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Frederick ForsythDer Lotse

To my darling wife Carole

Während ich auf die Starterlaubnis vom Kontrollturm wartete, warf ich einen Blick durch die Plexiglaskuppel des Cockpits auf die lüneburgische Landschaft. Sie lag weiß und frisch unterm glasklaren Dezembermond. Hinter mir war die Umgrenzung des Royal-Air-Force-Flugplatzes, und jenseits der Umgrenzung erstreckte sich, wie ich beim Einschwenken meines kleinen Kampfflugzeugs in die Startbahn gesehen hatte, die Schneedecke über dem flachen Ackerland bis zu den Kiefernwäldern. Trotz der zwei Meilen Entfernung und der Nacht vermochte ich fast die Umrisse der einzelnen Bäume zu erkennen.

Vor mir lief der glatte schwarze Teerstreifen der Startpiste, gesäumt von zwei Reihen hellbrennender Lichter, die den von den Schneepflügen gebahnten festen Rollweg erleuchteten. Hinter den Lichtern türmten sich die Schneehaufen vom Vormittag, deren Flanken wieder hart gefroren waren, wo die Schaufeln der Schneefräse sie festgedrückt hatten. Weitab zu meiner Rechten ragte der Kontrollturm wie eine einzelne strahlende Kerze über die hell erleuchteten Hangars, wo in diesem Augenblick, als ich auf die Stimme des Flugleiters in meinen Kopfhörern wartete, das tief vermummte Bodenpersonal den Flugplatz für die Nacht dichtmachte.

Im Innern des Kontrollturms herrschte Wärme und festliche Stimmung, das wußte ich. Der ganze Stab wartete nur noch meinen Start ab, um gleichfalls Schluß zu machen, in die geparkten Autos zu springen und zu den Parties in den Club zu brausen. Minuten nach meinem Abflug würden die Lichter, eines nach dem anderen, erlöschen, das Feld geräumt sein bis auf die Herde der Hangars, die sich in der bitterkalten Nacht zusammenzuducken schien, die eingeschneiten Kampfflugzeuge, die schlafenden Tankwagen und, hoch über allem, das einsam blinkende Drehfunkfeuer, strahlend rot über dem schwarzen und weißen Flugfeld, das mit seinen Sichtsignalen den Namen der Station — Celle — in einen gleichgültigen Himmel morste. Denn heute Nacht würden keine umherirrenden Piloten nach ihm Ausschau halten und ihre Peilung kontrollieren; heute war Christnacht, im Jahre des Heils 1957, und ich war ein junger Flugzeugführer, der auf Weihnachtsurlaub zu den Seinen nach Blighty wollte. Ich hatte es eilig. Im blauen Schein des Instrumentenbretts, wo die vielen Zifferblätter schütterten und tanzten, sah ich auf meine Uhr: zweiundzwanzig Uhr fünfzehn. Im Cockpit war es warm und gemütlich, denn die Heizung lief auf vollen Touren, um ein Vereisen der Kuppel zu verhindern. Ich saß geborgen, warm und dicht verpackt wie in einem Kokon, der mich vor der bitteren Kälte draußen schützte, vor der eisigen Nacht, die einen Menschen, der ihr bei 600 Meilen pro Stunde ausgesetzt wird, in weniger als einer Minute töten kann.

«Charlie Delta…«

Die Stimme des Flugleiters, die in meinen Kopfhörern klang, als säße er bei mir in der winzigen Pilotenkanzel und brüllte mir direkt ins Ohr, weckte mich aus meiner Träumerei. Er hat schon mehr als einen gekippt, dachte ich. Schwerer Verstoß gegen die Dienstvorschrift, aber hol’s der Teufel, heute ist Weihnachten.»Control. Charlie Delta«, erwiderte ich.

«Charlie Delta, cleared for takeoff«, sagte er. Ich gab die Rückbestätigung durch, schob mit der linken Hand den Gashebel leicht nach vorn und hielt mit der rechten die Vampire genau auf dem Mittelstreifen. Hinter mir schwoll der leise Pfeifton der Goblin-Turbine immer stärker an, wurde zum Schrei, dann zum Gebrüll. Der stumpfnasige Vogel glitt dahin, die Lichter zu beiden Seiten der Startbahn huschten in immer schnellerer Folge vorbei, bis sie einen einzigen Leuchtstreifen bildeten. Die Maschine bekam Auftrieb, die Nase hob sich leicht, das Bugrad löste sich von der Piste, und im gleichen Augenblick hörte das Rumpeln auf. Sekunden später hob das Hauptfahrwerk ab, und auch sein leises Poltern verstummte. Ich hielt die Maschine knapp über Boden und beschleunigte, bis mir ein Blick auf den Fahrtmesser sagte, daß wir über 120 Knoten hinaus waren und auf 150 zugingen. Als das Ende der Startbahn unter meinen Füßen wegsauste, zog ich die Vampire in eine sanft ansteigende Linkskurve und fuhr im gleichen Moment das Fahrwerk ein. Unter und hinter mir hörte ich den dumpfen Schlag, mit dem das Hauptfahrwerk in seine Zellen einrastete, ich spürte den jähen Schub, als der Widerstand wegfiel. Vor mir erloschen die drei Lampen, die an die drei Räder mahnten. Ich hielt die Maschine in der ansteigenden Kurve und drückte mit dem linken Daumen auf die Funktaste.

«Charlie Delta, airborne, wheels up and locked«, sagte ich in meine Sauerstoffmaske.

«Charlie Delta, Roger, over to Channel D«, sagte der Flugleiter, und dann setzte er, noch ehe ich auf den anderen Kanal hatte umschalten können, hinzu:»Fröhliche

Weihnachten.«

Eindeutig ein schwerer Verstoß gegen die Funk-Vorschriften.

Ich war damals noch sehr jung und nahm es sehr genau.

Aber ich erwiderte:»Vielen Dank, Tower, gleichfalls. «Dann schaltete ich auf die Frequenz der R.A.F.-Bezirkskontrolle für Norddeutschland um.

An meinem rechten Oberschenkel war die Navigationskarte befestigt, meine Route darauf in blauer Tinte ausgezogen, aber ich brauchte keine Karte. Ich wußte jede Einzelheit auswendig, ich hatte zuvor alles peinlich genau mit dem Navigationsoffizier in der Orterbaracke ausgearbeitet: über Flugplatz Celle auf Kurs 265 Grad drehen, weiter steigen bis 27 000 Fuß. Nach Erreichen dieser Höhe Kurs beibehalten und auf 485 Knoten beschleunigen. Meldung auf Kanal D über Einflug in dortige Kontrollzone, dann, einer geraden Linie folgend, über die holländische Küste südlich Beveland zur Nordsee. Nach 44 Minuten Flugzeit auf Kanal F umschalten und von Anflugkontrolle Lakenheath eine Peilung anfordern. Nach weiteren 14 Minuten befinden Sie sich über Lakenheath. Danach folgen Sie den Instruktionen. Sie werden mit Radarkontrolle auf den Endanflug eingewiesen. Kein Problem, alles Routineverfahren.

66 Minuten Flugzeit einschließlich Anflug und Landung, und die Vampire hatte genügend Treibstoff, um sich über 80 Minuten in der Luft zu halten. Als ich in 5 000 Fuß Höhe den Flugplatz Celle überflog, richtete ich mich auf und beobachtete, wie der Zeiger meines elektrischen Kompasses es sich auf Strich 265 Grad bequem machte. Die Nase zeigte in das schwarze eisige Gewölbe des Nachthimmels, dessen Sternenschar so hell glänzte, daß sie blendend weiße Blitze sprühte. Drunten wurde die schwarzweiße Landkarte Norddeutschlands immer kleiner, die dunklen Massen der Kiefernwälder mischten sich mit den weißen Flächen der Felder. Da und dort funkelten die Lichter eines Dorfs oder einer kleinen Stadt. Dort unten in den fröhlich erleuchteten Straßen waren jetzt die Weihnachtssinger unterwegs, klopften an die mit Tannenreis geschmückten Türen, sangen ihr» Stille Nacht «und kassierten ihr Scherflein. Die westfälischen Hausfrauen waren emsig mit der Zurüstung von Karpfen und Gänsen beschäftigt.

400 Meilen weiter würde die Szenerie ähnlich sein; die Texte der Lieder würden in meiner Muttersprache gesungen, aber häufig zu den gleichen Melodien, und anstatt des Gänsebratens kam Truthahn auf den Tisch. Aber ob Weihnachten oder Christmas, es ist das gleiche Fest in der ganzen christlichen Welt, und es war schön, es zu Hause feiern zu dürfen.

Von Lakenheath gab es einen Urlauberbus bis London, der, wie ich wußte, kurz nach Mitternacht abfuhr; in London fand sich bestimmt eine Mitfahrgelegenheit bis zum Haus meiner Eltern in Kent. Das Frühstück würde ich schon im Kreis meiner Lieben einnehmen können. Der Höhenmesser zeigte 27 000 Fuß an. Ich brachte die Maschine in die Horizontale, beschleunigte, bis ich eine Geschwindigkeit von 485 Knoten erreicht hatte, und hielt den Kurs von 265 Grad. Irgendwo drunten mußte jetzt in der Dunkelheit die holländische Küste unter mir hinweggleiten, denn meine bisherige Flugzeit betrug 21 Minuten. Keine Komplikationen. Die Komplikationen fingen an, nachdem ich zehn Minuten über der Nordsee geflogen war, und sie setzten so lautlos ein, daß ich ihr Vorhandensein erst nach ein paar Minuten bemerkte.

Eine Weile war mir gar nicht aufgefallen, daß das leise Summen in meinen Kopfhörern verstummt war und durch das Vakuum völliger Stille ersetzt wurde. Während ich in Gedanken zu Hause und bei meinen wartenden Angehörigen weilte, mußte meine Konzentration nachgelassen haben. Die Lage wurde mir erst klar, als ich einen Blick nach unten auf den Kompaß warf, um meinen Kurs zu überprüfen. Anstatt wie festgenagelt auf 265 Grad zu stehen, tanzte der Zeiger ausgelassen rundum, wies bald auf Ost, West, Süd oder Nord. Ich verfluchte in höchst unweihnachtlichen Wendungen den Kompaß und den Instrumentenmechaniker, der für hundertprozentige Zuverlässigkeit der Armaturen verantwortlich ist.

Kompaßausfall in der Nacht, auch in einer hellen Mondnacht, wie sie draußen vor der Plastikkuppel stand, war kein Spaß. Allerdings auch wieder keine Katastrophe. In ein paar Minuten könnte ich mit Lakenheath Kontakt aufnehmen und mittels GCA-Verfahren (Groundcontrolled approach System) weitergelotst werden. Jeder gutausgerüstete Flugplatz besitzt diese Einrichtung, die es erlaubt, die Landung einer Maschine auch bei denkbar ungünstigen Wetterverhältnissen zu sichern. Unter Verwendung von Bereichs- und Präzisionsanflugradar wird der Pilot mittels detaillierter Anweisungen vom Boden aus» heruntergesprochen«. Vielleicht würde ich schon jetzt an der äußersten Grenze des Sende- und Empfangsbereichs meines Funkgeräts Lakenheath anpeilen können.

Der Ordnung halber müßte ich zuerst noch Kanal D, auf den ich geschaltet war, von meinem Mißgeschick Bericht erstatten, damit von dort Lakenheath gemeldet werden könnte, daß ich ohne Kompaß im Anflug sei. Ich drückte die Sendetaste und rief:»Celle Charlie Delta, Celle Charlie Delta, rufe North Beveland Control. bitte kommen. «Ich gab es auf. Es hatte keinen Sinn. Anstatt des lebhaften Knackens der atmosphärischen Störungen und des scharfen Widerklangs meiner Stimme, der mir sonst in die Ohren drang, war nur ein ersticktes Gebrabbel unter meiner Sauerstoffmaske zu hören. Nur meine eigene Stimme sprach und gelangte nirgendwo hin. Ich versuchte es nochmals. Mit dem gleichen Ergebnis. Weit hinter mir, über der schwarzen feindseligen Wasserwüste der Nordsee, im warmen freundlichen Betongebäude von North Beveland Control, hatten sich die Männer von ihren Kontrollpulten zurückgelehnt, plauderten und tranken dampfenden Kaffee oder Kakao. Und sie konnten mich nicht hören. Die Funkverbindung war tot. Ich kämpfte die aufsteigende Panik nieder, die einen Piloten schneller töten kann als alles andere, schluckte und zählte langsam bis zehn. Dann schaltete ich auf Kanal F und versuchte, Lakenheath anzupeilen, das in der Grafschaft Suffolk südlich von Thetford inmitten von Nadelwäldern liegt. Dort hatten sie das GCA-Anflugsystem, diese prächtige Erfindung, die für sichere Landung sorgte, auch wenn man die Orientierung verloren hatte. Auch auf Kanal F war und blieb die Funkverbindung tot. Mein eigenes Gemurmel wurde durch die Gummidichtung der Sauerstoffmaske gedämpft. Als Antwort hörte ich nur das stetige Pfeifen des Düsentriebwerks hinter mir. Der Himmel ist ein sehr einsamer Ort, und noch einsamer ist der Himmel in einer Winternacht. Und ein einsitziges Düsenkampfflugzeug ist ein einsames Haus, ein stählernes Gehäuse, das auf Stummelflügeln in der Luft gehalten wird, durch die eisige Leere gejagt von einem Flammrohr, das in jeder Betriebssekunde 6 000 Pferdestärken produziert. Aber die Einsamkeit wird aufgehoben, entschärft durch die Gewißheit, daß der Pilot durch einen Fingerdruck auf eine Taste am Gashebel mit anderen Menschen sprechen kann, mit Leuten, die sich um ihn kümmern, mit den Männern und Frauen, die das Personal des weltweiten Flugsicherungsnetzes bilden.

Nur ein Druck auf diese Taste, die Sendetaste, und Dutzende dieser Leute in Kontrolltürmen im ganzen Land, die auf diesen Kanal geschaltet sind, können den Hilferuf hören.

Wenn der Pilot sendet, zeigt in jedem Kontrollturm, der auf dieser Frequenz arbeitet und ein Peilgerät eingeschaltet hat, der Zeiger in die Richtung, in der sich das Flugzeug in Relation zum Kontrollturm befindet. Überträgt man die Peilungen von zwei verschiedenen Kontrollstellen auf eine Landkarte, so findet man am Schnittpunkt der beiden Standortlinien — die Position der Maschine. Der Pilot ist nicht mehr im All verloren. Eine Menge Leute machen sich sofort daran, ihn sicher heimzuleiten.

Die Radarstelle sucht auf ihren Bildschirmen das winzige Pünktchen auf, das von ihm stammt; sie nimmt Funkverbindung mit ihm auf und gibt ihm Anweisungen.

«Beginnen Sie jetzt Ihren Sinkflug, Charlie Delta. Wir haben Sie jetzt…«Warme, sachkundige Stimmen, Stimmen, die ein ganzes Geschwader elektronischer Vorrichtungen aufbieten, über den Winterhimmel ausgreifen können, durch Eis und Regen, über Schnee und Wolken, um das verirrte Schaf aus der tödlichen Unendlichkeit zu holen und hinunterzugeleiten zur hell erleuchteten Piste, die Landung und Leben bedeutet.

Wenn der Pilot sendet. Aber dazu braucht er ein intaktes Funkgerät. Noch ehe ich meinen Versuch mit Kanal J, der internationalen Notruffrequenz, mit gleichfalls negativem Resultat beendet hatte, wußte ich, daß mein 10-KanalFunkgerät so tot war wie der legendäre Dodo. Die Royal Air Force hatte mich zwei Jahre lang ausgebildet, bis ich ihre Kampfmaschinen fliegen konnte, und der Großteil der Ausbildungszeit war auf das Verhalten in Gefahrensituationen verwendet worden. Es kommt nicht darauf an, so hämmerten sie uns in der Fliegerschule immer wieder ein, daß man lernt, unter idealen Bedingungen zu fliegen, sondern daß man kritische Situationen meistern lernt und überlebt. Jetzt sollte sich das Training bewähren.

Während ich vergebens meine Funkkanäle durchprobierte, hefteten sich die Augen auf das Instrumentenbrett vor mir.

Die Instrumente verrieten mir eine ganze Menge. Es war kein Zufall, daß der Kompaß und das Funkgerät gleichzeitig versagt hatten; beide waren an das Stromnetz der Maschine angeschlossen. Irgendwo unter meinen Füßen, in dem kilometerlangen Geschling buntfarbener Drähte, aus dem die Stromleitung besteht, war eine Hauptsicherung durchgebrannt. Blöderweise fiel mir als erstes ein, daß ich dem Instrumentenmechaniker Abbitte leisten und den Elektriker verwünschen müsse. Dann erst überlegte ich, was in meiner mißlichen Lage zu tun sei.

Als erstes, so hörte ich im Geist den alten Fluglehrer, Sergeant Morris, dozieren, ist die Reisegeschwindigkeit auf ein Minimum zu drosseln.»Wir wollen doch keinen wertvollen Treibstoff vergeuden, klarer Fall, wie, Gentlemen?

Vielleicht brauchen wir ihn später. Also vermindern wir die Leistung von 10 000 auf 7 200 Umdrehungen pro Minute.

Dadurch fliegen wir ein bißchen langsamer, aber wir bleiben länger oben, klarer Fall, wie, Gentlemen?«Für den guten Sergeant Morris waren wir immer alle gleichzeitig in der gleichen Notsituation. Ich schob den Gashebel zurück und beobachtete den Umdrehungszähler. Aber auch er war an die Stromleitung angeschlossen, und als die Sicherung durchbrannte, hatte ich sämtliche elektrischen Navigationsinstrumente verloren. Ich schätzte nach der Lautfrequenz des Triebwerks, wann die Rotoren noch etwa 7 200 Umdrehungen pro Minute machten, und spürte, wie die

Maschine langsamer wurde. Die Nase der Vampire hob sich langsam über den Horizont, also trimmte ich das Flugzeug so, daß es Kurs und Flughöhe beibehielt.

Ein Pilot hat sechs wichtige Instrumente vor Augen. Das erste ist der Kompaß. Die übrigen fünf sind Fahrtmesser, Höhenmesser, Variometer (der ihm Steig- und Sinkgeschwindigkeit angibt), künstlicher Horizont (der ihm anzeigt, welche Lage das Flugzeug zur Horizontalebene hat) und Wendezeiger (der ihm sagt, wenn er wie ein Taschenkrebs seitwärts über den Himmel schusselt). Die zwei letztgenannten arbeiten elektrisch und waren daher genauso außer Betrieb wie der Kompaß. Blieben mir also nur die druckgesteuerten Instrumente, Fahrtmesser, Höhenmesser und Variometer. Mit anderen Worten, ich wußte, wie hoch und wie schnell ich flog. Es ist durchaus möglich, ein Flugzeug nur mit Hilfe dieser Instrumente zu landen und sich im übrigen der ältesten Navigationshilfen der Welt, der Augen, zu bedienen. Möglich — unter bestimmten Voraussetzungen: klares Wetter, Tageslicht und wolkenloser Himmel. Es ist möglich, gerade noch möglich, aber keineswegs ratsam, einen Düsenjäger mit Koppelnavigation fliegen zu wollen, also vorwiegend im Sichtflug, indem man hinunterschaut und die Küstenlinie verfolgt, wo sie einen gut zu erkennenden Verlauf nimmt, terrestrische Objekte ausmacht, einen auffallend geformten Wasserturm, das glänzende Band eines Flusses, der nach der an den Schenkel geschnallten Landkarte nur die Ouse sein kann — oder der Trent oder die Themse. Aus geringerer Höhe ist es vielleicht sogar möglich, den Turm der Kathedrale von Norwich vom Turm der Kathedrale von Lincoln zu unterscheiden, wenn man die Gegend sehr gut kennt. Bei Nacht ist es in jedem Fall unmöglich.

In der Nacht, auch in einer hellen Mondnacht, sieht man nur eins: die Lichter. Von oben gesehen bilden sie ein Muster.

Manchester sieht anders aus als Birmingham; Southampton erkennt man an der Form seines gewaltigen Hafens und des

Solent-Meeresarms, der sich schwarz — das Meer ist von oben gesehen schwarz — vom Lichterteppich der Stadt abhebt. Ich kannte Norwich sehr gut, und wenn ich die weit geschwungene Ausbuchtung der Norfolcküste von Lowestoft über Yarmouth nach Cromer ausmachen könnte, dann würde ich auch Norwich entdecken, die einzige größere Lichterwucherung zwanzig Meilen landeinwärts von den drei genannten Küstenstädten entfernt. Und fünf Meilen nördlich von Norwich lag der Fliegerhorst von Merriam St.

George, dessen rotes Leuchtfeuer seine Kennung in die Nacht blinken würde. Dort würde ich, wenn die Leutchen nur genügend Verstand hätten, die Beleuchtung einzuschalten, sobald sie mich in geringer Höhe über dem Flugfeld im Warteflug hin- und herdonnern hörten, sicher landen können. Während ich anfing, die Vampire im langsamen Sinkflug auf die nahende Küste zuhalten zu lassen, überschlug ich im Geist fieberhaft, wieviel Verspätung ich durch die verminderte Geschwindigkeit bis jetzt hatte. Nach meiner Uhr war ich seit 43 Minuten in der Luft. Die Küste von Norfolk mußte irgendwo vor mir in sechs Meilen Tiefe liegen. Ich blickte zum Vollmond auf, der wie ein Scheinwerfer am funkelnden Himmel stand, und dankte ihm für sein Leuchten. Als die Maschine auf Norfolk zuglitt, erfaßte mich das Gefühl der Einsamkeit mit aller Macht.

Alles, was mir bei meinem Aufstieg von der niedersächsischen Basis so schön erschienen war, wurde nun zum erbitterten Feind. Die Sternenpracht weckte keine Bewunderung mehr, ihr Gleißen in der zeitlosen Unendlichkeit, in der Zone ewigen Frosts wurde zur Drohung. Der Nachthimmel mit seiner bei Tag und Nacht konstanten Temperatur von 56 Grad unter Null erschien mir als gigantisches kälteknisterndes Gefängnis. Und unter mir lag der schlimmste aller Feinde, der Erzfeind: die höllische, unerbittliche Nordsee, die nur darauf lauerte, mich und mein Flugzeug zu verschlingen und uns beide für alle Ewigkeit in der nassen schwarzen Gruft zu begraben, wo nichts sich regte noch jemals sich regen würde. Und niemand würde es je erfahren. Als ich bei 15 000 Fuß angelangt war und immer noch weiter hinunterging, stellte ich fest, daß ein neuer Feind, der allergefährlichste, die Arena betreten hatte. Drei Meilen unter mir lag keine tintenschwarze See mehr, kein Perlenband blinkender Küstenlichter erstreckte sich vor mir.

So weit das Auge reichte, rechts und links, vor und zweifellos auch hinter mir, spiegelte sich das Mondlicht in einem flachen und endlosen weißen Meer. Vielleicht war es nur 100, 200 Fuß tief, aber das genügte. Es genügte, um mir völlig die Sicht zu rauben, genügte, mich zu töten. Der ostenglische Nebel war eingefallen. Während ich von Deutschland nach Westen flog, war eine leichte und von den Meteorologen nicht vorhergesehene Brise über der Nordsee aufgekommen und blies auf die Küste von Norfolk zu. Im Laufe des vergangenen Tages hatten Wind und Frost das flache offene Land Ostenglands hartgefroren. Am Abend hatte der Wind eine Zone relativ wärmerer Luft über der Nordsee in Bewegung gebracht und auf die Ebenen Ostenglands zugetrieben. Die Abermillionen winziger in der Seeluft enthaltener Feuchtigkeitspartikel waren bei der Berührung mit der eiskalten Erde kondensiert und hatten jenen berüchtigten Nebel gebildet, der innerhalb von 30 Minuten fünf Grafschaften auslöschen kann. Wie weit dieser Nebel sich nach Westen erstreckte, wußte ich nicht; bis zu den West Midlands war er vielleicht schon gekommen und schob sich nun an den Osthängen der Pennies hoch. Es kam nicht in Frage, diesen Nebel einfach in westlicher Richtung zu durchfliegen: ohne Navigationsinstrumente und ohne Funk würde ich über einer unbekannten und unvertrauten Landschaft verloren sein. Ebensowenig konnte ich versuchen, umzukehren und nach Holland zurückzufliegen, um auf einer der niederländischen Luftwaffenbasen an der Küste zu landen; dazu reichte der Treibstoff nicht aus. Da ich mich nur auf meine Augen verlassen mußte, würde ich entweder die Landung in Merriam St. George schaffen müssen oder irgendwo in den nebelverhangenen Mooren Norfolks unter den Trümmern der Vampire den Tod finden.

Bei 10 000 Fuß fing ich die Maschine ab und beschleunigte ein wenig, um mich auf dieser Höhe zu halten, was mich noch mehr von meinem kostbaren Sprit kostete. Und wiederum erinnerte ich mich an die Instruktionen, die uns Sergeant Morris ein für allemal eingehämmert hatte.»Wenn wir uns in einer geschlossenen Wolkendecke verflogen haben, Gentlemen, dann müssen wir uns mit dem Gedanken ans Aussteigen vertraut machen, klarer Fall, wie, Gentlemen?«Ganz klarer Fall, Sergeant. Unglücklicherweise läßt sich der Martin-BakerSchleudersitz nicht in die einsitzige Vampire einbauen, aus der man bekanntlich so gut wie gar nicht aussteigen kann. Die beiden einzigen, die die Prozedur überlebten, verloren dabei ihre Beine. Aber bei einem müßte es doch schließlich mal klappen.

Was sonst noch, Sergeant?» Als erstes nehmen wir daher mit unserer Maschine Kurs auf die offene See, weg von allen Landstrichen mit größerer Besiedlungsdichte. «Will heißen, weg von Städten, Sergeant. Die guten Leute da drunten zahlen für uns, damit wir für sie liegen, nicht damit wir ihnen ein kreischendes Ungeheuer aus zehn Tonnen Stahl auf die Köpfe fallen lassen, und das noch ausgerechnet zu Weihnachten. Dort drunten wimmelt es von Kindern, Schulen, Krankenhäusern und Wohnungen. Also ab mit uns in Richtung Meer. In den Notverhaltensinstruktionen ist alles bis ins kleinste dargelegt. Nicht erwähnt wird darin, daß die Chancen eines Piloten, der in einer Winternacht in seiner gelben Schwimmweste in der Nordsee herumplanscht, während ein beißend kalter Wind sein erfrorenes Gesicht peitscht, Eis sich auf seinen Lippen, Brauen und Ohren bildet und das Flugpersonal, das 300 Meilen von ihm entfernt im gutgeheizten Kasino heißen Punsch schlürft, von alledem keine Ahnung hat — daß die Chancen dieses Piloten, länger als eine Stunde am Leben zu bleiben, nicht einmal eins zu hundert stehen. In den Lehrfilmen wurden wir mit Bildern berieselt, auf denen glückstrahlende Schwimmer, die über Funk gemeldet hatten, daß sie aussteigen müßten, nach wenigen Minuten von Hubschraubern aufgefischt wurden, und das alles an einem strahlend schönen, warmen Sommertag.»Nun noch ein letztes Notverfahren, für den alleräußersten Fall. «Schon besser, Sergeant Morris, sogar genau das Richtige für mich.»Jedes Flugzeug, das sich den britischen Küsten nähert, erscheint auf den Radarschirmbildern unseres Frühwarnsystems. Wenn wir also mangels Funkgeräts keinen SOS-Ruf aussenden können, dann versuchen wir, durch ungewöhnliche Flugmanöver die Aufmerksamkeit unserer Radarüberwachung auf uns zu lenken. Das tun wir, indem wir Kurs auf die See nehmen und dann kleine Dreiecke fliegen, eine Linkskurve, noch eine und noch eine, wobei jeder Schenkel des Dreiecks einer Flugdauer von zwei Minuten entspricht. Damit dürfen wir hoffen, uns bemerkbar zu machen. Sobald wir geortet sind, ergeht die Meldung an den Flugverkehrsleiter, der einer anderen Maschine Anweisung erteilt, aufzusteigen und uns zu suchen. Diese andere Maschine hat natürlich ein Funkgerät.

Wenn das Rettungsflugzeug uns entdeckt hat, fliegen wir mit ihm im Verband, und es lotst uns hinunter durch die Wolken oder den Nebel zu einer sicheren Landung.«

Ja, das war der letzte Versuch, seine Haut zu retten. Jetzt fielen mir auch alle Einzelheiten wieder ein. Das Rettungsflugzeug, der Scout, brachte die verirrte Maschine, Flügelspitze an Flügelspitze, sicher zur Erde. Ich sah auf die Uhr: 51 Minuten Flugzeit, noch Sprit für 30 Minuten. Die Kraftstoffuhr zeigte ein Drittel voll. Da ich wußte, daß ich die Küste von Norfolk noch nicht erreicht hatte, zog ich die Vampire, immer in 10 000 Fuß Höhe, in eine Linkskurve und begann mit der ersten Seite des ersten Dreiecks. Nach zwei Minuten machte ich nochmals Linksum, wobei ich nur hoffen konnte, daß mir auch ohne Kompaß, nur mit dem Mond als ungefährem Anhalt, ein Winkel von 120 Grad gelungen sein möge. Unter und hinter mir erstreckte sich die Nebelbank, soweit ich sehen konnte, und vor mir, in Richtung Norfolk, war es nicht anders.

Zehn Minuten waren vergangen, fast zwei vollständige Dreiecke. Ich hatte seit Jahren nicht gebetet, nicht wirklich gebetet, und es kam mich hart an. Herrgott, bitte hol mich raus aus dieser Scheiße — nein, so redet man nicht mit Ihm.

Unser Vater, der du bist in dem Himmel — das hatte Er schon tausendmal gehört und würde es heute nacht weitere tausendmal zu hören kriegen. Was sagt man zu Ihm, wenn man Seine Hilfe braucht? Bitte, lieber Gott, mach, daß mich jemand hier oben entdeckt, bitte mach, daß jemand mich Dreiecke fliegen sieht und einen Scout schickt, der mich auf den rechten Weg zu einer sicheren Landung bringt. Bitte hilf mir, ich verspreche dir. Was konnte ich Ihm bloß versprechen? Er brauchte mich nicht, und ich, der Ihn jetzt so dringend brauchte, hatte so lange nicht von mir hören lassen, daß Er mich höchstwahrscheinlich gar nicht mehr kannte.

Als ich nach meiner Uhr 72 Minuten geflogen war, wußte ich, daß niemand kommen würde. Die Kompaßnadel tänzelte noch immer ziellos zwischen allen vier Kardinalpunkten umher, die übrigen elektrischen Instrumente waren tot, ihre Zeiger wiesen sämtlich auf Null. Mein Höhenmesser stand bei 7000 Fuß, also war ich beim Kurven 3000 Fuß tiefer geraten. Egal. Brennstoff zwischen Null und ein Viertel voll — sagen wir, noch zehn Minuten Flugzeit. Ich fühlte, wie die Raserei der Verzweiflung mich überkam. Ich fing an, in das tote Mikrophon zu brüllen. Ihr blöden Hunde, warum glotzt ihr nicht auf eure Radarschirmbilder? Warum sieht keiner, daß ich hier oben bin? Seid wohl alle so stockbesoffen, daß euch Hören und Sehen vergangen ist! Mein Gott, warum hört mich denn keiner? Als ich soweit gekommen war, hatte der Zorn sich verflüchtigt, und ich begann, wie ein kleines Kind zu flennen, aus reiner Hilflosigkeit. Fünf Minuten später wußte ich mit Bestimmtheit, daß ich in dieser Nacht sterben würde. Seltsamerweise fürchtete ich mich jetzt nicht einmal mehr. Ich war nur unendlich traurig. Traurig, weil ich so viele Orte niemals sehen, so vielen Menschen nie begegnen würde. Denn es ist schrecklich und traurig, mit zwanzig Jahren ein ungelebtes Leben beenden zu müssen, und das Schrecklichste dabei ist nicht das Sterben, sondern der Gedanke an all das, was man nicht mehr erleben wird. Durch die Plastikkuppel sah ich, daß der Mond schon kurz vor dem Untergehen war; er schwebte knapp über dem dicken weißen Nebel am Horizont. Noch zwei Minuten, und der Nachthimmel würde in völlige Finsternis getaucht sein, und nach ein paar weiteren Minuten würde ich mich aus der todgeweihten Maschine schleudern müssen, ehe sie zu ihrem letzten Sturzflug in die Nordsee ansetzte. Eine Stunde später würde auch ich tot sein, nur noch eine steifgefrorene Leiche, die in der leuchtend gelben Schwimmweste im Wasser trieb.

Ich ließ die Vampire über den linken Tragflügel abkippen und hielt auf den Mond zu, um die letzte Seite des letzten Dreiecks zu fliegen. Drunten, unterhalb der Flügelspitze, huschte ein schwarzer Schatten durch die Weiße über dem Mond. Eine Sekunde lang glaubte ich, es sei mein eigener Schatten, aber da ich den Mond vor mir hatte, mußte mein Schatten hinter mir sein. Nein, es war ein Flugzeug, das sich weiter unten vor die Nebelbank geschoben hatte und, während ich in die Kurve gegangen war, mit mir gleichzog, eine Meile unter mir auf die Nebelwand zuhielt. Um die unter mir fliegende Maschine im Blickfeld zu behalten, kreiste ich mit abwärts gekippter Tragfläche weiter. Auch das andere Flugzeug kreiste weiter, bis wir beide eine volle Runde gedreht hatten. Erst dann wurde mir klar, warum der andere sich so weit unter mir hielt, warum er nicht bis zu mir stieg und sich an meiner Flügelspitze ausrichtete. Er flog langsamer als ich, er könnte nicht Schritt halten, wenn er versuchen würde, neben mir herzufliegen. Ich wies den Gedanken von mir, es könne sich um ein xbeliebiges anderes Flugzeug handeln, das zufällig meine Route kreuzte und im nächsten Moment für immer in der Nebelbank verschwinden würde. Ich verlangsamte und fing an, auf den anderen zuzugleiten. Er drehte weiter seine Kreise; ich auch. Bei 5 000 Fuß wußte ich, daß ich noch immer zu schnell für ihn war.

Ich konnte kein Gas mehr wegnehmen, die Triebwerke waren ohnehin schon im Leerlauf. Um dennoch langsamer zu werden, fuhr ich die Bremsklappen aus. Die Vampire vibrierte, als die Klappen in den Luftschraubenstrahl ausschwangen und die Geschwindigkeit auf 280 Knoten drosselten.

Und dann stieg er auf mich zu, schwenkte neben meine linke Flügelspitze ein. Ich konnte seine schwarze Masse vor dem trübweißen Nebelgrund unterscheiden. Dann war er bei mir, nur 100 Fuß von meiner Tragfläche entfernt, und wir fingen unsere Maschinen gleichzeitig ab und gingen wieder auf Horizontalflug. Beide Flugzeuge schwankten, als wir versuchten, uns auszurichten. Der Mond war zu meiner Rechten, und mein eigener Schatten verdunkelte die Silhouette neben mir, aber ich konnte doch sehen, daß zwei Propeller durch die Luft wirbelten. Ganz klar, daß er nicht so schnell fliegen konnte wie ich. Ich saß in einem Düsenjäger, er in einem Flugzeug wesentlich älterer Bauart.

Ein paar Sekunden lang hielt er sich neben mir, halb unsichtbar in meinem Schatten, dann ließ er seine Maschine leicht nach links abkippen. Ich folgte jeder seiner Bewegungen, denn er war ganz offensichtlich der Scout, der mir zu Hilfe geschickt worden war, und er hatte Kompaß und Funk, ich nicht. Er beschrieb einen Halbkreis, dann nahm er wieder Geradeauskurs. Aus der Stellung des schwindenden Mondes entnahm ich, daß wir wieder auf die Küste von Norfolk zuhielten, und zum erstenmal konnte ich meinen Gefährten jetzt deutlich sehen. Zu meiner Überraschung war mein Scout eine