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26. KAPITEL 1968–1982
Julij Borissowitsch Popow wohnte und arbeitete in Sarow im Verwaltungsbezirk Nischnij Nowgorod, ungefähr dreihundertfünfzig Kilometer östlich von Moskau.
Sarow war eine geheime Stadt, fast noch geheimer als der geheime Hutton. Sie durfte nicht mal mehr Sarow genannt werden, sondern hatte den nicht allzu romantischen Namen Arzamas-16 verpasst bekommen. Außerdem hatte man sie auf sämtlichen Karten ausradiert. Sarow existierte und existierte gleichzeitig nicht, je nachdem, ob man sich auf die Wirklichkeit bezog oder nicht. Ungefähr so wie bei Wladiwostok in den paar Jahren nach 1953, nur umgekehrt.
Die Stadt war von Stacheldraht gesäumt, und ohne gründliche Sicherheitskontrolle wurde kein Mensch hinein- oder hinausgelassen. Wenn man einen amerikanischen Pass hatte oder zur amerikanischen Botschaft in Moskau gehörte, war es nicht ratsam, auch nur in die Nähe der Stadt zu kommen.
Der CIA-Mann Ryan Hutton hatte mit Allan Karlsson mehrere Wochen das Abc der Spionage durchgearbeitet, bevor man seinen Schüler unter dem Namen Allan Carson und mit dem vagen Titel »Administrator« in der Botschaft in Moskau unterbrachte.
Peinlicherweise hatte der geheime Hutton völlig übersehen, dass sich der Zielperson, der Allan Karlsson sich nähern sollte, kein Mensch nähern konnte, weil diese nämlich hinter Stacheldraht in einer Stadt lebte, die so gut behütet war, dass sie nicht mal so heißen durfte, wie sie hieß, und nicht mal dort liegen durfte, wo sie lag.
Der geheime Hutton bedauerte seinen Irrtum, fügte aber hinzu, dass Herr Karlsson schon was einfallen würde. Popow kam sicher ab und zu nach Moskau, Allan musste also nur herausfinden, wann der Wissenschaftler sich mal wieder in der Hauptstadt aufhielt.
»Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen, Herr Karlsson«, sagte der geheime Hutton, der aus der französischen Hauptstadt angerufen hatte. »Ich habe nämlich noch ein paar andere Angelegenheiten auf meinem Schreibtisch, um die ich mich kümmern muss. Viel Glück!«
Dann legte er auf, seufzte tief und wandte sich wieder den Nachwirkungen des im Jahr zuvor von der CIA unterstützten Militärputsches in Griechenland zu. Wie so viele andere Unternehmen der letzten Zeit war auch dieses nicht ganz so ausgegangen wie geplant.
Allan fiel vorerst nichts Besseres ein, als jeden Tag einen erfrischenden Spaziergang zur Stadtbibliothek in Moskau zu machen, wo er stundenlang saß und Zeitungen und Zeitschriften las. Er hoffte, dabei auf einen Artikel zu stoßen, in dem angekündigt wurde, dass Popow demnächst öffentlich auftreten würde, und zwar außerhalb des Stacheldrahts, der sich rund um Arzamas-16 ringelte.
Doch Monat um Monat verging, und er fand nichts. Dafür konnte er unter anderem lesen, dass Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy demselben Schicksal zum Opfer gefallen war wie sein Bruder und dass die Tschechoslowakei die Sowjetunion um Hilfe gebeten hatte, damit sie endlich mal die richtige Ordnung in ihren Sozialismus kriegten.
Des Weiteren bekam Allan eines Tages mit, dass Lyndon B. Johnson einen Nachfolger namens Richard M. Nixon hatte. Doch da die Aufwandsentschädigung der Botschaft weiterhin jeden Monat in Form eines Kuverts bei ihm eintraf, hielt Allan es für das Klügste, weiterhin nach Popow zu suchen. Wenn sich an seinem Auftrag etwas ändern sollte, würde sich der geheime Hutton schon bei ihm melden.
Inzwischen schrieb man das Jahr 1969, und es wurde langsam Frühjahr, als Allan bei seinem unablässigen Blättern in den Zeitungen der Bibliothek etwas Interessantes entdeckte. Die Wiener Oper sollte ein Gastspiel im Bolschoi-Theater in Moskau geben, mit Franco Corelli als Tenor und dem schwedischen Weltstar Birgit Nilsson in der Hauptrolle der Oper Turandot.
Allan kratzte sich das inzwischen wieder bartlose Kinn und erinnerte sich an den ersten – und einzigen – Abend, den er mit Julij verbracht hatte. Da hatte Julij zu vorgerückter Stunde eine Arie angestimmt: Nessun dorma hatte er gesungen – keiner schlafe! Dass er kurz darauf alkoholbedingt eingeschlummert war, stand auf einem anderen Blatt.
Allan dachte sich, dass jemand, der in einem U-Boot in ein paar hundert Metern Tiefe Puccini und Turandot huldigte, sich wohl kaum ein Gastspiel der Wiener Oper im Bolschoi-Theater entgehen lassen würde, bei dem ebendiese Oper aufgeführt wurde. Vor allem, wenn der Betreffende nur wenige Stunden entfernt wohnte und eine so hochdekorierte Persönlichkeit war, dass er bestimmt keine Probleme haben würde, einen guten Platz zu bekommen.
Oder vielleicht doch? Na, dann musste Allan eben einfach seine täglichen Wanderungen zur Stadtbibliothek fortsetzen. Es gab Schlimmeres.
Bis auf Weiteres rechnete Allan aber damit, dass Julij vor der Oper auftauchen würde, und dann musste er ihn ja nur abfangen und sich noch mal für den netten Abend neulich bedanken. Damit war die Sache klar.
Oder auch nicht.
Überhaupt nicht, wie sich herausstellen sollte.
* * * *
Am Abend des 22. März 1969 postierte sich Allan an einer strategisch günstigen Stelle links vor dem Haupteingang des Bolschoi-Theaters. Von hier aus würde er Julij sofort wiedererkennen, wenn er hineinging. Das Problem war dann aber, dass fast alle Besucher gleich aussahen. Alles Männer im schwarzen Anzug unter schwarzem Mantel beziehungsweise Frauen in Abendkleidern, die unter einem schwarzen oder braunen Pelz hervorsahen. Sie kamen sämtlich paarweise und eilten aus der Kälte ins warme Theater, vorbei an Allan, der auf der obersten Stufe der eindrucksvollen Treppe stand. Obendrein war es dunkel, wie sollte Allan also ein Gesicht identifizieren, das er vor einundzwanzig Jahren zwei Tage lang gesehen hatte? Es sei denn, er hätte das unbeschreibliche Glück, dass Julij ihn wiedererkannte.
Nein, so ein Glück hatte Allan nicht. Natürlich war auch überhaupt nicht sicher, dass Julij Borissowitsch und seine mutmaßliche Begleitung schon im Theater waren, aber wenn doch, dann war er nur wenige Meter vor seinem alten Freund vorbeigegangen, ohne etwas dabei zu denken. Was sollte Allan also tun? Er überlegte laut:
»Wenn du gerade in dieses Theater gegangen bist, lieber Julij Borissowitsch, dann wirst du ganz sicher in ein paar Stunden auch durch dieselbe Tür wieder hinausgehen. Aber da wirst du ja wieder aussehen wie alle anderen, genauso wie vorhin. Ich kann dich also gar nicht finden. Bleibt nur noch die Lösung, dass du mich findest.«
So musste es gehen. Allan lief in sein kleines Büro in der Botschaft, traf seine Vorkehrungen und kam rechtzeitig zurück, bevor Prinz Kalaf das Herz der Prinzessin Turandot zum Schmelzen brachte.
Was Allan während seiner Ausbildung durch den geheimen Hutton öfter als alles andere hatte wiederholen müssen, war das Wörtchen »Diskretion«. Ein erfolgreicher Agent durfte niemals Aufsehen erregen, er durfte nicht auffallen, er musste derart mit seiner Umgebung verschmelzen, dass er fast unsichtbar war.
»Haben Sie das begriffen, Herr Karlsson?«, hatte der geheime Hutton gefragt.
»Absolut, Herr Hutton«, hatte Allan geantwortet.
Die Vorstellung war ein umwerfender Erfolg: Birgit Nilsson und Franco Corelli hatten zwanzig Vorhänge. Daher dauerte es auch besonders lange, bis das Publikum den Saal verließ und die Menschen, die alle gleich aussahen, wieder über die Treppe hinausströmten. Was allen dabei auffiel, war der Mann auf der untersten Stufe, der mit beiden Händen ein selbst gebasteltes Plakat in die Luft hielt, auf dem stand:
ICH BIN
ALLAN
EMMANUEL
Allan Karlsson hatte die Ermahnungen des geheimen Hutton zwar durchaus verstanden, konnte jetzt aber keine Rücksicht darauf nehmen. In Huttons Paris mochte ja schon der Frühling eingezogen sein, aber in Moskau war es um diese Zeit noch kalt und dunkel. Allan fror, und er wollte Ergebnisse sehen. Erst hatte er ja Julijs Namen auf das Plakat schreiben wollen, aber dann entschied er, dass seine Indiskretion keine anderen Leute treffen sollte, sondern nur ihn selbst.
Larissa Alexandrowna Popowa, Julij Borissowitsch Popows Ehefrau, hakte sich liebevoll bei ihrem Mann unter und dankte ihm zum fünften Mal für das wundervolle Erlebnis. Diese Birgit Nilsson war ja die reinste Maria Callas! Und die Plätze! Vierte Reihe, ganz in der Mitte. So glücklich war Larissa schon lange nicht mehr gewesen. Heute Abend sollten ihr Mann und sie obendrein im Hotel schlafen, sie hatten also fast noch vierundzwanzig Stunden, bis sie wieder in die grässliche Stadt hinter Stacheldraht zurückmussten. Noch ein romantisches Abendessen zu zweien … nur Julij und sie … und danach vielleicht sogar …
»Entschuldige, Liebling«, sagte Julij und blieb auf der obersten Treppenstufe vor dem Eingang stehen.
»Was ist denn, mein Lieber?«, fragte Larissa besorgt.
»Nein … es ist nichts … aber … Siehst du den Mann da unten mit dem Plakat? Das muss ich mir mal kurz näher ansehen … Das kann nicht sein … ich muss … Aber der ist doch tot!«
»Wer ist tot, Liebling?«
»Komm!«, sagte Julij und lotste seine Frau durch die Menschenmenge die Treppe hinunter.
Drei Meter vor Allan blieb er stehen und versuchte, mit dem Hirn zu erfassen, was seine Augen schon registriert hatten. Allan entdeckte den alten Freund, der ihn nur dumm anglotzen konnte, ließ sein Plakat sinken und fragte:
»Und, hat Birgit gut gesungen?«
Julij sagte immer noch keinen Ton, aber seine Frau flüsterte ihm die Frage zu, ob das der Mann sei, der angeblich tot sein sollte. Allan antwortete an Julijs Stelle und erklärte, nein, tot sei er nicht, aber ganz schön durchgefroren, und wenn das Ehepaar Popow sichergehen wollte, dass er nicht doch noch erfror, wäre es sicher das Beste, wenn sie ihn umgehend in ein Restaurant brachten, wo er einen Schluck Wodka und vielleicht auch einen Happen zu essen zu sich nehmen könnte.
»Du bist es wirklich …«, brachte Julij schließlich heraus. »Aber … du sprichst ja Russisch …?«
»Ja, direkt nach unserer letzten Begegnung hatte ich einen fünfjährigen Kurs in deiner Muttersprache«, sagte Allan. »Gulag hieß die Schule. Also, wie steht es jetzt mit dem Wodka?«
Julij Borissowitsch war ein äußerst moralischer Mann, den es einundzwanzig Jahre lang gequält hatte, dass er den schwedischen Atombombenexperten unfreiwillig nach Moskau gelockt hatte, von wo aus der Schwede nach Wladiwostok weitergeschickt wurde, um dort spätestens bei dem Brand ums Leben zu kommen, von dem jeder einigermaßen aufgeklärte Sowjetbürger wusste. Einundzwanzig Jahre lang hatte er gelitten, nicht zuletzt deswegen, weil ihm dieser Schwede mit seiner scheinbar grenzenlosen Fähigkeit, die Dinge positiv zu sehen, auf Anhieb so sympathisch gewesen war.
Jetzt stand Julij Borissowitsch bei fünfzehn Grad unter null vor dem Bolschoj-Theater in Moskau und … nein, er konnte es schier nicht fassen. Allan Emmanuel Karlsson hatte überlebt. Und er lebte immer noch. Und jetzt stand er vor Julij. Mitten in Moskau. Und sprach Russisch!
Julij Borissowitsch war seit vier Jahrzehnten glücklich mit Larissa Alexandrowna verheiratet. Kinder hatten sie nie bekommen, aber sie waren grenzenlos vertraut miteinander. Sie teilten alles, in guten wie in schlechten Zeiten, und mehr als einmal hatte Julij seiner Frau erzählt, wie traurig ihn Allan Emmanuel Karlssons Schicksal machte. Und während Julij immer noch versuchte, sein Hirn in Gang zu setzen, übernahm Larissa Alexandrowna das Kommando:
»Wenn ich das richtig verstanden habe, ist das hier also dein alter Freund, den du indirekt in den Tod geschickt hast. Wie wäre es denn, lieber Julij, wenn wir seinem Wunsch entsprächen und ihn auf direktem Wege in ein Restaurant bringen, um ihm ein bisschen Wodka einzuflößen – bevor er uns noch wirklich stirbt?«
Julij antwortete nicht, nickte aber und ließ sich von seiner Frau zur bereitstehenden Limousine führen, in der er neben seinen verstorbenen Kameraden gesetzt wurde, während die Frau dem Chauffeur Anweisungen gab.
»Zum Restaurant Puschkin bitte.«
Es brauchte zwei große Gläschen, bis Allan aufgetaut war, und noch mal zwei, bevor Julij langsam wieder wie ein Mensch funktionierte. Dazwischen machten sich Allan und Larissa miteinander bekannt.
Als Julij es endlich begriffen hatte, ging sein Schock in Freude über (»Jetzt wollen wir feiern!«). Doch Allan hielt es für angebracht, gleich zum Thema zu kommen. Wenn man etwas zu sagen hatte, war es immer gut, gleich damit rauszurücken.
»Was hältst du davon, Spion zu werden?«, fragte Allan. »Bin ich nämlich auch, das ist wirklich ganz spannend.«
Julij bekam seinen fünften Wodka in die falsche Kehle und hustete ihn quer über den Tisch.
»Spion?«, wiederholte Larissa, während ihr Mann weiterhustete.
»Ja, oder Agent. Ich muss gestehen, ich weiß auch nicht so recht, was der Unterschied ist.«
»Das ist ja interessant. Erzählen Sie uns doch mehr, lieber Allan Emmanuel.«
»Nein, tu das nicht, Allan«, hustete Julij. »Tu das nicht. Wir wollen gar nicht mehr wissen!«
»Red doch keinen Unsinn, lieber Julij«, sagte Larissa. »Dein Freund muss dir doch von seiner Arbeit erzählen dürfen, nachdem ihr euch so viele Jahre nicht gesehen habt. Erzähl nur weiter, Allan Emmanuel.«
Allan erzählte weiter, und Larissa hörte interessiert zu, während Julij das Gesicht die ganze Zeit in den Händen verbarg. Allan erzählte von seinem Abendessen mit Präsident Johnson und dem geheimen Hutton von der CIA und vom Treffen am nächsten Tag, bei dem Hutton ihm vorschlug, nach Moskau zu fahren und herauszufinden, wie es um die sowjetischen Missiles bestellt war.
Allan erwog die Alternative, nämlich in Paris zu bleiben, wo er garantiert jeden Tag alle Hände voll damit zu tun haben würde, die Botschafterin und ihren Mann davon abzuhalten, diplomatische Krisen zu verursachen, wann immer sie den Mund aufmachten. Da Amanda und Herbert zu zweit waren und Allan sich unmöglich an zwei Orten gleichzeitig aufhalten konnte, nahm er das Angebot des geheimen Hutton an. Es klang einfach ein bisschen geruhsamer. Außerdem wäre es sicher schön, Julij nach all den Jahren wiederzusehen.
Der verbarg jetzt zwar immer noch das Gesicht in den Händen, aber mit einem Auge linste er schon zwischen den Fingern hindurch. Ob Julij von Herbert Einstein gehört habe? Tatsächlich erinnerte sich Julij an ihn, und er meinte, es wäre wahrhaftig eine gute Nachricht, sollte auch Herbert die Entführung und das Straflager überlebt haben, in das Berija ihn geschickt hatte.
O ja, der habe auch überlebt, bestätigte Allan. Und dann erzählte er in groben Zügen von den zwanzig Jahren, die sie miteinander verbracht hatten. Wie sein Freund erst immer nur sterben wollte, seine Meinung in diesem Punkt aber komplett revidiert hatte, als er dann wirklich sterben musste, nämlich ganz überraschend im Dezember des letzten Jahres im Alter von sechsundsiebzig Jahren. Er hinterließ eine erfolgreiche Ehefrau – eine Diplomatin in Paris – und zwei halbwüchsige Kinder. Nach letzten Berichten aus der französischen Hauptstadt hatte die Familie Herberts Ableben gut verkraftet, und Frau Einstein war in einflussreichen Kreisen sehr beliebt. Ihr Französisch war zwar immer noch schrecklich schlecht, aber das machte auch einen Teil ihres Charmes aus, denn so schien es, als würde sie manchmal Dummheiten von sich geben, die unmöglich so gemeint sein konnten.
»Aber ich fürchte, wir sind inzwischen ganz vom Thema abgekommen«, sagte Allan. »Du hast vergessen, meine Frage zu beantworten. Willst du zur Abwechslung nicht mal Spion werden?«
»Allan Emmanuel, ich bitte dich! Das ist doch unmöglich. Ich bin für meine Dienste am Vaterland mehr ausgezeichnet worden als jeder andere Zivilist der modernen sowjetischen Geschichte. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass ich Spion werde!«, erwiderte Julij und hob das sechste Glas Wodka an die Lippen.
»Sag das nicht, lieber Julij«, widersprach Larissa, woraufhin den sechsten Wodka dasselbe Schicksal ereilte wie den fünften.
»Wäre es nicht besser, wenn du deinen Schnaps trinken würdest, statt ihn ständig über andere Leute zu versprühen?«, fragte Allan liebenswürdig.
Daraufhin legte Larissa Popowa ihre Gedanken dar, während ihr Mann sich wieder die Hände vors Gesicht hielt. Sie meinte, dass Julij und sie demnächst fünfundsechzig werden würden, und was hätten sie der Sowjetunion eigentlich zu verdanken? Freilich, ihr Mann sei doppelt und dreifach ausgezeichnet worden, schön und gut, und das bedeute ja auch mal gute Karten für die Oper. Aber ansonsten?
Sie wartete die Antwort ihres Mannes gar nicht erst ab, sondern fuhr fort, dass sie in Arzamas-16 eingesperrt waren, einer Stadt, deren Name allein schon Depressionen auslösen konnte. Und dann auch noch hinter Stacheldraht. Ja, ja, sie wisse wohl, dass sie kommen und gehen konnten, wie sie wollten, aber Julij solle sie jetzt gefälligst nicht unterbrechen, denn sie sei noch lange nicht fertig.
Für wen rackere Julij sich denn ununterbrochen ab? Erst für Stalin, der nicht ganz richtig im Kopf war. Dann für Chruschtschow, der nur einmal ein Zeichen von menschlicher Wärme gezeigt hatte, als er nämlich Marschall Berija hinrichten ließ. Und jetzt war es Breschnew – und der stank einfach!
»Aber Larissa!«, rief Julij Borissowitsch erschrocken aus.
»Hör mir auf mit deinem ›Larissa‹, lieber Julij. Du hast selbst gesagt, dass Breschnew stinkt.«
Und so fuhr sie fort, dass Allan Emmanuel geradezu wie bestellt aufgetaucht war, denn in letzter Zeit war sie immer niedergeschlagener gewesen bei dem Gedanken, dass sie auch noch hinter diesem Stacheldrahtzaun sterben sollte, in einer Stadt, die es offiziell gar nicht gab. Würden sie überhaupt richtige Grabsteine bekommen? Oder sollten die zur Sicherheit vielleicht auch noch verschlüsselt beschriftet werden?
»Hier ruhen Genosse X und seine treue Gattin Y«, sagte Larissa.
Julij antwortete nicht. Seine liebe Frau mochte in gewisser Hinsicht ansatzweise recht haben. Inzwischen war sie beim Finale angelangt:
»Warum willst du denn nicht noch ein paar Jahre mit deinem Freund spionieren? Danach können wir mit seiner Hilfe nach New York fliehen und dort jeden Abend in die Met gehen. Dann könnten wir tatsächlich noch mal leben, lieber Julij, bevor wir sterben müssen.«
Während es ganz so aussah, als würde Julij resignieren, fuhr Allan fort, die Hintergründe etwas genauer zu erläutern. Er habe wie gesagt über Umwege diesen Herrn Hutton in Paris kennengelernt, einen Mann, der dem ehemaligen Präsidenten Johnson offenbar nahegestanden habe und zudem eine hohe Stellung in der CIA innehatte.
Als Hutton gehört hatte, dass Julij Borissowitsch einmal mit Allan bekannt gewesen war und ihm außerdem vielleicht einen Gefallen schuldete, hatte Hutton einen Plan ausgearbeitet.
Bei den globalen politischen Aspekten dieses Plans hatte Allan nicht so genau hingehört, denn wenn die Leute von Politik anfingen, klappte er gern mal die Ohren zu. Reflexartig, sozusagen.
Der sowjetische Kernphysiker, der sich inzwischen wieder etwas gefasst hatte, nickte verständnisvoll. Politik war auch nicht unbedingt sein Lieblingsthema. Er war zwar mit Leib und Seele Sozialist, aber wenn jemand ihn bat, seinen Standpunkt darzulegen, hatte er ein Problem.
Im Folgenden unternahm Allan einen ehrlichen Versuch zusammenzufassen, was der geheime Hutton noch so gesagt hatte. Es lief auf jeden Fall darauf hinaus, dass die Sowjetunion die USA entweder mit Kernwaffen angreifen könnte, oder auch nicht.
Julij nickte bestätigend, dass dem so war. Entweder oder, damit war zu rechnen.
Des Weiteren hatte der CIA-Mann Hutton, wenn Allan sich recht erinnerte, seine Besorgnis über die Konsequenzen eines sowjetischen Angriffs auf die USA zum Ausdruck gebracht. Denn selbst wenn das sowjetische Nuklearwaffenarsenal so klein war, dass die USA damit nur ein lächerliches einziges Mal ausgelöscht werden könnten, fand Hutton das immer noch schlimm genug.
Julij Borissowitsch nickte ein drittes Mal und meinte, es wäre schon wirklich hässlich für das amerikanische Volk, wenn die USA ausgelöscht werden würden.
Doch wie Hutton diese Gleichung am Ende aufgehen ließ, konnte Allan nicht mehr recht sagen. Aus irgendeinem Grund wollte er eben wissen, wie es um das sowjetische Kernwaffenarsenal bestellt war, und wenn er das wusste, konnte er Präsident Johnson empfehlen, Verhandlungen zur nuklearen Abrüstung mit der Sowjetunion zu beginnen. Obwohl – jetzt war Johnson ja gar nicht mehr Präsident, aber … ach, egal, Allan wusste es nicht. Mit der Politik war es doch immer das Gleiche: Sie war oftmals nicht nur unnötig, sondern zuweilen auch unnötig kompliziert.
Julij war zwar technischer Leiter des gesamten sowjetischen Kernwaffenprogramms, und er wusste auch alles über Strategie, Geografie und Umfang des Programms. Doch nach dreiundzwanzig Jahren im Dienst des sowjetischen Nuklearprogramms hatte er niemals an die Politik gedacht – und musste dies auch nicht, was gut für ihn und seine Gesundheit war. Er hatte ja im Laufe der Jahre drei verschiedene Staatschefs und obendrauf noch einen Marschall Berija überlebt. So lange zu leben und sich in einer so hohen Position zu halten, war nicht vielen mächtigen Männern vergönnt.
Julij wusste, welche Opfer Larissa hatte bringen müssen. Und nun – wo sie sich endlich eine Pension und eine Datscha am Schwarzen Meer verdient hatten – war der Grad ihrer Uneigennützigkeit größer denn je. Doch sie hatte sich nie beschwert. Niemals. Deswegen hörte Julij umso besser hin, als sie sagte:
»Mein lieber Julij. Lass uns erst mit Allan Emmanuel zu ein bisschen Frieden auf Erden beitragen und dann nach New York gehen. Deine Orden kann Breschnew zurückhaben und sie sich in den Hintern schieben.«
Da ergab sich Julij und sagte »Ja« zum gesamten Paket (mit Ausnahme der Orden in Breschnews Hintern), und bald hatten sich Julij und Allan geeinigt, dass Präsident Nixon nicht in erster Linie die Wahrheit hören musste, sondern eher etwas, was ihn glücklich machte. Denn ein glücklicher Nixon würde auch Breschnew glücklich machen, und dann konnte es wohl kaum Krieg geben, oder?
Allan hatte gerade einen Spion rekrutiert, indem er auf einem öffentlichen Platz ein Plakat hochgehalten hatte. Und das im Land mit dem effektivsten Kontrollsystem der Welt. Sowohl ein Hauptmann des sowjetischen Nachrichtendienstes GRU als auch ein ziviler KGB-Mann waren zudem an bewusstem Abend vor dem Bolschoi-Theater zugegen, jeweils mit ihren Gattinnen. Die beiden sahen, wie alle anderen, den Mann mit dem Plakat auf der untersten Treppenstufe. Und beide waren schon zu lange in der Branche, um deswegen einen diensthabenden Kollegen zu alarmieren. Denn wer konterrevolutionäre Umtriebe plante, der benahm sich nicht so himmelschreiend auffällig.
So dumm konnte einfach kein Mensch sein.
Im Übrigen saß mindestens eine Handvoll mehr oder weniger professioneller KGB- und GRU-Informanten in dem Restaurant, in dem die Rekrutierung an diesem Abend geschah. An Tisch neun spuckte ein Mann seinen Wodka übers Essen, barg das Gesicht in beiden Händen, fuchtelte mit den Armen, verdrehte die Augen und ließ sich von seiner Frau ausschimpfen. Kurz und gut: ein völlig normales Gebaren in einem russischen Restaurant, nicht der Erwähnung wert.
So kam es, dass ein politisch tauber amerikanischer Agent globale Friedensstrategien mit einem politisch blinden sowjetischen Kernwaffenchef ausbaldowern konnte – ohne dass KGB oder GRU ihr Veto eingelegt hätten. Als der europäische Chef der CIA in Paris, Ryan Hutton, erfuhr, dass die Rekrutierung gelungen war und demnächst die ersten Lieferungen eingehen würden, sagte er sich, dass dieser Karlsson vielleicht doch professioneller war, als es auf den ersten Blick gewirkt hatte.
* * * *
Das Bolschoi-Theater wechselte drei-, viermal jährlich das Programm. Dazu kam mindestens ein Gastspiel pro Jahr, wie das der Wiener Oper.
So ergaben sich für Allan und Julij Borissowitsch eine Handvoll Gelegenheiten, sich in aller Diskretion in Julijs und Larissas Hotelsuite zu treffen, um passende Informationen über die sowjetischen Kernwaffen zusammenzubasteln, die dann an die CIA weitergegeben wurden. Sie mischten Dichtung und Wahrheit so geschickt, dass die Informationen aus amerikanischer Perspektive ebenso glaubwürdig wie ermutigend klangen.
Allans Berichte hatten unter anderem zur Folge, dass Präsident Nixons Beraterstab Anfang der siebziger Jahre auf Moskau zuging, um ein Gipfeltreffen zum Zwecke der beiderseitigen Abrüstung zu erwirken. Nixon fühlte sich sicher, weil er die USA für das stärkere Land hielt.
Präsident Breschnew war dem Abrüstungsvorschlag eigentlich auch nicht abgeneigt, weil seine Berichte ihm wiederum sagten, dass die Sowjetunion das stärkere Land war. Die Sache wurde etwas kompliziert, als eine Putzfrau der CIA-Büros in Paris sehr merkwürdige Informationen an die GRU verkaufte. Sie hatte Dokumente gefunden, die vom Büro der CIA in Paris geschickt worden waren. Darin wurde angedeutet, dass die CIA einen Spion an sehr zentraler Stelle im sowjetischen Nuklearwaffenprogramm hatte. Das Problem war nur, dass die Informationen, die dieser Spion lieferte, überhaupt nicht den Tatsachen entsprachen. Wenn Nixon aufgrund der Angaben, die ein sowjetischer Münchhausen an die CIA schickte, abrüsten wollte, hatte Breschnew sicher nichts dagegen einzuwenden. Aber kitzlig war die Angelegenheit denn doch. Und der Münchhausen musste auf jeden Fall lokalisiert werden.
Breschnews erste Maßnahme bestand darin, den technischen Leiter des Kernwaffenprogramms, den unverbrüchlich loyalen Julij Borissowitsch Popow, zu sich zu rufen und ihn um eine Einschätzung zu bitten, woher diese falschen Informationen gekommen sein könnten. Obgleich die Berichte, die die CIA bekommen hatte, die sowjetische Kernwaffenkapazität deutlich unterschätzten, deuteten die Formulierungen doch darauf hin, dass hier ein Eingeweihter sprach, was natürlich die eine oder andere Frage aufwarf. Daher brauche man Popows fachkundige Hilfe.
Popow las sich also durch, was er sich mit seinem Freund Allan aus den Fingern gesogen hatte, und zuckte mit den Schultern. Jeder x-beliebige Student hätte sich das nach ein bisschen Geblätter in der Bibliothek zusammendichten können, meinte er. Genosse Breschnew solle sich deswegen keine Sorgen machen, wenn Genosse Breschnew einen Rat von einem einfachen Physiker annehmen wolle.
Ja, zu diesem Zweck habe Breschnew Julij Borissowitsch ja zu sich gebeten. Er bedankte sich bei seinem Kernwaffenchef herzlich für die Hilfe und trug ihm noch Grüße an Larissa Alexandrowna auf, Julij Borissowitschs charmante Frau.
* * * *
Während der KGB völlig nutzloserweise zweihundert sowjetische Bibliotheken überwachen ließ, in denen sich Literatur zu Kernwaffen befand, überlegte Breschnew weiter, wie er sich zu Nixons inoffiziellen Vorschlägen stellen sollte. Bis zu dem Tag, als – Schockschwerenot! – Nixon von Dickerchen Mao Tse-tung nach China eingeladen wurde! Breschnew und Mao hatten einander vor Kurzem mitgeteilt, dass sie bis auf Weiteres nichts mehr voneinander wissen wollten, und jetzt bestand plötzlich das Risiko, dass China und die USA eine unheilige Allianz gegen die Sowjetunion bildeten. Das durfte selbstverständlich nicht passieren!
Tags darauf erhielt Richard Milhous Nixon, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, daher eine offizielle Einladung in die Sowjetunion. Es folgte harte Arbeit hinter den Kulissen, eines führte zum andern, und schließlich hatten Nixon und Breschnew zwei separate Abrüstungsabkommen nicht nur anvisiert, sondern auch beide unterschrieben. Das eine betraf die Antiroboterroboter (ABM-Abkommen), das andere strategische Waffen (SALT-Verträge). Da die Verträge in Moskau unterzeichnet wurden, nutzte Nixon die Gelegenheit, auch dem Agenten der amerikanischen Botschaft die Hand zu schütteln, der ihn so vorbildlich mit Informationen über die sowjetische Kernwaffenkapazität versorgt hatte.
»Gern geschehen, Herr Präsident«, sagte Allan. »Aber wollen Sie mich jetzt nicht auch zum Abendessen einladen? Das machen sie doch immer so.«
»Wer ›sie‹?«, wollte der verblüffte Präsident wissen.
»Na ja«, meinte Allan, »alle, die zufrieden mit mir waren … Franco und Truman und Stalin … und der Vorsitzende Mao … der im Grunde nichts anderes auftischen ließ als Nudeln … andererseits war es da ja auch schon sehr spät am Abend … und wenn ich’s mir jetzt recht überlege – beim schwedischen Ministerpräsidenten Erlander hab ich bloß einen Kaffee bekommen. Eigentlich auch nicht verkehrt, denn das war ja zu Zeiten, in denen alles rationiert war …«
Glücklicherweise war Präsident Nixon über die Vergangenheit seines Agenten im Bilde, daher konnte er ihm ganz ruhig versichern, dass für ein Abendessen mit Herrn Karlsson leider keine Zeit sein würde. Aber dann fügte er hinzu, dass ein amerikanischer Präsident einem schwedischen Ministerpräsidenten wohl nicht nachstehen durfte, also würde schon eine Tasse Kaffee herausspringen, und ein Cognac noch dazu. Vielleicht jetzt gleich, wenn es ihm recht war?
Allan nahm das Angebot dankend an und erkundigte sich, ob er alternativ nicht einen doppelten Cognac bekommen könnte, wenn er auf den Kaffee verzichtete. Woraufhin Nixon erklärte, dass der amerikanische Staatshaushalt sicher beides hergab.
Die Herren verbrachten eine nette Stunde miteinander. Nun, so nett es eben sein konnte, wenn unbedingt über Politik geredet werden musste. Der amerikanische Präsident erkundigte sich auch nach den politischen Gepflogenheiten in Indonesien. Ohne Amanda namentlich zu nennen, schilderte Allan detailliert, wie man in Indonesien politische Karriere machen konnte. Präsident Nixon lauschte aufmerksam und sah nachdenklich drein.
»Interessant«, sagte er. »Interessant.«
* * * *
Allan und Julij waren mit ihrer Arbeit und der Entwicklung der Dinge zufrieden. Es sah ganz so aus, als hätten GRU und KGB sich wieder ein bisschen beruhigt und die Jagd auf den Spion eingestellt. Das fanden sie beide gut. Oder wie Allan es ausdrückte:
»Es ist doch wesentlich besser, zwei Mörderorganisationen nicht mehr auf den Fersen zu haben, als sie auf den Fersen zu haben.«
Dann fügte er hinzu, dass die Freunde nicht zu viel Zeit auf KGB, GRU und all die anderen Abkürzungen verschwenden sollten, gegen die man sowieso nichts ausrichten konnte. Stattdessen wurde es höchste Zeit, den nächsten Bericht für den geheimen Hutton und seinen Präsidenten zu verfassen. Signifikanter Rostbefall bei Mittelstreckenraketen auf Kamtschatka – ließ sich daraus vielleicht etwas machen?
Julij lobte Allans blühende Fantasie, die das Abfassen der Berichte immer wieder wesentlich erleichterte. Auf die Art hatten sie dann viel mehr Zeit für Essen, Trinken und Geselligkeit.
* * * *
Richard M. Nixon hatte allen Grund zur Zufriedenheit. Bis es plötzlich damit vorbei war.
Das amerikanische Volk liebte seinen Präsidenten und wählte ihn im November 1972 mit Pauken und Trompeten wieder. Nixon gewann in neunundvierzig Staaten, George McGovern mit knapper Not in einem.
Doch dann wurde es schwieriger. Und noch schwieriger. Und zum Schluss musste Nixon etwas tun, was vor ihm noch kein anderer amerikanischer Präsident getan hatte:
Er musste zurücktreten.
Allan las in der Stadtbibliothek in Moskau in allen erhältlichen Presseerzeugnissen vom sogenannten Watergate-Skandal. Alles in allem hatte Nixon offenbar Steuern hinterzogen, illegale Wahlkampfspenden entgegengenommen, heimliche Bombenabwürfe angeordnet, politische Feinde verfolgt und sich des Einbruchs und der Installation illegaler Abhöranlagen schuldig gemacht. Allan dachte sich, dass der Präsident sich wohl von ihrem Gespräch bei dem doppelten Cognac hatte beeindrucken lassen. Da sagte er zu Nixons Bild in der Zeitung:
»Du hättest mal lieber eine politische Karriere in Indonesien anstreben sollen. Da hättest du es weit bringen können.«
* * * *
Die Jahre vergingen. Nach Nixon kam Gerald Ford, nach Ford kam Jimmy Carter. Breschnew blieb die ganze Zeit über im Amt. Genau wie Allan, Julij und Larissa. Die drei trafen sich immer noch fünf- bis sechsmal pro Jahr und hatten immer viel Spaß miteinander. Ihre Treffen mündeten regelmäßig in einen einigermaßen fantasievollen Bericht über den aktuellen Stand der sowjetischen Kernwaffenstrategie. Allan und Julij hatten sich im Laufe der Jahre entschieden, die sowjetische Nuklearwaffenkapazität immer weiter herunterzuspielen, denn sie merkten, wie viel zufriedener die Amerikaner waren und wie viel besser die Stimmung zwischen den beiden Staatschefs zu werden schien.
Aber welches Glück währt schon ewig?
Eines Tages, kurz nachdem das SALT-II-Abkommen unterzeichnet worden war, bildete Breschnew sich ein, dass Afghanistan seine Hilfe benötigte. Und so entsandte er seine Elitetruppen, die sofort den amtierenden Präsidenten stürzten, woraufhin Breschnew keine andere Wahl blieb, als selbst einen einzusetzen.
Da wurde Präsident Carter natürlich − gelinde gesagt − böse auf Breschnew. Die Tinte auf dem zweiten SALT-Abkommen war ja kaum getrocknet. Also ordnete Carter einen Boykott der Olympischen Spiele in Moskau an und erhöhte die heimliche CIA-Unterstützung für die fundamentalistische Guerilla in Afghanistan, die Mudschaheddin.
Recht viel mehr konnte er nicht machen, denn dann übernahm Ronald Reagan, und der war bedeutend ungemütlicher, was Kommunisten im Allgemeinen und den alten Fuchs Breschnew im Besonderen anging.
»Dieser Reagan scheint ja stocksauer zu sein«, sagte Allan zu Julij beim ersten Treffen von Agent und Spion seit Regierungsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten.
»Ja«, antwortete Julij. »Und das sowjetische Kernwaffenarsenal können wir auch nicht mehr allzu sehr reduzieren, denn dann bleibt langsam nicht mehr viel übrig.«
»Dann schlage ich vor, wir machen es umgekehrt«, sagte Allan. »Das wird Reagan sicher gleich etwas sanfter stimmen, du wirst sehen.«
Der nächste Bericht, der über den geheimen Hutton an die USA ging, sprach daher von einer sensationellen sowjetischen Offensive bezüglich ihrer Missiles. Diesmal schoss Allans Fantasie bis in den Weltraum. Von dort oben – so hatte er es sich ausgedacht – sollten die sowjetischen Raketen ganz gezielt auf alles schießen, womit die USA auf der Erde ihre Angriffe führen wollten.
Damit legten der politisch taube amerikanische Agent Allan und sein politisch blinder russischer Kernwaffenchef Julij den Grundstein für den Kollaps der Sowjetunion. Ronald Reagan flippte aus, als er den Bericht bekam, und startete sofort die Strategic Defense Initiative, auch »Krieg der Sterne« genannt. Die Projektbeschreibung mit ihren laserschießenden Satelliten war fast eine Kopie dessen, was Allan und Julij vor ein paar Monaten in einem Hotelzimmer in Moskau unter dem Einfluss eines prächtigen Wodkarauschs kichernd zusammengeschustert hatten. Das amerikanische Budget für Nuklearwaffen schoss dann ebenfalls fast bis in den Weltraum. Die Sowjetunion versuchte zu kontern, konnte es sich aber nicht leisten. Stattdessen begann das Land langsam zu bröckeln.
Sei es nun aus Schock über die neue militärische Offensive Amerikas, sei es aus anderen Gründen – am 10. November 1982 starb Breschnew an einem Herzinfarkt. Zufällig hatten Allan, Julij und Larissa am Abend danach wieder eines ihrer Spionagetreffen.
»Wäre es nicht langsam Zeit, diesem Unfug ein Ende zu machen?«, fragte Larissa.
»Doch, jetzt machen wir diesem Unfug ein Ende«, sagte Julij.
Allan nickte und stimmte zu, dass alles mal ein Ende haben musste, insbesondere wahrscheinlich Unfug. Es war wohl ein Zeichen des Himmels, dass sie sich jetzt zurückziehen sollten, wo Breschnew bald schlimmer stinken würde denn je.
Er fügte hinzu, dass er schon am nächsten Morgen den geheimen Hutton anrufen wollte. Dreizehneinhalb Jahre im Dienste der CIA mussten reichen. Dass das meiste geschummelt gewesen war, gehörte nicht hierher. Alle drei waren sich einig, dass sie den wahren Sachverhalt sowohl vor dem geheimen Hutton als auch vor seiner Mimose von Präsidenten geheim halten sollten.
Jetzt musste die CIA nur noch dafür sorgen, dass Julij und Larissa nach New York gebracht wurden, das hatten sie auch schon versprochen. Allan hingegen erwog, mal wieder nach dem guten alten Schweden zu sehen.
* * * *
Die CIA und der geheime Hutton hielten ihr Versprechen. Julij und Larissa wurden über die Tschechoslowakei und Österreich in die USA geschleust. Man wies ihnen eine Wohnung in der West 64th Street in Manhattan und eine jährliche Apanage in eine Höhe zu, die die Bedürfnisse des Ehepaares bei Weitem überstieg. Und das kam die CIA nicht mal besonders teuer, denn im Januar 1984 starb erst Julij im Schlaf und drei Monate später seine Larissa, die nicht ohne ihn sein konnte. Beide wurden neunundsiebzig Jahre alt, und ihr glücklichstes Jahr war 1983, als die Metropolitan Opera ihr hundertjähriges Bestehen feierte, was dem Paar eine endlose Reihe unvergesslicher Erlebnisse bescherte.
Allan indessen packte in der Wohnung in Moskau seinen Koffer und teilte der Verwaltungsabteilung der amerikanischen Botschaft mit, dass er sich für immer verabschiedete. Erst da entdeckte man, dass dem Angestellten Allen Carson aus unerfindlichen Gründen in den dreizehn Jahren und fünf Monaten seiner Dienstzeit immer nur Spesen ausgezahlt worden waren.
»Haben Sie denn nie gemerkt, dass Sie gar kein Gehalt bekommen?«, fragte ihn der Verwaltungsangestellte.
»Nein«, sagte Allan. »Ich esse nicht viel, und der Schnaps war hier ja recht billig. Ich fand das durchaus ausreichend.«
»Dreizehn Jahre lang?«
»Unglaublich, wie die Zeit vergeht, nicht wahr?«
Der Mann sah Allan ganz komisch an und versprach, dass man ihm das Geld per Scheck auszahlen würde, sobald der Herr Carson – oder wie auch immer er in Wirklichkeit heißen mochte – die Sache bei der amerikanischen Botschaft in Stockholm meldete.