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Major Worotilow saß am Bett Sellnows und starrte ihn aus großen, verstörten Augen an. Emil Pelz wusch den Kranken mit aufgetautem Schnee. die Brust war eingefallen, über die Knochen spannte sich wie dünnes Leder die Haut.
Professor Pawlowitsch saß mit Dr. Böhler im Hintergrund der Krankenbaracke und raufte sich die weißen Haare. Er schrie mit dem jungen Lagerführer herum und drohte, die Fahrer des dritten Wagens vor ein Kriegsgericht stellen zu lassen.»Suchen!«brüllte er.»Schicken Sie Leute aus! Ich muß den Wagen haben! In ihm sind alle Medikamente und Instrumente! Der Wagen muß heran!«
«Es ist schwerer Schneesturm«, sagte der Leutnant schüchtern.»Es ist unmöglich, den Wagen jetzt zu finden. Wir kämen alle um, Genosse Professor.«
Dr. Kresin lehnte an der rohen Holzwand. Er spürte, wie der Schnee selbst hier durch die kleinste Ritze getrieben wurde. Fröstelnd raffte er seine dicke Pelzjacke enger um den Körper.
«Eine Schweinerei, wie sie größer nicht sein kann«, sagte er in seiner respektlosen Art.»Wir sind hier«- er lachte laut —»und müssen zusehen, wie ein Kollege stirbt! Untätig sehen wir zu. Sehr interessiert, wie ein Gehirntumor ihn umbringt. Wir haben nur die bloßen Hände, und das ist weniger, als wenn wir überhaupt nicht gekommen wären! Wie dumm, schwach, überheblich und im Grunde idiotisch der Mensch doch ist!«
Er senkte die Stimme. Erschütterung ergriff ihn, als er hinüber auf das Lager Sellnows blickte.»Ich werde das in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Niemals, Genossen!«
Der tatarische Greis wandte sich an Dr. Böhler.»Sie stimmen mir in der Diagnose bei?«fragte er.
«Ja, sicher, ein Tumor oder ein Abszeß, mehr kann man nicht sagen. Jedenfalls besteht Hirndruck, die Symptome sind unverkennbar. Wenn wir operieren könnten, würden wir ihn vielleicht noch retten.«
Professor Taij Pawlowitsch schloß die geschlitzten Augen.»Ich werde die Mannschaft des dritten Wagens nach Moskau melden«, murmelte er.»Sie haben einen Mord begangen.«
«Die Natur war stärker«, sagte Major Worotilow vom Bett her.»Wir haben Glück gehabt. Ihnen ist vielleicht eine Achse gebrochen, oder sie sind in einer Verwehung steckengeblieben. Keiner ist dafür verantwortlich. Das Schicksal ist gegen uns.«
«Das Schicksal!«Pawlowitsch wischte mit der Hand durch die Luft.»Das einzige Schicksal, das ich anerkenne, ist der Tod! Und ihm habe ich oft genug gegenübergestanden!«Er erhob sich. Seine Greisen-gestalt war gebeugt.»Kommen Sie, Genossen«, sagte er stockend.»Gehen wir hinaus. Es ist mir unerträglich, bei einem Sterbenden zu sitzen, dem ich helfen könnte.«
Er wollte die Klinke der Innentür herabdrücken, als ein Flackern durch den Raum ging. Die Glühbirnen zitterten — dann erlosch das Licht. Völlige Dunkelheit lag in der Baracke. Nur von dem eisernen Ofen her zuckte ein dünner Streifen Licht über den Dielenboden.
«Was ist das?!«schrie Dr. Kresin.
«Das Licht ist weg. «Der junge Leutnant ließ ein Streichholz aufflammen.»Der Schneesturm hat die Leitung heruntergerissen. Wir werden jetzt vierzehn Tage kein Licht haben. Ich kenne das.«
«Auch das noch!«stöhnte Worotilow. Er hatte sich vom Bett Sell-nows erhoben und stieß nun die Feuerklappe des Ofens auf. Matter Schein flackerte in einem kleinen Umkreis um die Stützbalken der Decke.»Lassen Sie sofort die Leitung absuchen, Leutnant!«
«Die Leitung führt über eine Strecke von sechzig Kilometern! Es ist eine Schwebeleitung. Wer weiß, wo sie zerrissen ist.«
«Aber wir können doch nicht ohne Licht sein!«schrie Pawlowitsch.
«Wir haben Petroleumlampen! Und wenn sie ausgehen, nehmen wir Kienspäne.«
«Das ist ja grausigstes Mittelalter!«brüllte Dr. Kresin.
«Das ist Rußland.«, sagte der junge Leutnant still.
Drei Wachsoldaten brachten die Petroleumlampen. Sie rußten und stanken. Es waren uralte Modelle aus der Zarenzeit und aus irgendeinem Bauernhof beschlagnahmt. Sie wurden an die Balken der Baracke gehängt und blakten durch die Stille, die jetzt in dem wei-ten Raum lag. Nur von draußen hörte man das Heulen des Sturmes. Worotilow sah Dr. Kresin an.»Nie habe ich den Winter so gehaßt wie heute«, sagte er leise.
Dr. Böhler saß auf dem Bett des sterbenden Sellnow und blickte ihn unverwandt an. Emil Pelz hielt eine Petroleumlampe hoch und leuchtete. Immer wieder glitten die Finger Dr. Böhlers über die Stirn des Kranken. Worotilow sah diesen Händen wie gebannt zu. Pawlowitsch kaute auf der Unterlippe und schnippte vor Nervosität mit den Fingern.
«Ich werde doch operieren«, sagte Dr. Böhler leise.»Wir werden einen entlastenden Eingriff machen.«
Pawlowitsch fuhr wie ein Geier hoch.»Sind Sie irrsinnig? Womit denn?«
«Mit meinen Händen.«
Dr. Kresin wurde es plötzlich heiß in seiner Jacke, er riß sie von der Schulter.»Böhler, Sie wissen nicht, was Sie da sagen! Das ist doch Blödsinn! Kein Licht, keine Instrumente, keine Narkosemittel.«
«Eine Narkose brauchen wir nicht… er wird nichts spüren… und Licht haben wir. Pelz wird die Lampe nahe genug heranhalten. es muß genügen.«
Professor Pawlowitsch fuhr sich mit beiden Händen durch die weißen Haare.»Sie können doch nicht den Schädel öffnen.«, stotterte er.
«Ich muß. Es bleibt uns keine Wahl. «Dr. Böhler sah hinüber zu einem der SS-Ärzte, die wortlos auf ihren Pritschen hockten und zusahen.»Habt ihr einen Meißel da?«fragte er.»Einen einfachen kleinen Meißel, Jungs, und einen Drillbohrer, möglichst klein.«
Der eine Arzt nickte. Er schluckte, als er sprach. Das Ungeheuerliche, was er hier erlebte, raubte ihm fast die Besinnung.
«Wir haben bei den Werkzeugen Meißel und Bohrer, wie sie die Zimmerleute brauchen.«
«So einer genügt. Holt mir einen davon und einen Hammer. Und bringt Zwirn mit, einfachen Schneiderzwirn — und Nadeln.«
«Ja, Herr Stabsarzt«, stammelte der SS-Arzt. Gebückt, als habe man ihn geschlagen, verließ er schnell die Baracke. Doktor Kresin riß sich das Hemd auf.»Das ist Wahnsinn«, murmelte er.
Dr. Böhler erhob sich von den Knien. Auf der anderen Seite des Lagers stand Emil Pelz. Der Sanitäter hielt die Lampe hoch. Seine Hand zitterte.
«Angst, Emil?«fragte Böhler.
«Ja, Herr Stabsarzt.«
«Dann mach einen Operationstisch fertig… nimm ein Bett und leg die Bodenbretter doppelt übereinander. «Er wandte sich zu den anderen, die auf den Betten hockten. In ihren Augen lag Entsetzen und Unglauben. Buffschk lehnte an seinem Strohsack und weinte leise vor sich hin wie ein Kind.»Ich brauche Koppel oder Riemen.«
Zögernd wurden ihm die Leibriemen gereicht. Emil Pelz nahm sie an und baute aus Brettern den Operationstisch. Pawlowitsch griff sich an den Hals.»Sie wollen wirklich?«flüsterte er.
«Ich muß, Herr Professor. «Dr. Böhler sah ihn an, seine blauen Augen waren glanzlos. Es war, als käme eine plötzliche, große Erschöpfung über ihn und raube ihm die Kraft des inneren Widerstandes.»Wollen Sie mir assistieren? Oder soll es Dr. Kresin machen?«
«Ich nicht!«sagte Kresin stotternd.»Ich kann das nicht.«
Der SS-Arzt kam zurück. Er war mit Schnee bedeckt, seine Ohren waren blaugefroren. In der Hand hielt er Hammer und Meißel und eine Rolle Zwirn. Außerdem brachte er vier Verbandspäckchen mit, eine Lage Mull und drei Platten Zellstoff.»Das ist alles, was im Revier noch war«, sagte er leise.
Dr. Böhler nickte.»Das ist mehr, als ich erwartet habe. «Pelz setzte ein Kochgeschirr mit Schnee auf den Ofen. Bald kochte das Wasser und in ihm die primitiven Instrumente. Pawlowitsch zog seinen Rock aus, krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch und tauchte die Hände in eine Waschschüssel, die ihm ein Rotarmist reichte. Mit einem Stück billigster Kernseife, die nach Fisch roch, wusch er sich die Arme. Unterdessen trugen der SS-Arzt und Emil Pelz den Kranken auf den improvisierten Tisch und schnallten ihn in sitzender Haltung mit den Koppeln fest. Böhler goß das kochende Wasser aus, in dem er seine Instrumente sterilisiert hatte: ein Messer und zwei Pinzetten aus Pawlowitschs Tasche. Pelz rasierte den Kopf Sell-nows vollkommen kahl und wusch die Kopfhaut mit Wasser und Seife. Dann strich er sie über und über mit Jodtinktur an, die sich in der Tasche des Professors befunden hatte.
Ohne Zögern legte Böhler einige Schnitte bis auf den Knochen. Dann schob er die Kopfhaut an den Wundkanten zurück. Er ließ sich den Bohrer reichen, den der Professor eingespannt hatte, setzte die Spitze behutsam auf den freigelegten Schädelknochen und begann zu drehen, ganz vorsichtig. Er handhabte das plumpe Gerät mit einer Leichtigkeit, die ihn selbst erstaunte. Er bohrte ein halbes Dutzend Löcher in die Schädeldecke — entlang dem Schnitt, den er in die Kopfhaut gelegt hatte.
Dann nahm er den Meißel aus dem Topf. Der Professor beschäftigte sich mit der Wunde und tupfte die schwache Blutung weg. Pelz reichte den kleinen Hammer. Böhler setzte die Schneidekante des Meißels senkrecht in eines der kleinen Löcher, die durch die ganze knöcherne Hirnschale gingen. Mit leichten Schlägen trieb er die Schneide vorwärts, so zart wie möglich, mit genauso viel Kraft, wie unbedingt nötig war, um von einem Loch zum anderen eine schmale Rinne in das Schädeldach zu graben.
Major Worotilow wandte sich zur Wand und schloß die Augen, als der Meißel knirschend in den Knochen fuhr. Dr. Kresin hielt sich zitternd an einem Bett fest und starrte auf Böhlers Hände. Die beiden SS-Ärzte standen neben dem Operationstisch und hielten den Patienten. Emil Pelz leuchtete mit der Petroleumlampe. Seine Hand zitterte, und mit ihr zitterte der Schein des Lichtes.
Langsam, Millimeter für Millimeter, fraß sich der Meißel in den Knochen. Von Zeit zu Zeit setzte Böhler ab und betrachtete forschend das Gesicht seines Patienten. In Abständen meldete ihm einer der beiden deutschen Ärzte den Puls, und Professor Pawlowitsch spülte mit einer Injektionsspritze, die er mit abgekochtem Wasser füllte, Knochensplitterchen aus der Wunde. Dann tupfte er das Wasser sorgfältig fort.
Kein Laut war in der Baracke, bis auf das metallische Geräusch, mit dem der Hammer auf den Meißel schlug. Ab und zu noch ein aufquellendes Stöhnen des Ohnmächtigen.
Hier vollzog sich das Wunder einer Hirnoperation, von der man später in allen Lagern erzählte, in denen deutsche Gefangene lebten. Ihr Ruf drang nach Moskau bis in den Kreml zu den roten Herrschern und auch nach Deutschland — Dr. Böhler vorauseilend und seinen Namen unauslöschlich mit der Geschichte der Gefangenen von Stalingrad verknüpfend.
Nach einer knappen Viertelstunde legte der Chirurg den Hammer aus der Hand. Er hatte aus der Schädeldecke ein etwa rechteckiges Stück Knochen ausgemeißelt, das aber an einer Seite noch mit dem Schädelknochen verbunden war. Vorsichtig setzte er jetzt die Schneide des Meißels unter das Knochenstück und hebelte es an, indem er den Rand des Schädelknochens und eine unterlegte Mullkompresse als Stütze benutzte. Das wiederholte er an mehreren Stellen, bis das abgetrennte Stück leicht über der Oberfläche stand. Nun trat er zurück und ging zum Waschständer. Sorgfältig wusch und schrubbte er noch einmal seine Hände. Dann ging er wieder zum improvisierten Operationstisch und griff nach der teilweise losgelösten Knochenplatte. Mit einigen leichten Rucken hob er sie an, und ein leises Krachen verkündete, daß sie an der Seite, an der sie noch mit dem übrigen Schädeldach zusammenhing, losbrach. Nun konnte Böhler die Platte, die noch immer mit der zu ihr gehörigen Kopfhaut verbunden war, zurückschlagen. Der Zugang zum Gehirn lag durch ein Tor von der Größe einer Zigarettenpackung frei da.
Das Gehirn pulste leise. Es wölbte sich in die Öffnung vor.
«Haben wir etwas Morphium?«fragte Böhler den Professor.»Es besteht die Gefahr, daß er erwacht, jetzt, wo der Hirndruck nachläßt.«
«Keine Angst wegen der Atmung?«fragte der Professor zurück.
Böhler zuckte die Achseln.»Was bleibt uns übrig«, sagte er gepreßt.
Der Professor nickte.»Morphium ist außer den Analeptika das einzige, was ich da habe. Pelz, bringen Sie aus meiner Tasche eine Ampulle Morphium. «Und zu einem der SS-Ärzte gewandt:»Vielleicht machen Sie die Injektion.«
«Intravenös«, setzte Böhler hinzu,»ganz langsam spritzen, bitte.«
Der SS-Arzt injizierte in eine Vene der Ellenbogenbeuge. Gleich darauf tastete Böhler zart die Oberfläche des Gehirns ab.
«Ich fühle hier eine Resistenz«, sagte er zu den anderen,»es ist, glaube ich, ein Abszeß. Ich werde punktieren. Reichen Sie mir eine starke Kanüle, die stärkste, die wir haben.«
Pelz reichte ihm das Gewünschte mit einer Pinzette, und Böhler stach die Nadel in das Gehirn. Gelber, dicker Eiter drang hervor.
«Ich werde den Abszeß ausschneiden«, sagte Böhler ruhig. Alle sahen ihn überrascht an. Wie wollte er mit den wenigen Instrumenten, über die er verfügte, einen so schwierigen Eingriff durchführen? Schon die Entlastungsoperation hatte an der Grenze des Möglichen gelegen — mitten aus dem Gehirn jedoch einen Abszeß auszuräumen und seine Kapsel ausschneiden — das schien unter den gegebenen Umständen unmöglich.
Aber niemand widersprach.
Mit dem kleinen Messer schnitt Böhler in die Hirnhäute ein und arbeitete sich mit Hilfe eines blechernen Eßlöffels an den Abszeß heran, der dicht unter der Oberfläche lag. Es gelang ihm, die Kapsel des Geschwürs ohne Blutung auszulösen und zu entfernen. Dann klappte er die knöcherne >Falltür< mit der Haut daran zurück und machte die Hautnaht.
Fertig.
Der Patient atmete ruhig, und sein Puls war besser als bei Beginn der Operation. Nach einer Stunde lag er schon wieder in seinem Bett — so lange hatte die Operation gedauert. Pelz, die beiden deutschen Ärzte und Buffschk lösten sich bei der Pflege ab. Sie ließen ihn keine Sekunde aus den Augen.
An der Tür stand Professor Pawlowitsch und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß aus dem Gesicht. Die Augen von Dr. Kresin strahlten; er rang nach Worten. Worotilow lehnte bleich an der
Wand und schwieg. Neben dem Ofen wusch sich Dr. Böhler mit der nach Fisch stinkenden Kernseife Arme und Hände. Jetzt durften auch die beiden Schwestern in die Baracke, deren Betreten Paw-lowitsch vor Beginn der Operation verboten hatte. Martha Kreutz und Erna Bordner säuberten mit Schneewasser die Bretter und den Boden.
Vor der Baracke, über das flache Land an der Wolga, über das Dorf Nishnij Balykleij und das Lager, über die Niederungen von Stalingrad bis Saratow heulte der Schneesturm. Er bog die Bäume, er tötete die streunenden Wölfe, er zerriß das Eis der Flüsse und ließ es sich auftürmen zu Bergen, er fegte die Erde glatt wie ein Leichentuch und riß Mensch und Tier mit sich weg.
Winter.
Winter an der Wolga.
Professor Pawlowitsch hockte in der kleinen Wachbaracke am Ofen und wärmte sich die Hände.»Der Kranke kommt nach Stalingrad«, sagte er.»Sobald der Sturm sich legt.«
Verlassen stehen die Türme des Lagers, die Baracken liegen im Schnee vergraben. Am Ufer der Wolga irren die Wölfe und schreien gräßlich, ehe sie vor Frost sterben. Ihr Fleisch ist hart wie Eisen. die anderen hungrigen Wölfe fressen es nicht. ihre Zähne bluten. Es gibt nichts mehr als den Sturm.
Drei Wochen später geschah die Sache mit der Kokosnuß.
Eine Sensation war in das Lager 5110/47 eingezogen: Nach dem Abebben des Sturmes und dem Übergang des Schneefalls in Frost, der das Land zu einer riesigen Eisfläche machte, kamen neue Transporte aus Stalingrad in das Lager. Lastwagen, gefahren von dick vermummten, in Schafpelzen steckenden Plennis, brachten neben Verpflegung — Hirse, Fleisch, Fett, trockenem Salzfisch, Hefe, Brot und dem unvermeidlichen Kohl — auch eine Ladung Pakete.
Pakete aus der Heimat! Die ersten Pakete seit Jahren!
Worotilow stand dieser Sendung zuerst hilflos gegenüber. Er hatte weder aus Moskau noch von der Division in Stalingrad Befehl erhalten, diese Pakete auszugeben, noch wußte er, mit welchen Sicherheitsmaßnahmen und Vorsichtsmaßregeln die Ausgabe vor sich gehen sollte. Das alles wurde sonst von Moskau durch einen Befehl geregelt, und dieser Befehl war ausgeblieben. Ohne Befehl aber handelt kein russischer Soldat. Bleibt er aus, ist er der Verlassenste unter allen Menschen. Denn wie man es auch macht — wenn nachher die Direktiven aus Moskau eintreffen, war es bestimmt falsch.
Die Pakete wurden also vorerst in der Kommandantur gestapelt und genau gezählt, namentlich aufgenommen und registriert. Leutnant Markow übernahm diese Arbeit mit Hans Eberhard Möller als Schreiber. So wurde es im Lager wie ein Lauffeuer bekannt, daß 482 Pakete aus der Heimat bei Worotilow lagerten, durchschnittlich zehn Kilo schwer. Pakete mit Essen, mit Lebensmitteln, mit seit Jahren entbehrten Dingen.
482 Pakete zu je zehn Kilo.
Das sind 4.820 Kilo.
Das sind 9.640 Pfund.
96,4 Zentner.
Durch das Lager ging ein Zittern, ein Raunen, eine Erregung. Wir sind nicht vergessen! Man denkt an uns! Man liebt uns noch. uns, die einsamen Plennis an der Wolga. Wir gehören noch zu den Menschen.
Major Worotilow telefonierte mit der Division in Stalingrad. In Stalingrad wußte man ebenfalls nichts als die Tatsache, daß Moskau mit der Zentralpost auch die Pakete durchließ und sie an die Divisionslagerleitung weiterschickte. Es mußte also im Interesse Moskaus liegen, die Pakete auszugeben, folgerte man. Natürlich mußten alle Büchsen und jede Ware genauestens kontrolliert werden. Die Pakete könnten also nur einzeln ausgegeben werden — und erst nach peinlichster Untersuchung.
Major Worotilow hängte ein und sah Dr. Kresin an, der eine Schale chinesischen Tee schlürfte.
«Ich gebe die Pakete morgen aus«, sagte er.»Markow wird die Untersuchung mit zehn Mann übernehmen. «Er sah aus dem Fenster auf das weite Lager und die schwarzen Gestalten, die sich auf dem vereisten Schnee bewegten.»Ich gönne es ihnen, Sergeij.«
Beim Mittagsappell wurden die Namen derer verlesen, die ein Paket bekommen hatten. Am Abend noch einmal für die, die aus der Stadt und den Außenkommandos von der Arbeit kamen. Ausgabe morgen früh nach dem Frühstück. In Gruppen zu je zehn Mann. Für die Arbeitskommandos am Abend nach dem Appell.
Eine Welle der Freude überflutete das Lager. Die Genannten benahmen sich wie Kinder vor dem Weihnachtsfest. sie schliefen in dieser Nacht überhaupt nicht. sie wanderten in der Baracke herum, erzählten von ihren Angehörigen, schwelgten in dem Vorgenuß und starrten in den Himmel.
Am Morgen, nach dem Zählappell, standen sie Schlange vor der Kommandantur. Leutnant Markow brüllte mit alter, gesunder Lautstärke. Er ordnete erst pedantisch die Reihen, ehe er die Tür öffnete und die ersten zehn eintreten ließ.
An einem langen Tisch standen zehn Rotarmisten vor den Paketen, die jetzt vor den Augen der Plennis geöffnet wurden.
Das Packpapier knisterte. Dann der Karton. Der Deckel war verschnürt… die Bindfäden wurden durchschnitten. Der Deckel hob sich.
Büchsen. Tüten. Plattenfett. In Zellophan, Pergament, braunem Fettpapier.
Die Russen staunten. Sie standen vor einem Märchen. Sie drehten die Büchsen in den Händen und klopften mit den Knöcheln gegen das Weißblech.
Die zehn Plennis strahlten. Sie aßen bereits mit den Augen. sie schluckten den Speichel hinunter und wischten die Hände an den Hosen ab. Sie schwitzten vor Erregung.
Mit Seitengewehren und einigen beigelegten Büchsenöffnern wurden die Konserven geöffnet. Rindfleisch im eigenen Saft. Corned beef. Schmalzfleisch. Bohnen mit Speck. Apfelmus. Erdbeermar-melade. Aprikosengelee. Apfelkraut. Johannisbeergelee.
Die Rotarmisten aus den Steppen Sibiriens glotzten. Eine neue Welt tat sich vor ihnen auf. eine unbekannte, große, herrliche Welt des Wohlstandes und des Genusses. Sie schnupperten an den offenen Büchsen und verdrehten die Augen.
«Ich gebben hundert Papyrossis für Büchse.«, sagte einer leise.
«Du kannst mich hundertmal am Arsch lecken!«war die Antwort. Man nahm es nicht übel. die Deutschen waren reich. die Plennis waren sehr reich… sie hatten zu essen, besser als Genosse Stalin im Kreml und Genosse Kommissar im schmutzigen Stalingrad. Die Plennis.
Leutnant Markow überflog die zehn geöffneten Pakete, die Büchsen, die Tüten, deren Inhalt offenlag. Plötzlich stutzte er und trat zu einem Paket hin, das Peter Fischer erhalten sollte. Inmitten des Blechs und Zellophans lag ein runder, brauner Gegenstand. Er sah aus wie eine haarige Kugel, fühlte sich an wie Holz, gluckerte beim Schütteln und war leicht.
Eine Kokosnuß.
Leutnant Markow hob die Augenbrauen und schob die Unterlippe vor. Woher soll ein russischer Leutnant aus der Steppe eine Kokosnuß kennen? Er ergriff den merkwürdigen, den verdächtig runden, leichten, holzigen und haarigen Gegenstand und schüttelte ihn. Es gluk-kerte. Wahrhaftig, es gluckerte. Das Ding war hohl, und in dem Ding war etwas, das an die Wände schlug.
«Was ist das?!«brüllte Markow Peter Fischer an.
Der Plenni grinste.»Ein Elefantenei«, sagte er höflich.
«Was?!«
«Ein Elefantenei!«
Die neun anderen Plennis grinsten breit. Leutnant Markow bemerkte es und wurde rot.
«Aufmachen!«schrie er.»Dawai!«
Peter Fischer zuckte mit den Schultern und klopfte an die harte Schale.»Es geht nicht«, sagte er. Dabei machte er ein trauriges Gesicht.
Leutnant Markow stutzte einen Augenblick, dann riß er einem
der Rotarmisten ein Seitengewehr aus der Hand und setzte es an. Der Stahl glitt an der harten Schale der Kokosnuß ab und haarscharf neben der haltenden Hand in den Tisch. Die Plennis grinsten breiter. Peter Fischer sagte sogar:»O weh!«
Leutnant Markow wurde aschgrau. Er blickte um sich, sah auch seine Soldaten grinsen und steigerte sich in einen Anfall von Wut.
«Beil her!«schrie er.»Ein Beil!«
Aus der Küche brachte ein Rotarmist eine Axt. Draußen, auf dem Hof, standen die langen Schlangen der wartenden Plennis. Es hatte sich herumgesprochen, was im Inneren des Hauses vor sich ging, und der Kampf Leutnant Markows mit der Kokosnuß wurde eines der klassischen Erlebnisse der Gefangenschaft, die man nie vergaß.
Die Axt in der Hand, sah Markow die Nuß an.»Was ist das?!«schrie er noch einmal Peter Fischer an. Aber er wartete die Antwort gar nicht ab — er schlug zu, mit aller Wucht. Die Nuß klaffte auseinander, und die Kokosmilch lief klebrig über den Tisch. Verblüfft betrachtete Markow das Innere. Weißes, festes Fleisch, appetitlich duftend — er roch daran und betastete es.»Kann man essen?«fragte er erstaunt.
Peter Fischer nickte.»Ja.«
«Warum nicht sagen gleich?«schrie Markow auf. Er warf die Axt in eine Ecke und schob Fischer das Paket zu.»Nächster!«schrie er.
Es ging jetzt schnell und reibungslos. Die Kokosnuß lag Markow im Magen. Über das, was er nicht kannte, sah er jetzt hinweg, immer bemüht, sich nicht noch einmal vor aller Augen zu blamieren. Er ließ sogar eine Büchse Marmelade durchgehen, ohne sie mit einem langen Fleischmesser zu sondieren — das war ein Glück, denn in der Büchse lag ganz unten eine kleine Metallkapsel, und in dieser Kapsel befand sich ein kurzer Brief. Seine Auffindung hätte eine Sperre aller Pakete nach sich gezogen. Aber Markows Laune war verdorben, so daß ihn nicht einmal mehr die kleinen Schikanen, wie das Auseinanderbrechen der Tafeln Schokolade oder das Aufwickeln von Bonbons, reizen konnten.
Am Abend, nach der Ausgabe der letzten Pakete an die Arbeitskolonnen, brach Festtagsstimmung im Lager aus. In den Baracken saßen die Plennis und kauten oder rauchten. Kolonnen waren unterwegs und tauschten. Zigaretten gegen Kaffee, Kakao gegen Butter, Marmelade gegen Puddingpulver und Kondensmilch. Am regsten war der Betrieb bei dem großen Tor, wo die biederen Rotarmisten alles eintauschten, um einmal deutsche Konfitüre oder deutsche Kekse zu bekommen. Und Schokolade. Heilige Mutter von Kasan. wo gab es in Archangelsk Schokolade.?
Ein Wunderpaket hatte Peter Fischer bekommen. Nicht allein, daß er mit seiner Kokosnuß die Ordnung im Lager aus den Angeln gehoben hatte — er fand zwischen allen anderen Lebensmitteln auch einige Tüten von Eiermanns Schnellpudding.
Eiermanns Schnellpudding ist ein schönes Ding. Man schüttet das Pulver in Wasser, rührt herum und schwupp — ist der Pudding fertig! Ohne Kochen, ohne Milch, ohne Zucker. Eiermanns Schnellpudding schaffte das. er war ein Wunder der Nahrungsmittelchemie. Auf der Tüte stand groß: Kein Kochen! Kein Anbrennen mehr! Wohlschmeckend, gesund und kräftigend!
Peter Fischer, der immer noch dem musikalisch sehr unbegabten Michail Pjatjal Trompetenunterricht erteilte und dafür von ihm Fleisch und Fett erhielt, ließ es sich nicht nehmen, Eiermanns Schnellpudding dem Küchenleiter persönlich vorzuführen.
Es war am gleichen Abend. Pjatjal nuggelte an seiner Trompete, als Peter Fischer mit dem Paket Schnellpudding in der Küche erschien. Er holte sich eine Schüssel und eine Kanne Wasser und stellte sie vor Pjatjal hin.
«Weißt du, was das ist?«fragte er und ließ Pjatjal und dann Bascha an der Tüte riechen. Pjatjal grinste dumm.
«Pudding!«meinte er.»Milch ist da! Und Zucker auch! Wollen wir ein Puddingchen machen, Genosse Plenni?«
«Ja. «Fischer nickte.»Aber ohne alles! Nur kaltes Wasser!«
«Brüderchen, du bist verrückt«, sagte Pjatjal gönnerhaft.»Das gibt es nicht.«
«Nicht in Rußland. Aber in Deutschland, Genosse! Das ist das
Neueste! Paß einmal auf..«
Peter Fischer goß Wasser in die Schüssel. Dann schüttete er den Inhalt der Tüte hinein, nahm einen Quirl und verrührte das Pulver in dem Wasser.
Eiermanns Schnellpudding machte seinem Namen alle Ehre. Das Wasser wurde gelb, es wurde sämig, es wurde dick — und siehe da: der Pudding stand steif und goldgelb. Zur Bekräftigung schüttelte Fischer die Schüssel etwas und ließ den Pudding wackeln.
Michail Pjatjal riß die Augen auf. Er tippte mit dem Zeigefinger auf den Pudding. er starrte Bascha an, die sprachlos und mit weitgeöffnetem Mund danebenstand… er tippte wieder auf Eiermanns Wunderpudding und schüttelte immer wieder den Kopf.
«Pudding!«sagte er erschüttert.»Richtiger Pudding! Kosten!«
Er stach sich etwas ab und aß es. Er schmatzte und sah Peter Fischer mit glänzenden Augen an.»Sehr gut, Brüderchen. Ein Pudding!«Er nahm die noch halbvolle Tüte hoch und roch an dem Pulver.»Was ist das?«fragte er.
«Pudding«, sagte Peter Fischer.»Deutscher Arbeiterpudding.«
«Was?«
«Deutscher Arbeiterpudding! Das kann sich bei uns in Deutschland jeder Arbeiter leisten! Das ist eine Volksspeise!«Er lächelte.»Wann hast du den letzten Pudding gegessen, Michail?«
«Vor vier Jahren.«, seufzte Pjatjal.»Und ich bin doch auch ein Arbeiter! Und mein Bruder auch! Der arbeitet in Stalingrad auf dem Bau. Der hat noch nie Pudding gegessen.«
«Er lebt ja auch nicht in Deutschland! Bei uns essen das alle! So ein Pudding kostet keine zwanzig Pfennig! Rund zehn Kopeken!«
«Du lügst!«schrie Pjatjal.»Zehn Kopeken?! Das ist ja geschenkt!«
«Für den Arbeiter wird in Deutschland alles getan… auch ohne Kommunismus! Sieh dir den Pudding an.«
«Gib her!«Pjatjal nahm eine andere Schüssel, schüttete Wasser hinein, schüttete das Pulver hinterher… rührte… der gleiche, geheimnisvolle Vorgang vollzog sich wieder vor seinen verblüfften Augen… das Wasser färbte sich, es wurde sämig, dick, erstarrte. Der
Pudding wackelte goldgelb in der Schüssel. Ein köstlicher Pudding! Der deutsche Arbeiterpudding, wie Peter Fischer sagte. Es lebe Eiermann!
Michail Pjatjal nahm die Schüssel und stellte sie weg.»Ich werde es meinem Bruder zeigen«, sagte er schwach vor Erregung.»Und er wird es seinen Kollegen zeigen. Hast du noch mehr Tüten?«
«Noch drei Stück.«
«Gib sie mir, Brüderchen. Ich muß es allen Leuten zeigen! Zehn Kopeken für solch einen Pudding! Das ist unglaublich.«
An diesem Abend blies er keine Trompete mehr. Er aß mit Ba-scha den Schnellpudding und rollte sich dann satt und grunzend in sein Bett. Irgendwie war durch Eiermanns Schnellpudding eine Bresche in seine bolschewistische Lebensauffassung geschlagen worden, irgendwie begann er an dem System, dem er diente, Kritik zu üben. Denn nichts überzeugt einen Menschen mehr als das gute Essen der anderen. Und wenn es ein Pudding mit Wasser ist. Mit kaltem Wasser. das verklärte alles noch mehr und machte das deutsche Wunder noch wunderbarer.
Mit der Ausgabe dieser ersten Pakete begann auch im Lazarett ein anderes Leben. Da nur eine Minderzahl aus der Heimat Lebensmittel erhalten hatte, rief Dr. Böhler zur Spende für die Kranken und Verletzten auf. Er selbst stellte sein Paket vollständig zur Verfügung und verteilte den Inhalt in genau abgewogenen Mengen unter die Kranken und vor allem die schwachen und Unterernährten. Sein Aufruf, der nur aus einer kleinen Anregung bestand, die er zu Dr. Schultheiß sagte, fand im Lager sofort Gehör. Aus jeder Baracke liefen die Lebensmittel im Lazarett ein. Es häuften sich die Tüten Kakao, die Tafeln Schokolade, das weiße Mehl, die Marmeladebüchsen, die Keksdosen, die Fleischkonserven, die Kondensmilch, die Päckchen mit Tabak. Sogar sieben Pfeifen wurden gebracht und eine Kiste Zigarren.
Die Barackenältesten lieferten die Waren ab und sprachen nicht viel dazu. Es war selbstverständlich nach so vielen Jahren russischer Gefangenschaft, daß den Kranken und Ärmsten geholfen wurde, und Dr. Böhler notierte sich jedes eingehende Päckchen und führte ge-nau Buch. So erhielten die Kranken jeden Tag zehn Gramm Fett mehr, ein oder zwei Riegel Schokolade, ein wenig Marmelade auf das glitschige Brot und ab und zu eine Suppe aus Puddingpulver mit verdünnter Büchsenmilch.
Den Hauptteil des Paketes von Dr. Schultheiß bekam Janina Sal-ja. Sie wollte es zwar nicht, und Jens mußte ihr den Kakao und die dicken Butterbrote förmlich aufdrängen, und als sie sich immer noch weigerte und ihn bat, es selbst zu essen, verordnete er ihr Sonderkost und ließ sie ihr durch Schwester Ingeborg Waiden verabreichen.
Sie reichte bei keinem lange, diese Zusatzverpflegung, denn zehn Kilo sind schnell verbraucht und nur ein kurzer Komet am dunklen Himmel des Hungers, aber diese zehn Kilo wirkten sich aus in der Moral der Plennis, in der Steigerung der Kraft des Hoffens und in der Arbeitswilligkeit und Leistung.
Major Worotilow sah darin einen schönen Anlaß, an Hand eines Berichtes an das Generalkommando diese Tatsachen aufzuzählen und um weitere Paketsendungen zu bitten. Und da es ein offizieller Bericht war, eine dienstliche Meldung, konnte man sie in Stalingrad nicht unter den Tisch fallenlassen, sondern war gezwungen, die Worte des Majors an die Zentrale nach Moskau weiterzuleiten. Dort aber gingen von allen Lagern gleichlautende Meldungen ein: Hebung des allgemeinen Standards, Erhöhung der Arbeitskraft. Erfüllung des Solls, Steigerung der Moral und damit auch natürlich des Gesundheitszustandes, wenn.
In Moskau fanden Beratungen statt. Immer wieder gewann der Plan einer völligen Umstellung der Gefangenschaft Gestalt: Der Plan, aus den Kriegsgefangenen Strafgefangene zu machen, sie lebenslänglich zu verurteilen, zu langjährigen Strafen zu begnadigen und so rechtlich die Möglichkeit zu schaffen, sie in Rußland zu behalten — als Verbrecher zu behalten —, ihnen aber andererseits alle Vergünstigungen zu geben, die einem Justizgefangenen zustehen und die seine Arbeitskraft für das Wohl der Sowjets heben.
Der Plan 1950 war geboren! Der große, völkerrechtswidrige Plan, der Tausende deutscher Plennis an Rußland kettete.
Plan 1950! Er wurde ausgelöst durch eine Welle von Verhören und eine Sintflut von erdbraunen Uniformen mit den Zeichen der Po-litruks, eine Sturmflut des MWD, die sich in die Lager ergoß und alles verurteilte, was nach Ansicht der Ärzte arbeitsfähig war und Rußland noch jahrelang nützlich sein konnte.
Ein Schauspiel sollte beginnen, grotesk wie eine Komödie, tragischer als eine griechische Tragödie und seelenlos wie jede abstrakte Konzeption: die >Einordnung< der deutschen Plennis in das Staatsgefüge der Sowjetrepublik.
Noch aber ahnte niemand diese Entwicklung — vor allem nicht Major Worotilow, als er seinen schönen Bericht schrieb und um mehr Pakete bat.
Dr. Böhler baute sein Lazarett weiter aus, indem er Dr. Schultheiß mit Dr. Kresin nach Stalingrad gehen ließ, um dort in einer Apotheke Betäubungsmittel gegen einige Fleischkonserven einzutauschen. Das mußte geheim getan werden, es war Sabotage am staatlichen Eigentum. Aber im Angesicht der Fleischbüchsen fiel auch der Leiter der Stalingrader Staatsapotheke um.
Die Kasalinsskaja befand sich seit der Operation im Straflager von Nishnij Balykleij wie in einem Trancezustand. Da sie nichts wieder von Sellnow hörte und alle Anfragen in Stalingrad ergebnislos blieben, nahm sie das Schlimmste an und verstieg sich zu der Behauptung, Dr. Böhler habe seinen Freund umgebracht.
«Sie hätten ihn nicht operieren dürfen!«wimmerte sie.»Mit einem Meißel! Er mußte sterben.«
«Ohne die Operation wäre er bestimmt gestorben!«Dr. Böhler ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Die Ungewißheit nagte auch an ihm, wenn er es auch nicht so öffentlich zum Ausdruck brachte wie die Kasalinsskaja, die sich von dem Tage der Operation an weigerte, weiterhin die Plennis zu untersuchen.»Ich tue es nicht mehr!«hatte sie Dr. Kresin angeschrien.»Ich kann es nicht! Ich habe jahrelang wie ein Schwein an diesen Menschen gehandelt, ich habe sie ausgesogen, ich habe sie ins Elend getrieben — ich kann nicht mehr! Ich will von alledem nichts mehr sehen!«
Dr. Kresin hatte ihr nicht geantwortet — aber er hatte sie auch nicht gemeldet. Er verschwieg den Vorfall und zeichnete die täglichen Gesundheitsrapporte zur Hälfte mit dem Namen der Ärztin ab, damit man in Stalingrad keinen Verdacht schöpfte. Niemand wußte es, nicht einmal Major Worotilow.
Über Sellnow wußte man nur soviel, daß er nicht mehr im Lager Nishnij Balykleij war. Er war vier Tage nach der Operation von einem staatlichen Krankenwagen abgeholt worden, ohne die Besinnung wiedererlangt zu haben. Wie Buffschk berichtete, war der Wagen nicht nach Süden, sondern nach Norden gefahren. Man nahm deshalb an, daß sich Sellnow gar nicht in Stalingrad, sondern in Saratow befand, was sehr verwunderlich stimmte und zu allerhand Vermutungen Anlaß gab.
«In Saratow sitzt der Stab des MWD«, sagte Worotilow dumpf, als man diese Nachricht bekam.»Und in Saratow hat auch Paw-lowitsch keine Gewalt mehr über ihn.«
«Ich werde nach Saratow fahren und ihn suchen!«rief die Kasalinsskaja wild.»Ich werde ihn finden! Und wenn ich jedes Krankenhaus mit Gewalt stürmen müßte! Ich muß zu ihm!«
Dr. Kresin sah den Plan der Militärärzte im Südabschnitt der Armeegruppe durch und schüttelte den Kopf.»In Saratow ist ein Dr. Sedowkowitsch der Leiter der staatlichen Klinik! Ich kenne Se-dowkowitsch nicht — er muß ein junger Arzt sein.«
«Ein Parteiarzt?«fragte Dr. Böhler.
«Selbstverständlich. Ohne Partei bekommt er keine Stellung in einer staatlichen Klinik!«
«Und Professor Pawlowitsch weiß auch nicht, wohin man Sellnow gebracht hat?«fragte die Kasalinsskaja erregt.
Dr. Kresin nickte nachdenklich.»Pawlowitsch schweigt. Er ist wie eine völlig ausgetrocknete Mumie! Wenn man ihn wegen Sellnow anruft, hängt er einfach wieder ein. Es muß etwas Unvorhergesehenes geschehen sein.«
Die Kasalinsskaja saß starr in ihrem Sessel. Sie blickte hinaus über die verschneite Steppe und die tief herabgebogenen Wälder an der
Wolga. Auf den Wachttürmen rauchten die Posten. Jenseits der Straße, im metertiefen Schnee, wateten Kolonnen von Plennis. Es waren die Holzkommandos, die in den Wäldern das Brennmaterial für die Barackenöfen zusammensuchten. Zehn Gefangene kehrten die Einfahrt am großen Lagertor. Leutnant Markow stand vor der Kommandantur und rauchte Pfeife. Er wurde grinsend von der Seite betrachtet, denn seine Pfeife war deutschen Ursprungs — er hatte sie eingetauscht gegen ein Küchenmesser. Bei keinem wäre das aufgefallen — aber Markow mit einer deutschen Tabakspfeife! Man kam aus entfernten Blocks zum Lagertor geschlendert, unter irgendeinem Vorwand, nur um dieses Schauspiel zu sehen.
«Wenn Sellnow nicht wiederkommt, werde ich gehen!«sagte die Kasalinsskaja dumpf.
«Gehen? Wohin?«Worotilow schüttelte den Kopf.
«Nach Westen! In die Freiheit!«
Dr. Kresin zog die Augenbrauen zusammen.»Sie reden wirr, Genossin! Sie werden nie über die Grenze kommen!«
«Ich werde!«sagte die Kasalinsskaja fest.
«Und dann?«
«Dann werde ich in alle Winde schreien, wie es wirklich aussieht bei Mütterchen Rußland. Dann werde ich hassen können, wie nie ein Mensch gehaßt hat!«
Major Worotilow erhob sich. Er war blaß, fahl, fast krank sah er aus.»Man hat seit 1919 versucht, uns Russen die Seele zu töten, uns zu einer Maschine der Partei zu machen, zu einem Zahnrad im Gefüge der Republik. Aber die russische Seele lebt. Es ist schrecklich, sie zu sehen. denn wir haben die Jahrzehnte umsonst gelebt. sinnlos gelebt.«
Er verließ das Zimmer und ging durch den Schnee zur Kommandantur. Dr. Kresin sah ihm nach. Er schüttelte den Kopf.»Jetzt hat es den auch gepackt! Verdammt noch mal — wie froh bin ich, wenn erst alle Deutschen wieder aus Rußland heraus sind.«
Die Kasalinsskaja drehte sich zur Wand und weinte. Sie weinte jetzt häufig. Sie war nur noch ein Schatten der ehemaligen Kapitänärz-tin Dr. Alexandra Kasalinsskaja, die schimpfend durch die Lager schritt und gesund schrieb, was herumkroch.
Über den Wäldern begann es wieder zu schneien.
Eine weiße, kleine Krankenstube. Ein Eisenbett, ein großes Fenster, mit einer bunten Übergardine verhangen, mit Linoleum ausgelegter Boden, ein Tisch mit Medikamenten, ein Waschbecken in der Türecke, vor dem Bett ein weißbespannter Schirm, eine Art spanischer Wand. Neben dem Bett ein weißlackierter Stuhl. Auf ihm saß eine junge, schwarzhaarige Schwester mit einem breiten, fast mongolischen Gesicht und kleinen, grünen Augen. Sie las in einem Buch und blickte nur ab und zu auf, wenn der Kranke sich im Bett unruhig herumwarf oder mit den gelbweißen Händen die Bettdecke strich.
Das Zimmer Sellnows. In der Staatsklinik von Stalingrad. Auf der Privatstation Professor Taij Pawlowitschs.
Niemand außer den wenigen Eingeweihten wußte, daß Sellnow in dieser Klinik lag. Zu der Handvoll Wissender gehörte die mongolische Schwester, ein junger Stationsarzt, der Oberarzt und ein Krankenpfleger. Das Zimmer lag am Ende eines kleinen Flures, der sonst nur die drei Laborräume beherbergte, in denen Pawlowitsch seine Versuche unternahm. Es war ein Flur, den kein anderer in der ganzen Klinik betrat, der als ein unantastbares Heiligtum betrachtet und gemieden wurde.
Eben hatte Pawlowitsch das Herz abgehorcht. Er maß den Blutdruck, den Puls, sah die Fieberkurven nach und injizierte Cordalin. Dann machte der junge Assistent mit einem fahrbaren Röntgenapparat noch einmal eine Aufnahme des Kopfes, während sich Pawlowitsch nachdenklich an das Bett setzte.
«Die Operation scheint gelungen zu sein«, sagte er zu dem Oberarzt, der in der weißen Tür lehnte und über die spanische Wand blickte.»Mit einem primitiven Meißel und einfachem Schneiderzwirn. Die Deutschen wagen alles. Ich hätte es nicht gewagt!«
«Der Deutsche hatte nichts zu verlieren«, meinte der Oberarzt. Es war ihm unangenehm, daß sein Chef sich selbst erniedrigte.»Und er hat eben Glück gehabt. Bei einem zweiten Fall könnte es gerade das Gegenteil sein. Nur ein Glücksfall, Herr Professor.«
Pawlowitsch nickte nachdenklich. Er beobachtete den Assistenten, wie er den Röntgenapparat zur Seite fuhr und der Schwester die belichtete Platte gab, damit sie sofort entwickelt würde. Er beugte sich etwas vor und deckte Sellnow wieder bis zum Hals zu.
«Wir wissen noch nicht, wie das Gehirn reagiert. Noch zeigt der Körper keinerlei Reflexe, die darauf schließen lassen, welche Gefühlszentren gestört sind. «Pawlowitsch strich sich durch den weißen Bart und dann über die kleinen, schrägen Augen.»Wenn nur die Besinnung wiederkäme! Wenn er nur sprechen würde — falls er überhaupt noch sprechen kann. Wenn er nur ein paar Regungen zeigte! Sein Dauerschlaf beunruhigt mich.«
Der Oberarzt kam hinter der spanischen Wand hervor und hob die Schultern.»Man hat schon wieder aus dem Lager 5110/47 angerufen und nach Sellnow gefragt. Die Genossin Kasalinsskaja.«
«Und was haben Sie gesagt?«
«Ich habe wie immer abgehängt.«
Professor Taij Pawlowitsch nickte zustimmend.»Hängen Sie immer ab, wenn man anfragt«, sagte er. Er erhob sich und blickte noch einmal auf den Kranken, der besinnungslos und ohne Regung in den Kissen lag.»Ich brauche diesen Mann da. Ich muß an ihm studieren und ihm noch einmal den Schädel öffnen, um zu sehen, was in ihm vorging!«
Seine Augen leuchteten auf. Der Fanatismus eines heidnischen Priesters stand darin. Die kleine, verdorrte Gestalt straffte sich, und aufrecht ging er an dem Oberarzt und dem Assistenten vorbei aus dem Raum. Die Schwester sah ihm groß nach. In ihr mongolisches Gesicht trat ein Zug von Grauen. Sie schob die bespannte Wand wieder vor das Bett und sah den Oberarzt an.
«Er weiß nicht, wie er ihn heilen kann«, sagte sie leise. Dabei blickte sie zur Tür. Jeder wußte, wer >er< war.
Der Assistent nickte.»Wir wissen es alle nicht, Schwester.«
«Dann muß er ja sterben.«
«Im Mütterchen Rußland sterben täglich Tausende. «Der Oberarzt drehte sich um. Während er seinen Mantel zuknöpfte, klinkte er die Tür auf.»Wenn er gestorben ist, dieser Sellnow, rufen Sie uns sofort, Schwester. Er kommt dann gleich in die Anatomie. Der Chef fiebert darauf, ihn zu sezieren.«
Die Tür klappte. Sie waren allein: die mongolische Schwester und der sterbenskranke deutsche Plenni Dr. Werner von Sellnow. Noch schlug das Herz. Leise, zögernd, fragend, ob es noch einen Sinn habe. Die Hände zuckten über das Bett.
Die Schwester nahm ihr Buch wieder auf. Einen Roman. Die Lo-fotfischer, hieß er. Ein Roman aus der Feder eines treuen Kommunisten. Ein Stempel war auf dem Titelblatt des Buches, ein rundes Siegel: Bibliothek der sowjetischen Armee.
Die Lofotfischer. Ein Roman aus dem Leben braver Männer. Ausgezeichnet mit dem Nationalpreis.
Die kleine Mongolin las Seite um Seite. Aber sie verstand nicht, was sie las. Sie dachte nur: Er wird sterben. Pawlowitsch wartet darauf, daß er stirbt. Er wird ihn fleddern wie ein Geier, der eine Leiche zerreißt. Wie die Geier am Rande der Steppe und in den Bergen nahe der Großen Mauer im weiten China.
Wenige Tage nach der ersten Paketaktion Moskaus begannen die Verhöre durch den MWD.
Ganz plötzlich waren sie da, die Kommissare, die Major Worotilow mit einer bisher unbekannten Ehrfurcht grüßte. Selbst die Kasa-linsskaja und Dr. Kresin bemühten sich heran und wurden den Männern vorgestellt, die jetzt vollzählig — es waren zwölf — vor der Kommandantur standen. Groß, gut genährt, in sauberen, neuen Uniformen, mit flachen Mützen auf den runden Schädeln, mit Augen, die musternd über das Lager streiften.
Dr. Böhler stand am Fenster des Lazaretts und wandte sich zu Dr.
Schultheiß um, der den Küchenzettel aufstellte — unter Berücksichtigung der Paket-Sonderverpflegung.»Der Tod kommt ins Lager«, sagte er leise.
Dr. Schultheiß zuckte zusammen und stellte sich neben seinen Chef.»MWD«, flüsterte er.
Die Tür wurde aufgerissen. Dr. Kresin trat ein, sah die deutschen Ärzte am Fenster stehen und lachte rauh.
«Nette Kerle, was?«sagte er laut und warf die Tür hinter sich zu.»Kommen aus Moskau! Direkt aus Moskau! Große Untersuchung auf Herz und Nieren! Und dann geht es ab!«
«Ab? Wohin?«Dr. Böhler war bleich geworden. Er ahnte etwas Ungeheures, etwas nie Geglaubtes, etwas bisher nur Geträumtes.»Wohin?«wiederholte er noch einmal, und seine Stimme war heiser.»Sagen Sie es, Dr. Kresin!«
«In eure Heimat!«Der russische Arzt setzte sich schwer.
«In die Heimat!«stotterte Dr. Schultheiß. Er wandte sich plötzlich ab. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Auch Dr. Böhler lehnte sich erschüttert an die Wand und blickte starr an die Decke.
«In die Heimat.«, sagte er leise. Seine Stimme schwankte.»Ist das sicher, Dr. Kresin?«
«Ja! Zuerst eine Portion Offiziere und alle Invaliden, soweit sie geh-und transportfähig sind. Der erste Zug ins Entlassungslager Moskau soll schon im Frühjahr gehen, wenn der Schnee die Straßen freigibt.«
«Nach sieben. nein, dann sind es acht Jahre!«Doktor Böhlers Lippen zuckten.»Wir sollen wirklich Deutschland wiedersehen?«
«Ja!«schrie Dr. Kresin.»Und dann geht ihr weg, ihr alle, und wir leben hier weiter in dem Mist, müssen uns ducken, haben keinen, mit dem man vernünftig sprechen kann — wir bleiben bei Mütterchen Rußland und verfaulen, weggeworfener Kapusta! Wir haben uns so an euch gewöhnt, an die Plennis, an diese hundsverfluchten Deutschen, daß uns etwas fehlt, wenn ihr wieder weg seid! Gott verdammt noch mal!«
Böhler legte Kresin die Hand auf die Schulter. Er wußte, was der große mächtige Mann im Innern litt.»Kommen Sie doch nach, Kre-sin«, sagte er leise.
«Nach Deutschland? Nein! Ich bin Russe, ich liebe mein Land. Ich bin Bolschewik. Im Alter kann man nicht mehr umschwenken wie ihr Jungen, die der Fanfare nachlaufen, die am lautesten bläst. Ich werde hier vermodern, an der Wolga oder in Sibirien, in der Steppe, der Taiga, der Tundra, am Eismeer — wer weiß es außer Moskau? Es ist mein Los. Und ihr geht hinaus in die Freiheit. «Er erhob sich schwer und wandte sich ab.»Das ganze Leben ist Mist!«sagte er grob. Dann ging er so plötzlich, wie er gekommen war, und knallte die Tür zu.
Dr. Schultheiß drehte sich um. Tränen standen in seinen großen, blauen Kinderaugen.»Wir werden entlassen«, stammelte er.»Ich werde die Mutter wiedersehen und den Vater, den Bruder, die Schwester. Herr Stabsarzt. ich werde sie alle wiedersehen. «Plötzlich begann er zu schluchzen und legte den Kopf auf die Schulter des Chefs. Dr. Böhler strich ihm über die blonden Haare.
«Bleib jetzt stark, mein Junge«, sagte er leise und väterlich.»Wir haben so lange auf diesen Augenblick gewartet, und — «, er stockte,»wir wissen noch nicht einmal, ob es wirklich wahr ist.«
Keiner wußte es im Lager 5110/47. Selbst Major Worotilow nicht, der am Abend mit den Kommissaren in seinem Zimmer saß, Wodka trank, Zigaretten rauchte und die Listen des Lagers durchsah. Mühsam, jeden Plenni genau überdenkend, strich er die Nummern derjenigen an, die er zur Entlassung vorschlug. Leutnant Markow gab gehässige Kommentare dazu, die Worotilow überhörte, aber einer der MWD-Leute sich heimlich notierte.
«Wir dürfen aus Ihrem Lager, Genosse Major, 362 Mann entlassen«, sagte der MWD-Oberst während der Zählung.
Worotilow sah erstaunt auf.»Nicht mehr?«
«Die anderen Lager müssen auch berücksichtigt werden. Zudem müssen wir haushalten, weil wir für den neuen Siebenjahresplan noch Arbeitskräfte brauchen. Und die Deutschen sind gute Facharbeiter, die wir nicht missen können. Die vier Transporte für den Frühling sollen massiert in der deutschen Sowjetzone ankommen, um dem Westen gegenüber als Propagandaschlag zu wirken. Der amerikanische Außenminister Marshall macht uns Schwierigkeiten. In der UNO hat man nach dem genauen Stand der deutschen Gefangenen gefragt. Wir werden im Frühjahr die Massenentlassungen über Frankfurt/Oder leiten, um dann sagen zu können: Das sind alle Plen-nis! Die anderen, die noch in Rußland bleiben, sind Verbrecher!«
«Verbrecher?«Worotilow schüttelte den Kopf.»Sie haben doch nichts getan, die anderen Tausende.«
«Das wird sich zeigen!«Der MWD-Oberst grinste breit. Er war ein Ukrainer und deshalb bemüht, durch Schärfe das Mißtrauen zu zerstreuen, das man in Rußland allen Ukrainern entgegenbringt.»Für die zurückbleibenden Verbrecher werden wir sorgen!«
Worotilow schwieg. Er sah die anderen Offiziere an, er sah Markow zufrieden lächeln. Da beugte er sich wieder über seine Listen und strich weiter an.
Dr. Böhler, Dr. Schultheiß, Dr. von Sellnow, der noch immer als zum Lager gehörend geführt wurde. Emil Pelz — Worotilow räumte das ganze Lazarett. Er wollte alle Brücken abbrechen und nicht schuldig sein an dem Verbrechen, das Moskau befahl. Im Frühjahr würde er dann fort sein — er würde sich versetzen lassen, irgendwohin, und wenn es zur Kampftruppe war. Nur kein Gefangenenlager mehr, nur nicht mehr Kommandant eines umzäunten Friedhofes sein, nur nicht mehr mitschuldig sein an der Not Tausender.
Zwei Tage später trat Major Worotilow in den Operationsraum des Lazaretts. Hinter ihm schob sich die hagere Gestalt eines der MWD-Kommissare herein, flankiert von Leutnant Markow und einer schlanken, dunkelblonden Dolmetscherin. Dr. Schultheiß, der am Sterilisationsapparat stand, sah erschrocken auf.
Dr. Böhler beugte sich über eine Gestalt auf dem Operationstisch und legte mit ruhigem, sicherem Griff einen Kopfverband an. Pelz reichte ihm eine Sicherheitsnadel, um die Binde festzustecken. Dann erst wandte sich der Chirurg um und blickte die Versammlung von
Russen fragend an.
«Der MWD«, sagte Worotilow verlegen,»interessiert sich für Ihre Arbeit, Doktor. Die Genossen möchten das Lazarett des Lagers 5110/47 besichtigen — und seinen berühmten Chefarzt.«
Der Patient auf dem Operationstisch blickte ängstlich von Dr. Schultheiß zu Emil Pelz und vermied es, die Russen anzusehen. Er zuckte zusammen, als sich die Tür erneut öffnete und ein halbes Dutzend weiterer Kommissare hereinkam.
Die Dolmetscherin wandte sich an Dr. Böhler.»Der Genosse Leutnant«, sagte sie und wies auf Markow,»hat uns von der Wunderkur erzählt, mit der Sie ihn gerettet haben. «Markow grinste verlegen.»Moskau hat das erfahren. Nun.«, sie blickte fragend auf den hageren Kommissar, der ihr bestätigend zunickte,». unsere Arbeit ist beendet. Die Listen sind abgeschlossen und gehen heute abend nach Moskau zur Bestätigung. Aus dem Lager 5110/47 werden 362 Kriegsgefangene nach Deutschland entlassen. Ich bin ermächtigt, Ihnen mitzuteilen, daß auch Dr. Schultheiß und Sie darunter sind. Moskau weiß, was es einem echten Arzt schuldig ist.«
Dr. Böhler fühlte, wie es heiß in ihm aufstieg. Ich, dachte er. Ich werde auch entlassen! Worotilow hat mich vorgeschlagen! Ich sehe meine Frau wieder, Köln, die Heimat. Das Grauen Rußlands geht von mir, die Einsamkeit, das Warten. Ich werde die Wälder an der Wolga nicht mehr sehen, die Holzklötze nicht, unter denen die toten Kameraden begraben liegen, die Türme nicht mehr, die Rotarmisten, die Tellermützen, die Kapustasuppe, das glitschige Brot und die Handvoll Hirse. Alles wird vorüber sein, was acht Jahre lang der Inhalt meines Lebens war. Ich werde ein freier Mensch sein. Endlich! Endlich!
Einer der Kommissare war an den Tisch getreten, wo Emil Pelz eben die Krankenkarte des frisch Verbundenen in die Kartothek zurückstecken wollte, und hatte sie ihm aus der Hand genommen. Er wechselte einige Worte mit einem seiner Kollegen, während sie beide immer wieder auf eine Stelle der Karte wiesen. Dann trat er mit drei schnellen Schritten an Böhler heran, und eine rasche, russische
Frage schoß dem Arzt entgegen. Er verstand ihren Sinn nicht, aber der drohende Ton war unverkennbar. Irgend etwas hatte das Mißfallen des Russen erregt.
«Was bedeuten diese beiden Buchstaben?«übersetzte die Dolmetscherin rasch. Böhler blickte auf die Stelle, die der Finger des Kommissars bezeichnete, und eine kalte Hand griff nach seinem Herzen. Er streifte den Patienten mit einem raschen Blick und versuchte auszuweichen.
«Das hat mit der Krankheit nichts zu tun«, sagte er hastig.
Worotilow wurde aufmerksam, trat einen Schritt näher und blickte auf die Karte. Nur mühsam konnte er sein Erschrecken verbergen. Ausgerechnet jetzt mußte dieser Idiot von Kommissar seine Nase in die Kartothek stecken.
Die Dolmetscherin lächelte hämisch.»Ich will Ihnen sagen, was diese beiden Buchstaben bedeuten: SS. Der Mann, den Sie hier verbinden, ist Mitglied der Mörderorganisation von Himmler!«
«Er ist ein Plenni«, sagte Dr. Böhler fest.»Ein Plenni wie jeder andere. Und ein Mensch, der Hilfe braucht.«
Während die Dolmetscherin übersetzte, dachte Worotilow fieberhaft nach. Er versuchte zu retten, was noch zu retten war!» Wie können Sie es wagen«, brüllte er Böhler an,»einen SS-Mann zu verbinden?! Mit dem kostbaren Verbandmaterial, das Eigentum der Sowjetunion ist?!«
Der hagere Kommissar deutete auf den weißbandagierten Kopf des Patienten.
«Verrband wegg!«sagte er kurz. Plötzlich konnte er Deutsch.
Dr. Böhler sah ihn ablehnend an.»Warum?«fragte er.
«Fragen Sie nicht!«brüllte Worotilow. Er war so verzweifelt, daß ihm fast die Tränen in die Augen traten.»Gehorchen Sie gefälligst, Sie deutsches Schwein!!!«
Dr. Schultheiß trat zu Dr. Böhler und legte ihm die Hand auf den Arm.»Herr Stabsarzt.«, begann er. Aber Worotilow ließ ihn nicht ausreden,»'raus!«schrie er ihn an.»Sie haben hier gar nichts verloren! Sie auch nicht, Pelz!«Um Gottes willen, dachte er dabei, jetzt bloß keinen Zeugen bei der kommenden Auseinandersetzung.!
Betreten trotteten Dr. Schultheiß und Emil Pelz hinaus. Ehe jemand anderer eingreifen konnte, wandte sich Worotilow wieder an Böhler.»Nehmen Sie sofort diesen Verband ab!«sagte er drohend — und lautlos formte er mit den Lippen ein flehendes» Bitte!«.
Dr. Böhler sah den Major nicht an.»Teilen Sie dem Herrn Kommissar bitte mit, daß für diesen Kranken ich verantwortlich bin — und nicht er!«sagte er zu der Dolmetscherin.»Der Verband ist lebenswichtig — und er bleibt.«
Kalte Wut leuchtete aus den Augen des Kommissars, als ihm dieser Satz übersetzt wurde. Er sprang an den Operationstisch und streckte die Hand nach dem Kopf des Patienten aus, um den Verband abzureißen. Mit einem einzigen Schritt stellte sich Dr. Böhler dazwischen.»Nicht, solange ich hier Chefarzt bin.«, sagte er fest.
Sekundenlang stand er Auge in Auge mit dem Russen. Dann lächelte der Kommissar höhnisch.»Hier Chefarzt?«sagte er langsam auf russisch.»Wenn Sie solchen Wert darauf legen… dann können Sie es noch lange bleiben. «Er wandte sich achselzuckend ab.»Wir werden einen anderen auf die Liste setzen«, sagte er zu Worotilow, und man sah ihm an, mit welcher Genugtuung er diesen Befehl aussprach.»Wir können doch Hitlers Mordschergen die ärztliche Hilfe nicht entziehen.«
Major Worotilow trat in Böhlers Zimmer. Allein. Er schloß die Tür hinter sich. Er zögerte, ehe er sprach, aber dann klang seine Stimme hohl und gebrochen.»Verzeihen Sie«, sagte er,»aber ich wollte Ihnen helfen. Es wäre die einzige Möglichkeit gewesen, Ihre Entlassung zu retten.«
«Ich weiß.«, sagte Böhler dumpf. Dann sprang er auf und rannte erregt im Zimmer hin und her.»Aber ich kann doch einen Menschen nicht sterben lassen, hilflos und gequält — nur weil. Das geht doch nicht, Major! Das ist doch unmöglich!«Er blieb vor der rohen Wand der Baracke stehen und starrte auf die Ritzen der einzelnen Bretter, auf die abblätternde Farbe, auf die Glaswatte, die aus den Fugen quoll. Durch seinen Körper ging ein leises Zittern.»Ich kann doch einen Patienten nicht verraten«, sagte er kaum hörbar.»Ich kann doch nicht wegfahren und ihn dafür büßen lassen. Das geht doch nicht… das geht doch nicht. Und überhaupt«- plötzlich stieg ein überwältigendes Gefühl der Verantwortung in ihm auf —»ich habe hier im Lazarett 54 schwere Fälle.in den einzelnen Blockrevieren liegen 73 Kranke, die nicht laufen können. Was sollen sie denken, wenn ich einfach weggehe nach Deutschland — und sie allein in der Einöde lasse.«
«Sie werden auch entlassen, wenn sie gesund sind.«
«Können Sie das garantieren, Major?«
Worotilow blickte auf seine Schuhspitzen.»Nein«, sagte er leise.»Soviel ich weiß, ist die Entlassung eine einmalige Propaganda-Aktion gegen den Westen. Wann die nächsten Entlassungen sind, weiß ich nicht. «Er sah auf und begegnete dem Blick Dr. Böhlers.»Ich habe geglaubt, Sie weinen vor Freude, daß Sie wieder in die Heimat kommen.«
«Ich habe es gestern noch getan. Aber dann kam dieser unmenschliche Befehl des Kommissars, den ich niemals ausführen konnte. Damit waren alle Hoffnungen auf meine Heimkehr mit einem Schlage zerstört. Jetzt aber weiß ich in meinem Herzen, daß es so kommen mußte, denn ich trage die Verantwortung für diese armen Menschen, die hier krank herumliegen… ich habe zwölf schwere chirurgische Fälle. einen Magendurchbruch, eine Gallenblasenresektion, zwei Fälle von Darmknickung infolge schwerer Arbeit bei Unterernährung, sieben schwere Furunkelfalle… und den SS-Mann mit dem Schädelbruch. Soll ich sie allein lassen?!«
Worotilow sprang auf. Seine Wangen glühten.»Was soll das alles!«schrie er plötzlich.»Wollen Sie etwa hierbleiben? Wollen Sie mir sagen: Ich will nicht entlassen werden?! Ich will freiwillig in Rußland bleiben?! Ich will ein Plenni bleiben, weil ein paar Kameraden mich brauchen?!«Worotilows Stimme überschlug sich.»Sie wissen nicht, was noch kommt! Wer bleibt, wird verurteilt werden. lebenslänglich! Er verliert das Recht und den Schutz der Kriegsgefangenen und wird zum Verbrecher gestempelt! Es wird keine Plen-nis mehr geben, sondern nur noch Strafgefangene! Überlegen Sie sich das! Sie werden entrechtet sein wie kein anderer Mensch auf der Welt!«
Dr. Böhler atmete schwer. Er lehnte an der Wand und starrte hinaus auf den Schnee und die vereisten Wachttürme. Leutnant Markow marschierte am Zaun entlang und kontrollierte den Lagerdienst, der Schnee schippte.
«Sorgen Sie dafür, daß mit Schultheiß nichts mehr schiefgeht«, sagte Böhler tonlos.»Er ist jung, man hat ihn um die besten Jahre seines Lebens betrogen, er hat viel nachzuholen, er braucht die Freiheit, um das zu leisten, was in ihm steckt. Er ist ein guter, ein sehr guter Arzt. Deutschland braucht ihn.«
«Und Sie?!«brüllte Worotilow.»Ach, seien Sie still! Sie mit Ihrem deutschen Wahn von der Pflichterfüllung!«Er hieb mit beiden Fäusten auf den Tisch.»Ich verachte Sie, wenn Sie hierbleiben! Sie verleugnen Ihre Heimat, Ihre Frau, Ihr Kind. Sie handeln nicht heldisch, sondern verantwortungslos gegen die Menschen, die Ihnen am nächsten stehen und seit acht Jahren auf Sie warten! Die nichts anderes kennen als den großen Glauben: er kommt zurück! Die an der Grenze stehen werden, wenn die ersten Transporte kommen und fragen: Ist Dr. Böhler dabei? Kennt einer von euch einen Dr. Böhler? Und dann wird man ihnen sagen: Ja, wir kennen ihn, er ist der Arzt von Stalingrad, und er blieb da! Denkt mal, er blieb da! Er blieb in der Hölle Rußland, in der Steppe an der Wolga — aus Pflichtgefühl, denkt mal an! Er stand schon auf der Liste, aber er wollte dableiben — darum wartet nicht an der Grenze, fahrt zurück nach Köln und beseht euch sein Bild. Er kommt noch lange nicht wieder — sein Gewissen hat es nicht zugelassen.«
Dr. Böhler wandte sich ab. Er trat ans Fenster und legte die heiße Stirn an die nasse, kalte Scheibe.»Sie vergessen, daß alles längst entschieden ist, Major«, stammelte er.»Kann ich den Vorfall ungeschehen machen — können Sie es?«
Worotilow öffnete die Tür mit einem Ruck. Fahl im Gesicht, drehte er sich um.»Sie haben es so gewollt. Werden Sie glücklich, Sie — Sie Held, Sie!«
Mit lautem Krach fiel die Tür zu.
Einen Augenblick stand Dr. Böhler starr am Fenster. Er schloß die Augen und spürte die Kühle der Scheibe durch seinen ganzen Körper dringen. Dann schwankte er und fiel ächzend auf den Stuhl neben dem Tisch. Sein Kopf sank auf die Platte. Er weinte haltlos.
Dr. Schultheiß machte die Visiten. Böhler hatte sich eingeschlossen und öffnete nicht, soviel man auch an seine Tür klopfte. Dr. Kresin rannte in seinem Zimmer auf und ab und wurde von Worotilow bewacht.»Ich schlage seine Tür ein!«schrie er immer wieder.»Ich schleppe ihn mit meinen Händen zum Wagen! Ich bringe ihn bis an die Grenze und schiebe ihn hinüber!«
Er war nicht der einzige, der an diesem Abend die Haltung verlor. In ihrem Zimmer lag Janina Salja auf dem Bett und weinte seit Stunden. Sie hatte durch Ingeborg Waiden erfahren, warum die Kommissare ins Lager gekommen waren. Überglücklich hatte das Mädchen es ihr gesagt:»Wir sollen entlassen werden! Wir alle! Es geht nach Deutschland! Nach Deutschland!«Sie war wie von Sinnen, die kleine Krankenschwester Ingeborg Waiden, sie tanzte durch das Zimmer und weinte und lachte in einem Atem.
Janina hatte einige Zeit gebraucht, um die Botschaft zu verstehen. Zu begreifen, daß die Stunde nahe war, in der sie Jens verlieren würde — für immer auf dieser Welt, denn zwischen Stalingrad und Deutschland war die Entfernung so weit wie zwischen zwei Sternen. Unendlichkeit, die keine Sehnsucht, keine Liebe, kein Wille bezwingen konnte.
Sie hörte, wie Jens die Visiten machte, wie sein Schritt von Zimmer zu Zimmer ging, und sie wartete darauf, daß er die Klinke ihres Zimmers niederdrücken und eintreten würde. Aber sein Schritt ging vorbei… sie hatte sich aufgerichtet, als er sich näherte… er ging vorbei. die Tür des Nebenzimmers klappte. er ging vorbei! Sie schrie auf und wühlte sich in die Kissen. Ich überlebe es nicht, schluchzte sie. Ich kann es nicht mehr ertragen! Es ist zuviel! Es ist zuviel! Es erwürgt mich, dieses Leben, es tötet mich.
An diesem Abend schrieb Dr. Fritz Böhler eine seiner monatlichen Kriegsgefangenenkarten. Er schrieb sie an seine Frau und sein Kind. Er schrieb, daß man im Frühjahr viele deutsche Gefangene entlassen werde, und daß er auch unter ihnen war. >War<, schrieb er und schilderte, wie es kam, daß er wieder gestrichen wurde.»Arzt sein«, schrieb er,»heißt Vorbild sein «und» es gibt Höheres als das eigene Ich: die Pflicht, Mensch zu sein«. Er beschrieb die kurze Karte mit engen Zeilen und winzigen Buchstaben, er schob sie fast ineinander, um Platz genug zu haben für seine Rechtfertigung. Und als er die Karte am Ende überlas, sah er, daß es doch nur Worte waren.
Er zerriß die Karte und warf sie fort. Schweigen, dachte er. Wenn die Transporte kommen, wird sie hoffen, und wenn sie die Namen hört, wird sie weiter warten. Warum ihr das Herz schwer machen? Und es würden wieder Transporte kommen, verteilt über Monate und Jahre, und einmal würde auch er dabeisein. Dann hatte er das ganze weitere Leben lang Zeit genug, sich bei ihr zu verantworten, dann würde er sie um Verzeihung bitten — und daran glauben, daß sie es versteht.
Er sah hinüber auf den Tisch. Dort standen die Karteikarten mit den Namen und Krankengeschichten der Lazarettinsassen. Blatt an Blatt — Sie mußten ihm die Heimat ersetzen, die Wehrlosen, die Jammernden und Hilfesuchenden.
Über den Flur tappte der Schritt eines Mannes. Emil Pelz ging zu Zimmer vier, um dem heute mittag verbundenen SS-Mann eine Injektion zu machen.
Zwei Tage später setzten die Verhöre ein.
Die großen Zimmer der Kommandanturbaracke waren ausgeräumt worden. Major Worotilow wurde aus seinem Zimmer verdrängt und kroch bei Dr. Kresin unter, der brummend die Vorbereitungen ansah und mit den Kommissaren kaum ein paar Worte wechselte.
Der Erdbunker außerhalb des Lagers, in dem jahrelang die Kartoffelvorräte lagerten und der sogar beheizbar war, damit Kapusta und Kartoffeln nicht erfroren, wurde ausgekehrt und abgeschlossen. Worotilow sah es mit gerunzelter Stirn und meinte zu Dr. Kre-sin:»Es sieht aus wie ein Kriegsgericht, Genosse. Man säubert sogar die Bunker für eine Dunkelhaft.«
Der Schneesturm war plötzlich sonnigem Wetter gewichen — eine kalte, fast weiße Sonne, die aus den Schneefeldern glitzernde Diamantenhügel machte, aber sie verbesserte die Laune der Plennis zusehends.
Verhöre kannte man! Seit Jahren fanden sie in gewissen Abständen statt und verliefen entweder im Sand oder lösten sich in Schimpf-tiraden auf. Etwas Besonderes war nie dabei herausgekommen — es sei denn, daß man die plattgeschlagene Nase Hans Sauerbrunns etwas Besonderes nannte.
Eines Tages beim Morgenappell wurden die ersten Namen bekanntgegeben, 125 Namen, die Markow von einer langen Liste vorlas, worauf er die Männer anschrie, rechts herauszutreten.
Peter Fischer war unter ihnen. Karl Georg und Emil Pelz, der Sanitäter. Als letzten Namen las Markow den von Doktor Schultheiß vor. Dr. Jens Schultheiß.
Janina, die am Fenster der Lazarettbaracke stand, wandte sich ab und zog die Gardinen vor.
Am Eingang der Kommandantur stand einer der Kommissare. Er sah hinüber und schrie etwas über den Zaun. Leutnant Markow nickte und steckte die Liste ein.»Die auf Liste, marsch!«kommandierte er. Er setzte sich an die Spitze des elenden Haufens und marschierte mit ihnen durch das große Tor zur Kommandantur.
Dort wurden die 124 Plennis aufgestellt. Einer aus dem Haufen rannte zum Lazarett, um Dr. Schultheiß zu holen, der seine Morgenvisite machte. Worotilow gab den zweiten Teil der Listen an den
Leiter der MWD-Kommission weiter. Inmitten der langen Kolonnen war ein Name dick durchgestrichen.
Der Name Dr. Fritz Böhler.
Gab es wirklich in kürzester Zeit Entlassungen nach Deutschland — der Stabsarzt Dr. Böhler aus Köln war nicht unter denen, die im Viehwagen wochenlang durch Rußland und Polen zur deutschen Grenze rollten.
Hinter dem großen Tisch, der die ganze Längswand des Zimmers ausfüllte, nahmen der Major des MWD, drei Kommissare und die Dolmetscherin Platz. Jakob Aaron Utschomi drückte sich in einer Ecke herum und hatte die undankbare Aufgabe, die Übersetzungen der Wechselrede noch einmal zu überprüfen und Protokoll zu führen. Major Worotilow fungierte nur als Zuschauer. Er saß abseits an der Schmalwand des Zimmers mit Dr. Kresin und der Ka-salinsskaja. Leutnant Markow regelte mit stimmgewaltigen Flüchen das Einschleusen der Plennis in den Saal und den Abtransport der als schwarz befundenen Schafe. Dazu standen vor der Baracke dreißig schwerbewaffnete Rotarmisten mit Maschinenpistolen und Dolchen, Männer aus der Tungusen-Steppe.
Die Verhöre gingen schneller, als man erwartet hatte. Keine fünf Minuten, und aus der Baracke stolperten die ersten Abgefertigten. Sie wurden zur Seite geführt, ohne jede Möglichkeit, die noch Wartenden darüber zu verständigen, was im Innern der Baracke vor sich ging. Manche kamen auch nicht wieder — sie warteten in einem kleinen Zimmer und wurden dann schubweise in den Erdbunker geführt. Man sah es jenseits des Drahtes mit Zähneknirschen und Empörung. Roh stießen die Tungusen die Männer in den Kartoffelbunker hinab und schlossen dann die Tür.
Von einem Verhör im Sinne eines geltenden Kriegsgerichts konnte eigentlich keine Rede sein. Während die drei MWD-Offiziere schweigend an dem langen Tisch saßen und in die aufgeschlagenen Aktenstücke sahen, führte die hübsche Dolmetscherin allein die Verhandlung. Sie las nur vor, was man ihr zuschob, und sie erwartete die Antworten der Verhörten, um dann nach einem Blick auf den schweigsamen Major das Urteil ungerührt bekanntzugeben.
Ein junger Unteroffizier stand vor dem Tisch. Er war bleich, ausgehungert. Seine schwieligen Hände ließen darauf schließen, daß er schwere Arbeit im Lager verrichtete. Abwartend stand er vor der Dolmetscherin und starrte auf ihre langen, schwarzen Locken, die ihr über Schulter und Uniform fielen.
«Sie habben gehabt bei Ihrer Kompanie die Geräte?«fragte die Dolmetscherin.
«Ja.«
«Auch beim Vormarsch nach Rußland?«
«Ja. Ich war W. u. G. Das gibt es bei jeder Truppe.«
Die Dolmetscherin nickte und nahm ein Blatt aus der Mappe.
«Sie werden hiermit zum Tode verurteilt«, sagte sie gleichgültig.»Begründung: durch die Pflege der Waffen und Geräte haben Sie maßgeblich dazu beigetragen, daß Ihre Truppe in Rußland Menschen töten konnte. Sie sind deshalb des Mordes schuldig. Einzig und allein durch eine Pflege der Waffen war Ihrer Truppe der Vormarsch möglich. In Verfolg einer Gnadenaktion werden Sie vom Tode zu lebenslänglicher Zwangsarbeit begnadigt. Abführen.«
Schwankend wurde der junge Unteroffizier in den Nebenraum geschoben. Markow grinste. Er schob einen anderen Plenni ins Zimmer, einen Oberfeldwebel, groß, breit, ein Bayer. Bauer und Milchviehzüchter.
Die Dolmetscherin nahm wieder ein Blatt aus den Akten.»Sie Transportleiter? Was versteht man darunter?«
«Ich hatte für den Nachschub zu sorgen«, sagte der dicke Bayer laut.
«Sie sind hiermit zum Tode verurteilt, weil Sie es durch Ihren Nachschub ermöglichten, daß die Deutschen alle Mittel in die Hand bekamen, Rußland zu zerstören. «Die Dolmetscherin las es vor, als sei es ein beliebiger Zeitungsartikel.»Sie werden zu 25 Jahren Zwangsarbeit begnadigt. Der nächste!«
Dr. Kresin stieß Worotilow an, der stumm vor sich hin auf die Dielen starrte.
«Wir müssen die Uniform ablegen«, sagte er leise.»Wir haben es durch menschliche Maßnahmen ermöglicht, daß die deutschen Gefangenen noch leben. Das ist Sabotage am russischen Vergeltungswillen. Ich verurteile Sie, Worotilow, zu lebenslänglich Sibirien!«
«Seien Sie still«, sagte Worotilow gequält.»Ich schäme mich.«
Die Mehrzahl der 125 Plennis aber ließ man laufen. Es waren Landser, arme Schweine, die nur ihre Pflicht taten, die im Dreck lagen, weil man es ihnen befahl, und die in Gefangenschaft kamen wie eine Herde Lämmer, die dem Leitbock nachtrottete. Sie wurden kaum verhört — sie erhielten eine Nummer in der Liste, wurden nach draußen geführt und abgesondert. Nur die Soldaten, die irgendeine Funktion in der Truppe bekleideten — ob es Furier war, Kleiderbulle, Koch, Melder, Ausbilder, Schreiber, Rechnungsführer, Spieß oder Funker —, wurden mit dem stereotypen Satz verurteilt: Sie haben dazu beigetragen, daß Ihre Truppe die Möglichkeit hatte, in Rußland einzufallen und zu morden. Zum Tode. Begnadigt zu Lebenslänglich oder fünfundzwanzig Jahren!
Am Mittag waren die 125 durchgeschleust. Dr. Jens Schultheiß hatte Glück — man sagte ihm nicht, daß er als Arzt die Leute wieder gesund gemacht und dadurch immer wieder neue Soldaten gegen Rußland in den Kampf geschickt habe. Man würdigte in ihm den Stand des Arztes, der auch in Rußland sehr geehrt wird. Man musterte ihn schweigend, die Dolmetscherin lächelte, dann bekam er eine Nummer und durfte gehen. Nummer 4592/11.
Die Verhöre dauerten zwei Wochen. Vormittags und nachmittags wurden die Plennis durch die Kommandanturbaracke geschleust. Der Kartoffelbunker füllte sich — 67 Verdammte, die man zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglicher oder fünfundzwanzigjähriger Zwangsarbeit begnadigte.
Sie blieben nur eine Nacht in ihrem dumpfen Gefängnis. Am nächsten Morgen wurden sie in eine Baracke transportiert, die etwas abseits lag und um die man einen besonders hohen Stacheldraht gezogen hatte. Tag und Nacht ging eine schwerbewaffnete Patrouille um den Zaun herum. Verpflegt wurden sie vom Hauptlager — man brachte das Essen in Kübeln zu ihnen an den Zaun, wo die Russen selbst die Suppe und das Brot verteilten.
Unter den Entlassenen war auch Dr. von Sellnow. Man hatte ihn krank gemeldet, momentan in Stalingrad, obwohl keiner wußte, ob er wirklich dort war. Wie Dr. Schultheiß hatte man ihm eine Nummer gegeben und ihn in eine besondere Liste eingetragen. Woroti-low hatte für ihn gesprochen — er brauchte nicht einmal verhört zu werden.
«Arbeitsunfähig?«fragte die Dolmetscherin nur.
«Vollkommen! Gehirnoperation!«
«Kommt in Kategorie I. - Der nächste.«
Dann — ganz plötzlich — war der Spuk verflogen.
Die MWD-Offiziere fuhren nach Stalingrad zurück. Die Baracke wurde wieder eingeräumt, Worotilow bezog sein Zimmer — nur die abgesperrte Strafbaracke bewies, daß die beiden Wochen kein bloßer Traum gewesen waren. Die Kasalinsskaja war die einzige, die die Strafbaracke betreten durfte und dort die Kranken untersuchte. Sie tat es gewissenhaft, mild und — entgegen ihrer früheren Art — höflich. Noch wußte sie nicht, daß Sellnow auf der Entlassungsliste stand und es keine Macht mehr gab, die ihn in Rußland zurückhalten konnte. Moskau befahl — und was gibt es in Rußland Höheres, als einen Befehl aus Moskau? Sie lebte noch immer in dem Glauben, daß Werner von Sellnow transportunfähig und eine Entlassung deshalb ausgeschlossen sei.
Was mit den Leuten in der Strafbaracke geschehen sollte, wußte Worotilow nicht. Der MWD-Major hatte die Schultern gezuckt, als er ihn danach fragte.»Es kommen noch Befehle«, sagte er ausweichend.»Vielleicht kommen sie zu einer anderen Lagergruppe, vielleicht nach Swerdlowsk oder zum Eismeer. Ich weiß es nicht. Lassen Sie die Kerls erst einmal in der Baracke, und pflegen Sie sie gut! Wir brauchen sie ja noch.«
So wurde es wieder still im Lager.
Die Tage rannen dahin. Arbeit in den Außenlagern, Lagerdienst — und nach zwei Tagen Sonne wieder ein Schneesturm, der vom Osten aus der Steppe kam und die Bäume niederbog. Die Pakete wurden aufgezehrt, man stand wieder nach Kapustasuppe an und aß das dunkle, glitschige Brot. Michail Pjatjal blies wieder unter Peter Fischers Leitung Trompete, und Bascha ließ sich weiter von den zum Küchendienst Abkommandierten in den Hintern und in die prallen Brüste kneifen. Seit die Pakete gekommen waren, ging es den Plennis dabei nicht mehr nur um eine Sonderportion — und ein junger, großer Soldat, ein Bauer aus der Rhön, hatte das Glück, Bascha an einem Abend im Keller über einen Haufen Kartoffeln werfen zu können.
«Du altes Schwein«, sagte sie leise. Aber sie hielt still, und der Lange genoß langentbehrte Freuden.
Das Leben ging weiter. Dr. Böhler operierte in einer Nacht eine Gallenblase, assistiert von Dr. Kresin und der Kasalinsskaja. Dr. Schultheiß schlief bei seiner Janina.
Aber im stillen waren sie alle bereit, bereit zum Sprung in die Freiheit oder ins Verderben. Sie warteten.
Still. unauffällig. ergeben in ihr Schicksal. Sie hatten die Augen überall, die Ohren, alle Sinne. sie lauschten in die Nacht und in die Wälder, sie schlichen um die Verpflegungswagen und die Kommandantur. Sie horchten auf den Herzschlag, der durch das Lager ging, auf dieses ängstliche Klopfen so vieler Herzen, die um ihr Schicksal bangten.
Warten! Warten!
Bald wird Frühling sein! Bald wird die Sonne scheinen, die warme Sonne. Der Schnee wird schmelzen, die Flüsse auftauen, die Bäume wieder grün werden. Zunächst wird alles ein großer Sumpf sein, in dem Menschen und Tiere steckenbleiben und versinken — und dann wird die Sonne brennen, die Straßen werden trocken und fest sein, die Wälder und die Felder, die Steppen und Wiesen werden blühen. Frühling!
Die Arbeiter der Kolchosen werden hinausfahren auf die Felder. Die Mädchen ziehen singend mit den Geräten über die Wege. Arbeitskommandos vor! 10–20 — 30 — 100 — 1.000 Plennis ab zu den Feldern! Pflügen! Säen! Eggen! Pflanzen! Die Erde bricht auf. der ungeheure fruchtbare Schoß bietet sich dar! Lastwagen werden kommen mit Saatgut. Raupenschlepper rattern über die Felder, Traktoren pflügen die schwarze Erde um… aus der Steppe werden die Reiter kommen, um einzukaufen in Stalingrad und Saratow. kleine Reiter auf struppigen Rössern, die Erben Attilas und Dschingis-Khans. Ihre Filzzelte stehen dann an der Wolga, die Lagerfeuer leuchten. Die Romantik der Wolga steigt in den Himmel, an dem die Sterne glitzern, herrlicher als je.
Der Frühling! Frühling an der Wolga!
Und im Frühling sind die ersten Entlassungen!
Frühling 1950!
Noch schneit es… aber was sind zwei oder drei oder vier Monate, wenn man so viele Jahre gewartet hat. Ein Hauch… ein Nichts. ein Augenblick.
Und hoffentlich kommen bis dahin noch mehr Pakete.
Wenn die uns bloß nicht vergessen in der Heimat.
Im staatlichen Lazarett zu Stalingrad standen die Assistenzärzte in Gruppen beisammen und tuschelten. Der Professor saß bleich in seinem Zimmer, sein weißer Bart in dem tatarischen Gesicht zitterte.
Im Nebenraum hörte man einen Mann schreien. Schrill. Grell. Wahnsinnig. Er trommelte mit den Fäusten gegen die Tür, er rannte mit dem Kopf gegen die Wand und brüllte wie ein Tier: Sergej Kislew.
Man hatte soeben seinen Sohn eingeliefert. Heilung unmöglich. Krebs! Der Professor hatte es gesagt, da brach der große, dicke Mann zusammen und benahm sich wie ein Irrer. Er schlug dem Professor ins Gesicht und wollte ihn erwürgen. Nur der schnelle Zugriff des Oberarztes und dreier Assistenten rettete Pawlowitsch das Leben. Nun tobte er in dem kleinen Zimmer und schrie, daß es durch den stillen, großen Bau gellte.
Der Oberarzt lehnte bebend am Fenster und sah auf den im Sessel hockenden Professor. Eine Mumie, dachte er. Das ist nur noch eine Mumie, die einen berühmten Namen hat. Der Mann lebt ja nicht mehr.
«Um Sascha Kislew steht es sehr schlecht«, sagte der Oberarzt.»Wir haben festgestellt, daß vielleicht Verkürzung des Magens noch helfen kann.«
Pawlowitsch sah den Oberarzt wütend an.»Du bist ein Idiot«, antwortete er. Seine Stimme war schrill vor Zorn.»Das hat der deutsche Arzt schon gemacht. Wir können doch nicht den ganzen Magen herausnehmen! Er stirbt!«
Der Oberarzt sah aus dem Fenster über die gepflegten Rasenflächen des Krankenhausgartens. Auf einem Rollstuhl wurde ein Offizier von einem Pfleger durch den Schnee gefahren, dick vermummt in warme Pelze und Decken. Man konnte erkennen, daß man ihm beide Beine amputiert hatte.
«Ob wir diesen Dr. Böhler nicht doch wieder rufen?«wagte der Oberarzt zu sagen.
Pawlowitsch schüttelte den Kopf.»Nein!«sagte er hart.
«Er hat damals die Operation gemacht. Wir könnten, wenn der junge Kislew stirbt, immer sagen, daß es die Schuld des deutschen Arztes ist! Er hat operiert!«Der Oberarzt lächelte listig.»Er wird sich dagegen nicht wehren können!«
Der Asiate sah seinen Oberarzt lange schweigend und starr an.»Der Gedanke ist gut, Genosse«, sagte er dann leise.»Wir brauchen einen Schuldigen! Genosse Kislew ist im Aufsichtsrat der volkseigenen Schwerindustrie und hat gute Freunde im Kreml. Er ist alter Kommunist! Er hat Einfluß. Wir brauchen einen Schuldigen am Tode seines Sohnes.«
Der Oberarzt atmete auf. Er sieht die Falle nicht, dachte er glücklich. Nur so war es möglich, den deutschen Arzt herbeizuholen, zu helfen. Nur durch eine Gemeinheit, er ist ein Tatar, ein gelber Affe! Aber er ist alt und verbraucht. er merkt die Schlinge nicht, die ich ihm lege.
Er löste sich vom Fensterbrett und trat in die Mitte des Zimmers.
«Soll ich diesen Dr. Böhler holen lassen?«fragte er.
«Noch nicht. «Pawlowitsch erhob sich ächzend. Er litt in der letzten Zeit an Rheuma.»Was macht Sellnow?«
«Es geht ihm gut. Einige Stunden am Tag ist er bei Besinnung und unterhält sich mit der Schwester. Gestern hat er sogar geflucht, als man ihm das falsche Essen brachte.«
«Was hat man?!«schrie Pawlowitsch. Der Oberarzt erbleichte.»Man vergaß, das er Diät leben soll. Man brachte Normalkost!«
«Wer?«
«Pfleger von Station III!«
«Entlassen und melden!«schrie Pawlowitsch.»Wegen Sabotage melden!«
«Aber, Herr Professor. Ein Versehen.«
Pawlowitsch fuhr mit beiden Händen durch die Luft.»Ich will es so!«sagte er scharf.»Ein Versehen im Lazarett bedeutet den Tod! Ich kannte einen Fall, wo man einem Darmoperierten nach der Operation Grünkohl mit Mettwurst gab! Der Patient starb unter gräßlichen Qualen!«Der Professor schlurfte zur Tür.»Er wird entlassen und gemeldet! Ich will Ordnung in meiner Klinik haben. Wenigstens Ordnung, wenn alles andere versagt.«
Der Oberarzt sah ihm nach, als er die Tür öffnete und auf den hellen, weißgestrichenen Gang trat.
Versagen, dachte er. Auch du versagst, du Stalinpreisträger! Du weißt nicht mehr weiter, du ausgetrocknete Spinne, du Giftwurm ohne Blut.
Dann ging er zum Telefon und rief den MWD an.»Ja«, sagte er.»Abholen. Den Pfleger Paul Semjojew, Station III. Sabotage. Sofort abholen! Danke.«
Was ist ein Mensch in Rußland? In diesem Land, in dem selbst die Sonne Mühe hat, es ganz zu bescheinen?! Und wir alle sind ja nur Semjojews, die niemand vermißt.
In dem kleinen Zimmer 9 am Ende des Ganges — dem Sterbezimmer der Klinik — lag Sascha Kislew apathisch in den Kissen. Eine
Schwester und der junge armenische Arzt saßen neben dem Bett und untersuchten den Leib des Patienten. Als Professor Taij Paw-lowitsch eintrat, erhoben sie sich und stellten sich in strammer Haltung ans Kopfende des Bettes.
«Hoffnungslos«, sagte der junge Arzt ernst.»Der Magen ist durchgebrochen, und sein Inhalt ergießt sich in die Bauchhöhle. Er wird in kürzester Zeit innerlich verblutet sein.«
Pawlowitsch sah den Oberarzt an. Zu spät, hieß dieser Blick. Ehe der Deutsche kommt, ist er schon tot — es sei denn, wir geben seinen Tod erst bekannt, wenn der Deutsche da ist! So lange muß er noch leben — auf jeden Fall! Es darf einfach kein Totenschein ausgestellt werden! Wenn Rußland will, daß er lebt, dann lebt er auch als Toter!
«Sofort in das Lager schicken! Ich lasse einen Wagen abfahren, der den Deutschen holt! Und Sie«- Pawlowitsch wandte sich an den jungen Armenier —»Sie gehen zu Genosse Kislew und sagen ihm, daß der deutsche Arzt, der allein für den Zustand seines Sohnes zuständig ist, sofort geholt wird. Ich habe ihn nicht operiert. Die Schuld trifft allein Dr. Böhler! Sagen Sie ihm das.«
«Ja, Herr Professor.«
Schnell verließ der junge Arzt mit dem Oberarzt das Zimmer. Auf dem Gang blieb er stehen und sah seinen Chef an.»Das ist doch eine große Schweinerei, was der Chef da macht«, sagte er laut. Der Oberarzt winkte ab.
«Nicht denken, mein Junge«, meinte er sachlich.»Wenn Sie ein guter Arzt werden wollen, dann tun Sie grundsätzlich nur das, was man Ihnen sagt. Darin unterscheiden wir uns von den Ärzten der anderen Staaten, die viel rückständiger sind!«Beißender Hohn lag in seiner Stimme, als er dem Armenier auf die Schulter klopfte.»Tun Sie, was der Chef Ihnen sagte! Mit moralischen Bedenken werden Sie hier keine Karriere machen. «Sein Schritt verlor sich in den weiten Gängen der Klinik. Der Armenier blickte ihm nach. Sein Gesicht brannte vor Scham. Aber er ging. Es war zu gefährlich, nicht zu gehen.
Sascha Kislew starb sechs Stunden, ehe Dr. Böhler mit dem Sonderwagen Pawlowitschs in Stalingrad eintraf. Der Professor hatte den Tod noch beschleunigt, indem er ihm eine Injektion mit Morphium gab, die das geschwächte Herz nicht mehr ertrug. So starb der junge Mensch nicht an Krebs, sondern an einem Herzkollaps, ausgelöst durch Morphiumspasmen.
Es war ein Fehler von Professor Pawlowitsch, den er in dem Augenblick einsah, als Sascha starb. Er raufte sich die Haare, er schlug mit der Faust auf das Bett, in dem der junge Mann spitz und gelb lag. Da er allein im Zimmer war, vernichtete er die Ampulle, warf die Spritze weg, deckte den Toten auf und knetete den Leib, in der Hoffnung, durch dieses Massieren die innere Blutung und den Mageninhalt der Bauchhöhle so zu verteilen, daß bei der Sektion ein Chaos im Leib von Sascha den plötzlichen Tod erklärte. Man konnte dann eine Untersuchung des Herzens ablehnen, indem man sie als sinnlos und zeitvergeudend hinstellte.
Der Oberarzt trat ins Zimmer. Ein Blick auf den jungen Kislew genügte ihm.»Exitus?«fragte er.
«Nein, eine Geburt!«zischte Pawlowitsch giftig.»Er darf noch nicht tot sein. Verbreiten Sie in der Klinik, ich habe bei dem Kranken einen labilen Zustand erreicht, der vielleicht eine neue Operation möglich macht!«
«Aber das geht doch nicht. «Der Oberarzt stotterte.»Wir können doch jetzt den deutschen Arzt nicht mehr.«
«Hinaus!«schrie der Professor. Sein asiatisches Gesicht war verzerrt. Er sah jetzt wirklich aus wie ein alter, wütender Affe. Seine Haut war braunrot, in dem breiten Gesicht standen schräg, eng wie Schlitze, die Augen.
Erschüttert wandte sich der Oberarzt ab und verließ das Zimmer. Draußen vor der Tür, auf dem Gang, lehnte er sich gegen die weiße Wand und schloß die Augen.»Heilige Mutter von Kasan«, sagte er leise.»Verzeih mir… ich muß es tun.«
Schwankend ging er zur Arztmesse und erzählte stockend, daß der Professor vielleicht den jungen Kislew retten könne.
Als Dr. Böhler in Begleitung von Martha Kreutz im Krankenhaus erschien, war Pawlowitsch ruhig und freundlich wie immer. Nur Martha Kreutz sah er mit Mißfallen an. Er hatte sie nicht angefordert. Der Oberarzt verstand seinen Blick und führte Martha Kreutz hinaus.
«Kommen Sie, Schwester«, sagte er herzlich, obwohl es ihn im Halse würgte.»Davon verstehen wir nichts, das ist allein das Recht der großen Wissenschaft. Während Dr. Böhler den Kranken untersucht, trinken wir einen kleinen Wodka.«
Ahnungslos, erfreut und überrascht über die unerwartete kollegiale Herzlichkeit, folgte Martha Kreutz dem russischen Oberarzt.
«Wie geht es dem Kranken?«fragte Dr. Böhler den Professor. Er gab seinen Lammpelz einem Heilgehilfen und nahm aus der Hand der Stationsschwester einen weißen Mantel entgegen. Er zog ihn über seine alte Plenniuniform und knöpfte ihn zu.»Starke Spasmen?«
«Ab und zu. «Pawlowitsch sah an die Decke.»Sehr ernst.«
«Wann wurde er eingeliefert?«
«Heute morgen.«
«Warum nicht früher?«Dr. Böhler verhielt den Schritt. Fast tadelnd sah er den Professor an.»Sie hatten doch Kenntnis von dem Zustand des Patienten. Haben Sie ihn denn nicht nach der Entlassung aus der Klinik beobachten lassen? Hielt er vollkommen Diät?«
Taij Pawlowitsch sah den Deutschen von der Seite. Warte, du deutsches Schwein, dachte er wütend, gleich bist du klein wie ein Wurm, den ich mit Ekel zertreten werde. Ein Stalinpreisträger für Chirurgie läßt sich nicht von einem deutschen Plenni zeigen, wie man einen Magenkrebs operiert! Und wenn, dann geht es schief. Dann muß es schiefgehen! Wir sind die Herren der Welt! Wir dulden keinen Höheren über uns! Nicht einmal Gott. Auch Gott schaffen wir ab, den alten Vater mit dem weißen Bart. Er ist klapprig geworden, dieser Gott. Er hat eine Arteriosklerose und wird kindisch. Wir sind die Herren der Erde! Wir Russen! Wir Asiaten!
Taij Pawlowitsch lächelte.»Wir haben alles getan — vielleicht war Ihre Resektion zu grob.«
Dr. Böhlers Kopf flog herum. Plötzlich, wie ein Blitz, schlug es bei ihm ein. Er sah, wohin man ihn gelockt hatte, er erkannte die ungeheure Gefahr, in die er gestolpert war. Aber dieses plötzliche Wissen erschreckte ihn nicht — es machte ihn ebenso schnell kalt und berechnend, so kalt, wie Pawlowitsch es war, der große, starke, unheimliche Gegner mit dem Gesicht eines mumifizierten Affen.
«Wo ist der Patient?«
«In Zimmer 9. Sie sehen ihn gleich. Ich lasse Sie sogar allein mit ihm. «Pawlowitsch lächelte hinterhältig.»Sie haben alle ärztlichen und chirurgischen Freiheiten.«
Dr. Böhler blieb stehen, obwohl Professor Pawlowitsch sich zum Gehen wandte. Ein wenig verblüfft drehte sich der Professor um.»Kommen Sie!«
«Ich möchte erst den genauen Krankheitsbericht sehen, bevor ich dem Patienten gegenübertrete. Sie haben doch genaue klinische Unterlagen, Herr Professor.«
Pawlowitsch nickte.»Selbstverständlich. Der Kranke befand sich ja unter ständiger Kontrolle. Die Papiere sind im Zimmer meines Oberarztes. «Er lächelte höflich.»Ich schicke gleich eine Schwester zu ihm. Bis dahin können Sie den Patienten schon untersucht haben.«
Er blieb vor einer weißlackierten Tür stehen. Über dem Rahmen leuchtete auf Glas gemalt eine große Neun. Es war das letzte Zimmer des Ganges. Dr. Böhler bemerkte es und biß sich auf die Lippen. Pawlowitsch legte die abgezehrte Hand auf die Klinke. Sie zitterte nicht — er drückte die Klinke nieder.
«Er wird schlafen«, sagte er leise. Seine Heuchelei erschütterte Dr. Böhler. Auch er ist ein Arzt, dachte er erschrocken. Auch er will Helfer sein, Freund der Menschen. Er sah auf den Spalt der Tür und wußte, was ihn in diesem Raum erwartete.
Professor Pawlowitsch hatte es plötzlich eilig. Er zog sich von Zimmer 9 zurück und nickte ein paarmal mit dem greisen Kopf.
«Ich gehe selbst die Krankengeschichte holen, Herr Kollege«, sagte er höflich.»Bis dahin haben Sie wahrscheinlich eine sichere Dia-gnose gestellt.«
Auf seinen dünnen, kurzen Beinen rannte er den Gang entlang und ließ Dr. Böhler an der geöffneten Tür zurück, dann überwand er die Sekunde der Schwachheit und trat mit entschlossenen Schritten in den langen, schmalen Raum.
In dieser Stunde geschah es, daß Dr. Kresin laut rufend durch das Lazarett lief und die Kasalinsskaja aus dem Bett jagte, wo sie ihren Mittagsschlaf hielt. Auch Major Worotilow rannte über den verschneiten Appellplatz und stürmte in die Krankenbaracke.
Im Zimmer Janina Saljas standen die beiden Schwestern Erna Bord-ner und Ingeborg Waiden am Bett des Mädchens und bemühten sich um sie mit einem Sauerstoffapparat. Dr. Schultheiß machte alles bereit für eine Magenspülung, während Dr. Kresin keuchend zurückkam und eine Spritze mit Traubenzucker und Strophanthin aufzog.
«Wie ist das nur möglich?!«schrie er immer wieder.»Janina. Täubchen. was machst du für Dummheiten.«
Er streichelte ihre blassen Wangen und hob die Lider von den eingesunkenen Augen.»Sie ist ja schon tot!«schrie er auf. Dr. Schultheiß fuhr herum und ließ den Magenschlauch fallen. Er stürzte an das Bett und setzte zitternd das Stethoskop an.
«Das Herz schlägt noch… ganz schwach. Geben Sie sofort die Injektion.«
Dr. Kresin spritzte intravenös das Strophanthin. Der kleine, schmale Körper Janinas bäumte sich auf.. Die Brust begann sich zu heben. Das Herz schlug hörbar gegen die Brustwand. Major Worotilow saß starr und gelbweiß in der Ecke am Fenster und stierte in das blasse Gesicht des Mädchens.
«Was ist denn?«fragte er immer wieder.»Was ist denn? Was hat sie denn getan?«
«Vergiftet!«Dr. Kresin ließ sich auf die Bettkante fallen.»Zwanzig Schlaftabletten! Das hält sie nicht aus! Und sie war sowieso so schwach!«Er schlug Dr. Schultheiß den Magenschlauch aus der Hand, als er sich über Janina beugen wollte.»Quälen Sie doch mein Täubchen nicht noch!«brüllte er.»Gehen Sie weg mit dem dummen Schlauch! Als ob sie damit zu retten wäre.«
«Auspumpen ist das einzige Mittel!«Dr. Schultheiß warf verzweifelt beide Hände vor das Gesicht.»Wenn man bloß wüßte, wann sie die Tabletten genommen hat!«
«Schon vor Stunden!«Ingeborg Waiden begann zu schluchzen.»Wenn ich nicht zufällig ins Zimmer gesehen hätte, würde es keiner gemerkt haben. Sie war ja immer so still. so bescheiden.«
Major Worotilow sprang auf. Er rannte hin und her. Sein mächtiger Körper war nach vorn gebeugt.»Aber warum? Warum?«murmelte er immer wieder.
Man sah auf den Boden und schwieg. Jeder wußte es… aber keiner wagte es auszusprechen. Kresin hatte den Weinkrampf miterlebt, als Janina erfuhr, daß Dr. Schultheiß auf der Entlassungsliste stand. Er hatte sie eine ganze Nacht lang getröstet und ihr zugesprochen, er hatte ihr das Leben an der Wolga geschildert, das weiterging, auch wenn der deutsche Arzt mit den blonden Haaren nicht mehr bei ihnen war, er hatte von der Steppe erzählt, von den Wäldern und den weißen Häusern am Sandstrand der Krim. Und Janina hatte stumm zugehört und geweint. Er hatte sie verlassen in der Hoffnung, in ihr den Mut zum Leben erhalten zu haben.
Und nun dies!
«Wenn Dr. Böhler doch hier wäre.«, sagte Worotilow leise.
«Er kann auch nicht helfen!«Die Kasalinsskaja fühlte den Puls.»Kaum noch tastbar. Sie schläft ein… ganz sanft… so sanft, wie ihr Leben war.«
Worotilow drehte sich zum Fenster um. Seine Schultern zuckten. Dr. Schultheiß setzte sich an das Bett und nahm die weißen, schlaffen Hände Janinas. Er streichelte sie. die Finger entlang, über die kleinen, blauen Adern, die durch die fahle Haut schimmerten, zum Gelenk hin und wieder zurück. Er war schuldig an diesem Sterben. Er wußte, daß der Tod Janinas immer auf seiner Seele liegen würde.
Dr. Kresin saß auf einem Stuhl am Fußende des Bettes und beobachtete das Gesicht des Mädchens. Die Kasalinsskaja stand am Kopfende und ging in Gedanken alle Medikamente durch, die sie gegen Schlafmittelvergiftung kannte. Es war nur eine kurze Liste, denn der Tod kommt in Rußland in anderer Gestalt als in der von zwanzig kleinen, weißen Pillen. Und man lehrt nur das in Rußland, was man braucht. Schlafmittel sind ein Privileg der dekadenten westlichen Welt, aber nicht des blutfrischen, erst erwachenden Rußland.
Der Puls wurde schwächer. Tiefe Ringe zeigten sich unter den Augen. Der Körper verfiel in rasender Eile. Worotilow stand noch immer mit dem Rücken zum Bett und schluchzte. Dr. Kresins Hand glitt tastend über die Bettdecke.
«Janinaschka«, flüsterte er.»Verlaß uns doch nicht. Mein silbernes Täubchen. warum willst du die Wolga nicht mehr sehen. Bleib doch, bleib doch, Muscha. «Er sah wie ein russischer Bauer aus, grobschlächtig, bärenstark, kindlich im Gemüt und mit Tränen im Bart.
Eine Stunde später starb Janina Salja. Still schlief sie hinüber in eine reinere Welt, das Herz setzte einfach aus, als habe man an einem Schalter gedreht, der das Lebenslicht löscht. Sie zitterte noch einmal mit den Lidern, dann seufzte sie leise. kaum vernehmbar. dann lag sie still und weiß in den Kissen. Ihre Züge verloren die innere Verkrampfung. schön wie nie im Leben war sie im Tod. die verklärte himmlische Schönheit des erlösten Leibes.
Dr. Kresin faltete die Hände und betete leise. Auch die beiden deutschen Schwestern und Dr. Schultheiß beteten. Major Worotilow verließ das Zimmer… man sah ihn über den Platz zur Kommandantur gehen, langsam, schleppend, als trüge er eine Zentnerlast. er hielt den Kopf gesenkt und beachtete nicht die Wachtposten, die ihn grüßten, und Leutnant Markow, der auf ihn zutrat und ihm eine Meldung machte. Er ließ den Erstaunten einfach stehen und ging langsam weiter wie ein Nachtwandler.
Die Kasalinsskaja deckte Janina bis zum Hals zu und schob mit der Hand die ein wenig geöffneten Lider ganz herab. Von einem Blumentopf riß sie einige Blüten ab — es war eine kleine, armselige Primel, die in Sellnows Zimmer gestanden hatte — und steckte die Blüten zwischen die Finger des Mädchens.
Dr. Kresin blickte auf und sah sich wie erwachend im Zimmer um.
«Ich lasse mich versetzen«, sagte er dumpf.»Ich kann hier nicht mehr bleiben. Ich will kein Gefangenenlager mehr sehen! Keinen Plenni, keinen Zaun, keine Soldaten — und keinen deutschen Arzt mehr! Ich gehe nach Süden, an das Schwarze Meer. Ich will auch die Wolga nicht mehr sehen. nie, nie mehr!«
Er erhob sich und zog Dr. Schultheiß mit sich empor.
«Du bist der einzige Mensch gewesen, Jens«, sagte er langsam, während ihm die Tränen aus den Augen rannen und über seine dicken Backen rollten,»den Janina wirklich geliebt hat. Mit dieser Liebe ist sie gestorben. verdammt sollst du sein, wenn du mein Täubchen jemals vergißt.«
«Ich werde sie nie vergessen, Dr. Kresin. «Jens schüttelte müde den Kopf.»Ich habe sie sehr geliebt.«
Dr. Kresin legte ihm die Hand auf die Schulter.»Wäre ich kein Russe, ginge ich mit dir nach Deutschland. Aber ich bin ein Russe… und ich muß bei Mütterchen leben, denn was würde aus ihr, wenn wir sie alle verließen? Wirst du mir schreiben aus Deutschland?«
«Ja, Dr. Kresin.«
Die Kasalinsskaja räusperte sich.»Sie war eine Bolschewikin«, sagte sie leise.»Aber sie war immer gläubig. Sollen wir nicht den Pfarrer holen, Genossen, damit er sie segnet?«
Und Dr. Kresin nickte.
Professor Taij Pawlowitsch stand zitternd vor Dr. Böhler. Der Oberarzt, der junge Armenier, vier andere Ärzte und sieben Schwestern füllten das enge Zimmer. In dem Bett lag bleich und starr Sascha Kislew.
«Sie haben ihn getötet!«schrie der kleine Asiate in gut gespielter
Erregung.»Sie haben einen Genossen gemordet!«
Dr. Böhler sah den Professor ruhig an. Er wandte sich zu dem Toten um, und ein Blick des Mitleids glitt über die langgestreckte Gestalt.
«Er ist bereits seit sieben Stunden tot«, sagte er mit fester Stimme.»Das wissen Sie genau.«
«Ich habe ihn vor einer Viertelstunde lebend verlassen!«schrie Taij Pawlowitsch.»Der Oberarzt war Zeuge! Lebte er noch, Genosse Ija-new?«
Der Oberarzt würgte. Er sah an Dr. Böhler vorbei und nickte.»Ja«, sagte er leise.
«Na, also!«Hohn schwang in der Stimme des Asiaten.»Geben Sie nun zu, daß Sie den Genossen Kislew getötet haben?! Daß schon Ihre Operation mit der Radikalverkürzung des Magens völlig falsch war?! Gestehen Sie es doch, Sie Stümper! Sie flügellahmer Arzt von Stalingrad!«Taij Pawlowitsch sonnte sich in seinem Triumph. Er schrie, daß man es auf dem Gang hörte, und Dr. Böhler war erstaunt, mit welcher Kraft die Stimme aus dem vertrockneten Körper quoll.»Ich werde Sie wegen Mordes anzeigen! Sie haben dem Mann soeben eine Injektion gegeben!«
«Ich habe ihn kaum angerührt! Ich habe nur an den Flecken der Haut festgestellt, daß der Tod schon vor Stunden eingetreten ist. «Dr. Böhler sah die anderen Ärzte an.»Sie wissen, meine Herren, aus der Anatomie und der Zellpathologie, daß man nicht allein aus dem Mageninhalt, sondern auch an den Leichenflecken und den Veränderungen der Innenzellen feststellen kann, ob ein Mensch im Augenblick oder schon vor Stunden gestorben ist. Ich werde deshalb den Toten sezieren.«
«Nichts werden Sie!«schrie der Professor.»Ich verbiete es Ihnen! Der gesunde Verstand sagt ja, daß der Kranke vor einer Viertelstunde noch lebte! Ich habe Zeugen! Ich dulde nicht, daß ein deutsches Schwein an einem Genossen herumschneidet! Eine dreckige Nazisau!«
Dr. Böhler sah ein wenig hilflos von Arzt zu Arzt. Wo sein Blick hinwanderte, senkten sich die Köpfe. Er begriff. Er stand einer Macht gegenüber, bei der es nicht um Recht ging, sondern um das autoritäre Wort eines einzelnen. Um die Ansicht des Professors Taij Paw-lowitsch, des Stalinpreisträgers für Medizin. Selbst der Armenier senkte den Kopf, als Dr. Böhler ihn ansah. Unter seiner naturbraunen Hautfarbe ließ die Blässe sein Gesicht fahl erscheinen.
«Der Patient ist durch eine Überdosis Morphium gestorben«, sagte Böhler bestimmt.»Ich kann Ihnen die Einstichstelle zeigen!«Er wollte sich dem Toten zuwenden, aber Pawlowitsch trat ihm in den Weg. Seine geschlitzten Augen leuchteten voll Haß.
«Sie rühren den Genossen Kislew nicht mehr an!«schrie er wild.»Ich dulde keine Berührung eines Russen durch einen deutschen Hund mehr! Ich werde Sie sofort verhaften lassen! Sie Mörder!«
In diesem Augenblick geschah etwas, was Dr. Böhler Sekunden später heftig bereute und was ihn trotz aller Ungeheuerlichkeit der Situation in seiner Ehre als Arzt verletzte. Er sah den Professor kurz an, blickte in dieses gelbe, verschrumpfte Gesicht, in die geschlitzten Augen, auf den bösen, welken Mund — und dann holte er aus und schlug Taij Pawlowitsch mitten in die asiatische Fratze hinein. Wie von einem Katapult geschossen, flog der Greis in eine Ecke des Zimmers und brach dort zusammen.
Keiner der Ärzte rührte sich. Keiner sprang hinzu und hob den ohnmächtigen Professor auf. Wie eine Wand standen sie, und ihre Augen leuchteten.
Das war es, was Dr. Böhler wieder zur Besinnung brachte, was ihn tief erschütterte und beschämte. Er hatte einen Kollegen geschlagen, und dort standen die anderen Ärzte und ließen ihren Chef in der Ecke liegen. Er trat einen Schritt vor — die Mauer der weißen Mäntel öffnete sich, er ging durch die Gasse zur Tür und verließ das Zimmer 9. Als er die Tür schloß, sah er, wie der Oberarzt den Professor aufrichtete und zu einem Stuhl führte.
Im Treppenhaus der Klinik, in der Nähe der Anmeldeloge, stand er dann und wartete. Martha Kreutz kam die Treppe herab, sie hatte rote Backen. Man hatte ihr in der Arztmesse dickflüssigen Krimwein gegeben, der ihr zu Kopf gestiegen war.
Hinter ihr kam der junge Armenier die Treppe herabgesprungen. Er reichte Dr. Böhler die Hand und schob ihn und die Schwester durch das große Tor ins Freie. Kalte Schneeluft wehte ihnen entgegen. Schnee trieb über den weiten Platz vor der Klinik. Ein Pan-jeschlitten zog mit knirschenden Kufen über die vereiste Straße. Vor den Stufen des Eingangs wartete der Sonderwagen Taij Pawlowitschs.
«Fahren Sie, Kollege«, sagte der Armenier in gebrochenem Deutsch.»Lager ist sicher! Ich werde telefonieren Ihren Major. Nur fahren jetzt, ehe Professor Rache.!«
Er rannte zurück in die Eingangshalle, nahm den dicken Lammpelz Dr. Böhlers und legte ihn ihm über die Schultern. Der Chauffeur hatte schon die Tür des Wagens geöffnet. Dr. Böhler stieg ein, Martha Kreutz setzte sich neben den Fahrer. Der junge Armenier warf den Schlag zu.
«Wir alle wissen, der junge Kislew seit sieben Stunden tot!«rief er durch die Scheibe und winkte dem deutschen Arzt zu.»Jetzt fahren gut.«
Der schwere Wagen heulte auf, drehte auf dem weiten Platz und jagte durch den stiebenden Schnee auf die Chaussee zur Wolga hin. Dr. Böhler sah durch das hintere Fenster zurück. Der junge Armenier blickte dem Wagen nach und stand allein auf der großen Treppe. Jetzt gesellte sich aus der Halle ein anderer weißer Kittel hinzu, eine große Gestalt: der Oberarzt. Auch er blickte dem Wagen nach.
«Kommen Sie«, sagte er zu dem Assistenten.»Das Schwerste steht uns noch bevor. Der Professor hat sich eingeschlossen. Wir müssen Sergej Kislew endlich die Wahrheit über seinen Sohn sagen.«
«Wir?«der Armenier wurde fahl.
«Es muß sein! Wir werden auch das überwinden, und einmal muß er es ja doch erfahren. Er wartet seit zehn Stunden in seiner Tob-zelle. «Der Oberarzt faßte den Jungen unter.»Gehen wir, Genosse.«
Als sie die Zelle aufschlossen, saß Sergej Kislew auf seiner Pritsche und weinte. Was man ihm nicht sagte, hatte er in den Stun-den der Einsamkeit begriffen. Willenlos wie ein Kind ließ er sich hinausführen auf den weißen, kahlen Flur, an dessen Ende das schmale Zimmer 9 lag.
In aller Stille fand die Beerdigung von Janina Salja statt. Keiner aus dem Lager war zugegen. Nicht Dr. Böhler, nicht Dr. Schultheiß, die Tschurilowa oder Dr. Kasalinsskaja. Nicht einmal Major Worotilow konnte die Stärke aufbringen, hinter dem schlichten Holzsarg herzugehen, den der beste Lagertischler aus den Kiefern am Rande der Wolga gezimmert hatte. Vier Rotarmisten trugen ihn, und nur Dr. Kresin stand an der Grube und betete, nachdem er die Träger zu den Wagen zurückgejagt hatte.
Allein stand der große Mann in dem Schneefeld am Waldrand und blickte sich um. Dort war die Wolga. Groß, breit, für die Ewigkeit fließend. Dort waren die Wälder — dunkel, unübersehbar, verfilzt, urwaldartig sich hinziehend über Hunderte von Kilometern, ein Reich der Wölfe und Bären, die des Nachts durch den Schnee irrten und die Stille mit ihren unheimlichen Lauten erfüllten.
Hier lag die Grube, lag Janina Salja, die Tochter der Wolga, das Mädchen mit den weiten Augen, in denen die Unendlichkeit Rußlands schimmerte.
Langsam wandte sich Dr. Kresin um und tappte durch den hohen Schnee zu den Wagen zurück. Er kroch auf seinen Sitz und blickte durch die Scheiben in die andere Richtung, wolgaabwärts, woher sie gekommen waren.
«Werft es zu!«sagte er laut zu den wartenden Soldaten.»Und macht schnell… es wird Wind geben, und der Schnee staubt über die Steppe. Macht schnell, Brüder.«
Dann vernahm er das Knirschen der Schaufeln und das dumpfe Poltern der steinhart gefrorenen Erdbrocken in der Grube, und er drückte die Hände flach gegen seine Ohren, um es nicht zu hören. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Ihm war, als begrübe man eine Welt, in der er bisher gelebt hatte, und nun stand er einsam da, leer, nackt, ausgestoßen, verdammt weiterzuleben.
Und das Leben ging weiter.
Im Lager 5110/47, in Stalingrad, in der Klinik Professor Pawlo-witschs, in den Straflagern und bei den Außenkolonnen.
In Stalingrad versuchte Dr. von Sellnow die ersten Schritte am Arm einer Schwester. Pawlowitsch beobachtete von seinem Zimmerfenster aus, wie er, gestützt und in einen Pelz gehüllt, durch die reine Schneeluft im Garten schwankte. Er war zufrieden, der kleine Asia-te. die Gehirnoperation mit dem Meißel war dem deutschen Arzt gelungen. Er hatte eigentlich gehofft, daß Sellnow den Eingriff nicht überstehen würde. Sobald er aber erkennen mußte, daß er gegen alle Erwartungen am Leben blieb, hatte er keine Mittel gescheut, er hatte sie aus Moskau mit der Kurierpost kommen lassen. Drogen, die das Herz stärkten, Streptomycin, das die Entzündungen wegfraß, Hormonpräparate, die den Organismus strafften. Er hatte gesiegt, hatte den Tod in einem zähen Kampf bezwungen… er hatte seine Niederlage bei dem jungen Kislew ausgelöscht. Er war in der Lage, der russischen medizinischen Welt einen Mann vorzuführen, der eine Krankheit überstanden hatte, die als unheilbar galt und der durch seine Operation wieder ein gesunder, vollwertiger Mensch geworden war.
Dieser Ehrgeiz war es, der Dr. von Sellnow das Leben rettete und ihm alle Sympathien des Tataren einbrachte. Persönlich kümmerte er sich um die Fortschritte des deutschen Arztes und führte gewissenhaft wie nie die Krankengeschichte des >Gehirntumors<, wie er Sellnow bei seinen Ärzten stolz nannte.
Was weder Pawlowitsch noch Sellnow wußten, war die Entlassungsnummer, die Sellnow vor zwei Monaten bekommen hatte. Eine Nummer, die nun in Moskau beim Zentralkomitee durch die Mühle der schwerfälligen sowjetrussischen Bürokratie lief und einen roten Haken an allerhöchster Stelle erhielt.
Damit war Sellnow endgültig entlassen — noch nicht körperlich, aber listenmäßig. Es bedurfte nur des Befehls aus dem Kreml, und die Transporte rollten gen Westen, die großen Blätter der deutschen Sowjetzone rührten die Trommel der Propaganda, und in Frankfurt an der Oder wurden die Baracken geschrubbt und rote Fahnen zum Empfang bereitgelegt.
Wenn nur der Frühling bald kommt! Wenn nur die Sonne durch das Grau der Wolken bricht und der Schnee schmilzt. Der Dreck, der Schlamm, der berühmte General Schlamm, gehen vorbei — und dann kommen die Wagen und holen uns ab. drei. vier. fünf Lastwagen. Sie fahren uns weg in die Freiheit. mich und dich. und dich. Drum iß den Kapusta, das glitschige Brot, die Hirsegrütze, die zwanzig Gramm Butter und das Bröckchen Fleisch, das du in der Woche einmal in der Wassersuppe findest. Und die gefrorenen Kartoffeln iß auch, Kamerad. sie machen stark und dick. du kommst mit einem Kartoffelbauch nach Hause, und Mutter staunt: Mensch, biste dick jeworden! Emil. det is ja nich möglich! Vielleicht ist es auch Wasser, was dich so aufschwemmt, und du kommst in eine deutsche Klinik, wo man dich aufpäppelt. alles geht vorbei, Emil. denn du bist ja zu Hause und Mutter wartet und bringt dir immer leckere Sachen. Dann wirste wieder stark und vergißt die verdammten Jahre, die du in der Steppe verloren hast! Und die Nächte, Mensch, Emil, die Nächte! Eine Frau im Bett!
Mitte März kamen wieder Pakete im Lager an.
782 Pakete!
Die Plennis strahlten. Major Worotilow und Dr. Kresin freuten sich mit. Sie verzichteten auf eine scharfe Kontrolle und gaben die Pakete binnen zwei Tagen aus. Markow und drei andere Offiziere leiteten die Ausgabe und untersuchten die Pakete flüchtig. Auf Peter Fischer und sein Paket lauerte schon vor der Baracke Michail Pjatjal.
«Hast bekommen deutsches Arbeitterpudding?«fragte er gierig. Peter Fischer nickte. Sieben Pakete Eiermanns Schnellpudding gingen in den Besitz von Pjatjal über, der mit seiner Errungenschaft glücklich davonrannte und in der Küche seine Schüssel holte.
Wasser… einen Quirl… das Pulver ins Wasser, gerührt… schwupps… der Pudding stand. Pjatjal stöhnte vor Wonne und stand mit glänzenden Kinderaugen davor. Bascha hinter ihm schnalzte mit der Zunge.
«Die Deutschen sind Teufelskerle«, sagte Pjatjal ehrlich.»Bei ihnen hat es der Arbeiter besser als bei Mütterchen Rußland.«
Die 782 Pakete reichten für das ganze Lager drei Wochen. Sie wurden ehrlich verteilt. Kameraden, die nichts bekommen hatten, wurden von den anderen bis aufs Gramm ehrlich bedacht… im Lazarett liefen Spenden ein. Schokolade, Marmelade, weißes Mehl, Büchsenmilch, Zucker, Kekse, Konserven mit Apfelmus und Gemüse. Blök-ke von Margarine stapelten sich bei Dr. Böhler, der wie bei der ersten Paketsendung genau Buch führte und die Portionen verteilte.
Major Worotilow wurde eingeladen. Die Lagerbäcker hatten aus den Beständen einige Torten gebacken… es gab Neskaffee mit Sahne, die man aus Grieß mit Büchsenmilch geschlagen hatte. Auch Dr. Kresin wurde eingeladen, die Kasalinsskaja, die Tschurilowa, das ganze Lazarettpersonal… man feierte den Geburtstag Dr. Schultheiß'.
In den Baracken zog die gute Laune ein. Der Druck der Ungewißheit wich… wenn man Pakete durchließ, dann stimmte es auch mit der Entlassung. Zwar waren die damals Verurteilten aus der abgesonderten Strafbaracke nach unbekannten Zielen verlegt worden, aber die Mehrzahl der Plennis blieb zurück und hielt sich aufrecht durch den Glauben an die Zukunft.
Im Schrank bei Major Worotilow lagen drei Pakete und vier Karten für Dr. von Sellnow. Manchmal stand er davor und schüttelte den Kopf.»Was soll ich mit ihnen tun?«fragte er Dr. Kresin.»Wenn ich nur wüßte, wo er ist! Soll ich sie dem Lazarett geben zur Verteilung?«
«Warten wir noch ein bißchen. «Der russische Arzt kratzte sich das Kinn.»Vielleicht kommt er wieder. Wenn er tot wäre, hätte man uns benachrichtigt. es wäre bei den Transportlisten bestimmt herausgekommen. Aber man sagte nichts… also lebt er noch! Es besteht eine Hoffnung, ihn wiederzusehen! Es ist auch die Hoffnung der Kasalinsskaja! Mein Gott, wenn sie wüßte, daß wir ihn nach Hause schicken und daß er verheiratet ist! Lassen Sie die Pakete und Karten bloß liegen, Genosse Major.«
Mit dem Ausgeben der Pakete begann auch wieder der rege Tausch mit den Wachmannschaften. Tabak und Büchsen wechselten ihre Besitzer gegen Dinge, die man in den Handwerkerstuben brauchte. Zangen und Hämmer, Meißel und Hobel wurden eingetauscht — plötzlich gab es sogar Stoffe in der Lagerschneiderei, Papier und Leinen bei den Buchbindern, die für die Lagerbibliothek arbeiteten und die handgeschriebenen Bücher, die man auf zerschnittenen Zementsäcken schrieb, einbanden. Leim wurde besorgt, Farben, Pinsel. die Maler strichen die Baracken von innen an. im Lazarett gab es einen Tagesraum mit Wandgemälden, die der Bühnenbildner der Theatergruppe malte. Neue Noten für das Lagerorchester wurden besorgt. man probte jetzt sogar klassische Musik. Tschai-kowsky, Borodin, Beethoven, Schubert. Es war, als flute eine Welle des Lebens durch die verschneiten Baracken, als erhebe sich das dumpfe Lager zu neuer Frische und sprenge die Enge der jahrelangen Verdammnis.
Je mehr sich der Winter seinem Ende zuneigte und der Frühling zu ahnen war, um so mehr hob sich die Stimmung im Lager.
Das Orchester veranstaltete einen Operettenabend. Der Lagerchor sang berühmte Jägerchöre. Die Lagerbühne spielte ein Lustspiel — es war von einem Oberlehrer geschrieben und wurde Major Wor-otilow zur Zensur vorgelegt.
«Es ist ein Stück von Schiller«, sagte der Regisseur.
«Von Schiller? Das ist sehr gut! Genehmigt«, sagte Worotilow. Schiller war unantastbar, Schiller kannte jeder Russe. Was von Schiller war, unterlag keiner Kritik. Es wird behauptet, daß Schiller, wenn er alle die Stücke geschrieben haben sollte, die man in Gefangenenlagern unter seinem Namen aufführte, fünfhundert Jahre gelebt haben müßte, um sein Pensum zu bewältigen.
Als die ersten Sonnenstrahlen leuchteten, fuhr Dr. Kresin zum Grab Janinas hinaus und legte die ersten Blumen nieder, die er in Stalingrad kaufen konnte. Es waren dicke rote Blüten aus der Krim. Sie glänzten im Schnee wie große Blutstropfen.
In der Klinik in Stalingrad ging Sellnow jetzt allein, nur mit Hilfe eines Stockes, im Garten spazieren. Er sonnte sich in den ersten warmen Strahlen, er aß die beste Kost, die es im Krankenhaus gab, er konnte sich innerhalb der Klinik frei bewegen und zeigte sogar wieder medizinisches Interesse, indem er einmal bei einer Operation im OP auftauchte und assistieren half.
Pawlowitsch war stolz auf ihn. Er stellte den deutschen Arzt seinen Studenten vor, er zeigte Röntgenplatten und erläuterte die Operation als sein Werk wie die darauffolgende pflegerische Leistung — nur an den Patienten selbst wagte er sich nicht heran. Er ließ die einfachen Zwirnsfäden im Kopf und riskierte nicht, sie durch echte Seide und Catgut zu ersetzen. Er wagte auch keine Plastik der Schädeldecke und bemerkte mit Mißfallen, wie die eine Schädeldecke etwas einsank und eine Vertiefung bildete. Da dies jedoch keinerlei Wirkung auf die Körper- und Geistesfunktion zeigte, übersah er die Einbuchtung geflissentlich.
Sellnow tastete wohl des öfteren selbst seinen Kopf ab, aber er schwieg und beobachtete sich weiterhin genau. Er wußte, daß eine Plastik notwendig war und sich die Wirkungen erst nach Jahren einstellen konnten, aber er hatte mit seinem Zustand abgeschlossen und bemühte sich, seiner Person keine Wichtigkeit mehr beizumessen.
Er hielt die Augen offen und beobachtete das Leben in der Klinik.
Er sprach mit der Schwester und dem Oberarzt, er unterhielt sich lange mit dem Armenier und erfuhr auf diese Weise, daß man Entlassungen plante und das Lager 5110/47 Gefangene nach Hause schickte. Daß er unter den wenigen Auserwählten war, hielt er für ausgeschlossen. Er dachte an das ausgetretene Auge des Kommissars Kuwakino, und seine völlige Rechtlosigkeit in diesem Staate kam ihm wieder voll zum Bewußtsein. Trotzdem wagte er es eines Tages, den Armenier zu bitten, ein Schreiben aus der Klinik herauszuschmuggeln und es an die Adresse der Kapitän-Ärztin Dr. Alexandra Kasalinsskaja zu schicken. Der Armenier versprach es, und Sellnow schrieb ein paar Zeilen.
Der Brief kam drei Tage später im Lager 5110/47 an. Ein deutscher Lastwagenfahrer, der Holz ablud, brachte ihn mit. Alexandra Kasalinsskaja lachte und weinte, sie tanzte mit dem Brief durch das Zimmer und fiel Worotilow und Dr. Kresin um den Hals.
«Er lebt! Er lebt! Er ist in Stalingrad! Mein wilder Wolf lebt…!«Sie warf Worotilow das Schreiben hin und begann, hysterisch zu weinen. Dr. Kresin beugte sich über des Majors Schulter und las die Zeilen mit. Dann griff er nach seinem Mantel und stülpte die Pelzmütze auf.
«Ich fahre sofort nach Stalingrad! Ich muß ihn sprechen! Und wenn ich die Kröte von Pawlowitsch an der Wand plattquetsche! Kommen Sie mit, Genosse Major?!«
«Aber selbstverständlich.«
Die Kasalinsskaja hob beide Hände.»Nehmt mich auch mit! Bitte! Ich weiß, er denkt an mich und braucht mich.«
«Du kannst morgen fahren, Alexandra. «Dr. Kresin riß die Tür auf.»Einer muß ja im Lager sein! Wir werden ihn von dir grüßen!«
Er rannte die Treppen hinunter und schrie nach dem Jeep. Wor-otilow zog sich seinen dicken Lamm-Mantel an. Alexandra klammerte sich an seinen Arm.
«Sag ihm, daß ich ihn liebe«, flüsterte sie.»Daß ich auf ihn warte, daß mein Leben nur einen Sinn hat, wenn er da ist!«
«Ich werde es ihm sagen, Alexandraschka. «Worotilow dachte an die vier Karten und die Pakete, die in seinem Schrank lagen und die Sellnows Frau schickte, die Jahr um Jahr auf seine Heimkehr hoffte. Er dachte an die Transportnummer, die Sellnow bereits besaß und an die Tatsache, daß er im Frühjahr die lange Reise in die Hei-mat antreten mußte. Eine Reise, die Moskau befahl und die niemand verhindern konnte — nicht er, nicht Dr. Kresin, nicht der General in Stalingrad, und erst recht nicht Alexandra. Nur der Tod war stärker als der Befehl aus Moskau. Und den Tod hatten Dr. Böhler und Professor Pawlowitsch besiegt.
«Ich werde ihm sagen, daß du morgen kommst«, meinte Worotilow.
«Das wird ihn glücklich machen, Iwanow.«
«Ich glaube es. «Worotilow lief schnell Dr. Kresin nach und stieg in den Wagen. Er klemmte sich hinter das Steuerrad und winkte zur Kasalinsskaja zurück.»Sie glaubt, daß er in Rußland bleibt«, sagte er leise zu Dr. Kresin.»Wenn sie erfährt, daß wir ihn holen, weil er entlassen wird.«
«Nicht auszudenken«, murmelte Kresin mit geschlossenen Lippen.»Sie bringt uns alle mit Zyankali um.«
Der Jeep fuhr an und raste in einer Schneewolke der Wolga zu, fuhr in die Schneise ein und verschwand an der Biegung, die durch die Wälder führte.
In Stalingrad ging alles sehr schnell. Worotilow nahm keine Rücksicht mehr auf Namen und Stellung des alten Asiaten. Er schrie ihn an, ehe der Greis sich noch zu wehren vermochte, und während er schrie, rannte Dr. Kresin durch die Gänge der Privatstation, schob zwei Assistenzärzte zur Seite, die es nicht wagten, dem rasenden Bullen entgegenzutreten, und riß die Türen der Reihe nach auf.
In Zimmer 24, einem großen sonnigen Zimmer mit einem Balkon zum Garten hinaus, saß Dr. von Sellnow am Fenster und las. Erstaunt blickte er sich um, als die Tür stürmisch aufgerissen wurde.
Dr. Kresin hob beide Arme weit nach vorn.»Werner!«brüllte er vor Glück und Freude.»Mein Junge! Wir sind da!«
Sie stürzten aufeinander zu, sie fielen sich in die Arme, sie küßten sich… der Deutsche und der Russe… sie hielten sich umschlungen wie Ertrinkende und klopften sich auf die Schulter.
«Kresin«, stammelte Sellnow ergriffen.»Sie sind gekommen! Sie sind hier! Ich habe nie geglaubt, Sie noch einmal zu sehen!«
«Worotilow ist auch hier!«schrie Dr. Kresin. Er gebärdete sich wie toll, er drückte Sellnow in den Sessel und sprang herum wie ein tobender Büffel.»Er schreit den Alten zusammen… da kommt er schon… ich höre ihn. «Er rannte zur Tür und brüllte durch den stillen Gang:»Hier ist er, Iwanow! Hier! Komm doch, Brüderchen! Schlag den alten Affen nieder und komm!«
Worotilow stürzte in das Zimmer. er riß Sellnow hoch und küßte ihn auf beide Wangen. Er war stiller als Doktor Kresin… er sprach kein Wort, sondern drückte dem Arzt stumm die Hand. In diesem Händedruck lag alles, was er sagen wollte, aber vor Erschütterung nicht hervorbrachte.
In der Tür erschien Professor Taij Pawlowitsch. Sein Gesicht war gelber als je, es war verzerrt zur Fratze des Irrsinns. In der Hand hielt er eine Pistole.
«Fort!«kreischte er.»Das ist mein Haus! Das ist ein Haus des Staates! Ich habe den MWD rufen lassen! Ihr Untermenschen! Ihr Soldatenschweine! Ihr Hurensöhne! Ihr Auswurf!Ihr Mißgeburten!«
Worotilow lachte. Er drehte sich um und riß dem Alten die Pistole aus der Hand. Sofort verschwand der Kopf. Man hörte ihn auf dem Gang nach seinen Ärzten rufen.
Dr. Kresin hatte sich nach dem Verschwinden Pawlowitschs auf den Flur begeben und verlangte an einem der Stationstelefone das Staatsamt Stalingrad. Von dort forderte er die Verbindung zum General der Division. Und während Taij Pawlowitsch auf das Eintreffen des Geheimdienstes wartete, sprach Dr. Kresin mit dem General und berichtete die Vorfälle in der Klinik.»Der deutsche Arzt ist ein Gefangener unseres Lagers!«sagte er.»Er wird bei uns geführt und wurde von uns in Moskau zur Entlassung gemeldet. Er hat bereits seine Transportnummer! Wenn ich nach Moskau melde, daß ein zur Entlassung Kommandierter von einem russischen Arzt gefangengehalten und verborgen wird, dann gibt es ein Drama in Stalingrad. Wenn ich Moskau ferner melde.«
«Nehmen Sie den Mann mit!«sagte der General und hängte an.»Wenn ich Moskau melde.«, war ein Zauberwort. Es gab nichts, was mehr gefürchtet wurde als eine Meldung nach Moskau. Denn der Kreml kannte keine Gnade. er hatte Generäle, Minister, Vertraute gestürzt. Wer Moskau namentlich bekannt war, unangenehm bekannt, der hatte nichts zu erwarten als den Untergang. Befriedigt legte Dr. Kresin den Hörer auf. Er kam ins Zimmer zurück und umarmte Sellnow.
«Du kommst mit, mein Junge. Ich habe dich freibekommen! Zu Hause hast du vier Karten von deiner Frau und einige Pakete mit allem, was du dir wünschst.«
Sellnow sah sich um. Er hatte keine Koffer zu packen… er besaß nichts als das, was er auf dem Leib trug.»Weiß es Alexandra?«fragte er.
«Daß du kommst? Nein! Sie wird verrückt werden, wenn sie dich sieht!«
«Daß ich Karten habe. Von meiner Frau.«
«Nein. Worotilow hat sie bei sich eingeschlossen.«
«Aber sie muß es einmal erfahren.«
Dr. Kresin nickte.»Wenn du fort bist.«
«Fort?!«Sellnow sah von Kresin zu Worotilow. Das Leuchten in ihren Augen machte ihn zittern.»Was habt ihr? Was wißt ihr denn? So sagt doch was!«
«Wenn der Frühling kommt, fährst du weg, Werner, in die Heimat zurück. du hast schon deine Transportnummer.«
Sellnow schloß die Augen. Er schwankte… er hielt sich an der Stuhllehne fest. Sein Gesicht war totenbleich.»Nach Deutschland.«, stammelte er.»Wir werden wirklich entlassen. Es ist wirklich wahr. Nach acht Jahren.«
«Ja.«
«Und Fritz? Dr. Böhler?«
Kresin wechselte einen schnellen Blick mit Worotilow. Der nickte kurz.
«Dr. Böhler auch!«log Dr. Kresin.
«Dann kommen wir alle zusammen zurück nach Deutschland?«
«Ja.«
«Auch Dr. Schultheiß?«
«Er auch.«
Sellnow wischte sich über die Augen. Sein Handrücken war feucht… er rieb ihn an der Hose ab.»Ich kann es noch nicht glauben«, stotterte er.»Ich kann meine Frau wiedersehen. das Kind. Ich komme wirklich aus dieser Hölle heraus.?«
Dr. Kresin lachte rauh.»Er wird schon wieder frech!«sagte er zu Worotilow.»Er nennt unser Mütterchen eine Hölle. Wenn der Kerl frech wird, ist er auch gesund! Gott verdammt noch mal. endlich hat man wieder einen im Lager, mit dem man schimpfen kann. Es war stinklangweilig ohne Sie, Sellnow.«
Lachend traten sie Professor Pawlowitsch gegenüber, der aus einer Ecke auf den Gang geschossen kam und sich schutzsuchend umschaute, wo eine Mauer weißer Kittel den Ausgang versperrte. Sämtliche Ärzte der Klinik standen am Ende des Ganges und sahen erstaunt auf die drei Gestalten, die an Pawlowitsch vorbei zum Ausgang gingen.
«Aufhalten!«kreischte Pawlowitsch wild. Er raufte sich die Haare und brüllte in einer unbekannten, asiatischen Sprache Flüche und Drohungen.
Der Oberarzt trat einen Schritt auf Dr. Kresin zu. Er musterte den Bullen und versuchte, so höflich zu sein, wie es ihm nur möglich war.
«Bitte, bleiben Sie«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung.»Entlassungen kann nur der Oberste Sowjetarzt aussprechen! Wir haben keine Weisung erhalten.«
Dr. Kresin lachte dröhnend. Sein Lachen tönte durch die Stille des Flures. Pawlowitsch verstummte und drückte sich an die Wand.
«Genosse Oberarzt«, sagte Kresin gemütlich.»Wenn du ein Köpfchen hast und du legst Wert darauf, dieses Köpfchen oben zu behalten, auf dem Halswirbel, mein Brüderchen, dann laß uns ziehen. Frage einmal bei dem General nach — er wird dich ohrfeigen, weil du überhaupt fragst. Oder soll ich nach Moskau melden, daß der Oberarzt von Stalingrad es wagte, einen Mann festzuhalten, der schon eine Transportnummer für eine Fahrt nach Deutschland hat? Soll ich das, Brüderchen? Man wird dir dann in den Hintern treten und dich in die Sümpfe schicken. Und ihn, deinen Professor, werden sie so lange auf den hohlen Kopf klopfen, bis er sich einbildet, er sei ein Amboß. Sei friedlich, Genosse, und gib den Weg frei! Tust du es nicht — Brüderchen, verzeih, aber dann haue ich dir in die Fresse. Es wird mir keiner verbieten und keiner übelnehmen!«
Dr. Kresin ging einfach weiter, auf den Oberarzt zu… der wich zurück, gab den Weg frei… die Kette der weißen Kittel teilte sich… ungehindert gingen Worotilow und Sellnow hindurch und erreichten den Ausgang. Nur Dr. Kresin blieb zurück und gab dem verblüfften Oberarzt die Hand.
«Du bist ein kluger Junge«, sagte er gemütlich.»Du hast einen guten Kopf und ein noch gütigeres Herz. Du wirst einmal ein guter Arzt sein. Denk an mich, Brüderchen.«
Zufrieden eilte er den anderen nach und verließ die Klinik. Das hysterische Geschrei des asiatischen Alten gellte ihm nach, als er das große Tor hinter sich schloß.
Vor dem riesigen Haus lag der Schnee.
Die Sonne blendete. Schlitten huschten über die weiße Fläche. Ihre Glocken läuteten zart durch die kalte Luft. Bauern aus den Kolchosen an der Wolga stapften durch den Schnee und hatten in den verschnürten Bündeln ihre Einkäufe. Sie trugen sie an langen Stecken über dem Rücken. Ihre Pelzmützen waren tief ins Gesicht gezogen.
Auf der Spitze des Turmes leuchtete golden der Sowjetstern. Würdevoll blickten die Gipsstandbilder von Lenin und Stalin über den weiten Platz.
«Als ob nie Krieg gewesen wäre«, sagte Sellnow nachdenklich.
Worotilow nickte.»Wir wollen ihn auch vergessen. «Mit einer müden Bewegung schob er die Pelzmütze ins Gesicht.»Aber ob sie es in Moskau wollen. Ich glaube, wir alle unterschätzen die Menschen.«
Die Begrüßung der deutschen Ärzte war kurz. Man macht nicht viel Worte unter Männern, die jahrelang füreinander da waren und einer den anderen stützte. Dr. Böhler reichte Sellnow beide Hände und drückte sie herzhaft.
«Ich freue mich ja so, Werner«, sagte er. Seine Stimme war nicht ganz fest.
Er sah den Freund lange an. Sellnows Haare waren noch nicht wieder nachgewachsen, deutlich sah man, wo die Schädeldecke gemeißelt worden war.
«Ich danke dir, Fritz«, sagte Sellnow leise.»Für alles danke ich dir. Ich will verdammt sein, wenn ich dir das jemals vergesse. Und ich freue mich, daß wir jetzt auch zusammen nach Hause kommen.«
«Das ist schön, Werner. «Dr. Böhler sah kurz zu Worotilow hin. Der Major schüttelte den Kopf. Sellnow wußte also nichts, und es war gut, ihn vorerst in dem Glauben zu lassen, daß sie zusammen fahren würden. Auch Dr. Schultheiß, der mit leuchtenden Augen dabeistand, verstand den kurzen Blickwechsel und sah verlegen zu Boden.
«Ich fühle mich ganz wohl, Fritz«, sagte Sellnow.»Und fluchen kann ich auch schon wieder. Nur die Delle im Kopf.. «Er lachte etwas gequält.»Ich verliere langsam meine männliche Schönheit.«
Dr. Böhler klopfte ihm auf die Schulter.»In Deutschland machen wir dir eine Plastik, daß du aussiehst, als kämst du direkt vom Olymp.«
Dann war Sellnow zum Zimmer der Kasalinsskaja gegangen und saß nun an ihrem Bett, streichelte ihr das Gesicht, die Schultern und die Brust und dachte dabei an die vier Karten, die ihm seine Frau geschrieben hatte, und an die Pakete, die er bei Worotilow auspackte und die die endgültige Rettung für ihn bedeuteten.
Durch den zeitlichen Abstand seit der letzten Begegnung mit Alexandra, die Operation und die langsame Genesung war seine Leidenschaft für die Ärztin merklich abgekühlt. Wenn er jetzt an ihrem Bett saß und über ihren Körper strich, so war es mehr das Gefühl einer schönen Erinnerung, vermischt mit der bei ihrem Anblick wieder erwachenden Lust, sie zu besitzen. Rein triebhaft waren die Gedanken, fern aller Ideale, in die er sich hineingeträumt hatte, als Alexandra ihm im Außenlager >Fabrik Roter Oktober< den Haushalt führte und er von einem Taumel in den anderen fiel. Er wußte, daß es auch jetzt wieder diese Nächte geben würde, daß es keinen anderen Weg gab, aus ihrer Liebe zu entfliehen, als abzuwarten und eine scharfe Grenze zu ziehen — an dem Tag, an dem er mit den anderen abfuhr in die Heimat. Was dann für Alexandra kam… er wagte nicht daran zu denken. Es mußte der Zusammenbruch eines Menschen sein, dem alle Himmel einstürzten und der verlassener dastand als der letzte Überlebende einer Weltraumtragödie.
In einer dieser Nächte erzählte ihm Alexandra vom Tod Janinas.»Sie starb aus Liebe«, sagte sie traurig.
«Und was würdest du tun, wenn ich gehe?«fragte Sellnow.
«Ich würde nicht mich, sondern dich umbringen!«
«Das wäre töricht, Alexandraschka. Du willst mich umbringen, weil ich fortgehe — aber wenn ich tot bin, hast du auch nichts von mir.«
«Das stimmt. «Sie lächelte ihn an. Er sah ihre weißen starken Zähne hinter den blutvollen Lippen, das Gebiß eines unersättlichen Raubtieres.
«Aber auch die anderen haben dann nichts von dir! Die Frauen in Deutschland! Ich gönne dich keiner anderen Frau! Nur mich darfst du haben. Sascha… nur mich. «Sie strich ihm über die Augen und küßte ihn.»Aber sie lassen dich ja nicht gehen.«, sagte sie an seiner Brust.»Noch bist du krank. Du bleibst noch lange bei mir. immer, Sascha.«
Und Sellnow schwieg.
Am nächsten Morgen bat Dr. Kresin Worotilow und die Kasalinsskaja zu einer kleinen Aussprache. Er saß in seinem Sessel wie ein rächender Gott und nahm sich keine Mühe, seine Stimmstär-ke zu dämpfen.
«Mit Weibern arbeiten — das ist schlimmer als einen Sack Flöhe hüten! Heulend kommt eben Pjatjal, dieser räudige Hund, zu mir und fleht mich an, der Bascha ein Kind abzutreiben! Im vierten Monat ist die Person! Himmeldonnerwetter!«Er sah Worotilow an, der breit grinste, und hieb auf den Tisch.»Ich fragte die Bascha: >Ist der Pjatjal der Vater?< Und was sagt das Mistvieh? >Weiß ich nicht, Brüderchen. Es waren viele, die mich auf den Rücken legten! Viele Plennis! Auch der Michail, ja, aber der Michail ist ein bequemer Bursche, ein faules Aas ist das. Aber die Deutschen… o jeh… die haben Feuer!< Das sagt mir dieser Hurenbalg. Und ich klebe ihr eine und will wissen, wer es alles war! Genosse Major. wenn ich die Liste dieser Kerls vorlese, brauche ich einen ganzen Nachmittag! Es ist eine Schande! Wir haben hier kein Gefangenenlager… wir haben hier einen gutgehenden Puff!«
Major Worotilow winkte ab.»Steht Leutnant Markow auf der Liste?«
«Der auch!«schrie Dr. Kresin.
«Und was denken Sie von den Wachmannschaften? Ich glaube, sie alle kennen die Bascha!«
«Ein Soldatenpuff!«stöhnte Dr. Kresin.»Ich habe es gesagt… alle Weiber weg!«
Die Kasalinsskaja lächelte liebenswürdig.»Auch ich bin eine Frau! Und die Tschurilowa.«
Dr. Kresin sah die russische Ärztin mit schrägem Kopf an.»Auch Sie sollten weg«, sagte er grob.»Was Sie aus dem guten Sellnow machen, ist strafbar!«
«Dr. Kresin!«rief sie empört und sprang auf.»Ich verbitte mir das!«
Worotilow winkte ab.»Sei friedlich, Alexandra. Laß uns nicht streiten über Dinge, die wir alle wissen! Es geht um Bascha. Sergeij Ba-sow hat sich geweigert, Bascha das Kind wegzunehmen!«
«Einen Teufel werde ich!«schrie Dr. Kresin.»Die Bascha soll ihren Balg auf die Welt bringen und den Michail heiraten! Soll er besser aufpassen auf sie! Aber den Kerlen.«, er klopfte mit der Faust auf ein Blatt Papier, auf dem die Namen aller Männer standen, die Bascha angegeben hatte —,»denen werde ich es zeigen! Ich möchte sie kastrieren!«»Nicht doch!«Die Kasalinsskaja lachte breit.»Warum wollen Sie die Frauen bestrafen, Brüderchen?«
Dr. Kresin riß die Augen auf, dann schlug er sich grölend auf die Schenkel.»Verdammtes Weib!«rief er.»Aber was soll ich tun?«
«Ich werde mit der Bascha sprechen. «Die Kasalinsskaja erhob sich.
«Aber du treibst es nicht ab!«rief Dr. Kresin.
«Nein! Beruhige dich. Ich werde sie versetzen lassen.«
«Und wenn der Vater ein Deutscher ist? Das gibt Scherereien mit Moskau.«
«Wer will beweisen, daß es ein Deutscher ist? Sagt nicht der Genosse Major, daß auch die Offiziere.?«
Dr. Kresin stieß seinen Sessel weg und fegte das Papier vom Tisch.
«Fressen, saufen und huren, das ist alles, was man hier kann! Macht den Dreck allein — ich habe nichts gehört und nichts gesehen!«Er ging aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich zu.
Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer — bald wußte es das ganze Lager, daß Bascha schwanger war. Michail Pjatjal verkroch sich in sein Hinterzimmer, um den Spott nicht zu hören, mit dem man ihn bedachte. Hans Sauerbrunn brachte es fertig, ihn aufzustöbern und ihm Grüße von den Mitvätern zu bestellen. Da schlug Pjatjal mit einer Pfanne um sich und schrie, daß er Bascha eher erwürge, ehe sie das Kind zur Welt bringe!
Es war ein böser Satz, den er nicht hätte sagen sollen, denn er wurde in der Nacht schreckliche Wahrheit. In der Nacht nämlich fand man Bascha unter der Treppe zum Küchenkeller. Sie lag auf einem Stapel von Säcken, mit dem Gesicht nach unten. Das Kleid war im Rücken etwas aufgeschlitzt und mit Blut durchtränkt. Auf der linken Seite des Rückens klaffte eine tiefe Wunde — der Stich eines breiten Messers.
Als Dr. Kresin sie aufhob, war sie schon tot. Es war ein Mord, glatt und eindeutig.
Major Worotilow zögerte nicht. Er sperrte das Lager sofort ab, verstärkte die Wachen, setzte Pendelposten ein, telefonierte mit Stalingrad und bat um die Hilfe des Geheimdienstes. Noch in der glei-chen Nacht wurden alle auf der Liste Baschas verzeichneten Plen-nis aus den Betten geholt und in die leere Strafbaracke geschleift, die Pakete und die Post gesperrt, alle Vergünstigungen wurden aufgehoben — das Lager wurde um Jahre zurückversetzt.
Und niemand sprach mehr von Entlassung.
Dr. Böhler und Dr. von Sellnow sezierten noch in der gleichen Nacht die Leiche und stellten fest, daß dem Mord ein erbitterter Kampf vorangegangen sein mußte.
Dr. Kresin sah Worotilow mit rotumränderten Augen an.»Es geht jetzt nicht mehr um Bascha«, sagte er leise. Und weil er leise sprach, wußte jeder, daß es gefährlich war, was er sagte.»Es geht jetzt um die russische Ehre. um ein Mädchen aus unserem Volke, das mißhandelt und dann ermordet wurde. Wer es auch war — einer der uns-rigen oder einer der Plennis —, der Kerl wird hängen.«
Dr. Böhler streifte die Gummihandschuhe ab, während Dr. von Sellnow die Leiche notdürftig zusammennähte. Er wandte sich um und schüttelte, zu Kresin gewandt, den Kopf.
«Wie wollen Sie das jemals herausbekommen? Wenn es auch andere wissen — man wird den Mörder nie verraten! Wo wollen Sie bei der Suche beginnen? Bei Ihrer Liste? Wer sagt Ihnen denn, daß es nicht einer der Wachmannschaften war? Woher sollen wir deutschen Gefangenen solch ein breites Messer bekommen?«
«Ich werde ihn finden!«sagte Dr. Kresin starrköpfig.»Und wenn ich durch Strafmaßnahmen die Leute so butterweich mache, daß sie Vater und Mutter verraten, um ein Stück Brot zu bekommen!«
Am Abend trafen drei Kommissare des MWD im Lager ein. Man untersuchte noch einmal die Leiche, man verhörte die Soldaten in der Strafbaracke und erfuhr, daß Bascha sie in den Küchenkeller oder in die Kartoffelmieten lockte und sich dort selbst anbot, daß sie sich vor die Soldaten hinstellte, den Rock hochhob und rief:»Wer will.?«Die Kommissare klappten die Protokolle zu und schickten die Plennis zurück in die Baracken. Worotilow zuckte mit den Schultern.
«Die kleine Bascha war ein Mistfink, zugegeben. Aber wer hat sie
umgebracht?«
Michail Pjatjal wurde vorgeführt. Er war zusammengebrochen, er heulte und betete die heilige Mutter von Kasan und den heiligen Michael an, er beteuerte seine Unschuld und schrie:»Ich habe es nur so gesagt, Brüder, daß ich sie umbringen wollte! Ich habe nie daran gedacht! Glaubt es mir doch, Genossen! Ich habe sie liebgehabt, meine Baschaska! Ich möchte mich selbst töten, Brüderchen.«
Die Kommissare fuhren wieder nach Stalingrad zurück, die Strafen wurden gelockert — es gab wieder normales Essen und die Rationen aus den Paketen. Bascha wurde feierlich begraben, man mußte Pjatjal mit Gewalt daran hindern, ihr ins Grab nachzuspringen, so verzweifelt gebärdete er sich. Markow hielt ihn erst fest, aber als er um sich schlug, trat er ihm in den Hintern. Wimmernd sank Pjatjal zusammen und sah mit stieren Augen, wie das Grab von zwei Plennis zugeworfen wurde und ein Hügel sich darüber wölbte.
Der Mord an Bascha wurde nie geklärt. Nur so viel erfuhr man, daß es keiner der Plennis war. Denn in den Baracken wurden interne Sitzungen abgehalten, Verhöre geführt und fachmännische Untersuchungen angestellt, die ergebnislos verliefen. Der Mörder mußte unter den Mongolen und Kirgisen zu suchen sein, die das Lager bewachten. Vielleicht eine Eifersuchtstat oder ein Mord aus Angst, von Bascha auch als Liebhaber verraten zu werden. Recht hartnäckig hielt sich das Gerücht, daß es Leutnant Markow selbst gewesen sei, aber das war wohl eine gehässige Verleumdung.
Schon acht Tage später vergaß man das Ganze. Was war schon geschehen? Eine kleine, geile Hure wurde umgebracht. na ja. schade um das Mädel. aber das Leben geht weiter, und wenn die Sonne jetzt aus den Wolken bricht, wird sie am Himmel bleiben und den Schnee schmelzen. Dann ist der Frühling gekommen. und im Frühling soll es ja in die Heimat gehen.
Worotilow bekam aus Moskau neue Befehle. Endlich! Es war, als zerrisse eine schwarze Wand. Der Major atmete auf und entwickelte große Betriebsamkeit. Befehl Nummer 1: Zusammenstellung neuer Listen zur Entlassung unter Berücksichtigung besonderer avant-gardistischer Leistungen unter den Gefangenen. Keine Facharbeiter, aber Leute, die anständig ernährt waren und in Deutschland den Eindruck einer guten Gefangenschaft erwecken konnten. Maßstab 75:25 zugunsten von Plennis, die in der sowjetisch besetzten Zone beheimatet sind!
Zwei Tage nach dem neuen Befehl wurde der Plenni Walter Grosse zu Worotilow geführt. Markow schob ihn vor sich ins Zimmer und verließ dann sofort wieder den Raum. Erstaunt sah Worotilow von seiner Arbeit auf.
«Was wollen Sie?«fragte er kurz.
Walter Grosse knickte ein wenig ein. Er schob sich näher an den Tisch heran. Sein Gesicht war fahl, gealtert, zerrissen. Durch den ausgemergelten Körper lief ein ständiges Zittern.
«Sie kennen mich, Herr Major?«
Worotilow nickte.»Sie sind doch unser Spitzel, nicht wahr? Den man in der Scheiße ersticken wollte?«
«Ja. «Walter Grosse, der ehemalige Politische Leiter aus Stuttgart, sah auf den Boden. Er rang die Hände, während er sprach. Ein Wrack, dachte Worotilow. Ein Mensch ohne Halt. Etwas wie Mitleid glomm in ihm auf.
«Was wollen Sie, Grosse?«
«Ich wollte fragen, ob ich auch entlassen werde.«
«Das kann ich Ihnen nicht sagen! Ihre Kameraden wissen es auch nicht. Sie alle hoffen darauf. hoffen Sie mit.«
Walter Grosse schüttelte sich. Es war wie ein Fieber, das ihn erbeben ließ. Seine Haut wurde gelb.
«Man hat mir gesagt, daß ich einer der ersten bin, die man entläßt«, stammelte er.»Man hat gesagt: >Du kannst sofort in die Heimat, wenn du ein Spitzel wirst. Sobald die ersten Transporte gehen, bist du dabei! Und wenn du kein Spitzel wirst, Walter Grosse, dann erinnern wir uns, daß du ein Politischer Leiter warst und stellen dich an die Wand! Und deine Familie auch! Dafür sorgen wir.< Das hat man mir gesagt, Herr Major. Und ich habe eine Frau und vier Kinder! Da wurde ich ein Spitzel, bis sie mich erwischten und in die
Latrine stießen. Dr. Böhler hat mich gerettet… und jetzt sollen wir entlassen werden, und ich bin nicht dabei! Das ist doch ungerecht! Das ist doch gemein! Man hat mein ganzes Leben zerstört. man hat mir alles versprochen, Herr Major! Man hat gesagt: >Du kannst in die Heimat, wenn du ein Spitzel wirst.< Und ich habe.«
«Das haben Sie schon einmal gesagt.«
«Mir hat man es hundertmal gesagt!«schrie Walter Grosse.»Und man hat mich dabei geschlagen. damals, im Lager Poltowitschi… man hat auf meinen Kopf geschlagen mit den langen, ledernen Reitgerten der Offiziere. Kavallerie lag im Lager, und ich sollte an die Steigbügel eines Pferdes gebunden und zehnmal durch die Reitbahn geschleift werden, wenn ich nicht ja sagte! Und ich sagte ja. Ich habe eine Frau und vier Kinder! Und ich wollte schnell zurück in die Heimat… man hat es mir ja versprochen… und jetzt soll ich nicht dabeisein?«
«Ich kann es Ihnen nicht sagen. «Worotilow stand auf, steif und verschlossen.»Die Listen werden in Moskau endgültig zusammengestellt.«
«Dann melden Sie mich doch in Moskau!«schrie Grosse. Er hielt sich an der Wand fest und schwankte.»Ich habe mein Wort gehalten. ich habe meine Kameraden verraten, ich habe sie bespitzelt, ans Messer geliefert… ich bin ein Schwein geworden, ein Lump, ein verfluchter Hund, weil ich an die Versprechen glaubte und wieder nach Hause wollte, zu meiner Frau und den vier Kindern! Ich habe alles erfüllt, was man von mir wollte… ich hätte euch die Ärsche abgeleckt, nur, um in die Heimat zu kommen! Und nun haltet ihr euer Versprechen nicht, wo ich meines gehalten habe! Ihr Bande! Ihr Sauhunde!«
Er taumelte auf den Tisch zu. Worotilow sah ihm entgegen, starr, maskenhaft. Schwer stützte sich Grosse auf die Platte.»Ich will nach Hause«, brüllte er.»Ich will endlich meinen Lohn!«
«Den haben Sie gehabt. «Worotilow setzte sich langsam.»Sie haben Scheiße gefressen — was wollen Sie mehr?«
«Herr Major. «Der Plenni röchelte. Er sank in die Knie, sein Kopf schlug auf die Tischplatte auf.»Ich habe es nur getan, weil ich Angst hatte! Ich wollte leben! Leben! Ich war so feig, so feig! Ich habe meine Kameraden verraten. Ich habe mich verkauft, um nach Hause zu kommen! Und jetzt lassen Sie mich hier? Jetzt kommen sie alle nach Hause, und ich muß bleiben? Ich überlebe das nicht! Ich mache Schluß! Ich mache es wie der Kerner! Ich bringe mich um!«
Worotilow sah nachdenklich auf die zusammengesunkene Gestalt. Ohne Zweifel — Walter Grosse war am Ende seiner Kräfte. Er würde lieber den Tod wählen, als noch ein oder zwei Jahre im Lager bleiben, aus dem gruppenweise seine Kameraden entlassen werden. Daß er nicht auf der Liste stand, wußte Worotilow. Er hatte selbst den Namen überschlagen. Ein neuer Selbstmord aber würde in Moskau übel vermerkt werden, nachdem der Tod des Gefreiten Julius Kerner bereits die Aufmerksamkeit des Generalkommandos auf das Lager gezogen hatte.
«Ich werde bei den ersten Transporten mit Moskau sprechen«, sagte er ausweichend.»Gehen Sie jetzt, Grosse! Ich werde mich für Sie einsetzen. Daß Sie ein erbärmlicher Hund sind, wissen Sie! Vielleicht gibt man Ihnen in Deutschland eine Chance, sich wieder reinzuwaschen. Für uns ist der Verräter weniger als Mist! Vor allem einer, der seine Pflicht erfüllt hat und zu nichts mehr nütze ist als zum Sterben! Merken Sie sich das, Grosse! Und wenn Sie wirklich nach Deutschland zurückkommen, arbeiten Sie wie ein Tier. Sie haben viel gutzumachen.«
Langsam zog sich Walter Grosse vom Boden hoch, er sah Wor-otilow nicht an, als er das Zimmer verließ. Er taumelte durch den Gang, die Treppe hinunter, vorbei an den wachfreien Rotarmisten, die um einen offenen Ofen saßen und rauchten. Schwankend ging er durch das große Tor ins Lager zurück. er stolperte über den Appellplatz, seine Augen waren starr und leer. Mitten im Schritt hielt er ein… er sah sich erstaunt um, als habe ihn hinterrücks jemand berührt… dann fiel er nach vorn in den Schnee und blieb steif liegen.
Ein paar Plennis, die vor den Baracken standen, hoben ihn auf…
er war steif wie ein Holzklotz, die Augen schienen leblos, der Mund stand offen, als wollte er noch in der Besinnungslosigkeit eine Frage herausschreien.
So trugen sie ihn ins Lazarett und riefen Dr. Böhler. Sellnow kam aus seinem Zimmer, sah den Unbeweglichen an und runzelte die Stirn.
«Er kippte einfach um. Beim Gehen! Draußen auf dem Platz. «Die Plennis legten den Körper auf ein frisches Bett.»Es ist der Kerl, der den Spitzel für den Iwan gemacht hat! Lassen Sie den ruhig krepieren.«
Dr. Böhler und Dr. Schultheiß kamen ins Zimmer. Nach kurzer Untersuchung richtete sich Dr. Böhler auf.
«Gehirnschlag! Völlige Lähmung aller Zentren. Ein Wunder, daß er noch lebt… er kann noch atmen, aber sonst ist alles gelähmt! Haben wir lösende Mittel da?«Er wandte sich an Dr. Schultheiß. Der junge Arzt schüttelte den Kopf.
«Nichts! Nur die üblichen Medikamente. Kampfer, Strophanthin, Cardiazol. In der Apotheke in Stalingrad ist kaum etwas zu haben! Und wenn, dann nur uns unbekannte amerikanische Mittel, deren klinische Anwendung wir nicht kennen.«
Dr. Böhler sah erschüttert auf den starren Walter Grosse. Er wußte, daß er alles hörte, daß er alles verstand, was um ihn herum gesprochen wurde, daß er alles verfolgte, aber daß es ihm unmöglich war, sich verständlich zu machen. Nur in den Augen, in diesen weit aufgerissenen, großen, hervorquellenden Augen stand das Entsetzen.
«Wir werden ihn schon wieder hinkriegen«, sagte Dr. Böhler tröstend.»Bis die Transporte gehen, hüpft er wieder herum.«
Er ließ Martha Kreutz zu seiner Pflege zurück und trat hinaus auf den Flur. Dort sah er Sellnow fragend an.»Was meinst du, Werner?«
«Rettungslos.«
«Und Sie, Schultheiß?«
«Wir haben keinerlei Mittel für einen solchen Fall! Ich sehe keine Hoffnung.«
Dr. Böhler nickte. Er war sehr ernst.»Es ist das erste Mal in fast zehn Jahren, daß wir einem Kameraden nicht helfen können«, sagte er leise.»Und gerade ihm, der vieles gutzumachen hat. «Er wandte sich ab und sagte im Gehen:»Gott straft schnell und hart. Wir sollten daraus sehen, daß Gott bei uns ist und uns nicht vergessen hat.«
Selbst Sellnow blieb darauf still. Er dachte an die Abende in Nishnij Balykleij und die alte Bibel, in der er geblättert und versucht hatte, zu Gott zu finden im Augenblick der höchsten Not. Er hatte den Weg gefunden, der Spötter und Verächter Sellnow — aber er hatte ihn nicht weiter beschritten in den Monaten, in denen er in Stalingrad bei Pawlowitsch im goldenen Käfig der Genesung entgegenlebte.
«Wir werden Traubenzucker injizieren, um seinen inneren Widerstand zu stärken«, sagte er zu Schultheiß.»Wenn er kollabiert, wissen Sie ja. «Er faßte den jungen Arzt am Arm und sah ihn groß an.»Sie kommen auch mit in die Heimat, Schultheiß?«
«Ich hoffe es.«
«Wir wollen immer zusammenhalten, mein Junge, ja? Wir wissen nicht, wie es aussieht in Deutschland. Es soll sehr viel zerstört worden sein in den letzten Kriegsmonaten! Ich habe in der Klinik darüber gelesen. Ich weiß nicht, was Sie zu Hause vorfinden. Wenn es Ihnen schlecht geht — Sie haben es als junger Arzt sicher verdammt schwer, das weiß ich —, dann kommen Sie zu mir. Ich bin immer für Sie da, und meine Frau schreibt, daß alles wie früher bei uns ist. Ich habe Glück gehabt, in der Heimat und hier noch mehr. Kommen Sie immer zu mir, wann Sie wollen.«
«Ich danke Ihnen, Herr von Sellnow. «Schultheiß wollte ihm die Hand geben, aber Sellnow zog sie schnell zurück.
«Dummer Laffe!«sagte er grob.»Sentimentalitäten! Im Leben kommt nur der voran, der die anderen in den Hintern tritt! Merken Sie sich das!«
Er stapfte in sein Zimmer, wo die Kasalinsskaja saß und seine Sok-ken stopfte. Er empfand das als Erniedrigung ihrer Würde, aber er schwieg, weil er sah, daß es ihr Freude machte. Sie lebt sich schon ein, meine Frau zu sein, dachte er manchmal erschrocken. Ich möchte sie nicht sehen, wenn ich in den Wagen steige, um für immer wegzufahren. Ich möchte es nicht sehen.
«Sascha!«Die Kasalinsskaja lächelte ihn an.»Ich habe mit dem General in Stalingrad gesprochen. Ich werde nach Moskau fahren und darum bitten, daß sie dich hierlassen. Ich werde dich heiraten. Es soll einen Weg geben — wenn du dich für ein russisches Krankenhaus verpflichtest. Das tust du doch, Sascha, nicht wahr?«
Er würgte und nickte dann stumm.
«Ja«, sagte er endlich.»Ich werde es tun. Fahre du nach Moskau und bitte darum.«
Er sah das Glück aus ihren Augen leuchten. Herr, hilf mir, betete er im stillen. Was soll ich tun? Ich muß sie belügen… laß bald Frühling werden, laß ihn schnell kommen.es geht über meine Kraft, sie noch länger zu belügen.
Aus Moskau kamen neue Befehle. Nochmalige Überprüfung der zur Entlassung Vorgeschlagenen. Die Zahl soll um 259 vermehrt werden — ohne Verhöre, nur auf Vorschlag der Kommandanten.
Und Worotilow setzte auch den gelähmten Walter Grosse auf die Liste, einen dürren Stecken harten Holzes, der atmete und ein Mensch war. Ein Vater von vier Kindern.
Als die Sonne kam, wurde die Post gesperrt. Die Karten wurden zurückgeschickt an die Moskauer Zentrale. 683 Plennis wurden mit neuer Wäsche versorgt, sie bekamen neue Hosen und neue Jacken.
Der erste Transport! Auch Dr. von Sellnow war dabei.
Sie standen in einem weiten Karree auf dem Appellplatz.
683 Plennis. In neuen Hosen, neuen Jacken, neuen Schuhen und neuen Socken. Worotilow, Markow und sieben andere Offiziere standen inmitten des von Menschenleibern eingezäunten Platzes und lasen noch einmal die Listen durch. Das» Hier!«der aufgerufenen Männer klang hell, befreiend, jauchzend in den blauen Himmel.
Die Sonne leuchtete. Der Schnee wurde weich, breiig, er quietschte unter den Sohlen und klebte wie Leim an den Stiefeln und den Rädern der Wagen. Das Eis auf der Wolga krachte wie Böller. Sieben Arbeitskolonnen waren am Fluß, um mit Stangen und Sprengpatronen den Wasserlauf freizuhalten. Es wurde Frühling — er kam aus der Steppe und zog über die Wälder, wie ein Hauch nur, kaum vernehmbar. Aber die Bäume reckten sich, die Erde wachte auf unter der schlammig werdenden Schneedecke. Die Kolchosen sahen die Traktoren nach, das Werkzeug, die Frauen knüpften neue Leinen und nähten Schürzen aus Sackleinwand.
Die 683 Plennis sahen in die Sonne und über das Land. Wer sein» Hier!«geschrien hatte, sah nicht mehr auf Worotilow.er war schon in der Heimat, die dort lag, wo die Steppe an den Himmel stieß, wo die Wolga unterging in dem Blau, das die Sonne durchleuchtete. dort, wo Stalingrad lag. und weiter, immer weiter, westlich. Würde man losheulen, wenn man das erste deutsche Bauernhaus sah? Würde man stammeln, wenn man das erste deutsche Schild las… irgendwo an einer Straße, an einem Bauernhof, auf einem Feld. Was würde man tun, wenn die ersten deutschen Frauen und Mädchen winkend an den Zug eilten? Frauen und Mädchen. nach acht Jahren.
Worotilow gab die durchgesehenen Listen an Leutnant Markow weiter. Dann sah er sich um… sah den Männern ins Gesicht, die im Viereck um ihn herumstanden. Blasse eckige Gesichter, gezeichnet von Hunger und Elend, einige dicke Gesichter, runde Körper, aufgeschwemmt vom Wasser. Hungerödeme, dachte Worotilow. Sie sehen aus, als hätten sie acht Jahre lang ganze Feldküchen leergefressen. und dabei sind sie völlig entkräftet und fallen um, wenn man sie anpustet.
Außerhalb des Lagers warteten Kolonnen von Lastwagen. Hoch aufgetürmt lagen die Gepäckstücke daneben — Säcke, selbstgefertigte Rucksäcke, Kartons aus der Küche, ein paar Affen aus alten Wehrmachtsbeständen, sogar zwölf Koffer!
In der Küchentür stand Michail Pjatjal und musterte die wegge-henden Plennis. Unter ihnen ist der Mörder Baschas, dachte er verzweifelt. Man sollte sie alle töten, alle, diese deutschen Schweine. Er schaute mit Absicht weg, als Peter Fischer ihm zuwinkte. Er hatte Pjatjal die Trompete geschenkt, die Julius Kerner hinterlassen hatte, und dazu zehn Pakete Eiermanns Schnellpudding, was Pjatjal zu Tränen rührte. Aber jetzt, in der Stunde des Abschieds, zuckte das russische Herz Michails. Er dachte an Bascha und an Peter Fischer, und da er im Zwiespalt war, ob er zurückwinken sollte oder nicht, ging er in die Küche und warf die Tür hinter sich zu.
Ein Hauptmann von der Transportkolonne trat in das Viereck zu Worotilow.
«Sind wir fertig, Brüderchen?«fragte er leise.»Die Kerle müssen von Stalingrad heute noch weiter! Sie werden mit den Plennis der anderen Lager nach Moskau geschickt! Es eilt, Brüderchen.«
«Sofort!«Worotilow drehte sich herum. Er sah noch einmal die Reihen entlang. Peter Fischer. Emil Pelz, der Sanitäter. Hans Sauerbrunn. Karl Eberhard Möller. Karl Georg, der Gärtner, der noch gestern an der Baracke stand und weinte. Dr. Schultheiß, der große, hagere, blonde Arzt, dessen Janina unter einem Steinhügel am Rande der großen Wälder an der Wolga schlief.. Dr. von Sellnow, klein, drahtig, böse, sehr nervös, immer um sich blickend, als suche er etwas. Sie alle gingen nun fort… und es wurde einsam im Lager ohne sie. Es war, als gingen Brüder fort in ferne Länder, wo man sie nie wiedersah.
Worotilow schluckte.»Lebt wohl!«sagte er laut.»Und vergeßt nicht in der Heimat, daß ihr frei wurdet durch die Gnade des großen Stalin, des Vaters aller Völker!«
Die Plennis schwiegen. Sie sahen zu Boden. Worotilow brach ab und wandte sich um.»Lassen Sie die Kolonnen in Gruppen zu 50 abrücken zu den Wagen. Das Lager absperren, damit keiner mehr mit den Zurückbleibenden in Kontakt kommt!«
Dann eilte er mit langen Schritten in die Kommandantur.
Er hatte sich gerade die Mütze vom Kopf genommen und den Schweiß vom inneren Lederrand gewischt, als die Tür aufgerissen wurde. Dr. von Sellnow stand im Zimmer. Sein Blick war starr.
«Wo ist Fritz?«sagte er laut.
«Welcher Fritz?«fragte Worotilow unnötig.
«Dr. Böhler!«
«Ich nehme an, im Lazarett.«
«Warum ist er nicht bei uns? Er wird doch auch entlassen!«
Worotilow sah an die Decke.»Nein«, sagte er leise.
Sellnow begriff nicht sofort den Sinn dieses Neins. Es war so ungeheuerlich, so plötzlich, so unfaßbar, daß er eine Weile erstarrt dastand, ehe er zusammenzuckte wie unter einem Schlag.
«Sie haben mir gesagt, daß Dr. Böhler mit uns entlassen wird!«schrie er verzweifelt.»Sie haben mich belogen, Worotilow! Sie wußten, daß er bleibt! Sie haben es gewußt! Und ich muß gehen. ich lasse ihn allein zurück. Dr. Schultheiß geht auch. er glaubt auch daran, daß Böhler mit uns geht. Sie Schuft, Sie, Sie asiatisches Tier!«
Worotilow duckte sich, aber er sprang nicht vor. Er sah dem tobenden Sellnow ins Gesicht und sagte leise:»Dr. Böhler stand als einer der ersten auf der Liste. Aber seine unbegreifliche Starrköpfigkeit, seine übertriebene Pflichtauffassung zwangen mich, ihn wieder zu streichen. Und wofür? Für einen Dreckskerl, für ein Nazischwein, einen SS-Schergen!«
Sellnow sackte zusammen.»Er muß in Rußland bleiben. Warum gerade Böhler? Und ich. ich… ich. «Plötzlich schrie er auf und schnellte vor, ein Körper, der wie ein Geschoß wirkte. Er klammerte sich an den Rock Worotilows und schrie ihm ins Gesicht:»Ich bleibe auch! Ich gehe nicht früher, als bis er geht! Ich bleibe zurück!«
Worotilow löste sich aus seinen Händen.»Es geht nicht, Sellnow«, sagte er fest.»Wer auf der letzten Liste steht, muß gehen, ob er will oder nicht!«
«Dann werde ich einen umbringen!«schrie der Arzt.»Dann müßt ihr mich hier halten!«
«Auch dann nicht! Sie werden nach Moskau geschafft… das ist der Befehl! Und wenn Sie hundert Menschen töten. Sie kommen nach Moskau, weil Moskau Ihren Namen hat und Sie zu sehen
wünscht! Ganz gleich, was jetzt hier geschieht!«
«Ich werde mich wehren!«Sellnow wich zurück.
«Dann wird man Sie gewaltsam in den Wagen stecken! Sie kommen in die Heimat, ob Sie wollen oder nicht! Der Befehl aus Moskau steht über allem… und über einen Befehl haben wir nicht nachzudenken. Wir gehorchen!«
Der Arzt drehte sich um, er riß die Tür auf und rannte aus dem Zimmer. Draußen bei den Wagen suchte man ihn bereits.
Markow stand mit den Listen in der Hand vor Dr. Schultheiß und brüllte ihn an, wo Sellnow sei. Als er ihn aus der Kommandantur kommen sah, schoß er auf ihn zu und zog ihn am Ärmel zu den Wagen.»Dawai!«schrie er.»Dawai!«
«Ich gehe nicht ohne Dr. Böhler!«Sellnow riß sich los und stürzte zu Dr. Schultheiß, der bleich vor dem Wagen stand, auf den er verladen werden sollte.»Er muß hierbleiben!«keuchte Sellnow. Sein Gesicht war verzerrt.»Er darf nicht mit. «Er klammerte sich an Dr. Schultheiß wie ein Ertrinkender.»Mein Junge.er verläßt uns. unser Chef, unser Fritz. Er bleibt in Rußland… an der Wolga. «Dann brach er zusammen und wurde von zwei anderen Plennis aufgefangen, die ihn in den Wagen hoben.
Zögernd, wie ein Schlafwandler, stieg Dr. Schultheiß hinter ihm ein. Vom Führerhaus her schimpfte ein Russe, weil es so langsam voranging. Leutnant Markow rannte von Wagen zu Wagen und ließ das Gepäck nachwerfen. In der Nähe des Zaunes standen in Gruppen die Zurückbleibenden und starrten auf die Kameraden, die ihnen durch den Draht noch einmal zuwinkten. Ihre Gesichter waren hart, kantig, von Leid gefurcht. Stumm sahen sie zu und rauchten die Zigaretten, die man ihnen aus den Paketen der Abfahrenden gegeben hatte. Verlorene am Rande der Steppe.
Emil Pelz und Karl Georg kamen über den Platz gehumpelt. Sie schleppten zwischen sich den glücklichen, vor Freude laut weinenden Walter Grosse. Große, harte, schwielige Hände streckten sich ihnen entgegen. Walter Grosse wurde auf den Wagen gehoben. Jetzt war er einer der ihrigen, ein Plenni, der nach Hause fuhr, zu Frau und
Kindern, ein Mensch, der der Hölle entkam, dem man das Leben neu schenkte.
Im Lazarett arbeitete Dr. Kresin. Sein mächtiges Gesicht war eingefallen und grau — er sprach seit Stunden kein Wort. Terufina Tschu-rilowa, Erna Bordner und ein neuer Sanitäter hielten die tobende Kasalinsskaja fest; sie fesselten sie mit dicken Stricken ans Bett und kämpften mit ihren Beinen, die verzweifelt in die Luft traten.
«Laßt mich!«schrie die Kasalinsskaja.»Laßt mich los! Ich bringe ihn um, ihn und mich! Und Worotilow und dich, Kresin, du Scheusal, du Lügner, du Schuft, du Hund! Alle, alle habt ihr mich belogen! Ihr wußtet es!«Sie trat die Tschurilowa vor den Leib. Stöhnend brach sie zusammen.»Werner!«schrie Alexandra.»Werner! Du darfst nicht gehen! Laß mich nicht allein! Werner! Werner!«Schaum trat auf ihre Lippen, ihr kräftiger Körper zuckte in wilden Krämpfen.
Dr. Kresin zog eine Spritze auf. Dann beugte er sich über den gefesselten Arm und stieß die Nadel in die Vene. Evipan. Das beruhigte, das gab ihr Schlaf und stundenlanges Vergessen. Als er die Nadel herauszog, rannen Tränen aus Alexandras Augen. Dr. Kre-sin atmete auf. Sie weint, dachte er. Wenn sie weinen kann, ist die Macht des Schmerzes gebrochen.
Er dachte an Janina und das einsame Grab, um das die Wölfe heulten. Da legte er die Spritze auf den Tisch und verließ schnell das Zimmer. Später stand er am Fenster seines Sanitätsraumes und sah hinüber zu den Wagenkolonnen. Auch er empfand die Einsamkeit, die ihn nun umfing. Ich gehe in den Süden, dachte er. Ich melde mich fort! Warum hat mir Gott die empfindsame russische Seele gegeben.?
Die ersten Wagen fuhren an. Die Motoren heulten auf und übertönten die Rufe, die hinüberflatterten zu den Gruppen der Zurückbleibenden, die hinter dem Draht standen und sich gewaltsam bezwangen, nicht vor Schmerz zu schreien.
Arme winkten durch die Sonne. Worotilow stand am Fenster und winkte zurück… selbst Markow war sehr gedrückt und hob grüßend die Hand, als Karl Georg, sein Blumenfeind, an ihm vorbeifuhr.»Grüß mir Blummen in Deutschland!«schrie Markow zu ihm hinüber.
Durch die Wälder rauschte ein warmer Wind. Er trieb den letzten Schnee von den Zweigen. Das dunkle Grün der Tannen stand herrlich vor dem Blau des Himmels. Auf den Wachttürmen lehnten sich die Rotarmisten über die Holzbrüstung und winkten. Es war, als nähmen nicht Gefangene Abschied, sondern beste Freunde trennten sich nach vielen gemeinsamen Erlebnissen.
Die ersten Wagen rollten über die Straße, Stalingrad zu. Sie bogen in die Kurve ein und verschwanden hinter dem Wald. Die letzten Wagen wurden noch beladen.
An der Rampe eines Wagens kauerte Dr. von Sellnow. Schultheiß und Peter Fischer hielten ihn fest. Er hatte den Versuch gemacht, aus dem Auto zu springen. Jetzt lehnte er an dem eisenbeschlagenen Holz und blickte zurück auf das Lager.
Ein hoher Zaun aus Draht, so lang, daß man glaubte, er umspanne die ganze Steppe. Dazwischen wie dunkle Klötze die Wachttürme. Scheinwerfer, Maschinengewehre. Die Kommandantur, die große Küchenbaracke. Das große Lagertor, das die Nummer trug und einen Spruch von Stalin. Die Postenhäuser… dann die langen Baracken der Plennis… Block an Block… der lange, neue Bau des Lazaretts mit dem hohen steinernen Sockel. Dort, das vierte Fenster von rechts, war das Zimmer von Dr. von Sellnow. Dann kam der Raum für Dr. Schultheiß. Dort, die drei großen Fenster, das war der OP! Und dort… wo die Blumen stehen, da wohnt Alexandra Kasalinsskaja. Alexandra… du schwarzes Biest, du Weib, wie kein zweites, du wilde Katze. Wie feig war ich, wie elend! Ich habe dich verlassen ohne Abschied. wie ein Dieb stehle ich mich weg. und ich weiß, daß du mich geliebt hast mit aller Kraft. Verzeih mir. Alexandra. verzeih mir. Ich habe eine Frau und zwei Kinder. seit acht Jahren warten sie auf mich. Die große, schlanke, blonde, kühle Luise, die Aristokratentochter. Ich gehöre nun einmal zu ihr. ich kann es nicht ändern. Darum verzeih, Alexandraschka, und laß mich gehen zu Luise und den Kindern. Vergiß mich. ich werde dich auch vergessen.
Sellnow starrte hinüber auf das Lazarett. Dort, dieses Fenster. das mit den gerafften Gardinen aus Verbandmull. das ist das Zimmer Dr. Böhlers. Dort muß er weiterleben. Jahr um Jahr, in der Steppe, bei seinen kranken Plennis, die ihn lieben wie einen Vater. Dort wird er sitzen und nach Hause schreiben: Wartet, haltet aus! Auch ich komme einmal! Verliert nicht den Mut und den Glauben. Gott wird mich wieder zu Euch bringen, Ihr Lieben. Und er hätte mit uns fahren können, er hätte an unserer Seite sein können, wenn er nur dieses eine Mal sein Arzttum verleugnet hätte, statt sich dem Befehl des Kommissars zu widersetzen.
«Fritz!«schrie Sellnow. Er streckte beide Arme nach dem Lazarett aus. Seine Stimme überschlug sich.»Fritz!«Dr. Schultheiß und Peter Fischer hielten ihn fest. Weinend wie ein Kind lehnte er an der Rampe und sah das Lager verschwinden im Schnee, in der Steppe, in den Wäldern, im Blau des strahlenden Himmels, der den Frühling brachte.
Die Räder mahlten. Der Boden war schon weich und schwankte unter den schweren Wagen. Dreck spritzte hoch. Die Fahrer fluchten.
Auf dem Eis der Wolga standen die Kolonnen der Plennis und sprengten die dicken Schollen oder stießen die festgeklemmten Klumpen hinaus in das schon freie, strömende Wasser. Sie hielten mit der Arbeit ein und winkten den Heimkehrenden zu. Gute Fahrt, Kameraden! Grüßt die Heimat! Die Mutter! Die Braut! Den Vater! Die Frau! Die Kinder! Vergeßt uns nicht, Kameraden! Schickt uns weiter die Pakete. sagt es allen. Wir leben nur noch, wenn ihr uns ernährt. wir sind am Ende unserer Kraft. Vergeßt es nicht, Kameraden! Vergeßt es nicht!
Die 683 auf den Wagen winken zurück. Auch die Posten mit den Maschinenpistolen vor der Brust winken kurz herüber. Dann arbeiten die Kolonnen weiter. ihre Sprengschüsse zerreißen die Stille der Steppe. das Eis der Wolga kracht auseinander und treibt in großen Schollen langsam nach Süden.
Es ist Frühling, Kameraden! Und wir fahren nach Deutschland.
Die 683 auf den Wagen singen. Sie singen mit Tränen in den Augen. Ein Transportoffizier, der das Singen verbieten will, bekommt hundert deutsche Zigaretten. Da lacht er und wendet sich ab. Laß sie singen, denkt er. Wir haben auch gesungen, als wir aus deutscher Gefangenschaft zurückfuhren. Wir haben die Bilder Stalins auf die Kühler der Autos gebunden und rote Fahnen geschwenkt. Laß sie singen, Brüderchen Leutnant.
Dr. Schultheiß blickte zurück auf die Straße. In der Ferne zog sich das dunkle Band der Wälder hin. Dort lag, nahe am Rande der dichten Tannen, das Grab Janinas. Sie war an ihrer Liebe gestorben, als sie sah, daß sie zusammenbrechen würde unter der Unerbittlichkeit des Schicksals. Jetzt lag sie allein in der Öde Rußlands, ein kleiner, zarter Körper, der so heiß wurde, wenn er liebte. Und Dr. Schultheiß wußte, daß er seine Jugend und sein Herz zurückließ in dem kleinen Grab am Rande der Wälder.
Langgezogen rollte die Kolonne durch die Schneelandschaft, Stalingrad entgegen.
Hans Sauerbrunn und Karl Georg aßen schon wieder. Wer weiß, ob man uns in Stalingrad nicht filzt, sagten sie sich. Und was man in sich hat, kann keiner nehmen! Sie hatten sieben Lagerverlegungen durchgemacht, und jedesmal standen sie ärmer da als zuvor.
«In vier Wochen können wir in Deutschland sein«, sagte einer.»Wenn alles glattgeht.«
«In vier Wochen?«
«Oder in sechs! Wir sind ja am Ende der Welt! Und nach Moskau müssen wir auch noch. Sagen wir ruhig sechs Wochen, Jungens.«
Vier oder sechs Wochen. wenn es nur keine Jahre mehr sind. Sechs Wochen… und dann bei Muttern! Auf dem Sofa! Und ein Glas Bier! Das zischt, wenn es durch die Gurgel läuft! Und dazu eine Stulle dick mit Butter und Gehacktem, schön mit Zwiebeln und Ei und Salz und Pfeffer! Und das Radio spielt… es ist mollig warm in der Stube… und Mutter läuft um einen herum und kann es noch
gar nicht fassen, daß der Alte wieder da ist. Aus Rußland… nach acht Jahren! Und dann in der Nacht, im Bett. Mensch, Justav, ick kann nich weiterdenken.
Was sind da sechs Wochen.?
Als der letzte Wagen aus dem Lager rollte, trat Major Worotilow in den Operationssaal. Die Schwestern Martha Kreutz und Ingeborg Waiden standen neben Dr. Böhler, der sich im weißen Mantel, aus einem alten Bettuch geschneidert, über den narkotisierten Patienten beugte. Er blickte kurz zur Seite, als Worotilow eintrat, und arbeitete dann weiter.
Einen Augenblick stand der Major verblüfft in der Tür, dann zog er sie schnell zu. Der Geruch von Äther, Blut und Eiter drang auf ihn ein. Wie immer spürte er ein Würgen im Hals und zwang den Ekel nieder. Langsam trat er näher.
Zwischen den blutigen Abdecktüchern sah er einen aufgetriebenen, vereiterten Unterleib. Dr. Böhler war gerade dabei, mit einer langen Pinzette den Kern eines Geschwüres aus dem Muskelgewebe zu lösen. Worotilow schluckte.
«Sie sind weg«, sagte er leise.
Dr. Böhler sah auf und nickte.»Fiel es Werner schwer?«
«Sehr. Ich habe ihn mit Gewalt wegbringen lassen.«
«Das war gut von Ihnen. Ich danke Ihnen, Worotilow.«
«Sie haben keinen Abschied genommen.«
Dr. Böhler beugte sich über das Operationsfeld.»Dieser Unterleibsabszeß ist wichtiger. Der Mann wimmerte vor Schmerzen. ich mußte ihm helfen.«
«Helfen!«Worotilow faßte den weißen Ärmel Dr. Böhlers.»Wann denken Sie einmal an sich?«
«Nachts. «Die Pinzette tastete nach dem Eiterherd.»Nachts bin ich schon seit Jahren zu Hause in Deutschland. Die Tage sind nur eine Unterbrechung meiner Träume.«
Wortlos verließ Major Worotilow das Zimmer. Als er die Tür schloß, hielt Dr. Böhler einen Augenblick inne.
Zum erstenmal zitterte das Instrument in seiner Hand.
Drei Jahre später — in einer sternklaren Winternacht — betrat auch Dr. Böhler bei Helmstedt an der Zonengrenze den Boden der Heimat. Er kam als einer der Letzten aus der Steppe an der Wolga, und er sprach ein paar ergriffene Worte des Dankes. Die Fackeln loderten durch die kalte Nacht. der Jubel von Tausenden Menschen hatte die Heimkehrer umbraust. nun stand Dr. Böhler da, hager, schlank, mit lichtem Haar und schmalen Lippen. Er hatte eine so tiefe Sehnsucht nach Ruhe, nach Schlaf, nach Vergessen, nach Freude, nach Liebe, nach stillem, arbeitsreichem Werktag.
Als er aus dem Omnibus stieg und sich umsah, stürzte Sellnow in seine Arme und schluchzte vor Freude. Er war der erste, den er begrüßte — dann erst küßte er seine Frau und sein Kind, stumm, ohne Worte, weil ihm die Kehle zugeschnürt war und das Herz zuckte. Wie leblos ließ er sich in die Mitte nehmen und zum Lager geleiten, wo Dr. Schultheiß stand, der große, schlanke, blonde Junge mit den Kinderaugen, die noch in die Ferne blickten, als suchten sie das Grab Janinas an den Wäldern der Wolga. Er drückte seinem Chef stumm die Hand. Jetzt sind wir alle da, dachte er. Das ganze Lazarett. Emil Pelz wartet in der Schreibstube des Lagers, er wollte nicht herauskommen, weil er Angst hatte, loszuheulen.
«Sie sehen gut aus, Jens«, sagte Dr. Böhler leise. Dann schwieg er wieder, weil er spürte, daß er nicht weitersprechen konnte.
Er mußte an das Lager denken. 5110/47 an der Wolga, nahe den Wäldern, aus denen im Winter die Rudel der Wölfe brachen und sich hungrig gegen den Drahtzaun warfen, bis die Posten auf den Türmen sie erschossen.
Heute wie vor Jahren, dachte er, heute und morgen und ewig, solange die Erde sich dreht, wird der Wind der Steppe über die Ebene an der Wolga streichen, wird der Schnee hereinwehen von den dichten Wäldern, werden hungrig die Wölfe heulen und wird das Eis auf der Wolga krachen, wenn sich die Schollen gigantisch übereinandertürmen. Es wird einen blauen Himmel geben und einen dumpfen, bleiern grauen, aus dem der Schnee rieselt wie im Märchen. Es wird den Fluß geben, den ewigen Strom von Mütterchen
Rußland, die Wälder, aus denen die Axthiebe der Holzfäller klingen; der Jäger im Lammpelz wird durch die Büsche streichen und seine Fallen stellen, und der Bauer wird seinen Traktor über die Felder führen und den Samen in die fruchtbare Erde legen.
Und Himmel und Sonne, Schnee und Wind, Wälder und Fluß werden den Flecken Steppe umgeben, auf dem einmal ein langer Zaun aus Draht stand, unterbrochen von hohen, hölzernen Wachttürmen, einem großen Tor vor hingeduckten, langen Baracken. Block an Block.
Das Lager Stalingrad.
Das Lager 5110/47.
Werner von Sellnow sah zu Dr. Böhlers Frau hinüber, die mit glücklichen Augen zu ihrem Mann aufschaute.»Geben Sie ihm doch einen Kuß«, sagte er lachend.»Ich fürchte, er glaubt noch gar nicht, daß er endlich zu Hause ist.«