der Brust.

Kuwakino senkte den Kopf. Mamuschka, dachte er. In seinem Auge stieg es heiß auf. die leere Höhle des anderen brannte. Mamusch-ka. was ist aus uns allen geworden.

Die Gefangenen sangen — laut und inbrünstig, mit gefalteten Händen. Neben dem Kruzifix flackerten vier hohe Kerzen. Michail Pjatjal hatte ranziges Fett für sie aus der Küche gegeben, und ein gefangener Chemiker hatte es mit irgendwelchen Mitteln gehärtet und Kerzen daraus gezogen. Die Tataren im Hintergrund nahmen ihre Mützen ab, die Offiziere starrten auf den Pastor. Leutnant Markow kaute Sonnenblumenkerne und spuckte sie in die Reihen der betenden Gefangenen. Aber als der Pastor für die Gesundheit aller betete, senkte auch er ergriffen den Kopf und legte die Finger zaghaft aneinander. Die Predigt war kurz. Erschütterung verhinderte den Pastor, lange zu sprechen.

Worotilow sah zu Dr. Kresin hin. Der hatte die Hand der Kasa-linsskaja genommen und streichelte sie mit linkischer Zärtlichkeit. Über die Wangen der Ärztin rannen Tränen.

Dann war der Gottesdienst vorüber. noch einmal sangen die Verdammten von Stalingrad. Das >Gelobet seist du, Jesu Christ, daß du Mensch geboren bist.< klang wie ein Aufschrei durch den Saal. Die aus Papier gefertigten Sterne und Kugeln an den Tannen, die rund um die Bühne standen, schwankten. Die Gedanken flogen hinaus aus der Enge der Stolowaja. über das verschneite Land. über die Wolga… über Tausende von Kilometern.

Ein Baum in Köln. ein Baum in Gießen. in Koblenz. in einem kleinen Dorf bei Plön… einer Kleinstadt in Franken. Kerzen flimmerten. Kinderstimmen sangen. Das Wunder der allmächtigen Liebe war gegenwärtig. Es roch nach Gebäck, nach Äpfeln, Nüssen, Tannen.

Die Köpfe sanken auf die Brust, auf die schmutzigen Steppjacken, auf die geflickten Hemden, die nach Schweiß und Kohlsuppe stanken.

Die Stille Nacht.

Die Kerzen knatterten in das Schluchzen der Männer. Der Pastor segnete die gesenkten Häupter.

«.und gebe euch Frieden. Amen!«sagte die zittrige Stimme.

Dann war Schweigen. Langes, langes Schweigen.

Die Verdammten waren in der Heimat.

Die Herzen sprachen mit den Frauen und Kindern, mit den Müttern, Vätern, Brüdern, Bräuten. Sie weinten, und sie versprachen Hoffnung. Wir werden kommen, wir werden alle wiederkommen. glaubt es… glaubt es doch. Eure Liebe ist unsere Stärke in der Einsamkeit.

In der Stille bauten ein paar Plennis den Altar ab. Ein Vorhang aus billigem Stoff senkte sich vor die Bühne.

Langsam, einzeln, setzten sich die Gefangenen. Ihre Augen waren noch verschleiert, noch jenseits der Wolga. Nur langsam kehrten die Seelen zurück.

Das Lagerorchester stimmte die Instrumente. Der Dirigent war nervös und schimpfte leise. Hinter der Bühne rannte der Regisseur herum und ermahnte noch einmal die Darsteller, seine Anweisungen für besonders kritische Stellen nicht zu vergessen. Der Komponist saß in der Ecke und hatte nichts zu sagen… wie immer beim Theater. Von den Textautoren sprach überhaupt keiner.

Worotilow wandte sich an Dr. Böhler.»Erstaunlich, was die Männer in der kurzen Zeit geleistet haben! Nach der Arbeit, mit der halben Portion Essen! Eine Operette, ein Orchester, Kulissen, eine Bühne.«

«Es ist der sichtbare Wille zum Leben!«

«Vergessen Sie nicht, daß er von Moskau mit der Verfügung vom

Kulturnaja shisnj gefördert wird. «Worotilow lächelte schadenfroh.»Sie werden sich nicht beschweren können, wenn Sie einmal zurück nach Deutschland kommen. Ich weiß, daß es in den deutschen Gefangenenlagern unseren russischen Brüdern schlechter ging! Dort zeigte sich der Deutsche als Barbar!«

«Wollen wir darüber streiten?«fragte Dr. Böhler.»Jetzt? Mir ist viel zu heimatlich zumute, um mit Ihnen über diese Dinge zu diskutieren. Wenn Sie wüßten, wie es jetzt in uns aussieht.«

Worotilow antwortete nichts. Er wandte sich Kommissar Kuwa-kino zu, der still und merkwürdig traurig neben ihm saß. Der Gedanke an seine Mutter erschütterte ihn in diesem Augenblick tief. Sein Weg war durch die Partei vorgezeichnet, es gab kein Zurück mehr, nur noch ein Vorwärts, das ihn hintrieb in ein Leben, das er nicht zu bestimmen wagte. Als ihn Worotilow leise anstieß, zuckte er zusammen und kroch in sich, als habe ihn jemand mit dem Kolben in den Nacken gestoßen.

«Was haben Sie, Genosse Major?«fragte er leise.

«Ich wollte Sie nur etwas fragen: Haben Sie schon etwas Neues von Dr. von Sellnow gehört?«

Kuwakino wurde blaß.»Lassen Sie mich in Ruhe!«zischte er wütend. Seine Augenwunde brannte.

Janina Salja saß neben Dr. Schultheiß. Sie sah den mächtigen Rük-ken des Majors vor sich, aber sie empfand nichts bei diesem Anblick, keine Erinnerung, kein Schaudern bei dem Gedanken an seine früheren brutalen Umarmungen. Sie saß Hand in Hand mit Jens und schaute auf die Bühne, deren Vorhang sich geheimnisvoll bauschte. Dann rauschte die Ouvertüre auf — eine lustige, flotte Musik im Tanztempo, eine Erinnerung an Peter Kreuder und Franz Grothe. Die Trompete Fischers schmetterte. einmal daneben, aber das nahm man nicht so genau. Karl Georg bediente das Schlagzeug mit Liebe und Hingabe. Leutnant Markow lächelte vor sich hin. Die Trompete! Sein Erbfeind! Aber es klang gut, was die deutschen Schweine da spielten, flott, lustig… es ging in die Beine und ins Ohr. Es war eine moderne Melodie, eine Bourgeoisie-Angelegenheit, wie man in Moskau auf der Politschule sagen würde… aber es war schön. Verflucht noch mal! Es gab noch etwas anderes als Dienst und Doktrin! Die Kalmücken und Mongolen im Hintergrund grinsten zufrieden. Bascha stand mit Michail Pjatjal hinter der Theke mit einer improvisierten Kantine, wiegte die starken Hüften und ließ die dicken Brüste wippen.

Nach der Ouvertüre zogen zwei Gefangene den Vorhang auf. Eine ländliche Gegend war auf der Bühne aufgebaut. Bäume, eine Bank, eine weite, deutsche Landschaft, gemalt auf einen Rundhorizont. Auf der Bank saß der gefangene Kammersänger und schien auf jemanden zu warten. Er zeichnete mit einem Stock Figuren in den Sand und sang dabei.

Die Operette dauerte ohne Pause anderthalb Stunden. sieben verschiedene Bilder, zündende Melodien, flotte Texte… die Gefangenen bogen sich vor Lachen über den Buffo und klatschten auf offener Szene Beifall. Der Komponist hinter der Bühne strahlte, die Textdichter stritten sich darum, welcher Liedertext am besten angekommen war… der Regisseur raufte sich schon wieder die Haare, weil zwei Darsteller steckengeblieben und man vergessen hatte, einen Souffleur einzusetzen… der Darsteller der weiblichen Hauptrolle vergaß einmal seine hohe Stimme und sprach im Baß weiter, was den größten Erfolg bei den Zuhörern hatte… als der Vorhang fiel, belohnte langanhaltender Beifall die Künstler. Sie traten an die Rampe wie in den Städten, aus denen sie kamen, und sie verbeugten sich und waren glücklich wie selten zuvor.

Major Worotilow erhob sich als erster. Er grüßte zur Bühne hinauf und wandte sich dann an Dr. Böhler.»Ein schöner Abend, Herr Doktor. Ich habe nicht bereut, oft die Augen zugedrückt zu haben. «Er sah zu Kuwakino hin und meinte laut:»Ich hoffe, daß auch die Zentrale in Moskau Kenntnis von diesem schönen Fest erhält!«

Kommissar Wadislav Kuwakino sah mit seinem ihm verbliebenen Auge schräg zu Worotilow hinauf. Er schwieg. Doktor Kresin lachte meckernd und sah zu Bascha hin, die die ersten Wodkagläser an die Wachoffiziere ausgab.»Vom Himmel hoch, da komm' ich her!«sagte er lustig.»Kommen sie, Genosse Kommissar! Sie erinnern mich an den einäugigen Zyklopen… nur war er hundertmal größer als Sie!«

Wütend folgte ihm Kuwakino. Er hatte sich vorgenommen, Dr. von Sellnow zu vernichten, wie noch nie ein Mensch vernichtet worden war.

Das Weihnachtsfest dauerte bis in die Frühe. Beim Morgengrauen schwankte Leutnant Markow über den Appellplatz und übte auf Peter Fischers Trompete. Worotilow saß mit Dr. Kresin und Kuwakino in einer Ecke der Stolowaja und spielte Karten. Dr. Böhler tanzte mit der Tschurilowa und Ingeborg Waiden. Dr. Schultheiß und Ja-nina vermißte niemand. Selbst Worotilow nicht. Nur Karl Georg, der einmal auf die Latrine mußte, sah, wie hinter dem Fenster Janinas auf der Lungenstation sich zwei Schatten bewegten und dann das Licht erlosch.

Auf dem Platz stieß Markow in die Trompete. Sie wimmerte kläglich. Die Posten auf den Türmen kreischten vor Vergnügen. Drei junge Leutnants sangen einen Kosakenchoral vor der Tür der Sto-lowaja.

In der Stolowaja spielten sie einen Krakowiak. Sieben Tataren wirbelten über den Fußboden, und Worotilow klatschte den Takt. Dr. Kresin sang mit wodkaheiserer Stimme. Nur Kuwakino starrte mit seinem einen Auge böse auf das bewegte Bild. Markow kam wieder herein und blies in die Musik hinein. Man schrie vor Freude. Pjatjal kniff Bascha begeistert in die Brust.

Als der Morgen kam, schlief das Lager. Nur die Posten standen auf den Türmen, pendelten um den Zaun, durch die Lagergassen, wachten in Kälte und Schnee vor dem großen Einfahrtstor. Der erste Weihnachtstag.

Es schneite. Dicke Flocken. Der Himmel war grau und schwer, er hing über den Wäldern wie ein klumpiges Daunenbett.

Ein Wachleutnant suchte Männer für ein Schneeräum-Kommando. Die Straße mußte freigeschaufelt werden. Er jagte die Schlaftrunkenen mit Fußtritten aus den Betten und tobte.

Erster Weihnachtstag.

Kommissar Wadislav Kuwakino schrieb in seinem Zimmer. Nach Moskau. An die Zentrale des Politbüros.

Ich bitte um Entlassung.

Erster Weihnachtstag. Janina küßte Jens auf die Augen und schlief dann wieder ein, glücklich wie ein Kind.

Die Kasalinsskaja träumte und schlug im Traum um sich. Laß mich, schrie sie, laß mich.

Erster Weihnachtstag. Dr. Böhler stand im Operationsraum neben Schwester Martha Kreutz und Emil Pelz und operierte einen Blinddarm. Er war in der Nacht perforiert. Höchste Eile war geboten.

Erster Weihnachtstag.

Der Schnee rieselte ununterbrochen. es gab keinen Himmel mehr, keine Bäume, kein Lager, keine Baracken, keine Straße, keine Wachttürme, keine Rotarmisten, keine Plennis. Es gab nur noch Schnee. Die Welt löste sich auf in weiße Flocken.

«Tupfer«, sagte Dr. Böhler.»Schere. Klemmen. Binden Sie ab. Tupfer. Halten Sie die Schale bereit, Pelz. Tupfer. gut abbinden. Wo ist die Seide?. Tupfer.«

«Puls normal«, rief Schwester Martha Kreutz vom Kopfende her.

Der erste Weihnachtstag.

Schnee. Schnee. Schnee.

Friede auf Erden.

Zwischen Weihnachten und Neujahr kam eine neue Nachricht vom Lager 53/4 Nishnij Balykleij. Dr. von Sellnow lag im kleinen Revier des Lagers mit hohem Fieber. Lungenentzündung.

Dr. Kresin und Worotilow taten das einzige, was zu tun war, um neue Komplikationen zu vermeiden: Sie unterschlugen der Kasa-linsskaja gegenüber den Bericht.

«Jetzt ist es sowieso zu spät«, sagte Dr. Kresin ernst.»Ich glaube nicht, daß sie in 53/4 Penicillin an die Sträflinge vergeuden! Ich habe ja gewußt, daß wir Sellnow nicht wiedersehen.«

Die Meinung Dr. Kresins von seinen Kollegen in Nishnij Baly-kleij war nicht falsch, aber im Lager 53/4 lebten noch zwei deutsche Ärzte neben Dr. von Sellnow, zwei Ärzte der SS, denen man in Orscha und Minsk Versuche mit Bazillen und Cholerakulturen an Menschen zur Last legte und deren Leben in diesem Straflager nur eine Verlängerung ihrer Qualen war, ehe man sie hinrichtete. Ihr Tod war eine fest beschlossene Sache, sie wußten es und trugen es mit Standhaftigkeit. Sie arbeiteten wie Sellnow auf dem Eis und hieben Löcher in die Wolga. Am Abend aber schlichen sie von Baracke zu Baracke und halfen den Kranken, so gut sie konnten.

Die notwendigsten Medikamente — unter denen sich unerklärlicherweise auch eine Dose Penicillin befand! — bekamen sie von einem russischen Sanitätsfeldwebel, der 1943 in deutsche Gefangenschaft geriet, 1945 befreit wurde und in der Roten Armee blieb, um hier das kleine Revier des Straflagers zu übernehmen. Seine Sanitätskenntnisse beschränkten sich auf Verbinden von Wunden und Typhusspritzen in die Brustmuskeln. Es war den beiden SS-Ärzten bei aller Aufopferung fast unmöglich, das Lager auf einem gewissen Gesundheitszustand zu halten. Dr. von Sellnow aber konnte mit Hilfe des Penicillins gerettet werden.

In dieses Lager kam Mitte Januar bei starkem Schneegestöber ein Wagen aus Stalingrad. Drei vermummte Männer stiegen aus und rannten durch den Sturm zu der Wachbaracke. Dort schälten sie sich aus den dicken Mänteln und legten die Pelzmützen ab. Es waren zwei russische Offiziere und ein Deutscher. Ein Deutscher in der Uniform eines Majors. Er trug die volle Uniform. Sogar die Auszeichnungen hatte man ihm gelassen. Seine blanken Stiefel glänzten. Es war ein merkwürdiger Anblick, inmitten des verkommenen Lagers, zwischen stinkenden Uniformen und Läusen diese Eleganz zu sehen. Um sie zu verstärken, setzte der deutsche Major noch ein Einglas in sein gutgenährtes Gesicht und sah sich um.

Der Leutnant, der das Lager kommandierte, blickte erstaunt zu den beiden russischen Offizieren, die das Abzeichen des MWD an der Mütze trugen.

Geheimdienst!

Der Leutnant wurde still und wagte nichts zu sagen. Wenn die Wölfe ins Lager kommen, ist der Mensch wehrlos.

Der deutsche Major nickte.»Lassen Sie uns sofort beginnen«, sagte er auf russisch.»Wenn wir noch in die anderen Lager wollen, müssen wir uns beeilen.«

«Holen Sie bitte die beiden SS-Ärzte, Genosse Leutnant«, sagte der eine Russe, ein starker, breiter Hauptmann mit stoppelbärtigem Gesicht und kahlgeschorenem Schädel. Der Leutnant verließ eilig die Stube.

Der deutsche Major nahm ein Aktenstück aus seiner Mappe und legte es auf den Tisch. Gespannt schaute er auf die Tür, hinter der jetzt Schritte zu hören waren. Mit Schnee bedeckt, in dicken, oft geflickten Mänteln und mit Lumpen umwickelten Schuhen traten die beiden SS-Ärzte ein. Sie stutzten einen Augenblick, als sie den geschniegelten Major sahen, und preßten die Lippen aufeinander. Der Major verbeugte sich kurz und korrekt.

«Passadowski. Wilhelm Passadowski.«

Die beiden SS-Ärzte sahen ihn verschlossen an. Sie musterten seine tadellose Uniform, sein gepflegtes Äußeres, seinen guten Ernährungszustand, seine Ehrenzeichen, unter ihnen das Erinnerungskreuz der ersten Weltkriegsteilnehmer.

«Was willst du von uns?«fragte einer der Ärzte kurz.

Major Passadowski zuckte zusammen. Das Du machte ihn etwas verwirrt.»Ich wollte die Herren vertraulich sprechen«, antwortete er.

«Die Herren!«Der Arzt lachte gequält.»Bist wohl kein Plenni, was? Kommst aus Moskau, von der Seydlitz-Gruppe, was? Kleine Werbung für die antifaschistische Bewegung, wie ihr sie nennt?«

Major Passadowski sah sich nach den beiden russischen Offizieren um. Man wußte nicht, ob sie Deutsch verstanden. Gleichgültig rauchten sie ihre Zigaretten und musterten die beiden SS-Ärz-te.

«Es stimmt natürlich nicht, daß Sie, meine Herren, in Minsk Men-schenversuche machten«, nahm der Major die Unterhaltung wieder auf.»Dies ist eine Verdächtigung.«

«Nein!«Der andere Arzt steckte die Hände in die Tasche.»Wir haben Cholerabazillen verpflanzt, um einen schnellen Wirkstoff gegen die Cholera zu finden! Opfer muß die Wissenschaft bringen. wir hätten Tausende nach Abschluß der Forschungen retten können.«

«Das klingt ja ziemlich kaltschnäuzig, meine Herren!«Passadowski war entsetzt.»Sie gestehen eine Schuld ein, die Sie den Kopf kostet.«

«Das ist uns klar. Die Versuche lassen sich nicht leugnen. Wir stehen für sie gerade. Anders die Offiziere in der Seydlitz-Gruppe, die zu den Russen überliefen und dort eine Hetzkampagne gegen die deutschen Brüder entfesselten. Sie wurden Kommunisten, nur um ihr Leben zu retten!«

«Aber meine Herren!«Passadowski hob beide Hände.»Sie werden unsachlich. Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen. Ich kann Ihnen Stellungen in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands anbieten! Wir suchen gute Ärzte für unsere östlichen Krankenhäuser. Ich habe Ihnen vom Zentralkomitee Freies Deutschland das Angebot zu unterbreiten, eine dreimonatige Schulung des Politbüros in Moskau mitzumachen, um dann nach einer Verpflichtungserklärung in die Heimat entlassen zu werden. Es stehen Ihnen auch Offiziersposten in der Polizeitruppe der Ostzone, der Volkspolizei, zu. Sie können wählen.«

Die beiden SS-Ärzte sahen sich kurz an. Dann wandten sie sich um und wollten wortlos den Raum verlassen. Major Passadowski erbleichte. Der Leutnant und Lagerkommandant trat den beiden in den Weg und hieb ihnen ins Gesicht. Stumm blieben sie stehen und wandten sich um. Passadowski hob bedauernd beide Hände.

«Das war nicht meine Absicht, meine Herren! Der Sieger ist rauh. Aber auch Sie werden sich inmitten der anderen Kameraden, die zu einer neuen Weltanschauung gefunden haben, wohl fühlen! Die Ideologie des Kommunismus hat etwas Edles an sich, etwas Menschenwürdiges. sie reißt die Klassenschranken ein und läßt uns alle Brüder werden. Wir verfügen in Moskau über schöne, große Schulungsräume, über ein Kasino, Sportplätze, wir können die russischen Theater besuchen, die Kinos, Kunstausstellungen. Wir diskutieren oft mit Vertretern der ostzonalen Regierung, die uns besuchen kommen. Wir hatten selbst Gelegenheit, hohe Führer Rußlands — Malenkow, Berija, Budjennyi, Woroschilow — zu sprechen und mit ihnen interessante Unterhaltungen zu führen. Ilja Ehrenburg ist oft unser Gast. General von Seydlitz hat dafür gesorgt, daß wir deutschen Offiziere wieder geachtet werden von unseren sowjetischen Kameraden. «Major Passadowskis Gesicht glühte vor innerer Begeisterung.»Was der Nationalsozialismus zerstörte, was eine Clique NS-Generäle in den Dreck zog — unsere Offiziersehre —, hat General von Seydlitz wiedergewonnen. Wir haben nach dem Fall von Stalingrad eingesehen, daß eine Weiterführung des Krieges Selbstmord des deutschen Volkes ist, wir haben erkannt, daß wir einen Irren an der obersten Führung hatten, daß ein Adolf Hitler der Totengräber einer tausendjährigen europäischen Kultur wurde. Da haben wir uns abgesetzt und uns um die Vernunft geschart. Wir opponierten gegen diesen Krieg mit allen Mitteln, wir riefen den deutschen Soldaten zur Desertion auf, wir hatten von Moskau aus nur das einzige Kampfmittel in der Hand: die moralische Zersetzung der Truppe! Daß es uns nicht voll gelungen ist, war eine Folge der drakonischen Gegenmaßnahmen Hitlers und der Denkfaulheit des deutschen Soldaten. Wir scheiterten an dem Trägheitsgesetz des Militarismus. Um so mehr liegt uns daran, unseren gefangenen Kameraden den Weg aus der Verdammung zu zeigen und sie zurückzuführen in eine bessere Gemeinschaft.«

Major Passadowski atmete tief. Er hatte sich in Erregung geredet. Die beiden SS-Ärzte nickten.»Sind Sie jetzt fertig?«

«Ja, meine Herren.«

Einer der Ärzte trat einen Schritt vor.»Wir gehören nicht zu den Unbelehrbaren«, sagte er ruhig.»Wir waren Ärzte der SS, warum es leugnen? Wir haben Versuche gemacht… wir geben es zu. Es war menschenunwürdig, abscheulich, eine Vergewaltigung des Individuums. aber so vieles war in diesen Zeiten unwürdig und abscheulich! Das ist keine Entschuldigung für unser Tun, und wir sind bereit, dafür zu sühnen, obgleich wir es rechtlich nicht einsehen, warum gerade der Russe, der grausamste von allen, unser Richter sein soll. Aber das tut nichts zur Sache. Es geht hier darum, daß Sie uns locken, in das kommunistische Lager zu wechseln, ein Charakterlump zu werden, um die eigene Haut zu retten. Wir haben viel gesehen in diesem Rußland… wir waren in Asbest bei Swerdlowsk, wir waren in Workuta, in Wladimir, in dem schrecklichen Lager 5110/40 zwischen Ob und Irtysch, und wir sind jetzt in 53/4! Was wir gesehen haben, genügt uns, um lieber das Leben zu opfern, als uns zu diesem System der Vergewaltigung, der Entrechtung, der Kollektivierung der Seele und der Mißachtung jeglicher Menschenwürde zu bekennen! Sie leben in Moskau — Sie haben es selbst gesagt — dick und fett wie eine Made! Sie haben ein Kasino, Sie sitzen im Kino und sehen sich den schönen Film von Zar Peter dem Großen an. Aber in Workuta am Eismeer sterben täglich über hundert Gefangene an Entkräftung und unter den Schlägen der Rotarmisten… in Asbest fallen sie in den Gruben um wie Fliegen. Darf ich Sie daran erinnern, daß die neue Eismeerstraße mehr als ein-undeinehalbe Million Menschen — deutsche Gefangene und russische zivile Sträflinge — gekostet hat? Und nun kommen Sie hierher und werben für dieses System? Sie reden von einer neuen Offiziersehre, während Hunderttausende unserer Brüder in Schweigelagern vegetieren und am Verhungern sind? Man sollte Ihnen einfach in die dumme, dreiste Fresse schlagen, Herr Major!«

Wilhelm Passadowski war rot geworden. Er griff nach seinem schönen Pelzmantel und zog ihn an.»Sie sind nicht zu belehren«, knurrte er.»Ich bedaure es, meine Herren! Ich wollte Sie hier herausholen.«

«Und die anderen? Was soll mit denen geschehen? Die armen Kerle, die jetzt im Schneesturm auf dem Eis der Wolga stehen und Löcher in die meterdicke Decke hacken? Warum nicht auch die?«

Passadowski zuckte mit den Schultern.»Allen zu helfen ist unmöglich. Wir können nur aus den Hunderttausenden eine kleine Auswahl treffen, die sich meistens auf Offiziere beschränkt.«

Die beiden Ärzte wechselten wieder einen kurzen Blick. Dann trat der eine vor und spuckte dem Herrn Major ins Gesicht.

«Du verdammtes Schwein!«stieß er hervor. Dann drehte er sich um und ging. Der andere folgte. Ruhig, teilnahmslos blieben die beiden MWD-Offiziere im Hintergrund und rauchten. Auch der Lagerkommandant hielt die Ärzte nicht mehr zurück. Reglos stand Wilhelm Passadowski mitten in dem kleinen Zimmer. Er war bleich wie ein Toter. Die Augen hatte er geschlossen. Sein Monokel baumelte an einer Schnur vor der Brust.

So stand er einen Augenblick, ohne sich zu rühren. Dann wandte er sich an die beiden Offiziere und den Lagerleutnant. Seine Stimme klang jetzt schon etwas weniger forsch.

«Sie haben doch noch einen Arzt im Lager?«fragte er in russischer Sprache.

«Ja. Er ist krank. Liegt im Revier. Nummer S 34924/4.«

«Kann ich ihn sprechen?«

Der Leutnant zuckte mit den Schultern und rief nach einem Soldaten. Er befahl ihm, den Deutschen zu dem Krankenrevier zu führen, und sprach dann mit den beiden MWD-Leuten weiter, als sei Passadowski gar nicht im Raum.

Gedrückt und stumm folgte der Major dem Russen, stemmte sich gegen den Schneesturm und erreichte keuchend die kleine Krankenbaracke. Ein Geruch von kaltem Kohl und der offenen Latrine schlug ihm ekelerregend entgegen. Es würgte ihn im Hals, als er die Krankenstube betrat. Der beißende Gestank verdunsteten Urins lag im Zimmer. Auf einem der Betten im Hintergrund lag Dr. von Sellnow und starrte an die Decke. Sein Gesicht war in der kurzen Zeit eingefallen, grau und knöchern geworden. Die Augen hatten ihren Glanz verloren, sein Körper war zum Skelett abgemagert. An den Fingern hatten sich Frostbeulen gebildet, die niemand beachtete. Sein Kopf glühte im Fieber… wenn er hustete, brannte die Brust wie Feuer. durch die Lunge zog ein schmerzhaftes Stechen. Er machte sich über seinen Zustand keinerlei Illusionen… mit dem Interesse des Arztes verfolgte er an sich selbst seinen schnellen Verfall und rechnete sich aus, wann er nur noch ein knöchernes Wrack war, das rapide dem Tode zueilte.

Er blickte zur Seite, als sich die Tür öffnete und Major Wilhelm Passadowski eintrat. Der russische Posten zeigte auf Sellnows Bett und verließ die Baracke. Passadowski trat näher.

«Kamerad von Sellnow?«fragte er höflich.

«Ja. «Sellnow sah ihn abwartend an. Kamerad! Kam dieser Mann aus einer anderen Welt? Er bemerkte das Monokel, das aus dem Pelzmantel heraushing und verschneit war. Mühsam griff Sellnow unter die Decke und holte ein schmutziges, zerrissenes Taschentuch hervor. Er hielt es Passadowski hin.

«Bitte«, sagte er mit heiserer Stimme.»Leider habe ich kein besseres.«

Der Major starrte auf das dreckige Tuch.»Was soll ich damit?«fragte er verblüfft.

«Ihr Einglas ist beschlagen. Sie müssen es putzen.«

Passadowski wurde hochrot und schob das Monokel in seinen Pelz. Er schluckte, ehe er zu sprechen begann. in seinem Gesicht spiegelte sich die Niederlage bereits wider. er erwartete auch hier nichts mehr als eine Ablehnung.

«Man hat mir erzählt, daß Sie einem sowjetischen Kommissar ein Auge ausgeschlagen haben.«

Sellnow richtete sich auf. Er war ehrlich erschrocken.»Das habe ich nicht gewußt!«sagte er leise.»Ich habe ihn angegriffen, ja… ich habe ihn zu Boden geschlagen. Dann sah ich plötzlich nichts mehr. was ich in vier Jahren erduldet habe, das brach plötzlich aus mir heraus, was ich tat, wußte ich nicht mehr. Aber daß Ku-wakino ein Auge dabei verlor. das bedauere ich wirklich.«

«Man hat vor, Sie vor ein Kriegsgericht zu stellen.«

«Damit habe ich gerechnet. «Sellnow lachte sarkastisch.»Nur soll man sich beeilen. sonst kann ich an der Verhandlung nicht mehr teilnehmen.«

«Sie sind Fatalist?«

Sellnow sah Passadowski spöttisch an.»Wenn Sie wollen, auch Nihilist! Dr. Kresin behauptete sogar, ich sei auf dem besten Wege, auch Kommunist zu werden.«

Passadowski atmete sichtlich auf.»Das wäre eine gute Lösung.«

«Unsinn wäre das!«sagte Sellnow grob.

Der Major zuckte zusammen.»Aber, aber, Kamerad!«stammelte er.

«Der Kommunismus ist für mich genauso ein Dreck wie der Nationalsozialismus! Die Idee — darüber wollen wir nicht streiten. Aber was man daraus gemacht hat. das ist ausgesprochener Mist.«

«Es fehlen die intelligenten Köpfe, Kamerad.«

«Zu denen Sie sich rechnen, was?«Sellnow lachte gequält. Ein Hustenanfall warf ihn zurück. Schmerzverzerrt preßte er die Hände gegen die Brust. Dabei brach kalter Schweiß aus seinen Poren. Passadowski sah auf den schwerkranken Mann und war geneigt, ihm seinen ätzenden Spott zu verzeihen.

«Sie kennen das Nationalkomitee Freies Deutschland, Kamerad?«

«In Moskau? Ja! Die Kerle, die mit Lautsprechern an die Gräben fuhren und herüberriefen: Lauft über — in Moskau warten Frauen auf euch, und dort gibt es süßen Reis! Und dann spielten sie: Hörst du mein heimliches Rufen. Gehören Sie zu dieser Bande?«

Passadowski wurde steif.»Wir sind ein Korps alter Offiziere. Namen, die Klang haben in der deutschen Kriegsgeschichte.«

Sellnow winkte ab.»Sie wollen mich zum Kommunismus bekehren, nicht wahr?«fragte er.»Woher nehmen Sie eigentlich die Frechheit, hier in dieses Saulager zu kommen, gesund, gepflegt, vollgefressen, vielleicht dem Bett einer schönen Saratower Hure entstiegen.?«

«Herr von Sellnow!«rief der Major empört.

«Herr Major! Putzen Sie ihr Monokel! Sie können sich als Zauberkünstler betätigen. Ebensowenig, wie Sie aus einem Scheißhaufen Butter machen können, machen Sie aus mir einen Kommunisten! Und jetzt gehen Sie. aber bitte etwas plötzlich. sonst neh-me ich meine letzte Kraft zusammen und schmeiße Sie hinaus!«

Major Wilhelm Passadowski prallte zurück. Schnell verließ er die Krankenbaracke und wischte sich in der kalten Schneeluft den Schweiß von der Stirn.»Ein unmöglicher Mensch«, murmelte er.»Und das war ein Arzt und ein Offizier! Der Krieg verroht die Menschen.«

Das war ein Trost, an dem es sich wieder aufrichten ließ. In strammer Haltung ging er zu der kleinen Wachbaracke zurück und betrat den Raum. Die MWD-Offiziere saßen mit dem Lagerkommandanten um den Tisch und tranken Wodka aus Wassergläsern. Das Zimmer war von Tabakrauch vernebelt. Sie lachten, als der Major eintrat. Er wußte nicht warum — vielleicht wußten sie, daß er eine Niederlage erlitten hatte. Er kniff die Lippen zusammen und blieb wie ein Schuljunge an der Tür stehen. Niemand bot ihm einen Stuhl an. Er fühlte, daß er trotz allem nur ein Plenni war, ein Ausgestoßener, ein Absteiger, Verachteter, trotz seines Parteibuches und der Sondervollmacht des Zentralkomitees. Man schnitt ihn. ihn, Major Wilhelm Passadowski, den ehemaligen Regimentskommandeur vor Smolensk.

Mit verbissenem Gesicht blieb er stehen, im Qualm, an der Tür, in der Hitze, mit dem dicken Pelz. Nur das Monokel klemmte er ein. Haltung ist alles, dachte er. Haltung auch in der Gefangenschaft. Der deutsche Offizier repräsentiert sein Vaterland!

Schwitzend, mit Monokel, stand er an der Tür. Eine Stunde lang. Dann brachen die beiden MWD-Offiziere auf. Sie gingen an ihm vorbei und überließen es ihm, mitzukommen. Wie ein Hund trottete er durch den tiefen Schnee hinter ihnen her. Am Tor standen die beiden SS-Ärzte. Als er an ihnen vorbeikam, nahmen sie stramme Haltung an und riefen:»Gute Fahrt, Herr Major!«

Blaß und beschämt stieg er in den Wagen und sah sich nicht mehr um.

Vor ihm dehnte sich die weite, weiße Fläche. Es schneite wieder. Die Wolga schälte sich aus dem wirbelnden Vorhang. Ein breites Band in einer Senke — gefroren und mit aufgetürmten, übereinandergeschobenen Eisschollen. Auf ihnen sah er schwarze, vermummte Gestalten mit Spitzhacken. Sie standen im Schnee und hieben in das Eis. Laut hallten ihre Schläge durch die Stille.

Am Ufer pendelten zwei Posten mit Maschinenpistolen. Major Wilhelm Passadowski sah zur Seite — zur anderen Seite, in den wirbelnden Schnee. Er wollte nicht vergessen, daß er Kommunist war.

Dr. Werner von Sellnow wurde noch einmal gerettet. Die heimliche Pflege der zum Tode verurteilten SS-Ärzte brachte ihn wieder auf die Beine. Vorgebeugt, ein alter Mann, schlich er durch das Lager 53/4 und wurde mit leichteren Arbeiten beschäftigt. Er durfte die Kommandantur putzen und den Boden mit einer kleinen Stahlbürste fast weiß scheuern. Der Leutnant schrie ihn an, wenn er einen dunklen Fleck auf den Dielen fand, und so schrubbte er jeden Tag ächzend und mit schmerzendem Kreuz, und fiel am Abend wie zerschlagen auf seinen muffigen, harten Strohsack.

Aber er lebte! Er atmete die eisige Luft des russischen Winters, der für ihn keine Schrecken mehr barg. Er kannte ihn in allen Spielarten. Im dünnen Sommermantel war er von Stalingrad vier Wochen durch den Schneesturm gezogen, ehe er ein festes Lager fand. Es war ein Todesmarsch. 95.000 Gefangene machte der Russe bei Stalingrad… knapp 10.000 kamen in den Lagern an. Die anderen 85.000? Nitschewo. Sie waren verschwunden in Schnee und Eis, begraben an den Ufern der Wolga… im Frühjahr tauten sie auf und verpesteten die Luft mit Leichengeruch.

Nitschewo.

Mitte Februar trafen die Stürme aus dem Osten ein… die sibirischen Stürme, die die Stämme der Urwälder in der Taiga knickten, das Holz vor Frost mit jammerndem Krachen sprengten. Der Sturm, der alles Leben tötete. Nur die Plennis lebten. in den Baracken, die zuschneiten, deren Türen zufroren und die man morgens auftauen mußte, um Essen holen zu können. Die Posten auf den Türmen waren eingezogen. wenn die sibirischen Stürme kamen, gab es keine Flucht mehr. Selbst die Pendelposten außerhalb des Lagers taten keinen Dienst. Tot lagen die Baracken unter den pfeifenden Stürmen… nichts rührte sich außerhalb der vereisten Bretterwände, nur ab und zu huschte eine Gestalt durch den Sturm, warf sich gegen den eisigen Wind und stürzte dann in eine andere Baracke. Es waren die Essenholer, die beiden Sanitäter, einer der SS-Ärzte, der gerufen worden war zu einem der unzählbaren Verhöre.

Auf der Wolga türmte sich das Eis. Es krachte in den Nächten. Heulend strichen die Wölfe um den Drahtzaun des Lagers und versuchten, ihn zu durchbrechen. Sie witterten die Wärme innerhalb der Holzhütten. Doch keiner kümmerte sich um sie. sie wurden nicht einmal beschossen… sie lagen im Schnee, die Schnauze gegen den Wind, und wimmerten.

In dieser Zeit genas Sellnow vollends. Er wurde kräftiger, ruhte sich aus, lag viel unter den drei schmierigen Decken und las jetzt des öfteren in der Bibel. Das fiel ihm selbst auf. aber er verspürte das Bedürfnis. Ein aktuelles Buch, dachte Sellnow, um seine Erschütterung zu bagatellisieren. Er dachte nächtelang nach und lag schlaflos auf seinem Strohsack. Er hatte die Anwesenheit Gottes geleugnet, er hatte einmal zu Dr. Böhler gesagt:»Wenn ich einen Bauch aufschneide und wieder zusammenflicke, sehe ich nichts Göttliches dabei. Aber die Verwandten sagen dann: Gott hat ihn gerettet!«Und Dr. Böhler hatte geantwortet:»Die Fähigkeit, Bäuche aufzuschneiden, die haben Sie von Gott, Werner. «Da hatte er gelacht und gemeint, daß er gar nicht das Gefühl hatte, in der Universität einem Sprachrohr Gottes gegenüberzusitzen, als er den alten Professor Walter über Anatomie dozieren hörte. Und jetzt las er die Bibel und war ergriffen.

Man hat alles falsch gemacht, dachte er. Einfach alles. Es ist entsetzlich, wenn man sieht, wie das Leben vorbeigeht, ohne die Möglichkeit, sich zu rehabilitieren. Zunächst vor Gott! Denn daß es ihn gab, zu diesem Eingeständnis war Sellnow bereit. Und daß seine Lebensauffassung nicht die richtige war, das hatte er schon während seines Zusammenlebens mit Alexandra Kasalinsskaja in Stalingrad eingesehen.

Plötzlich, in dieser entscheidenden Nacht seines Lebens, erinnerte er sich der Karte seiner Frau. Er erhob sich, suchte in der Hosentasche, in den Taschen des Jacketts, in dem kleinen Gepäck. sie war nicht mehr da, er hatte sie verloren. die erste und einzige Karte nach vier Jahren Schweigen. Und — das glaubte er zu wissen — es war auch die letzte Karte, die er von Luise erhielt. Schuldbewußt, diese Karte nicht wie ein Kleinod verwahrt zu haben, legte er sich wieder nieder und starrte in die Dunkelheit.

«Verzeih mir, Luise«, sagte er leise.

Sein Obermann drehte sich im Bett herum.»Wat quatschste?«

«Nichts. Schlaf, Peter.«

«Dann halt de Fresse.«

Sellnow mußte trotz der Erinnerungen, die ihm die Kehle abschnürten, lächeln. Über ihm lag Peter Buffschk. Sein Name brachte ihm viel Spott ein. Er war ein mehrfacher Familienvater vom Wedding, Maurer von Beruf, und ins Straflager gekommen, weil er während der Bauarbeiten Salz in den Beton goß, so daß man sich ausrechnen konnte, daß er sich in einigen Jahren zersetzt haben würde und der Bau einfiel. Ein Posten hatte das gesehen. Man hatte Peter Buffschk mitgenommen, ihn halb totgeschlagen und dann nach 53/4 gebracht, wo er nicht kleinzukriegen war und den Posten eines Kalfaktors übernahm. Es gab nichts, was Buffschk nicht im Rahmen des Möglichen besorgen konnte.

«Du, Doktor?«fing Peter Buffschk wieder an.»Schläfste schon?«

«Nein.«

«Ick ha jestern beim Uffräumen in der Wachstube Tabak jeklaut und 'n Fetzen von der Prawda. Wülste 'ne Zijarette? Und 'ne Scheibe Brot ha ick ooch für dich uffjehoben.«

«Gib her, Peter«, sagte Sellnow. Er streckte die Hand aus. Eine Zeitungspapierzigarette mit Machorka und eine dünne Scheibe alten, trockenen Brotes glitten in seine Hand.

«Friß leise«, sagte Buffschk hinter der Hand,»damit's die andern nich hören.«

Mit einem tiefen Gefühl der Zuneigung für diesen Klotz von Mann legte sich Sellnow zurück und kaute an dem Stück Brot. Die Zigarette glomm zwischen seinen dünnen Fingern.

«Der Mensch ist ein Wunder Gottes«, dachte er.»Man wird es nie ergründen.«

Vor der Holzwand heulte der Sturm. Die Wolga ächzte unter dem Eis. Wimmernd lagen die Wölfe am doppelten Zaun. Es gab keinen Himmel und keine Erde mehr. nur noch Heulen und Brausen.

Am nächsten Morgen brannte der Leib Sellnows wie Feuer.

Er schrie. Er schlug mit den Armen um sich. Schaum stand auf seinem Mund.

Die Scheibe Brot, die Buffschk irgendwo gefunden hatte, war für die Wölfe gedacht gewesen.

Sie war vergiftet.

Im Lager 5110/47 gab es einen stillen Abschied. Kommissar Wadislav Kuwakino verließ die Barackenstadt und kehrte nach Moskau zurück. Sein Abschiedsgesuch war bei dem Politbüro eingegangen, und nun rief man ihn zurück, um ihn persönlich über die Vorfälle im Lager Stalingrad zu hören. Er nahm einen ängstlichen Abschied, er kannte die Spielregeln zu genau, um nicht zu wissen, daß wenig Hoffnung bestand, aus dem Gebäude in der Nähe des Kreml je wieder herauszukommen — es sei denn als Sträfling der Lubjanka, aus der kein Weg mehr zurück in die Sonne führt.

Kuwakino wandte sich Dr. Böhler zu. Sein Blick war traurig. Unter der schwarzen Augenklappe näßte die Wunde.

«Leben Sie wohll, Doktor.«, sagte er leise.»Ob Rettung des Lebens gutt, ich weiß nicht.«

Der Kommissar blickte auf den Wagen, der vor der Kommandantur hielt. Ein dick vermummter Fahrer hockte hinter dem Steuer und blies sich in die Handflächen.

«Ich habe nach Moskau gemeldet«, sagte Kuwakino wie im Selbstgespräch zu Worotilow,»daß Sie an den Vorfällen im Lager nicht schuldig sind. Es war nur die Auflehnung der Gefangenen gegen die mangelnde Versorgung, für die die Zentralstelle in Moskau verantwortlich ist. Man wird Schuldige finden — Sie sind es nicht!«

Worotilow wurde rot. Er trat einen Schritt vor und wußte nicht, ob er Kuwakino die Hand geben sollte.

«Genosse Kommissar.«, sagte er matt.

Dr. Kresin war ernst geworden.»Warum haben Sie das getan?«fragte er hart.»Ich habe Sie für das größte Schwein gehalten, das mir bisher begegnet ist. Jetzt zwingen Sie mich, dieses Urteil zu revidieren.«

Kuwakino lächelte schwach.»Ich bin ein Mensch, Genosse Kre-sin. Nur ein Mensch. Ich hatte eine Mutter. sie sang mit mir unter einer Perlenkrone die Lieder der Heiligen Nacht. Es war ein Fehler, bis Weihnachten hierzubleiben… siebzehn Jahre habe ich zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten mit den anderen vom Politbüro gesoffen und gehurt… so vergißt man schnell. «Er tastete nach seinem Kopf und legte die Finger auf die schwarze Augenklappe.»Sie werden es nicht glauben. Ich habe keine Angst vor dem Tod. ich habe nur Angst vor dem, was nach dem Tode kommen kann.«

Dr. Kresin drehte sich brummend um. Dr. Böhler stellte den Kragen seines Mantels hoch und begleitete Kuwakino zum Wagen. Bevor er einstieg, hielt ihn Dr. Böhler noch einmal fest.

«Was wird aus Dr. Sellnow, Genosse Kommissar?«fragte er langsam.

Kuwakino zuckte mit den Schultern.»Man wird ihn bestrafen.«

«Legen Sie in Moskau ein gutes Wort für ihn ein.«

«Nein!«Kuwakino fuhr herum. Sein eines Auge flammte.»Und wenn es eine Sünde ist, die mir Gott nie verzeiht: Er soll büßen! Büßen! Büßen! Und ich wäre glücklich, wenn er wie ein lahmer Hund verreckte. Es wäre nur gerecht.«

Der Wagen fuhr an, der kalte Motor klapperte und tuckerte. Als Kuwakino sich zurückbeugte und noch einmal nach dem Lager sah, stand niemand mehr am Tor als die Posten. Vergessen, dachte er.

Verachtet. Gehaßt. Und in Moskau wartet das Politbüro.

Seit der Weihnachtsaufführung hatte Peter Fischer einen neuen Posten erhalten: Michail Pjatjal hatte ihn von der Lagerleitung als Küchengehilfen angefordert und auch bekommen. Nicht daß Pjatjal es nicht schaffte, denn ihm unterstanden neben einigen Küchenmädchen mit Bascha an der Spitze noch 32 Plennis für Hilfsdienste und als Hilfsköche, aber Peter Fischers Trompete hatte es Bascha angetan. Sie hatte Michail so lange gebeten, bis er sich entschloß, bei Peter Fischer, der selbst kaum blasen konnte, Unterricht zu nehmen. Mit dem nächsten Verpflegungstransport hatte er sich aus Stalingrad eine blitzende Trompete kommen lassen, hockte in seinem Zimmer hinter der großen Küche und preßte jammervolle Laute aus dem gebogenen Blech. Peter Fischer nahm seine Lehrmeistertätigkeit sehr ernst. Dafür bekam er von Pjatjal abends, wenn er in die Baracke zurück mußte, die Taschen mit Lebensmitteln vollgestopft.

«Nix verratten und zeiggen«, flüsterte Pjatjal zwar jedesmal, aber dennoch lebte die Baracke durch zusätzliche kleine Sonderzuwendungen besser als die andern Plennis.

Eines Tages wurde Dr. Böhler aus dem Lazarett zur Kommandantur geholt. Ein junger Wachleutnant, nicht ein gewöhnlicher Posten, holte ihn ab. Im Zimmer Worotilows saß Sergej Kislew, ein Bauunternehmer aus Stalingrad. Er sah den deutschen Arzt neugierig an, aber in seinem Blick lag etwas Ängstliches, Furchtsames, das Dr. Böhler aufmerken ließ. Worotilow reichte ihm beim Eintritt gleich sein Zigarettenetui hin. Doktor Böhler lächelte. Er will etwas von mir — weniger Worotilow als dieser dicke Mann dort auf dem Stuhl. Vielleicht braucht er Arbeiter, und ich soll hundert Plennis gesund schreiben?

Worotilow zeigte auf ihn und nickte Dr. Böhler zu.

«Dieser vollgefressene Kerl ist Sergej Kislew«, sagte er. Dr. Böh-ler begriff, daß Kislew kein Wort Deutsch verstand.»Er ist einer der brutalsten Ausbeuter der Gefangenen. Er führt die Staatsbauten in Stalingrad aus. Großer Bonze der Partei und Arschlecker Moskaus. «Dr. Böhler lächelte. Er sah, wie Kislew die Worte Worotilows gespannt verfolgte und lebhaft mit dem Kopf nickte.

«Er ist zu mir gekommen«, fuhr Worotilow fort,»weil sein einziger Sohn krank ist. Er behauptet sehr krank. Eine böse Magenkrankheit. Ißt seit Wochen kaum mehr, bricht alles.«

«Wie alt ist denn der Patient?«fragte Böhler interessiert.

«Ich glaube Anfang Zwanzig«, sagte Worotilow.»Es hat sich in Stalingrad herumgesprochen, daß wir hier gute Ärzte haben. Jetzt bittet mich Kislew, Sie für ein paar Stunden mit nach Stalingrad zu geben, damit Sie seinen Sohn untersuchen können. Was halten Sie davon?«

Böhler lächelte.»Ärzte müssen kommen, wenn man sie ruft«, sagte er verbindlich,»aber hier ist das etwas schwierig. Ich bin nicht ganz Herr meiner Entschlüsse.«

«Ich beurlaube Sie natürlich. Ich darf es zwar nicht. «Worotilow ging im Zimmer hin und her,»es ist streng verboten, daß Gefangene mit der Zivilbevölkerung Kontakt aufnehmen. Wegen Fluchtgefahr und Beihilfe. Ich vertraue Ihnen, Sie machen davon keinen Gebrauch.«

«Solange ich noch kranke Kameraden in meinem Lazarett habe, können Sie völlig unbesorgt sein.«

«Das ist gut!«Worotilow sah ihn groß an.»Ich beurlaube Sie besonders gern. Kislew vergibt auch Aufträge an die Straflager. Wenn Sie Glück haben, erfahren Sie etwas über Doktor Sellnow.«

Dr. Böhler starrte Worotilow an. Der lächelte, als habe er einen Witz gemacht.

«Das werde ich Ihnen nie vergessen, Major«, sagte Dr. Böhler mit belegter Stimme.»Sie sind ein verdammt feiner Kerl. Schade, daß wir zwei verschiedene Uniformen tragen.«

Der Major hob die Hand.»Wenn Sie mein Vaterland beleidigen, schlage ich Ihnen ins Gesicht!«

Dr. Böhler senkte lächelnd den Kopf.»Ich weiß, ich weiß — es dauert seine Zeit, bis eine Schlange sich häutet.«

Sergej Kislew rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Mit flehenden Augen sah er Worotilow an.»Was sagt er?«fragte er.

«Er will mit Ihnen gehen. «Worotilow steckte die Hände in die Taschen seiner Uniformhose.»Er will keine Bezahlung, der deutsche Arzt, er will nur wissen, ob Sie 53/4 kennen.«

Sergej Kislew schob die Unterlippe vor, sein Gesicht wurde verschlossen, steinern.

«Kenne ich nicht.«

«Nishnij Balykleij?«

«Liegt an der Wolga. Aber da ist kein Lager.«

Worotilow nickte. Er lehnte sich gegen die Kante des Schreibtisches und betrachtete Kislew gemütlich.»Natürlich — da ist kein Lager. Es gibt ja in Stalingrad auch keinen kranken Sascha Kislew.«

Sergej Kislew erbleichte.»Was soll das heißen?«stotterte er.»Sie wollen den Arzt nicht mitgeben? Der Junge stirbt mir! Er bricht schon Blut und ißt nichts mehr!«

«Dann solltet Ihr weniger fett fressen, Genosse Kislew.«

Der Bauunternehmer nickte schwach.»In Nishnij Balykleij arbeiten siebzehn Mann für mich. Sie machen Holzflöße für die Wolga. «Er sah Worotilow furchtsam an.»Aber ich darf nichts sagen, Genosse. Es kostet mich den Kopf, wenn man erfährt, daß ich etwas verraten habe!«Er erhob sich mit müden Bewegungen.»Geht der deutsche Arzt jetzt mit?«

«Ja. Sie müssen ihn aber am Abend wieder ins Lager bringen! Wenn er bei einer plötzlichen Kontrolle der Division fehlt, ist die Hölle los! Ich werde von einer >Ausleihung< nichts wissen.«

«Natürlich nicht, Major«, Sergej Kislew verbeugte sich mehrmals dankend. Die alte russische Unterwürfigkeit brach durch.»Aber wenn mein Sascha sehr krank ist.«

Worotilow wandte sich an Dr. Böhler. Er sprach jetzt wieder deutsch.»Können Sie gleich mitfahren, Doktor? Oder haben Sie dringende Fälle?«»Es geht. Dr. Schultheiß wird meine Kranken gut versorgen.«

Worotilow nickte ihm zu.»Wenn Sie Kislews Sohn retten, können Sie von ihm haben, was Sie wollen. Vor allem erträgliche Arbeitsbedingungen für Ihre Kameraden.«

«Ich werde daran denken, Major.«

Als Dr. Böhler die Kommandantur verließ, sah ihm Worotilow mit zusammengekniffenen Lippen nach.»Diese Deutschen!«knurrte er.»Man hätte sie doch ausrotten sollen!«

Dr. Böhler wurde in das Militärhospital gebracht, in dem der Kranke lag, und ohne besondere Förmlichkeiten an das Krankenbett geführt. Es erwies sich, daß die Sorge Kislews um seinen Sohn mehr als berechtigt war. Sascha, ein einundzwanzigjähriger Rotarmist, litt seit einem Jahr an Magenbeschwerden. Er wurde nie durchleuchtet, war ohne jegliche Bedenken bei den Musterungen tauglich befunden und zum Militär eingezogen worden.

Bald nachdem er seinen Dienst angetreten hatte, bekam er eines Abends Schwindel- und Übelkeitsgefühl und erbrach. Das Erbrochene war stark mit Blut durchsetzt. Er wurde plötzlich bewußtlos und mit Kollaps ins Truppenlazarett eingeliefert.

Das war vor drei Wochen gewesen.

Diesen Bericht gab ein junger russischer Assistenzarzt an Böhler. Er war wortkarg, kam aber gehorsam dem Befehl nach, dem deutschen Arzt zur Verfügung zu stehen.

«Behandlung?«fragte Böhler ebenso knapp.

«Jeden zweiten Tag Bluttransfusion, seit der Aufnahme etwa vier Liter Blut«, antwortete der Russe.

«Und bei der Aufnahme?«fragte Böhler weiter.

«Bei der Aufnahme erhielt Patient fünfhundert Kubikzentimeter gruppengleiches Blut und kam zu sich«, las der Russe vom Krankenblatt ab.

«Sonst haben Sie nichts unternommen?«erkundigte sich Böhler gewissenhaft.

«Es bestand eine innere Blutung«, sagte der russische Arzt gereizt.»Sie wurde durch Bluttransfusion gestillt. Das ist das beste Mittel.

Es hat sich tausendfach bewährt.«

«Sicherlich«, sagte Böhler beschwichtigend,»ich informiere mich nur. Wie ist denn jetzt das Blutbild?«

Der Russe sah ins Krankenblatt.»Bei der Einlieferung fünfzig Prozent Hämoglobin und zweikommaneun Millionen rote«, las er vor,»acht Tage später vierzig Prozent Hämoglobin und zweikommavier rote, acht Tage später: sechsunddreißig Prozent Hämoglobin und zwei Millionen rote. Augenblicklicher Status: Hämoglobin zwanzig, rote einskommaeins Millionen.«

Böhler sagte nichts. Er unterdrückte mit Mühe sein Entsetzen. Zwanzig Hämoglobin statt hundert, nur noch ein Fünftel des normalen Gehalts, und eine Million rote Blutkörperchen im Kubikmillimeter statt fünf Millionen… der Kranke war praktisch völlig ausgeblutet. Und man hatte nichts unternommen.

Er wandte sich dem Kranken zu, der ihn ansah, ohne ihn zu sehen. Er war verfallen, die Gesichtsfarbe fahl wie das Leintuch, auf dem er lag, die Augäpfel gelblich verfärbt. Böhler fühlte den Puls. Er schätzte ihn auf hundertzwanzig. Der Kranke atmete nur wenig schneller als normal. Er war dazu schon zu schwach, und sog bei jedem Zug nur wenig Luft in die Lungen. Seine Lippen zeigten keinerlei Röte mehr.

Böhler ließ sich die anderen Laborbefunde vorlesen, die recht exakt und vollzählig durchgeführt waren. Eiweiß im Urin stark positiv, im Sediment rote Blutkörperchen, viele Zylinder, Nierenzellen, Teerstuhl. Dieser letzte Befund zeigte deutlich, daß eine schwere innere Blutung bestand, die offensichtlich durch die Transfusion nicht zum Stehen gekommen war. Böhler tastete den Leib des Patienten ab. Wenn er an eine bestimmte Stelle über dem Nabel geriet, stöhnte der Kranke tief auf vor Schmerz und machte schwache abwehrende Bewegungen.

Sein Schicksal ist besiegelt, dachte Böhler schematisch. Sein Lehrer fiel ihm ein, der alte Professor Sandtmann, der davor gewarnt hatte, einen Patienten mit Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür zu operieren, wenn der Sitz des Geschwürs nicht genau bekannt war

und der Patient eine schwere Blutung durchgemacht hatte.

Und dieser Kranke war noch niemals geröntgt worden. Zweifellos hatte er ein Zwölffingerdarmgeschwür.

Böhler erhob sich von der Bettkante, auf der er bei der Untersuchung gesessen hatte. Er blickte auf Sergej Kislew, der am Fußende stand und ihn gespannt anstarrte. Böhler konnte sich denken, daß die Ärzte den Vater erst rufen ließen, als sie den Kranken aufgegeben hatten. Kislew sah ihn mit brennenden Augen an.»Gutt, Gospodin Doktor?«fragte er.

Böhler amüsierte sich über das Gesicht des russischen Arztes bei dieser Anrede. Gospodin — das hieß >Herr<. In der UdSSR sprach man nur noch von >Genosse Doktor<, das Wort Herr war streng verpönt.

Er antwortete nicht, sondern trat zum Waschtisch und begann, sich sorgfältig die Hände zu waschen. Dann erst wandte er sich um. Immer noch starrte ihn Kislew fragend an.

«Nix gutt?«stotterte er.

Böhler nickte langsam.»Nix gutt!«

Sergej Kislew schlug die Hände vor die Augen und lehnte sich gegen die Wand. Was er vor sich hin stammelte, verstand Böhler nicht. Aber am Klang erkannte er erschreckt, daß der Kommunist und Menschenschinder Sergej Kislew betete.

Dr. Böhler wandte sich ab und verließ den Raum. Er ging die Treppen hinunter und war noch nicht unten angelangt, als Kislew ihn einholte. Aus dem Redeschwall entnahm Böhler soviel, daß der Mann wünsche, er solle ihn begleiten. Wider Willen tat ihm Kislew leid, und er folgte ihm. Draußen wartete ein Privatwagen mit einem Chauffeur. Er brachte sie in wenigen Minuten in Kislews Haus, eine hübsche Villa in einem gepflegten Garten.

In der großen Diele setzte sich Böhler in einen weichen Sessel und lehnte sich weit zurück. Sein Wirt verließ ihn und bat ihn wortreich und mit vielen Gesten, einen Augenblick zu warten.

Ein Sessel! Ein weicher, gepolsterter Sessel. Teppiche. Tapeten an den Wänden. Türen aus Kirschbaum, ein runder geschnitzter Tisch.

Kristall in den eingebauten Wandschränken.

Böhler atmete die reine Luft, den Geruch eines leichten Parfüms, der über allem lag.

Er schloß die Augen. Köln-Lindenthal… eine kleine Villa mitten im Grünen, in der Nähe des Stadtwaldes. Im Garten auf der Rasenfläche war ein Tischtennis aufgebaut. Er sah sich mit Margot, seiner Frau, spielen. sie hatte einen guten Schlag und jagte ihn hin und her. Und sie lachte hell. In ihren Augen leuchtete die Jugend und das Glück zu leben. Der Rasensprenger drehte sich. Das Wasser sprühte über sie hinweg, wenn er zu ihnen schwenkte. Dann lagen sie in den Liegestühlen und tranken Orangeade. Mein Gott, Orangeade. Daran erinnerte man sich jetzt. Auf der Reitbahn im Stadtwald trabten die Pferde. Ihr Fell glänzte in der Sonne. Fröhliche Worte flogen hin und her… im Stadion, auf der großen Jahnwiese mit dem Denkmal des alten Turnvaters, jagten sie im Galopp dahin und überholten sich gegenseitig. Hell klang das Lachen durch den Sommerwind.

Dr. Böhler zuckte zusammen und erhob sich, als Sergej Kislew die Treppe herabkam. Er sah verfallen aus, gealtert, seine Augen flak-kerten.

«Du Sascha machen gesund«, sagte er bettelnd.

«Das ist unmöglich«, sagte Dr. Böhler. Er wußte, daß ihn Kislew nicht verstand, und er legte etwas Tröstliches in seine Stimme. Der Russe hörte es heraus, und seine Augen bekamen wieder jenen Funken Hoffnung, den Dr. Böhler in allen Augen sah, wenn er bewußt die Krankheit bagatellisierte.

«Ich würde ihn operieren, aber das kann ich hier nicht machen — nicht im Militärlazarett oder gar im Lager. Dafür sind Sie nicht eingerichtet. Er würde auf dem Operationstisch sterben! Ich brauche dazu einen gut eingerichteten Operationsraum mit den neuesten technischen Anlagen. Dann würde ich es wagen.«

Sergej Kislew nickte wiederholt. Sein Gesicht war voll Hoffnung.»Du machen gesund?«

Dr. Böhler sah zu Boden.»Wenn du wüßtest, wie die Wahrheit ist. Man wird nie erlauben, daß ein deutscher, kriegsgefangener Arzt in einem russischen Krankenhaus operiert. Das ist ganz unmöglich. Es wäre ein Sakrileg, wo Rußland die besten Chirurgen der Welt besitzt — wenigstens sagen sie es immer. Ich kann dir wirklich nicht helfen, Sergej Kislew.«

Der Bauunternehmer schien die Nennung seines Namens für ein gutes Zeichen zu halten. Er faßte Dr. Böhler am Ärmel und zog ihn mit sich fort. Er führte ihn in die Küche, wo ein Mädchen arbeitete, drückte ihn auf einen Stuhl und setzte ihm eigenhändig Wurst, frische Butter, weißes Brot, Früchte — im Winter — und amerikanische Fleischkonserven vor. Das Mädchen brachte Teller und Messer.

Mit großen Augen saß Dr. Böhler am Tisch.

Wurst! Gute, gelbe, fette Butter! Er nahm eine Scheibe Brot, bestrich sie fast andächtig mit der Butter und legte eine Scheibe Wurst darauf. Sergej Kislew lachte hinter ihm, er griff über seine Schulter hinweg in den Wurstteller und legte ihm mit der Hand sieben Scheiben auf einmal auf das Brot. Fünf Jahre Kohlsuppe… fünf Jahre glitschiges Brot… 600 Gramm… 200 Gramm… ab und zu einmal dicke Bohnen oder eine dicke Suppe aus Kohl und Roggenmehl. Dr. Böhler aß das Brot mit den acht Scheiben Wurst. Er aß es nicht, er fraß es in sich hinein wie ein Raubtier, das hungernd herumstreifte und nun vor einer plötzlichen Beute steht. Ein Brot. zwei Brote… drei… dann legte er das Messer weg. Sein Magen war schwer wie Blei. Er erhob sich und sah, wie Kislew aus einer Flasche starken Krimwein in einen Pokal schüttete. Er trank. der Wein brannte in seiner Kehle, im Magen, in den Adern. es war, als durchströme ihn ein neues Leben.

Dr. Böhler überblickte den Tisch. Die Fleischbüchsen waren nicht angebrochen. die Butter war halb verbraucht. ein großes, nicht angeschnittenes Stück Wurst lag daneben. Er sah sich um, sah eine Zeitung auf dem Fenster liegen, ergriff sie, rollte die Wurst, die Butter, die Büchsen in sie ein. Sergej Kislew ließ es lachend geschehen und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

«Sascha machen gesundd!«sagte er glücklich.»Grosssses Arrrzt!«

Dr. Böhler biß die Zähne aufeinander. Wenn ich die Büchsen einteile und die Wurst auch, jeden Tag eine Scheibe, jeden Tag einen Teelöffel Fleisch, dann kann ich den schwersten Fällen im Lazarett eine Woche lang etwas Zusätzliches geben. Das ist eine Lüge wert, und Gott wird es mir verzeihen. Wir sind mit den Kräften am Ende im Lager. Fünf Jahre dieses Essen, und jetzt nur noch die Hälfte, weil die große Dürre im Sommer die Ernte vernichtete.

Sergej Kislew brachte Dr. Böhler pünktlich zum Appell ins Lager zurück. Major Worotilow schwieg lange, als ihm der Arzt die Wahrheit sagte. Kislew saß im Sessel am Tisch und rauchte beruhigt.

«Er weiß nichts?«fragte Worotilow.

«Ich konnte es ihm unmöglich sagen!«

«Soll ich.?«

«Bitte, nein, er wird es früh genug erfahren. Ja, wenn ich eine moderne Klinik hätte, mit allem, was dazu gehört.«

«Dann würden Sie operieren?«drängte Worotilow.

Böhler nickte.»Ja«, sagte er,»dann würde ich es versuchen, so gering die Chancen sind. Es wäre an sich keine schwere Operation, für einen weniger Schwerkranken, meine ich. Man müßte den Ort der Blutung suchen und sie stillen. Es gibt keine Krankheit, bei der man nicht Hoffnung haben könnte — und wenn es der Glaube an ein Wunder ist.«

«Sie glauben daran?«Worotilow sah Böhler aus den Augenwinkeln prüfend an.

«Wir haben viele seltsame Dinge gesehen, auch Heilungen, die man nach menschlichem Ermessen nicht mehr für möglich hielt. Der Himmel ist weit, Major Worotilow, und der Mensch ist unter ihm nur ein Sandkorn.«

«Aber Sie wollen Sascha Kislew nicht operieren?«

«Auf keinen Fall hier oder im Militärhospital. Das wäre reiner Mord.«

«Im Staatskrankenhaus Stalingrad operiert nur Professor Pawlo-witsch.«

«Dann soll er die Operation machen.«

«Er hat sich bereits geweigert, ohne den Patienten gesehen zu haben. Ihm genügt die Krankengeschichte.«

Dr. Böhler nickte bestätigend.»Sie genügt auch«, sagte er.

«Natürlich will der Herr Professor beim Sohn eines mächtigen Mannes keinen Mißerfolg riskieren — verstehe ich sehr gut. Nur daß man mir es zumutet. Wenn es schiefginge, müßte ich es ausbaden, würde unter Umständen bestraft, noch einmal zu Lager verurteilt… zehn Jahre. zwanzig Jahre. ihr seid ja nicht kleinlich.«

«Aber Sie würden ihn trotzdem im Staatskrankenhaus operieren, nicht wahr?«

«Ich würde es auf alle Fälle versuchen, ja — aber es ist müßig, darüber zu sprechen. Ich muß ins Lazarett.«

Er verließ das Zimmer. Erstaunt und verständnislos sah Kislew ihm nach. Warum ging der Arzt und ließ ihn allein? Und Sascha, sein Sohn? Kislew sprang auf und stürzte auf Worotilow zu.

Zwei Stunden später wurde Dr. Böhler bereits wieder abgeholt. Ein Sanitätswagen der Division fuhr ihn aus dem Lager, ein russischer Kapitän-Arzt, Studienkollege Dr. Kresins, begleitete ihn.

«Der Patient ist schon ins Staatskrankenhaus gebracht worden«, teilte er Böhler mit. Er sprach ganz gut Deutsch.

«Der Genosse Professor ist auf Ihre Operationsmethode sehr gespannt«, setzte er nach einer Weile hinzu.

Dr. Böhler riß die Augen auf und sah ihn ungläubig an.»Er will mich operieren lassen?«

«Dazu hole ich Sie ja ab.«

«Im Stalingrader Staatskrankenhaus? Das ist doch unmöglich.«

«Warum denn, Herr Kollege?«

«Ich bin ein deutscher Plenni!«

«Na und? Drei Kommissare sind ebenfalls in der Klinik. Man wird Sie der Form halber entlassen.«

Dr. Böhler fuhr herum, seine Wangen glühten.»Was heißt der Form halber?«Seine Stimme zitterte vor Erregung.

Der Kapitän-Arzt sah ruhig auf die verschneite Straße vor sich.»Das heißt, daß man Sie nach der Operation wieder gefangensetzen wird! Dazu sind die drei Kommissare da. Man wird Sie an Ort und Stelle wieder verurteilen. Es geht hier nur darum, daß wir Moskau überlisten und Sie als Privatmann in der staatlichen Klinik operieren lassen! Außerdem hat Sergej Kislew dem Lazarett fünfzigtausend Rubel gestiftet, wenn die Operation gelingt. Das zählt noch mehr.«

«Und das im Staate der Volksregierung! Dem Land ohne Klassenunterschied. Dem Paradies der Arbeiter!«Dr. Böhler lachte gequält.»Ihre Methoden sind wert, geschichtlich festgehalten zu werden!«

Der Kapitän-Arzt lächelte zurück.»Man wird es, Herr Kollege. Wir haben 1945 beim Einmarsch in Berlin bereits Geschichte geschrieben! Und wir werden sie weiterschreiben — wir allein! Mögen sich Amerika oder England mächtig fühlen und diplomatische Schlachten schlagen. Wir arbeiten in der Stille und gewinnen die Herzen der Völker — mit den gleichen Methoden, mit denen Sie heute den ganzen Tag ein völlig freier Mann sind. Der Chirurg Dr. Fritz Böhler aus Köln, der den ehrenvollen Staatsauftrag hat, in Stalingrad zu operieren. Am Abend sind Sie wieder Plenni. «Der Kapitän-Arzt lächelte mokant.»Die Geschichte will es so.«

Die riesige Staatsklinik lag weiß und still in einem Park außerhalb der Stadt. Eine der typischen russischen Monumentalbauten, die man den fremden Touristen zeigt und die den Aufschwung der sowjetischen Wirtschaft und Kultur repräsentieren sollen. Eine Mischung zwischen amerikanischer Wolkenkratzerarchitektur und russischer Neuklassik. Bauten, die an die Pläne Hitlers für die nächsten tausend Jahre erinnern.

In dem riesigen Foyer der Klinik stand, als Dr. Böhler nach einer kurzen Meldeformalität eintrat, ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem weißen Tatarenbart und leicht geschlitzten Augen in dem ledernen Gesicht. Er war etwas vorgebeugt und schlurfte nun ein paar Schritte heran, als die Pendeltür aufschwang.

Professor Dr. Taij Pawlowitsch.

Er reichte dem deutschen Arzt eine welke Greisenhand. Einen Augenblick empfand Dr. Böhler ein sichtbares Erschrecken. Mit diesen kraftlosen Händen operiert er?

Der Kapitän-Arzt wechselte einige schnelle Worte mit Professor Pawlowitsch, die Dr. Böhler nicht verstand. Es war eine Mischung zwischen Russisch und einem mongolischen Dialekt. Dann wandte sich der Arzt wieder zu ihm.

«Der Professor hat alles vorbereitet. Der Patient liegt im großen OP, er ist bereits gewaschen — in zehn Minuten wird er narkotisiert.«

Böhler unterbrach ihn brüsk.»Sie wollen doch nicht etwa eine Narkose geben?«Er schrie es fast. Die beiden Russen sahen ihn erstaunt an.

«Warum denn nicht?«fragte der Professor.

«Es kommt nur eine Lokalanästhesie in Betracht«, sagte Böhler bestimmt.»Mit einer Narkose würden wir ihn umbringen. Lokalanästhesie — ich werde sie selber vornehmen. Während der ganzen Operation Sauerstoff und Bluttransfusion durch Dauertropf in eine Knöchelvene. Bitte, lassen Sie diese sogleich anlegen, und stellen Sie die nötigen Blutkonserven zur Verfügung.«

Dr. Böhler hatte sehr bestimmt gesprochen. Die beiden Russen starrten ihn mit offenen Augen an, aber sie akzeptierten seine Autorität. Der Kapitän-Arzt verließ den Raum, um Böhlers Anordnungen auszuführen.

«Ich werde Ihnen assistieren«, sagte der Professor verbindlich,»ich bin sehr gespannt.«

Mit diesen Fingern, dachte Böhler, dieser kraftlose Greis. Er warf einen forschenden Blick auf den Professor. Dann sagte er schwach:

«Bitte!«

Der Kapitän-Arzt kam zurück.»Betrachten Sie sich bitte ab jetzt als Privatmann! Sie sind frei!«sagte er zu Böhler.

«Das ist sehr schön und sehr nett von Ihnen«, sagte Böhler mit deutlichem Spott. Er blickte zum Hintergrund der Eingangshalle. Dort standen drei Offiziere mit dem Zeichen des MWD: die drei

Kommissare.

Dr. Böhler atmete tief.»Gehen wir.«

Professor Pawlowitsch ging voraus. Sanitäter rissen die Glastüren vor ihnen auf. Ein langer, weiß gekachelter Flur, ein Vorraum mit blitzenden Kränen, großen, weißen Marmorbecken, zehn Schwestern, die mit weißen Mänteln, Gummischürzen, Hauben und Mundschutz bereitstanden. Heißes Wasser strömte in die Becken, eine Schwester reichte Seife und Bürste. Es war wie ein Traum, wie ein Märchen. Dr. Böhler schrubbte sich Hände und Arme… er hielt die Hände unter den dünnen Strahl Alkohol… eine Schwester streifte ihm die Handschuhe über. der Mundschutz wurde angelegt. die weiße Haube saß auf seinem langen, schmalen Kopf. eine andere Schwester band ihm die Gummischürze um… lang, weiß, bis auf die Erde reichend. Durch die Tür trat ein junger Arzt ein, braun, drahtig, ein Armenier.

«Patient ist bereit«, sagte er knapp.

Professor Pawlowitsch sah Dr. Böhler an. Auch er war zur Operation bereit. Bestätigend nickte Dr. Böhler ihm zu. Der Professor ging voraus durch die kleine Tür. Geblendet, erschüttert blieb Dr. Böhler stehen: ein riesiger Raum, warm, in das gleißende Licht von vierundzwanzig Kristallampen gehüllt. hinter dem Operationstisch amphitheatralisch ansteigende Bänke… auf ihnen über hundert russische Studenten und Studentinnen… ein Schwarm von Assistenzärzten um den Tisch, Schwestern, Sanitäter, Sanitätsoffiziere. In der ersten Bankreihe ein dicker Bulldoggenkopf: Dr. Kresin. Daneben ein blasses, von schwarzen Locken umrahmtes Gesicht: Alexandra Kasalinsskaja. Neben ihr, blaß wie sie, mit kauenden Bak-kenmuskeln erregt hin und her rutschend, Major Worotilow.

Es hatte sich schnell herumgesprochen, daß ein Deutscher operieren würde.

Mit festem Schritt trat Dr. Böhler an den Operationstisch.

Der Körper des Jungen war mit warmen Tüchern abgedeckt, nur das Operationsfeld, die Magenpartie, lag frei.

«Ich mache jetzt die Anästhesie«, sagte Böhler, und der Professor gab seine Worte an die Operationsschwester weiter. Böhler sah ihr zu, wie sie eine große Spritze mit einer Kanüle versah und aus einem becherförmigen Gefäß aufzog. Dann reichte sie ihm die Spritze und machte sich sofort daran, eine weitere vorzubereiten.

Böhler stach die lange Nadel in die mit Jod bestrichene Bauchhaut und injizierte den Inhalt der Spritze. Der durchflutete nun das ganze Operationsgebiet, von den Rippen bis unter den Nabel und seitlich bis fast zu den Flanken.

Der Kranke war stark benommen und nahm die Vorgänge nicht wahr. Er atmete Sauerstoff durch eine Maske. Das Gas strömte ihm aus einer großen Flasche zu. Neben ihm saß eine Schwester und sprach leise auf ihn ein — beruhigende Worte, die man kaum hörte. Über den Köpfen der beiden war eine Art Zelt angebracht, das gegen den Operateur hin geschlossen und nach hinten offen war. Die Schwester unter dem Zelt kontrollierte zugleich den Puls des Patienten. Ein Assistent regulierte das Sauerstoffgerät.

Böhler war mit der Anästhesie fertig. Er ließ sich von einer Schwester die Handschuhe ausziehen und neue überstreifen. Dann wartete er geduldig, bis die Betäubung wirksam geworden war.

Der Kranke hatte kein schmerzlinderndes Mittel bekommen. Böhler wollte keinen Atmungsschaden riskieren. Sehr vorsichtig ließ er der an einer Knöchelvene angelegten Dauertropfinfusion mit Spenderblut Herzmittel zur Stützung von Herz und Kreislauf zusetzen. Ununterbrochen floß Blut in die Adern des ausgebluteten Kranken. Aber da drinnen floß es ebenso schnell wieder durch das blutende Geschwür in den Darm ab. Ein Faß ohne Boden. Wenn es nicht gelang, die Blutung zu stillen, gab es keine Rettung mehr. Und ob die Operation, eine ungeheure Belastung für den Schwerkranken, noch würde Hilfe bringen können, war mehr als fraglich. Es gehörte ein verzweifelter Mut dazu, sie überhaupt zu wagen.

Böhler nickte dem Professor zu.»Wir wollen anfangen«, sagte er knapp.

Der Professor sagte einige Worte zu seinen Mitarbeitern. Und das große Wagnis begann.

Böhler hatte den eröffnenden Schnitt genau in der Mitte des Bauches geführt, vom Brustbein bis unter den Nabel. Der Professor zog die Augenbrauen hoch.»Wir legen den Schnitt quer, von rechts oben nach links unten über den Magen«, sagte er.

Böhler nickte und meinte kurz, ohne sich in seiner Tätigkeit unterbrechen zu lassen:»Ich brauche viel Platz, denn wir werden Überraschungen erleben. Ich erweitere den Schnitt später nicht gern.«

Die Wundränder wurden sorgfältig abgedeckt, einige Blutgefäße mit Klemmen gegriffen, durchtrennt und abgebunden. Es blutete kaum aus dem Fleisch. In fliegender Eile setzte Böhler das Bauchspekulum ein, das die Wunde offenhielt, und öffnete das Bauchfell. Trotz der örtlichen Betäubung sind das immer schmerzhafte Verrichtungen, bei denen die Gefahr besteht, daß der Patient unruhig wird. Aber der junge Mann stöhnte nur ein wenig. Er schien selbst zu Schmerzäußerungen bereits zu schwach zu sein.

Böhler tastete die Leber ab.»Stark vergrößerte Leber«, sagte er zum Professor,»und Narbenbildungen im Bereich des kleinen Netzes. «Er bemerkte mit Genugtuung, daß er sich geirrt hatte, als er den Professor für schwächlich hielt. Der Mann arbeitete ausgezeichnet.

Minutenlang versuchte Böhler dann, tief in der Bauchhöhle eine Arterie zu finden, aus der erfahrungsgemäß die Blutung bei Zwölffingerdarmgeschwüren erfolgt. Es gelang ihm nicht, an sie heranzukommen.

«Ich schreite zur Magenresektion nach Billroth II«, sagte er kurz, kümmerte sich nicht um das erstaunte Gesicht des Professors, sondern fügte nur hinzu:»Ich komme nicht an das Geschwür heran.«

«Er hält es nicht aus«, flüsterte ihm der russische Chirurg zu. Aber Böhler sah nicht auf, er zuckte nur die Achseln.

Das Operationsteam befand sich auf eingefahrenen Pfaden. Die Instrumente gelangten ohne besondere Aufforderung in die Hände Böhlers, und der Professor kam seinen Absichten genau im richtigen Augenblick entgegen. In kürzester Frist hatte Böhler den Magen frei und konnte ihn abtrennen. Nur ein Drittel des Organs blieb zurück und wurde an einer Darmschlinge angeschlossen. Damit wur-de die durch das Wegnehmen des Magens unterbrochene Verdauungspassage wiederhergestellt.

Böhler durchtrennte die vordere Zwölffingerdarmwand und ließ die Wundränder mit Klemmen fassen und auseinanderspreizen. In der Tiefe gewahrte er nun ein kraterförmiges Geschwür. Es war etwa zwei Zentimeter groß. In der Mitte befand sich ein kleiner runder Krater, zwei Millimeter im Durchmesser. Aus dieser Öffnung sickerte ununterbrochen Blut an den Wänden des Geschwürs herunter. Böhler zeigte dem Professor die Stelle.

«Das hätte vor Wochen geschlossen werden müssen«, murmelte er, und der Professor nickte. Der Chirurg tupfte sanft den Krater ab. Es lösten sich Blutgerinnsel, und plötzlich schoß eine kleine Blutfontäne hoch.

«Naht!«rief Böhler und drückte den Zeigefinger der Linken auf die blutende Stelle. Die Operationsschwester reichte ihm eine eingefädelte Nadel. Er übernähte die Stelle mit einer Zickzacknaht, und es spritzte nicht mehr. Das Loch in der Arterie, aus dem die Blutung erfolgte, war geschlossen.

Bisher hatte der Patient die Operation besser durchgestanden, als man erwartet hatte. Jetzt aber, nachdem der entscheidende Moment vorüber, nachdem die Stelle der inneren Blutung gefunden und abgedichtet war, geschah es:»Der Blutdruck sinkt«, meldete der Arzt, der Puls und Blutdruck zu überwachen hatte.»Ich kann ihn nicht mehr ermitteln. auch der Puls setzt aus.«

Böhler legte das Instrument fort, das er in der Hand hielt, und riß sich die Handschuhe von den Händen.

Der Professor blickte ihn unverwandt an. In seinen kleinen Augen leuchtete etwas wie Triumph.

«Ich habe es ja gleich gesagt, daß es nicht gehen würde«, sagte er gezwungen sachlich.»Exitus — der Patient ist tot.«

Aber Böhler hörte nicht auf ihn.»Sehen Sie denn nicht, daß die Transfusion nicht mehr weitergeht?!«schrie er einen Assistenten an der darüber hatte wachen sollen. Aus dem Gefäß mit dem Blut aber war in den letzten Minuten nichts mehr in die Adern des Kranken

geflossen. Sein Blutkreislauf war zusammengebrochen.

«Geben Sie mir eine lange Kanüle und eine Punktionsspritze mit etwas Kochsalzlösung und einem Kreislaufmittel — was Sie gerade dahaben.«, forderte Böhler die Operationsschwester auf.»Und kippen Sie den Tisch — Kopf tief«, herrschte er die Helfer an. Seine Stimme war gepreßt. Sein Gesicht verriet bleiche Wut, und man sah, daß er sich mühsam beherrschte.

«Was haben Sie vor?«fragte der Professor beinahe ängstlich.

«Intrakardiale Bluttransfusion«, antwortete Böhler, während er schon die Herzgegend des Kranken mit Jod anstrich.»Machen Sie eine Rotandaspritze bereit und eine Blutkonserve!«befahl er der Schwester.

«Aber der Mann ist tot«, beharrte der Professor,»alles kommt zu spät. Er atmet nicht mehr!«

Böhler schüttelte den Kopf.»Das Herz ist gesund, es hat nur kein Blut«, sagte er unwirsch.»Geben Sie weiter Sauerstoff und machen Sie künstliche Atmung«, ordnete er an. Seine Anordnungen wurden prompt befolgt.

Er setzte die Spritze auf den fünften Zwischenrippenraum und trieb die Nadel in die Tiefe. Seine Hand merkte, wie der Widerstand des Gewebes plötzlich schwand, und er wußte, daß er jetzt den Herzmuskel durchstach und in die rechte Herzkammer eindrang. Alle sahen, wie Blut in die Spritze stieg, Blut direkt aus dem Herzen.

«Her mit der Rotandaspritze und der Konserve«, zischte er. Seine Wut hatte ihn noch nicht verlassen. Sie galt nicht den Russen, die nicht genügend achtgegeben hatten — er war wütend, weil ihm der Tod einen Patienten entreißen wollte. In fliegender Eile, aber ohne ein einziges Mal danebenzugreifen, schloß er die Spritze mit dem Zweiwegehahn an die Kanüle an, die in der rechten Herzkammer steckte und leise vibrierte. Wortlos verfolgte Professor Pawlowitsch die zielsicheren, unbeirrbaren Bewegungen dieser Hände.

Böhler zog den Kolben der Spritze auf und drückte ihn wieder in den Zylinder hinein. So pumpte er Blut ins Herz, langsam, eine Spritze voll nach der anderen. Das Gefäß, in dem sich die Blutkonserve befand, war etwa zur Hälfte geleert, als der Assistent meldete:

«Der Puls ist wieder da.«

Böhler ließ sich nicht stören. Er pumpte weiter Blut ins Herz. Zuerst leise, dann kräftig hob sich jetzt die Brustwand. Der Kranke atmete wieder.

Böhler wusch sich aufs neue. Er kümmerte sich nicht um das Raunen im Operationssaal. Aber eine tiefe Befriedigung erfüllte ihn. Ein wenig belustigte er sich auch darüber, wie die Russen vor Staunen nach Luft geschnappt hatten — die Augen des Professors und der Assistenten, sie hatten ihre Verblüffung doch nicht ganz verbergen können.

Böhler ging zum Tisch zurück und beendete die Operation. Abdecken des Geschwürs mit Bauchfell — das ging jetzt glatt und würde abheilen. Verschluß des Bauchfells, Wundnaht-Verband.

Dann trat er vom Operationstisch zurück und blickte hinter das Zelt ins Gesicht des Kranken. Der hatte rosige Lippen.

Der deutsche Chirurg nickte seinen Mitarbeitern zu und machte eine leichte Verbeugung in den Saal. Dann ging er hinaus.

Am Abend kam Dr. Böhler wieder ins Lager zurück — der Wo-jennoplenni Dr. Böhler, Nummer 3/52864. Die drei Kommissare hatten ihn am Abend nach der letzten Untersuchung, und nachdem die erste Gefahr gebannt war, in der Klinik wieder verhaftet. Er zog seinen weißen Mantel aus, legte die weißen Schuhe ab. Die Kommissare übergaben ihn einem jungen Transportleutnant.

Als er die Gänge entlanggeführt wurde und in die große Eingangshalle kam, begegneten sie Professor Taij Pawlowitsch. Er ging an Dr. Böhler vorbei, als kenne er ihn nicht. er wandte nicht einmal den Kopf. Ein Plenni.

Der freundliche Kapitän-Arzt, der an der Anmeldeloge stand, drehte sich um und ging davon. Auch er grüßte nicht… er sah über Dr. Böhler hinweg. Ein Plenni.

Der Arzt biß die Zähne aufeinander. Rußland!

Vor dem Eingang des Monumentalgebäudes stand wartend Dr. Kre-sin. Er reichte Dr. Böhler beide Hände. Sein Atem flog.»Ich habe keine Worte«, schrie er.»Ich bin außer mir! Das habe ich noch nicht gesehen! Mein Junge. «Beinahe hätte er ihn umarmt. Da wußte Dr. Böhler, wo sein Zuhause war. Fast glücklich ging er zurück in das Lager. Als er in seinem Zimmer auf dem schmutzigen Bett lag, an die Decke starrte und eine Zigarette rauchte, als Dr. Kresin herumraunzte und auf die Kollegen in Stalingrad schimpfte, als Wor-otilow kam und heimlich eine Flasche Wein mitbrachte — er, der Kommandant! — , als die Kasalinsskaja und die Tschurilowa kamen, Dr. Schultheiß und Janina Salja, da war er zufrieden wie selten — da erkannte er staunend, daß er zu diesen Menschen gehörte, daß er ein Teil des Lagers 5110/47 geworden war.

«Ich muß mit Ihnen feiern«, sagte Worotilow herzlich.»Und wenn es Moskau hundertmal erfahren sollte. Ich möchte Ihr Freund sein, Dr. Böhler.«

Fünf Tage später erschien Sergej Kislew wieder im Lager. Er war sehr zufrieden mit dem, was ihm Professor Pawlowitsch gesagt hatte. Gesehen hatte er seinen Sascha nur zweimal — kurz nach der Operation, als er wie ein Toter aussah, und drei Tage später, als er schwach, aber voller Hoffnung in einem Einzelzimmer lag. Der Professor hatte ihm gesagt, es sähe ganz gut aus; der deutsche Arzt habe eine Operation gewagt, die es in der russischen Medizingeschichte noch nicht gegeben habe.

Nun war Sergej Kislew ins Lager gekommen, um sich zu bedanken. Er brachte keine Lebensmittel mit, keine für einen Plenni sinnlosen Rubel — er brachte eine Nachricht, eine Nachricht von Dr. von Sellnow.

Er hatte sich an die Worte Worotilows erinnert und im Lager 53/4 angerufen. Der Lagerkommandant hatte selbst gesprochen und gesagt, daß es Dr. von Sellnow ganz gut gehe. Er habe die Lungenentzündung überstanden und arbeite jetzt im Lagerdienst. Leichte Arbeit, Putzen und Handreichungen. Von dem Abkratzen der Die-len mit einer Glasscherbe hatte er nichts gesagt — wen ging das auch etwas an? Den Kislew überhaupt nicht! Und so hatte der Bauunternehmer angehängt und war ins Lager gefahren, um es Dr. Böhler zu sagen.

«Ich werde ihn mir zu Bauarbeiten holen und gut ernähren«, sagte er zu Worotilow,»wenn der Frühling kommt und die Bauten wieder beginnen. Vielleicht kann er meinen Sascha weiterpflegen — der Professor sagt, es kann lange dauern, ehe er wieder so ist, wie früher.«

«Dr. von Sellnow ist ein ausgezeichneter Arzt. Er war Chefarzt in einer deutschen Klinik.«

«Und warum sitzt er dann im Straflager?«

«Er hat einem Kommissar ein Auge ausgeschlagen.«

Sergej Kislew schaute Worotilow verblüfft an.»Einem Kommissar?«stotterte er.»Und er lebt noch, dieser Arzt?«

Worotilow hob die Schultern.»Sie haben gestern angerufen, Genosse Kislew — ob er heute noch lebt, das weiß keiner. Das weiß man nie im Lager 53/4. Ich möchte es wünschen.«

«Schrecklich. «Sergej Kislew wiegte den Kopf.»Aber wenn er einem Genossen das Auge ausschlug. Er ist eben doch ein deutsches Schwein.«

«Ein deutsches Schwein hat Ihrem Sascha das Leben gerettet«, meinte Worotilow sanft. Kislew schob die Unterlippe vor.»Dr. Böhler ist eine Ausnahme«, sagte er stockend. Er hatte es plötzlich eilig, wieder nach Stalingrad zurückzufahren.»Sagen Sie bitte Dr. Böhler, daß es seinem Kameraden gut geht. Und ich will versuchen, ihn im Frühjahr in meinen Bautrupp zu bekommen. Ich will es versuchen. Guten Tag, Genosse Major.«

Worotilow sah aus dem Fenster, als Kislew in seinen Wagen stieg und abfuhr. Sauerbrunn kehrte den Platz vor der Kommandantur.

«Dreckige Wanze«, sagte Worotilow in Richtung des abfahrenden Wagens. Er sagte es auf deutsch, und Hans Sauerbrunn hörte es.

Am Abend machte es im Lager die Runde von Mund zu Mund, von Baracke zu Baracke, von Block zu Block.

«Dreckige Wanze.«

Sergej Kislew wurde von diesem Tage an nie mehr anders genannt.

AUS DEM TAGEBUCH DES DR. SCHULTHEISS:

Nach langer Zeit kann ich wieder in meinem Tagebuch schreiben. Es war in den letzten Wochen, vor allem seit Weihnachten, so viel auf uns eingestürmt, daß ich keine Zeit und keine Muße fand, die Gedanken in Worte zu kleiden. Die Liebe Janinas erfüllt mich ganz. wir leben hier wie auf einer Insel… wir vergessen, wo und was wir sind. wir gehen wie durch einen Traum, der uns Glückliche in eine schreckliche Gegend versetzte, aber unsere Liebe nicht zerstören kann. Das Lager, die gefangenen Kameraden, das schlechte Essen, die Sehnsucht nach der Heimat… sie sind alle da, diese zermürbenden Tatsachen, aber doch liegen sie wie hinter einem Schleier.

Vor zwei Tagen bekamen wir wieder Post… nicht nur die >Par-teianwärter<, sondern alle.

Auch ich. von Mutter.

Ihre zittrige Schrift bedeckt eng die Karte. Sie hat vor Aufregung sogar über den Rand geschrieben und auf der Rückseite in die Adresse. es ist ein Wunder, daß man die Karte so durch die Zensur gelassen hat.

«Mein liebster Junge!

Nun wird es bald Weihnachten sein, und mehr als sonst denke ich an Dich. Uns geht es allen gut. Franz ist schon vor drei Jahren aus englischer Gefangenschaft gekommen und ist jetzt Rechtsanwalt in einem großen Werk. Melittas Söhnchen ist jetzt zwei Jahre alt und viel bei mir. Ich erzähle ihm oft von seinem Onkel Jens, der dort so weit, weit weg in Rußland ist. Wir alle hoffen, daß Du bald wiederkommst. Prof. Höffkens war einmal hier und fragte nach Dir.

Er will Dich sofort in seiner Klinik anstellen, wenn Du kommst. Alle lassen Dich grüßen. Unsere ganze Liebe ist jetzt bei Dir, mein lieber Jens, mein Kleiner. Bleib gesund und komm wieder. Ich will Dich noch einmal sehen. Ich küsse Dich

Deine Mutti.«

Am Abend kam Janina zu mir ins Zimmer… ich las ihr die Karte vor.»Einmal werde ich sie kennenlernen«, sagte sie.»Wenn du entlassen wirst, komme ich mit. «Sie legte den Kopf auf meine Schulter und strich mit den Fingern über die Schrift.»Wie sieht sie aus, deine Mutter, Jens? Wie du — blond, groß.?«

Und ich habe ihr von Mutter erzählt… eine ganze Nacht hindurch. Von dem ersten Tag an, an den ich mich erinnern kann. Ich spielte damals im Sandkasten, und Mutter saß auf der Einfassung und baute mit mir eine Burg. Sie hatte einen Eimer Wasser neben sich stehen und machte den Sand naß, damit er sich besser formen ließ. Franz, der Rechtsanwalt, war auf der Wiese hinter dem Haus und schoß mit Pfeilen auf eine große, strohgepolsterte Schießscheibe. Melitta war in der Schule… sie übte immer das kleine >b< und bekam nie die Rundung heraus. Immer wurden sie eckig. Damals im Sand begann meine Erinnerung an Mutter; sie baute mir einen Tunnel, durch den ich meine Sandkarre fahren lassen konnte, eine Burg mit richtigen Zinnen, einem Wassergraben und mehreren Höfen. Dann kam Franz und schoß mir mit Pfeilen die Burg zusammen. Da habe ich geweint, und Mutter hat gescholten und gesagt, sie werde es am Abend dem Vater sagen, wenn er aus der Klinik kommt. Von da ab habe ich viele Erinnerungen an Mutter. nur schöne, bis auf die eine, wo sie krank war und der Arzt jeden Tag zweimal kam. Eine böse Bronchitis hatte sich festgesetzt und wollte zu Herzasthma ausarten. Man kannte damals noch keine Antibiotika, auch in der Forschung der Sulfonamide war man noch nicht soweit wie heute. nur langsam erholte sich Mutter, und Vater gab an dem Tag, an dem sie wieder ganz bei Kräften war und jung und schön aussah wie vorher — für uns Kinder wurde Mutter nie alt —, einen kleinen Hausball. Der Landgerichtspräsident war da und küßte Mut-ter die Hand.»Gnädige Frau«, sagte er… das fand ich so komisch, daß ich laut kicherte hinter meiner Gardine, hinter der ich mich versteckt hatte, um alles mitzuerleben. Vater gab mir eine Ohrfeige. ich weiß es noch so genau, vor allen Gästen gab er mir eine. und schickte mich ins Bett. Später kam dann Mutter herauf und tröstete mich.»Wenn du größer bist«, sagte sie,»kannst du dableiben. Jetzt aber gehören kleine Jungen noch ins Bett. «Mutter glich immer aus, sie war immer mit einem guten Wort bei uns, sie verzieh uns immer.

Die ganze Nacht habe ich Janina von Mutter erzählt. Geduldig hörte sie mir zu und sagte, als ich schwieg:»Du mußt eine wunderbare Mutter haben.«

Jetzt, zwei Tage nach dem Postempfang, ist es wieder wie immer im Lager. Am ersten Tag war die Stimmung gedämpft, jeder war mit seinen Gedanken in der Heimat und verkroch sich in sein Inneres. Viele mochten wohl auch an Julius Kerner denken, den eine Nachricht aus der Heimat in den Tod trieb, diesen Kerner, den ein Leutnant Markow nicht klein bekam, der eine Stütze war mit seinem frechen Mund. und den ein paar Zeilen aus Deutschland so erschütterten, daß er sich nackt in den Schnee legte, um zu erfrieren.

Auch für Dr. von Sellnow war eine Karte dabei. Worotilow behielt sie in der Kommandantur und wußte nicht, was er mit ihr anfangen sollte. Daß die Karte ins Lager kam, bewies, daß man in Moskau nichts von einer Verlegung Sellnows in das Straflager wußte. Das war eine völlig neue Sicht der Dinge, das konnte sehr viel ändern, denn damit stand fest, daß es eine regionale Angelegenheit blieb, die man vielleicht irgendwie zum Guten wenden konnte. Wenn die Verantwortung bei der Division in Stalingrad lag, wenn der örtliche MWD die Verschickung veranlaßte, dann war die Hoffnung groß, Sellnow wiederzusehen. wenn er noch lebte.

Auch Worotilow schien das zu denken. Er schickte die Karte nicht zur Zentrale zurück, sondern behielt sie im Lager. Er steckte sie in seine Uniformtasche und unterrichtete Dr. Kresin. Von Dr. Kresin weiß ich es. wir alle wurden angehalten, der Kasalinsskaja nichts von der Post zu sagen. Wir wissen, daß sie sich wieder das Leben zu nehmen trachtet, wenn sie erfährt, daß Sellnow in Deutschland eine Frau und zwei Kinder hat. eine Frau, die mit aller Kraft ihres liebenden Herzens auf ihn wartet. Die Kasalinsskaja würde es nicht ertragen — sie würde sich und Sellnow der Leidenschaft opfern. Wir alle wissen es. Darum müssen wir schweigen.

Eine Woche später kam Sergej Kislew wieder ins Lager. Seinem Sohn ging es verhältnismäßig gut. Die Operation hatte keinerlei Nachwirkungen. Er konnte zwar vorläufig nur flüssige Nahrung zu sich nehmen, aber auch das würde sich bald umstellen lassen. Professor Pawlowitsch sei begeistert und habe im Kolleg an Hand von Zeichnungen die Operation noch einmal demonstriert. Kislew lächelte Worotilow an.»Ich glaube, er will die Operation in der Zeitschrift >Der Sowjet-Arzt< veröffentlichen — als seine eigene..«

«Und die Schüler, die dabeisaßen und sahen, daß Dr. Böhler sie ausführte?«

Kislew winkte ab.»Sie sind von der guten Laune des Chefs abhängig — bei der Prüfung vor allem! Und durchzufallen kann sich keiner unserer Staatsschüler leisten. Es wäre Sabotage!«

«Das alte Lied«, Worotilow seufzte.»Was führt Sie eigentlich her, Genosse Kislew?«

«Der deutsche Arzt im Lager 53/4.«

«Sellnow?«Worotilow sprang auf.»Sie haben Nachricht von ihm?«

«Ja. Leider keine gute. Er liegt im Sterben.«

«Nein!«Worotilow war ehrlich entsetzt. Er riß die Tür auf und brüllte einem Posten zu, sofort Dr. Böhler zu holen, sofort! Der Rotarmist rannte davon.»Wie ist das denn möglich? Ein Rückfall der Lungenentzündung?«

«Nein. Man hat ihn vergiftet.«

«Vergiftet?«Er starrte Kislew zweifelnd an.»Man hat ihn vergiftet?«

«Ja. Keiner weiß, mit was. Er selbst ist nicht bei Besinnung. Sein Obermann, ein Deutscher, der Buffschk heißt, pflegt ihn und weicht nicht von seinem Lager. Der Leutnant und Lagerkommandant weigert sich, einen Arzt holen zu lassen. >Soll verrecken!< hat er gesagt. Zwei SS-Ärzte, die auch im Lager sind, helfen ihm. Sie haben ihm den Magen ausgepumpt.«

«Solch eine Schweinerei!«Worotilow hieb mit der Faust auf den Tisch.»Ich fahre sofort nach Stalingrad! Man will keinen Arzt holen?! Ich schieße den Leutnant nieder!«

Dr. Böhler kam herein, erhitzt und atemlos. Er blickte auf Kis-lew und dachte, der Sohn sei gestorben. Aber dann bemerkte er den tobenden Worotilow und zog die Tür hinter sich zu.

«Sellnow ist vergiftet worden!«schrie der Major.»Das zweite Mal! Erst im Lager >Roter Oktobers jetzt im Straflager! Er liegt im Sterben.«

«Ich habe es geahnt«, sagte Dr. Böhler schwach. Also kamen doch alle Bemühungen zu spät. Man vergiftet einfach, was unbequem ist — das ist unauffälliger als ein Genickschuß oder das Zuschandentreiben eines Menschen auf dem Eis der Wolga. Bitterkeit stieg in ihm hoch.»Ich habe es geahnt, daß wir ihn nie wiedersehen. Weiß es die Ka-salinsskaja?«

«Nein! Bloß das nicht!«Worotilow hob entsetzt die Hände.»Sie wird versuchen, sich wieder umzubringen. Das hat Zeit, bis Sellnow wirklich gestorben ist! Der Leutnant im Lager weigert sich, einen Arzt zu holen! >Soll verrecken<, hat er gesagt.«

«Haben Sie anderes erwartet, Major?«Wut und Trauer schnürten Dr. Böhler die Kehle zu.»Sie sind doch ein Verfechter der Macht um jeden Preis. Und wenn es das sadistische Austoben an einem wehrlosen Kranken ist.«

Worotilow sah Böhler kalt an.»Sie sind übermäßig erregt«, sagte er.»Ich hätte es Ihnen gar nicht sagen sollen!«

«Und was geschieht nun mit Sellnow?«

«Voraussichtlich wird er krepieren. Ich sage nicht sterben — «, Worotilow sah an die Decke,»ich sage krepieren, das kennzeichnet die

wahre Situation.«

«Und es gibt keinen, der da eingreifen kann! Es gibt nur gesenkte Köpfe, die Befehle empfangen, und Speichellecken, aber es gibt keinen unter den ruhmreichen Rotarmisten und tapferen Offizieren, die für die Gerechtigkeit auch nur ein Wort riskieren!«

«Haben Sie es bei Hitler gekonnt?«

«Und haben Sie nicht Hitler gestürzt, eben weil wir das nicht konnten?! Befreiung des deutschen Volkes von der Knechtschaft des Tyrannen hieß doch die offizielle Rechtfertigung des Krieges!«

Worotilow lächelte hämisch.»Den Krieg haben Sie, die Deutschen, begonnen. Nicht wir! Sie sind in Polen eingefallen. Sie haben Belgien, Holland, Frankreich überrannt, Norwegen, Dänemark, Griechenland, Italien, Afrika, den Balkan und unser Mütterchen Rußland — trotz eines Freundschaftspaktes! Vergessen Sie das nicht! Auch Sellnow ist nur ein Opfer Ihres eigenen Systems! Nicht Rußland richtet ihn zugrunde, sondern Deutschland!«

Dr. Böhler antwortete nicht. Er sah auf Sergej Kislew, der dem Gespräch zuhörte, ohne ein Wort zu verstehen. Als Worotilow schwieg, blickte auch er Dr. Böhler an.

«Ich habe seinem Sohn geholfen«, sagte Dr. Böhler hart.»Gibt es in ganz Rußland keinen Menschen, der meinem Freunde hilft?«

Major Worotilow zuckte zusammen. Ein Gedanke ergriff ihn, ein Funken Hoffnung. Er schrie zur Tür hinaus auf den Platz vor der Kommandantur:»Macht den Wagen fertig! Sofort!«

Dann kam er zurück und richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf Böhler.»Sie haben es gesagt! Das ist die einzige Möglichkeit! Ich werde bei Pawlowitsch um Sellnow bitten. Ihn wird man vorlassen — ihn allein! Pawlowitsch ist Stalinpreisträger und >Held der Nation<! Seine Bitten sind halbe Befehle. Ich fahre nach Stalingrad! Jetzt gleich! Vielleicht kann er Sellnow noch retten!«

Er stieß Kislew an, rief ihm etwas zu und rannte aus dem Zimmer. Im Laufen zog er sich den dicken Mantel an.

Dr. Kresin kam von den Blocks herüber. Er war mißgelaunt, denn der Ernährungszustand der Gefangenen war schlecht — es war ein schlimmer Winter geworden, schlimmer, als man ihn bei allem Pessimismus vorausgesehen hatte. Er sah Worotilow mit Kislew zu den Wagen rennen und stieß auf Dr. Böhler, der gerade die Kommandantur verließ.

«Wollen die zwei ein Autorennen veranstalten?«brummte er.

«Ja.«

Dr. Kresin riß die Augen auf.»Wohl verrückt, was?«

«Nein — sie rennen um ein Leben: Sellnow liegt im Sterben!«

«Das hat noch gefehlt!«schrie Dr. Kresin.»Haben sie ihn fertiggemacht?«

«Er ist vergiftet worden.«

«Gottverdammte Sauerei! Wenn ich kein Russe wäre, würde ich schreien: Ich scheiße auf euren Staat! Ich wandre aus! Aber ich bin Russe. «Er sah Dr. Böhler hilflos an.»Manchmal schäme ich mich meines Mütterchens.«, sagte er leise.

Dr. Böhler legte ihm die Hand auf den Arm.»Sie sind ein guter Kerl, Kresin. Daß es Sie in Rußland gibt — das wiegt vieles andere auf.«

«Blödsinn!«Dr. Kresin sah zu den beiden Wagen hinüber, die jetzt aus dem Lager fuhren. Zuerst Major Worotilow, dann Sergej Kislew.»Und wo wollen die jetzt hin?«

«Nach Stalingrad! Zu Professor Pawlowitsch. Er soll versuchen, Sellnow zu helfen.«

«Dieser Superrusse? Nie!«Dr. Kresin schüttelte den Kopf.»Er hat Sie nur holen lassen, um von Ihnen zu lernen. Er hat Ihnen auf die Finger gesehen — jetzt macht er es allein und steckt den Ruhm dafür ein. Sie werden noch von ihm hören: Stalinpreisträger Professor Taij Pawlowitsch, Rußlands größter Chirurg!«

«Das ist mir alles gleichgültig!«Dr. Böhler sah den in der Ferne im Schnee verschwindenden Wagen nach.»Wenn er nur Sellnow retten kann.«

In Stalingrad fuhr Worotilow geradewegs in die Staatsklinik und ließ sich bei Pawlowitsch melden. Er wußte, daß sein Name und sein Rang allein keinen Pawlowitsch aus der Ruhe bringen konn-ten und setzte deshalb hinzu:»Ich bin Kommandant des Lagers, in dem Dr. Böhler lebt.«

Zehn Minuten später ließ ihn Pawlowitsch eintreten. Der Greis saß hinter einem riesigen Schreibtisch, der bedeckt war mit Röntgenplatten und Krankengeschichten.

Worotilow grüßte ehrfürchtig und kam gleich zur Sache.

«Genosse Professor«, sagte er, ehe Pawlowitsch etwas fragen konnte.»Mich schickt nicht allein unser Arzt Dr. Böhler, sondern auch das Gewissen.«

Pawlowitsch hob die Augenbrauen. Gewissen! Bei einem Major der Roten Armee! Er mußte lächeln und beugte sich weit vor.»Sie sind seelisch krank, Genosse Major?«

«Wenn Sie mir nicht helfen — ja! Dr. Böhler hat bei Ihnen eine Operation gemacht, die für die russische Chirurgie richtungweisend ist. Und ich möchte Sie als Lagerkommandant des Plennis Dr. Böhler bitten, ihm diese große Tat durch eine große Tat der Menschlichkeit zu danken.«

«Das klingt sehr geheimnisvoll. «Pawlowitsch kramte in seinen Papieren. Er suchte hinter den Sinn der Worte zu kommen und brauchte Zeit.»Um was handelt es sich denn?«

«In einem Straflager, dem Lager 53/4 bei Nishnij Balykleij, lebt seit einigen Wochen ein anderer Arzt — der Freund Dr. Böhlers, ein Dr. von Sellnow. Dieser Sellnow ist vergiftet worden — wir haben es eben erfahren —, und der dortige Leutnant weigert sich, einen Arzt zu holen, um ihn zu retten. Sie haben als größter Chirurg Rußlands.«, Pawlowitsch sah stolz auf,»…die Möglichkeit, sich Eintritt in dieses Lager zu verschaffen und Dr. von Sellnow zu retten — das wäre die große menschliche Tat, mit der Sie Dr. Böhler danken könnten!«

«Danken?«Pawlowitsch erhob sich; klein, zwergenhaft, wie zusammengeschrumpft stand er hinter dem Tisch.»Was habe ich dem deutschen Arzt zu danken? Die Operation? Ich hätte sie auch ohne ihn gemacht. Mich interessierte nur, wie weit die deutschen Ärzte in ihrer Operationsmethode sind — darum ließ ich einen deutschen

Kriegsgefangenen die Operation ausführen. Glauben Sie, ich hätte es nicht allein gekonnt?«

Worotilow biß sich auf die Lippen. Er hatte keine andere Antwort erwartet, er kannte den Ruf Pawlowitschs. Aber er blieb stehen — auch als der Professor um den Tisch herumkam und ein Buch aus seinem Bücherschrank nahm, als sei der Major gar nicht mehr im Zimmer.

«Sie helfen dem deutschen Arzt also nicht?«fragte Worotilow steif.

«Ich sehe dazu keine Veranlassung.«

«Darf ich Sie daran erinnern, daß Dr. Böhler auch Russen in seinem Lazarett behandelt hat. Leutnant Markow — er wäre gestorben ohne Dr. Böhler! Kommissar Kuwakino — er wäre seinen Verletzungen erlegen. Die Leiterin der Sanitätsbrigade Stalingrad, Genossin Janina Salja, ist auf unserer Lungenstation, weil kein russischer Arzt ihr helfen kann.«

Der Professor fuhr herum.»Ich hatte ihr zu einem Aufenthalt auf der Krim geraten!«

«Was nutzt es, wenn man die Lunge selber nicht angeht! Die deutschen Ärzte haben um sie gekämpft — jetzt hat sie einen Pneu und erholt sich langsam.«

Professor Pawlowitsch warf das Buch auf den Tisch, mitten auf die Röntgenbilder.»Ich kann es mir in meiner Stellung nicht leisten, in ein Straflager zu gehen, nur um einen deutschen Gefangenen zu behandeln!«

«Sie konnten es sich auch nicht leisten, einen deutschen Gefangenen in das Staatskrankenhaus zu holen, um einen Russen vor dreihundert russischen Studenten zu operieren!«

«Ich lasse Sie hinauswerfen!«sagte der Greis leise. Er bebte vor Wut.»Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig!«

Worotilow starrte ihn feindselig an. Auch ihn überwältigte die Erregung.

«Sie sind ein Arzt, Genosse Pawlowitsch! Sie nennen sich Arzt. Aber ein Arzt ist nicht nur ein Knochensäger oder Pillenverschreiber. Wo ein Mensch um Hilfe ruft, hat er zu helfen! Ein großer Name

verpflichtet — nicht nach außen hin, sondern in der Stille und um so mehr, je lauter der Ruhm nach außen schallt!«

«Hinaus!«schrie Pawlowitsch.»Noch ein Wort, Genosse Major, und ich lasse Sie füsilieren!«Der kleine Asiate zitterte, sein weißhaariger Kopf stieß vor und zurück, als sei er ein Geier, der seine Beute zerreißt. Wortlos drehte sich Worotilow um und verließ das Zimmer. Hinter sich hörte er, wie Pawlowitsch die Bücher vom Tisch warf und dann zum Telefon griff. Aber das Zuschlagen der Türe übertönte, was er in die Sprechmuschel schrie.

Auf der Rückfahrt wurde Worotilow beim Einbiegen in die Straße zum Lager von einer großen, schwarzen Staatslimousine überholt. Heulend raste sie an ihm vorbei. Hinter den blanken, schußsicheren Scheiben hockte Professor Pawlowitsch, neben sich einen Oberst und einen Hauptmann.

Lächelnd sah Worotilow dem Wagen nach. Er hielt an und beobachtete, wie er in die große Straße, die wolgaaufwärts führte, einbog — Richtung Saratow; die Straße, die auch durch Nishnij Baly-kleij läuft, vorbei an den verschneiten Blockhütten und Baracken von 53/4.

Werner von Sellnow lag in tiefer Bewußtlosigkeit, als Pawlowitsch im Lager 53/4 eintraf. Der junge Leutnant, erstaunt, daß man wegen eines dreckigen Deutschen solch ein Aufhebens machte, stand wie eine Säule, als der Oberst der Stalingrader Division und der Hauptmann als Leiter der Straflager durch das kleine Tor fuhren und ihn anbrüllten. Er ließ das Gewitter stumm über sich ergehen, er hörte Worte, die bisher in seinem Sprachschatz nicht vorkamen und die er sich für seine Untergebenen merken wollte. Der Oberst hielt sich mit Reden nicht auf, er half dem alten Pawlowitsch aus dem Wagen und nahm dessen Tasche an sich. Dann winkte er einigen steif stehenden Rotarmisten und befahl ihnen, die Bahre aus dem Gepäckraum zu holen.

Professor Taij Pawlowitsch sah sich um. Die Hütten. der tiefe

Schnee, der Schneesturm, der über das Lager fegte… die offene Latrine, vereist und mitten im Sturm. die wenigen Plennis, die sich wie Gespenster durch die Lagergassen schleppten. Mit zusammengepreßten Lippen wandte er sich an den Oberst.

«Das ist eine menschenunwürdige Unterkunft!«sagte er laut.»Man sollte sich schämen.«

Der Oberst hob bedauernd die Schultern.»Genosse Professor, wir wissen es. Aber wir können es nicht ändern!«

«Wo ist der Deutsche?«

Der Oberst faßte einen Rotarmisten am Ärmel.»Wo ist der deutsche Arzt? Der kranke?!«

Der Soldat rannte voraus. Pawlowitsch und der Oberst folgten. Hinter ihren Rücken schrie der Hauptmann noch immer mit dem jungen Leutnant herum. Gaffend standen die Wachmannschaften auf den Türmen. Sie waren froh, außerhalb dieser gespannten Atmosphäre zu sein.

In der Baracke blieb Pawlowitsch stehen. Der beißende Uringeruch schlug ihm entgegen. Fahl, halbdunkel lag der große Raum vor ihm. Die Betten, dreistöckig, die schmutzige Wäsche, der Geruch nach Schweiß und Kot. Er sah sich zu dem Oberst um, der steif hinter ihm stand.»Das ist eine Bestialität«, sagte er,»ich schäme mich, Russe zu sein.«

«Genosse Professor!«rief der Oberst entsetzt.

Pawlowitsch trat an das Bett Sellnows. Peter Buffschk saß bei ihm und wischte ihm mit einem schmutzigen Lappen immer wieder den Schweiß von der Stirn. Als er die Russen kommen sah, stand er auf und stellte sich in strammer Haltung neben den Kranken.

Pawlowitsch beachtete ihn gar nicht. Er beugte sich über Sellnow, zog dessen Augenlider hoch, fühlte den Puls, holte sein Stethoskop aus der Tasche und horchte das Herz ab. Dann griff er nach rückwärts, suchte in seiner Aktentasche nach einer Ampulle, zog eine Spritze auf und injizierte. Er mußte dreimal stechen, ehe er die dünne Vene traf.

Dann saß er neben dem deutschen Arzt und schüttelte den weißen Kopf. Er prüfte wiederholt die Arm- und Beinreflexe, hob die Augenlider hoch und ließ Licht in die Pupillen fallen. Schließlich erhob er sich und nahm den stumm danebenstehenden Oberst zur Seite. Mit seinen dürren, faltigen Fingern strich er sich über die Oberlippe.

«Schlimm«, sagte er,»sehr, sehr schlimm! Die Vergiftung ist nicht die Hauptsache… ich fürchte, der Deutsche hat einen Hirntumor. Viel deutet daraufhin. Ein Hirntumor… schlimm, sehr schlimm. «Er sah den Oberst schräg nach oben an.»Wir werden den deutschen Arzt rufen müssen. Diesen merkwürdigen >Arzt von Stalingrad<!«

Pawlowitsch verließ den Raum und kämpfte sich durch den Schneesturm zu der Baracke zurück, wo der junge Leutnant ängstlich zusah, wie der Hauptmann die Lagerbücher und Tagesrapporte prüfte.

«Kann man telefonieren?«fragte der Professor. Der Leutnant nickte und holte einen Apparat herbei. Er stellte ihn auf den Tisch und fragte:»Welche Nummer?«

«Das Lager 5110/47 Stalingrad.«

«Die Nummer kenne ich nicht.«

«5629 über Stalingrad-Division, Apparat 45«, brummte der Hauptmann. Dann beugte er sich wieder über die Rapporte.

Pawlowitsch bekam seine Verbindung. Eine Stimme meldete sich:»Division Stalingrad.«

«Apparat 45, bitte.«

«Wer ist dort?«

«Genosse Taij Pawlowitsch.«

«Kenne ich nicht.«, sagte die Stimme aus Stalingrad.

Pawlowitsch sah sich verblüfft nach dem Oberst um. Er schüttelte den weißen Kopf.»Da ist einer, der kennt mich nicht.«, sagte er völlig ratlos. Daß es einen Menschen in Rußland gab, der Taij Paw-lowitsch nicht kannte, brachte ihn völlig aus dem Konzept. Der Oberst griff nach dem Hörer und winkte dem Professor ab.»Hier Oberst Wadislav Sikolowitsch — sofort Apparat 45, du Rindvieh!«

Es knackte in der Leitung, dann rauschte es eine Zeitlang, bis sich die Stimme Leutnant Markows meldete:»Hier Lager 5110/47, Leutnant Piotr Markow.«

«Oberst Sikolowitsch, Generalstab. Sofort den Kommandanten!«

Leutnant Markow legte den Hörer hin und drehte sich zu Wor-otilow um, der sich am Ofen aufwärmte.»Ein Oberst möchte Sie sprechen, Major. Aus dem Generalstab.«

Worotilow ergriff den Hörer und vernahm plötzlich die Stimme Pawlowitschs. Sie war erregt und überschlug sich — aber Worotilow verstand, worum es ging. Er sah Markow der neben ihm stand, bedeutungsvoll an und legte nach einem kurzen» Ich werde es ausrichten «den Hörer hin.

«Sellnow hat einen Tumor im Gehirn«, sagte er leise.»Pawlowitsch will ihn operieren. Im Lager 53/4, weil er nicht transportfähig ist. Und Dr. Böhler soll auch hinkommen.«

«In das Straflager?«Leutnant Markow rieb sich das Kinn.»Wenn das in Moskau bekannt wird.«

«Sie brauchen nur das Maul zu halten, dann ist alles gut!«Worotilow zog seinen Mantel wieder an — er war noch naß von der Fahrt.»Wo ist Genosse Dr. Kresin?«

«Mit Genossin Kasalinsskaja bei den Untersuchungen.«

«Und Dr. Böhler?«

«Verbindet gerade. Ich habe gesehen, wie frisch Verbundene aus dem Lazarett kamen.«

«Die Nachricht wird ihn umwerfen«, sagte Worotilow leise.

Markow lächelte.»Den? Nein. Den wirft so schnell nichts um. Der ist zäher als unser Mittagsfleisch.«

Drei Stunden später, nach langen Gesprächen zwischen Worotilow und Pawlowitsch, fuhr eine Autokolonne aus dem Lager 5110/47 in Richtung Saratow. Im ersten Wagen saßen Worotilow, Dr. Böhler und Dr. Kresin, im zweiten Emil Pelz, der Sanitäter, Martha Kreutz und Erna Bordner, die beiden deutschen Schwestern, und ein russischer Wachleutnant. Im dritten Wagen lagen eine Bahre, eine große Kiste mit chirurgischen Instrumenten und Verbandsmaterial. Dr. Schultheiß stand am Tor, als die Wagen hinausfuhren in den wirbelnden Schnee, in den heulenden Sturm, der über die Steppe fegte und die Bäume bog. Hinter ihm, unter dem Schutz des Daches der Kommandantur, lehnte die Kasalinsskaja und weinte.

Sie trommelte mit den Fäusten gegen die dicken Bohlen der Barackenwand… sie hatte das Gefühl, alles um sich herum zerreißen zu müssen. Dr. Kresin hatte ihr befohlen, im Lager zu bleiben — sie hatte gebettelt und gefleht, getobt wie eine Irrsinnige, sie hatte alles Zerbrechliche in ihrem Zimmer zerschlagen, Dr. Kresin geohr-feigt, einen Schreikrampf bekommen… der russische Arzt blieb fest.»Ich will zu ihm!«hatte sie geschrien und an die Tür getrommelt, als Dr. Kresin sie einschloß, sie wollte aus dem Fenster springen. aber es war zugefroren und ließ sich nicht aufreißen. Erst als die Wagen abfuhren, öffnete man ihre Tür.

Und der Schneesturm heulte um das Lager. Die Wachttürme wurden wieder geräumt. Rußland versank in der tobenden Natur. Die Steppe schrie. Schnee. Schnee. Schnee.

Er deckte die einsamen drei Wagen auf der Straße nach Saratow zu. Sie kämpften gegen den Sturm, gegen den Schnee, gegen das Eis der Straße. Sie kämpften gegen den Wind und die flatternde Schneewand. Weit auseinandergezogen fuhren sie jetzt. die Wolga, links von ihnen, war unsichtbar. nur graue, wirbelnde Massen, nur Einsamkeit, Öde, Unendlichkeit… die erbarmungslose Natur.

Der dritte Wagen mit den Medikamenten und chirurgischen Instrumenten blieb in einer Schneeverwehung stecken. Die Fahrer und die beiden Rotarmisten stiegen aus und begannen zu schaufeln. Aber der Schnee war stärker. seine Massen warfen sich über sie. sie bedeckten den Wagen und die einsamen vier Männer mit den kleinen Schaufeln in den Händen.

Keiner merkte es. die beiden ersten Wagen fuhren weiter. wenn man zurücksah, war ja doch nur Schnee. Nur weiter. weiter.

Sie kamen durch einen Wald, der bis an die Wolga reichte. Die Bäume lagen auf der Straße… entwurzelt vom Sturm, gebogen vom Frost. Die Steppe, der Atem Sibiriens siegte. Man umfuhr sie, man drückte den Wagen aus einer Schneeverwehung heraus. weiter. weiter.

Dicht aufgeschlossen folgten Wagen Nummer 2… der dritte Wagen wurde zu einem Schneehaufen, in dem die vier Russen saßen und Machorka rauchten. Sie warteten eine Pause des Sturmes ab.

Nach sechs Stunden stießen die beiden Wagen aus dem Wald. sechs armselige Holztürme standen im Sturm: das Lager 53/4.

Die Helfer für Sellnow kamen ohne Medikamente, ohne chirurgische Werkzeuge, ohne alles! Nur der Mensch kam. der nackte, kleine Mensch. Dr. Kresin, Dr. Böhler, Worotilow. zwei Schwestern, ein Sanitäter. der Mensch mit bloßen Händen gegen den Tod!

Professor Pawlowitsch stand am Fenster, als die beiden Wagen ins Lager rollten.

Er atmete auf. Noch ahnte er nicht, wie grausam diese Stunde war.

Dr. Böhler, dachte er. Daß die Deutschen diesen Arzt haben, macht sie reich.

Als Dr. Böhler aus dem Wagen stieg, ging ihm Pawlowitsch durch den Sturm entgegen.