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Als Pieter van Brouken an jenem verhängnisvollen Freitag gegen 7 Uhr abends erwachte, wußte er absolut nicht, wo er sich befand.
Er fühlte sich frisch, von einer nie gekannten Elastizität beseelt, so, als sei er neugeboren, und als er jetzt erstaunt aufstand und sich mit noch größerem Staunen umblickte, straffte sich sein Körper und verlor die Weichheit, die das regelmäßige Leben in ihm ausgeprägt hatte.
Mit großen, unwissenden Augen sah er sich nach allen Seiten um und schüttelte den Kopf.
»Wo bin ich denn bloß?« fragte er sich leise und trat von der Bank weg auf die Straße. »Wie komme ich bloß in diese Stadt?«
Die versinkende Sonne zauberte lange Schatten über die Grachten. Noch war die Luft heiß, aber die einfallende Dämmerung trübte die Konturen und machte die Häuser stumpf und dumpf.
Pieter van Brouken sah sich wieder nach allen Seiten um, blickte auf die Menschen, auf die Nummernschilder der Autos, auf die Schriften und Plakate in den Läden und schüttelte den Kopf.
Ein fremdes Land, dachte er erschreckt. Wie komme ich in ein fremdes Land?
Er zog den Hut und erstarrte in Verwunderung. Was trug er da für einen unmöglichen Filz? Wo war denn sein weißer Panama? Er blickte an sich herunter, sah den biederen, grauen Kammgarnanzug und befühlte sich mit wachsender Erregung.
Wie kam er in die fremden Kleider? Was sollte das alles bedeuten? Wo war er denn überhaupt?!
Er griff in die Seitentasche, holte eine abgegriffene Brieftasche aus billigstem Schalleder heraus und starrte verwundert auf einen Paß, der in der Mappe lag.
»Pieter van Brouken«, las er stockend. »Amsterdam, Noorderstraat 5. - Blöd, ausgesprochen blöd!« Er betrachtete den Paß von allen Seiten und runzelte die Stirn. »Wie kommt dieser fremde Ausweis mit dem fremden Anzug in meinen Besitz? Himmelherrgott, wo war er denn überhaupt?!«
Er grüßte und sprach einen vorübergehenden Herrn an. Dieser sah ihn groß an, lächelte, zuckte mit den Schultern und antwortete ihm in einer fremden, hart klingenden Sprache.
Mit einer Entschuldigung wandte sich Pieter ab und fragte den nächsten. Dasselbe Schulterzucken, dieselbe fremde, harte Sprache ...
Eine ungeheure Unruhe durchtobte das Innere van Broukens.
Er war ja in einem völlig fremden Land, ausgesetzt, ohne Geld - wie er sofort feststellte -, in fremden Sachen mit einem fremden Paß!
Er rannte die Heerengracht hinab bis zum Parktheater und starrte auf die breiten Entrepot-Docks, die vor ihm lagen.
Überall Wasser, rief er sich zu, überall Kanäle, Brücken, Kähne, Häuser auf Pfählen, ein Dock, in der Ferne ein Hafen ... Wo bin ich denn?
Venedig? Nein, das sind keine Italiener, die dort über die Straßen gehen.
Kopenhagen? Schon eher möglich.
Amsterdam? Das stand ja in dem fremden Paß! Aber Amsterdam? Wie kam er, ohne es zu wissen, nach Amsterdam?
»Ich muß zum Konsulat!« sagte er laut und fühlte neuen Mut, als er seine eigene Stimme hörte. »Hier muß es doch ein Konsulat geben!«
Höflich sprach er den ersten Mann, der ihm entgegenkam, an und fragte ihn.
»Konsulat Portugal?« sagte er, darauf vertrauend, daß er verstanden würde.
Der Mann nickte und erklärte ihm in der fremden Sprache genau den Weg. Da er aber sah, daß der Fremde ihn nicht verstand, rief er eine Taxe herbei, nannte die Adresse und deutete an, der Fremde möge einsteigen.
Van Brouken bedankte sich höflich, stieg ein und hielt bald in einer Vorstadtstraße vor einer großen Villa, von deren Balkon die portugiesische Fahne wehte und das farbige Landeswappen glänzte.
Tief aufatmend stieg er aus, verständigte den Fahrer durch Zeichen, daß er warten solle, und klingelte stürmisch an der mit Glasmalerei verzierten Tür.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Tür öffnete und ein Herr, anscheinend ein Sekretär, heraustrat.
»Sie wünschen?« fragte er höflich und musterte erstaunt und kritisch den merkwürdigen späten Besucher.
»Ich muß sofort den Herrn Konsul sprechen!« rief van Brouken und trat einen Schritt näher. »Es ist dringend, äußerst dringend.«
Er wurde in eine Art Empfangsraum geleitet und gebeten, Platz zu nehmen. Erregt rannte er im Zimmer hin und her und trommelte an die Fensterscheiben, überflog hastig und ohne den Inhalt in sich aufzunehmen eine portugiesische Zeitung und rannte dann wieder von einer Ecke in die andere.
Endlich öffnete sich die Tür zum Nebenraum, und der Konsul bat ihn, einzutreten.
Don Manolda war ein großer, grauhaariger, schlanker Herr spanischer Abstammung, dem man die Würde des Edelmannes und die Kultur seines Hauses auf den ersten Blick ansah und dessen gepflegte Umgangsformen und halblaute, fast samtähnliche Stimme nie einer unbedachten Erregung fähig schien.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte er.
»Mein Name ist Fernando Albez«, sagte van Brouken mit fliegendem Atem. »Doktor Fernando Albez, Lissabon, wohnhaft in der Rua do Monte do Castello 12. Ich bin entführt worden in dieses für mich völlig fremde Land und bitte dringendst um Ihre Hilfe!«
Don Manolda starrte den Besucher an. Vielleicht zum erstenmal in seinem Leben war er aus der Fassung gebracht und wußte nicht sofort zu antworten.
»Entführt?« sagte er nach einer Pause leise. »Aus Lissabon nach Amsterdam entführt?«
»Aha! In Amsterdam befinde ich mich also!« Erregt warf van Brouken den Paß auf den Tisch und rannte wieder im Zimmer hin und her. »Da, diesen Paß fand ich in einer ekelhaft alten Brieftasche. Van Brouken, oder wie das ausgesprochen wird! Wer ist van Brouken?! Wie komme ich zu diesen Kleidern, zu diesem scheußlichen Hut? Ich trage Panamastroh und im Sommer einen weißen Rohseidenanzug - aber nicht solch grobes Zeug! Und kein Geld in der Tasche, nichts! Ich wache aus einem Schlaf auf - ich erinnere mich, daß ich mich vergangenen Sonntag auf einer Landpartie auf eine Wiese legte und einschlief- und wache hier in Amsterdam beraubt und entführt auf!«
Der Konsul setzte sich erstarrt in seinen Sessel und blickte van Brouken entsetzt an.
»Sonntag, sagten Sie? Heute ist Freitag! Sie haben 5 Tage geschlafen?«
»Man muß mich betäubt und dann dauernd im Schlafzustand gehalten haben.« Er setzte sich auch und nahm sich aus dem offen dastehenden Kasten eine Zigarette. Mit zitternden Fingern steckte er sie an. »Ich sehe an Ihrem Blick, Herr Konsul, daß Sie mir nicht glauben und mich für einen Schwindler halten.«
»Das liegt nahe, Senor«, antwortete Don Manolda ehrlich.
»Ich bin Dr. Fernando Albez, Dr. phil., Schriftsteller, 35 Jahre alt«, rief van Brouken. »Bitte erkundigen Sie sich per Blitztelegramm in Lissabon, ob ich dort wohne und ob ich nicht vermißt werde! Es muß sofort über diesen skandalösen Fall ein Protokoll aufgenommen werden! Aber ich sehe Ihnen an, Sie glauben mir nicht!« Van Brouken sank in den Stuhl zurück und bedeckte die Augen mit den Händen. »Mein Gott, wie soll ich Sie überzeugen«, sagte er erschüttert. »Ich weiß nicht, wie ich nach Amsterdam komme. Ich bin Fernando Albez ...«
Eine Zeitlang war es still in dem Raum. Dieser ungeheuerliche Fall warf selbst Don Manolda aus der Bahn des realen Denkens. Endlich, nach langem Schweigen, schüttelte er den Kopf.
»Toll«, sagte er halblaut mit seiner samtweichen Stimme. »Einfach toll! Das ist der verrückteste Kriminalreißer, den ich je gehört oder gelesen habe!«
»Aber wahr!« rief van Brouken und hieb auf den Tisch. »Blutige Wahrheit!« Er wollte in die Rocktasche greifen, um ein Taschentuch zu holen, da fühlte er einen harten Gegenstand, stutzte, holte ein kleines Paket hervor und wickelte das Papier auf. Ein kleines Gummitierchen, ein quietschender Affe, kam zum Vorschein. »Da - ein Affe!« schrie van Brouken wütend und warf das Spielzeug dem Konsul hin. »Ein quietschendes Gummitierchen ... quie, quie ... glauben Sie, daß ich Gummitierchen kaufe?! Ich habe einen fremden Anzug an, fremde Papiere - und ich weiß von nichts!«
Don Manolda nahm die Brieftasche an sich, leerte sie und studierte die Papiere.
»Sie sind Pieter van Brouken«, sagte er lächelnd. »Laut Paß natürlich. Übrigens sehen Sie dem Paßfoto sehr, sehr ähnlich!«
»Das ist ja die größte Schweinerei! Ich bin Fernando Albez und werde zu einem lächerlichen van Brouken gemacht! Was ist dieser Kerl eigentlich?!«
Manolda blätterte in den Papieren.
»Sparkassenbeamter.«
»Sparkassenbeamter!« Van Brouken brüllte. »Beamter! Ich und Beamter!!«
»Laut Gehaltsbescheinigung haben Sie diesen Monat eine Gehaltserhöhung von 35 Gulden bekommen. Sie müssen sogar ein fleißiger und guter Beamter sein.«
»Hören Sie auf, Konsul! Ich laufe noch Amok!!«
Manolda studierte noch weiter die Papiere und griff dann zum Telefon. Er ließ sich mit der Amsterdamer Sparkasse verbinden und sprach auf holländisch mit dem zuständigen Nachtportier. Er nickte ein paarmal lächelnd und legte den Hörer zurück. Jovial wandte er sich an den gespannt Wartenden.
»Senor Albez, eine kleine Sensation: einen
Sparkassenbeamten Pieter van Brouken, wohnhaft Noorderstraat 5, gibt es wirklich! Er ist mit einer Frau Antje verheiratet und hat einen 11/2 Jahre alten Sohn Fietje. Daher das
Gummitierchen!«
Van Brouken lachte gequält und fühlte sich plötzlich unbehaglich.
»Wahnsinn«, sagte er leise. »Kompletter Wahnsinn! Man müßte einmal diesen Pieter van Brouken benachrichtigen und fragen, wo er seinen Paß und sein Gummiäffchen hat.«
»Das werden wir auch tun«, antwortete der Konsul fest.
»Zunächst aber wollen wir ein Protokoll aufnehmen, damit ich über Lissabon alles Nötige einleiten kann. Und dann bitte ich Sie, bis zu Ihrer Rückreise in die Heimat mein Gast zu sein. Ihr einmaliger Fall interessiert mich persönlich.«
Van Brouken nahm dankend an und bat nur, den
Taxichauffeur zu entlohnen, da er selbst ja ausgeplündert sei.
Don Manolda ließ diesen Wunsch durch seinen Sekretär erfüllen und protokollierte dann die Aussage Dr. Fernando Albez' aus Lissabon, wohnhaft Rua do Monte do Castello 12.
Dann ließ er für den Gast ein Zimmer richten, wünschte ihm eine gute Nacht und versprach ihm, sofort alles zu unternehmen. Ein Diener brachte van Brouken auf sein Zimmer.
Kaum hatte er den Raum verlassen, meldete Don Manolda ein Blitzgespräch nach Lissabon an. Dann las er wieder das Protokoll durch, schüttelte den Kopf und war einen Augenblick versucht, in die Noorderstraat zu fahren, um sich nach Pieter van Brouken zu erkundigen. Doch eine unbestimmbare Scheu hielt ihn von diesem Vorhaben ab, eine innere Stimme, die ihm sagte, daß dieses Rätsel mehr in sich birgt als ein angeblich begangenes Verbrechen.
Bis spät in die Nacht hinein wartete er in seinem Zimmer.
Endlich kam das Gespräch mit Lissabon. Gespannt und leicht fiebernd nahm Don Manolda den Hörer ab. Sein Freund Prof. Ricardo Destilliano war am Apparat.
Und dann ließ er vor Erstaunen fast den Hörer fallen.
Einen Dr. Fernando Albez, Rua do Monte do Castello 12, gab es wirklich.
Nur - er war vor zwei Jahren an einem Herzschlag gestorben!
Pieter van Brouken oder - wie wir ihn von jetzt an nennen wollen - Dr. Fernando Albez schlief noch mit tiefen, regelmäßigen Atemzügen in seinem kleinen Zimmer, als unten in seinem Arbeitszimmer Konsul Don Manolda die Morgenzeitung durchlas, den Rundfunk abhörte und von beiden erfuhr, daß die Ölaktien der Columbia-Gesellschaft um 17% gefallen waren. Die Inflation in Deutschland und die Verringerung der Exportmärkte bewirkten einen Preissturz, der sich einmal zu einer Katastrophe auswachsen mußte.
Konsul Manolda war ein Geschäftsmann der >first classc. Aufgewachsen in einem adeligen Hause voller Grandezza und uralter Tradition, wehte ihn der Wind einer gesellschaftlichen Neuordnung in das Büro einer portugiesischen Reederei, die er mit Unterstützung seiner einflußreichen und hochadeligen Verwandten schnell wieder verließ und sich zunächst in Lissabon, dann in Barcelona und zuletzt in Amsterdam als Großkaufmann und Exportvermittler niederließ.
Was er en gros handelte und welche Exporte er vermittelte, war nie so richtig klargeworden. Jedenfalls besaß er von Hause aus ein großes Vermögen, kaufte sich in Amsterdam eine Villa, hatte nichts dagegen, als man ihn zum Konsul seines Landes bestimmte, fuhr vierteljährlich nach einem bestimmten Plan nach Den Haag zur Besprechung mit dem Gesandten und lebte im allgemeinen das Dasein eines reichen, biederen Bürgers mit Stammloge im Opernhaus und jährlichen Stiftungen für das Amsterdamer Waisenhaus.
Die Tätigkeit eines Konsuls ist mehr oder weniger ehrenamtlich. Neben Portoauslagen und einer kleinen Aufwandsentschädigung ist es lediglich eine Repräsentation der eigenen Person für das Heimatland und verpflichtet einen ausgewogenen und der Öffentlichkeit gegenüber mustergültigen Lebensstandard. Das wäre alles gut gegangen, wenn Don Manolda nicht die Hälfte seines Vermögens in verzwickte Aktienspekulationen gesteckt hätte, die nach einiger Zeit reihenweise platzten und den Edelmann in eine pekuniär gefahrvolle Situation brachten.
Da erinnerte sich Manolda seines alten Freundes Prof. Destilliano in Lissabon. Man traf sich in Marseille, unterhielt sich angeregt und fuhr nach zwei Tagen mit der Gewißheit ab, auf Lebenszeit untrennbar miteinander verbunden zu sein.
Von diesem Tage an begannen sich die Finanzen Konsul Manoldas sichtlich zu bessern, nur wurde das Exportgeschäft jetzt vom Land auf die See verlegt, und Manolda war öfters unterwegs, um an einigen nicht bekannten Lagerplätzen nach dem Rechten zu sehen.
Das alles war ganz normal und zutiefst verständlich.
Nicht normal und durchaus nicht verständlich war dagegen die Tatsache, daß beim Amsterdamer Rauschgiftdezernat der Kriminalpolizei die Kurve auf der Tabelle rapid in die Höhe ging und die illegale Einfuhr von Kokain, Opium und Morphium zu einer der ernstesten Sorgen der Staatspolizei gehörte. Die Erkrankungen gingen in Amsterdam schon in die Hunderte, und noch immer flossen durch geheime Kanäle Ströme von Rauschgift nach Amsterdam und ganz Holland.
Konsul Don Manolda, im Rat der Großkaufleute eine gewichtige Stimme, wetterte jeden Sonntag auf dieses Höllenpack und verlangte die schärfste Abwehr - doch unaufhaltsam wurde das Rauschgift ausgestreut zum Hohne der machtlos im dunkeln tappenden Behörden.
Konsul Don Manolda legte die Zeitung hin und blickte an die Decke.
Er rechnete.
Der Fall der Ölaktien bedeutete für ihn einen Verlust von fast 20000 Gulden - eine Riesensumme, wenn man sie in argentinische Währung umrechnete, denn seine argentinische Bank hatte das Geschäft für ihn vermittelt. Der Verlust mußte irgendwie aus dem Exportgeschäft gedeckt werden, wenn nicht die Arbeit langer, schwerer und gefahrvoller Jahre umsonst sein sollte. Als er gestern abend wegen dieses verrückten Pieter van Brouken mit seinem Freunde Destilliano telefonierte, hatte er bereits in einer dunklen Vorahnung so etwas angedeutet. Und Prof. Destilliano hatte zugesagt, sofort auf dem Luftwege nach Amsterdam zu kommen, um die Notlage abzuwenden und gleichzeitig den merkwürdigen, vor zwei Jahren gestorbenen Dr. Fernando Albez zu betrachten und zu sprechen.
Das alles beruhigte Don Manolda ein wenig. Doch in seinem Innern wühlte eine Unruhe, eine Ungewißheit, die ihn ein bißchen unsicher machte. Das Auftauchen eines gestorbenen
Landsmannes - oder war es auch nur ein holländischer Schwindler - war weniger beunruhigend als die Angabe seiner angeblichen Lissaboner Wohnung. Denn mit dem Hause Rua do Monte do Castello hatte es eine besondere Bewandtnis, die zu den verschwiegensten Geschäftsgeheimnissen Don Manoldas und Prof. Destillianos gehörten.
Der fremde Gast mit dem Paß Pieter van Brouken wurde dem Konsul unheimlich.
Was wußte er von der Rua do Monte do Castello?
Lief das Ganze vielleicht auf eine nette Erpressung hinaus?
Es war höchste Zeit, daß Destilliano nach Amsterdam kam. Auf jeden Fall wurde der Bursche so lange im Hause festgehalten, bis seine Absichten klar und alle Maßnahmen getroffen waren.
Ganz gleich, ob Fernando Albez oder Pieter van Brouken -
das Haus durfte er nicht mehr verlassen!
Don Manolda erhob sich und läutete dem Sekretär.
»Sollte Herr Doktor Albez schon aufgestanden sein, so bitten Sie ihn zu mir«, sagte er im alten geschäftlichfreundlichen Ton. »Ich hätte ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.«
Der Sekretär verbeugte sich und eilte aus dem Zimmer. Nach einigen Minuten kam er mit Pieter van Brouken zurück und schloß hinter ihm diskret die Tür.
»Nachricht aus Lissabon?« fragte Dr. Albez und setzte sich in den angebotenen Sessel. »Übrigens guten Morgen, Senor Konsul.«
Manolda nickte und bot ihm eine Zigarette an.
»Bitte, greifen Sie zu. - Sie tippten richtig. Nachricht aus
Lissabon. Mit dem Flugzeug ist eine Persönlichkeit nach hier unterwegs, um Sie eigenhändig - wie man sagt - zu identifizieren.«
Jetzt muß er zusammenklappen, dachte Manolda. Wenn er ein
Schwindler ist, muß das sein Ende sein. Gespannt betrachtete er van Brouken und erwartete ein panisches Erschrecken.
Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil!
Dr. Albez lehnte sich tief aufatmend zurück und brannte sich mit ruhigen Fingern die Zigarette an.
Er lächelte zufrieden.
»Endlich«, sagte er. »Dann wird sich ja alles aufklären!«
»Sicherlich«, nickte Manolda.
»Und wer ist die Persönlichkeit?«
Der Konsul zögerte einen Augenblick. Dann sagte er schnell:
»Professor Ricardo Destilliano!«
»Ah!« Dr. Albez blickte interessiert auf. »Mein Nachbar? Der alte Mediziner! Einen besseren Zeugen konnten Sie gar nicht finden!«
Manolda kroch ein kribbelndes Unbehagen über den Rücken. Der Mensch wurde nicht nur unheimlich, er wurde sichtlich gefährlich. Daß Tote, die nicht tot sind, wieder auftauchen, kam schon öfter vor - doch wenn Destilliano sagte, Dr. Albez sei vor zwei Jahren gestorben, so stimmte dies ohne Vorbehalte.
Ein ganz gerissener Bursche ist das, dachte Manolda knirschend. Aber nach außen hin behielt er die guten Manieren bei und sprach weiter mit seiner samtigen Stimme.
»Ich glaube auch, daß wir morgen oder übermorgen klarer sehen«, meinte er zweideutig. »Bis dahin bitte ich Sie, weiterhin mein Gast zu sein.«
Dr. Albez nickte lächelnd.
»Das werde ich wohl müssen - wo sollte ich auch hin ohne ein bißchen Geld?« antwortete er sarkastisch. »Aber Sie sollen, wenn ich erst wieder in Lissabon bin, über meine ehrliche Dankbarkeit nicht zu klagen haben.«
Satan, dachte Manolda, deine Glattheit ist mir zu glatt, um
echt zu sein. Laut erwiderte er in freundlichem Ton:
»Aber ich bitte Sie, Doktor Albez! Ihr Fall ist so einmalig, daß es mir eine persönliche Freude ist, Sie zu bewirten. Wenn Sie besondere Wünsche haben - ich will bemüht sein, sie zu erfüllen.«
Dr. Albez blickte an sich herunter und befühlte den Stoff seines Anzuges.
»Wünsche? Lieber Konsul - tausend! Zunächst möchte ich diesen schrecklichen Anzug vom Leibe haben. Und andere Wünsche - na, etwas neue Wäsche ... und sehen Sie sich bloß diese Schuhe an!«
Lump, dachte Manolda, aber er lächelte. Fängt die Erpressung schon an? Machst es raffiniert, Bursche! Zuerst das Äußere, dann das Innere. Kleidest dich auf meine Kosten ein und schwirrst dann ab! Aber deine neuen Anzüge ist unsere Sache schon wert, da tippst du richtig!
»Ich werde sofort einige passende Anzüge und Herrenartikel bestellen«, sagte er laut. »Ich hoffe, daß Sie zufrieden sein werden.«
Dr. Albez wiegte den Kopf und verzog kritisch die Mundwinkel.
»In der Garderobe bin ich äußerst wählerisch. Es ist am besten, ich suche mir die Anzüge selber aus. Selbstverständlich sollen Sie keinen Verlust erleiden, ich zahle Ihnen das Geld sofort von Lissabon zurück.« Er lächelte säuerlich. »Ich muß Sie leider um einen kurzfristigen Kredit angehen.«
Aha! dachte Manolda, so stehen die Dinge. Bargeld und dann ab in die Dunkelheit! Nein, mein Sohn, du kommst nicht aus dem Haus, bis Destilliano dich beschnüffelt hat. Deine Eile ist auffallend!
»Ich möchte Ihnen nicht raten«, sagte der Konsul verbindlich, »das Haus jetzt schon zu verlassen. Die widrigen Umstände, die
Sie ungewollt nach Amsterdam brachten, bergen noch unbekannte Gefahren. Sie werden Verständnis haben, daß ich als Konsul Ihres und meines Landes, unter dessen Schutz Sie jetzt stehen, nicht zulassen kann, Sie diesen Gefahren auszusetzen. Vertrauen Sie auf die vorzügliche Modekenntnis meines Sekretärs.«
Dr. Albez schien einen Augenblick zu schwanken. Dann sah er die Argumente des Konsuls als berechtigt an und willigte ein.
»Und wann endet mein Stubenarrest?« fragte er scherzend.
»Sobald Professor Destilliano Sie identifiziert hat. Ich habe mit ihm telefonisch ausgemacht, daß er dann für Sie bürgt und Sie gleich mit zurück nach Lissabon nimmt.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Dr. Albez gerührt. Er stand auf und drückte dem verdutzten Manolda die Hand. »Ich werde in Lissabons Presse sehr lobend über Sie berichten.«
Der Konsul erbleichte leicht und erwiderte schlaff den Händedruck. Du abgefeimter Schurke, dachte er, du Satan, du Kanaille! Ich hätte große Lust, dir auf deinem Zimmer die Kehle zuzudrücken und dich dann in einer der Grachten verschwinden zu lassen. Nach außen aber lächelte er wieder und war der rührendste Gastgeber.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« fragte er freundlich.
»Ein paar Bücher«, bat Dr. Albez. »Ich möchte Ihnen nicht lästig fallen und auf meinem Zimmer bleiben. Gegen die Langeweile und das Warten sind Bücher die beste Medizin.«
Manolda nickte. »Ich habe einige vorzügliche Werke im Haus. Welche Richtung bevorzugen Sie? Kriminalistik? Jura?«
Dr. Albez winkte erschreckt ab.
»Bloß nichts Schweres! Einen guten Familienroman, vielleicht auch eine schmissige Unterhaltung. Am liebsten etwas aus dem Leben eines Arztes, das lese ich besonders gern.«
Manolda dachte an Prof. Destilliano und biß sich auf die Lippen. Du Aas, dachte er. Deine spitzen Giftpfeile zahle ich dir noch heim!
»Ich lasse Ihnen eine Auswahl gleich hinaufreichen«, antwortete er voller Liebenswürdigkeit und begleitete Dr. Albez bis zur Zimmertür. »Der Raum ist zwar klein, aber ich glaube, er ist gemütlich.«
»O ja«, erwiderte Dr. Albez und trat in sein Zimmer. »Und lassen Sie sich, bester Konsul, durch meine Anwesenheit nicht abhalten.«
»Keinesfalls, nicht im geringsten«, versicherte der Konsul und schloß die Tür.
Nach einiger Zeit, in der Dr. Albez in einer älteren portugiesischen Zeitung las; war es ihm, als habe sich draußen in der Tür ein Schlüssel zweimal gedreht. Er machte sich aber nicht die Mühe, nachzusehen, ob er eingeschlossen war.
Was bedeutete das schon alles.
Er wollte sein Recht.
Er wollte zurück nach Portugal! Nach Lissabon! Zur Rua do Monte do Castello 12.
Angezogen legte er sich aufs Bett und setzte die Lektüre der Zeitung fort.
Nach ungefähr einer Stunde hörte er, wie unten im Hof ein Auto angelassen wurde.
Konsul Don Manolda fuhr zum Amsterdamer Flugplatz. Prof. Destilliano war soeben gelandet.
Der Professor, ein 60jähriger, mittelgroßer, gepflegter Mann mit einem leicht zerknitterten Gelehrtengesicht, verzichtete zunächst darauf, den geheimnisvollen Dr. Albez persönlich zu sehen, sondern ließ sich von Konsul Don Manolda den Fall in allen Einzelheiten berichten.
Er saß in einem hohen Lehnsessel in der Bibliothek der Villa und blickte bei der Erzählung seines Freundes unverwandt auf seine schmalen, weißen Arzthände. Ohne zu unterbrechen nahm er den Bericht entgegen und blickte dann mit einem leichten Kopfschütteln auf.
»Die Sache ist mehr als rätselhaft«, sagte er mit einer tiefen Stimme, die kraß von den weißen Haaren abstach und gar nicht zu seiner ganzen Erscheinung paßte. »Sie ist geradezu mystisch! Ich habe seinerzeit Doktor Fernando Albez behandelt.«
»Was?!« Manolda starrte Destilliano an.
»Ja. Akute angina pectoris. Organische Verengung der Herzkranzarterien. Ich gab ihm nur noch 2 Jahre, und wie du weißt, starb er auch nach 1 1/2 Jahren im Jahre 1921 an Herzschlag auf einer Wiese bei einem Ausflug. Ich habe selbst die Todesursache festgestellt, den Totenschein ausgeschrieben und war bei seinem Begräbnis dabei.«
»Also ein ganz plumper Schwindel, was dieser Kerl da oben mit uns treibt!« rief der Konsul erregt. »Paß auf, es läuft auf eine Erpressung hinaus!«
Prof. Destilliano wiegte den Kopf und schien nicht ganz von der Ansicht seines Freundes überzeugt.
»Eine Erpressung ist nur möglich, wenn er etwas weiß. Ist das der Fall, so braucht er nicht in den toten Albez zu kriechen, das kann er dann auch als Pieter van Brouken machen. Ich sehe in dem allen keine Logik.«
»Er kennt die Rua do Monte do Castello 12!« entgegnete Manolda etwas unsicher.
»Muß er ja«, nickte Destilliano. »In dem Hause wohnte Doktor Albez bis zu seinem Tode. Damit ist noch nicht gesagt, daß er weiß, was es jetzt enthält!«
»Aber ein Mensch nimmt doch nicht den Namen eines Toten an, wenn er keine Gründe hat!« rief der Konsul. »Das macht nur ein Verrückter!«
»Unterstellen wir, der Mann sei verrückt - was dann?«
»Dazu ist er zu vernünftig! Du müßtest ihn sehen und sprechen - so benimmt sich kein Irrsinniger!«
Prof. Destilliano dachte einen Moment nach. Seine Augen unter den buschigen, grauen Augenbrauen waren zusammengekniffen.
»Wer ist eigentlich dieser Pieter van Brouken, von dem er den Paß hat?« fragte er langsam.
»Ein kleiner Sparkassenbeamter. Unbescholten, korrekt, ehrlich, ein Familienvater, der Gummiäffchen kauft -ausgesprochener Alltagstyp. Eines Verbrechens, das ein Verbergen unter anderen Namen nötig macht, ist er nicht fähig. Und über allen Rätseln: Woher soll ein kleiner holländischer Sparkassenbeamter perfekt und völlig ohne Akzent Portugiesisch können?«
Destilliano mußte diese letzte Frage als großes Rätsel vollauf anerkennen. Ein portugiesischsprechender kleiner Beamter ist mehr als auffällig. Die Sache begann, auch ihn in einen Bann zu schlagen und prickelnd interessant zu werden.
»Eines ist klar«, sagte er fest. »Doktor Fernando Albez ist er nicht! Pieter van Brouken ist er vielleicht auch nicht. Er müßte also ein Dritter sein, der sich durch diesen im ganzen raffinierten Trick aus dem Staube machen will. - Es wäre gut, sich einmal mit dem richtigen Pieter van Brouken in Verbindung zu setzen. Hat er Telefon?«
»Ich weiß nicht.«
Konsul Don Manolda nahm ein Telefonbuch zur Hand und blätterte darin suchend herum. Endlich blickte er auf und schüttelte den Kopf.
»Telefon hat er nicht«, sagte er.
»Vielleicht jemand im Hause?« bestand Destilliano hartnäckig.
Manolda ging das Straßenverzeichnis durch und legte seinen Zeigefinger auf eine Ziffer.
»Hier! Noorderstraat 5. Wilhelmine Baarehns. Witwe. 1779.«
Destilliano nickte. Eine jugendliche Spannung straffte seinen Körper.
»Rufen wir einmal an und fragen, ob Mijnheer van Brouken nicht seinen Paß vermißt.«
Manolda drehte die Nummer und wartete. Eine Frauenstimme meldete sich, und er bat, Herrn van Brouken an den Apparat zu rufen. Dann aber setzte er sich erschreckt hin, starrte den Professor entgeistert an, stammelte eine Entschuldigung und hängte ein.
»Ricardo«, stammelte er, als könne er das Gehörte nicht begreifen. »Ich werde verrückt: Pieter van Brouken ist seit gestern abend 5 Uhr spurlos verschwunden.«
Destilliano fuhr empor, als hätte er sich auf eine Nadel gesetzt.
»Was?!« rief er. »Verschwunden?! Und wann kam dieser Doktor Albez zu dir?«
»Gestern abend um 7 Uhr.«
»Doktor Albez ist also Pieter van Brouken!«
»Ja.«
»Und kann als kleiner Beamter perfekt Portugiesisch sprechen!«
»Ja. Und kennt die Rua do Monte do Castello 12!«
»Jetzt ist das Rätsel vollkommen!« Destilliano setzte sich schwer und starrte Manolda an. »Jetzt wird die Sache doch ein wenig unheimlich.«
Der Konsul trocknete mit einem Taschentuch seinen plötzlich ausbrechenden Schweiß von der Stirn und zuckte hilflos die Schultern.
»Was soll man da machen?« fragte er völlig ratlos. »Soll ich diesen Burschen der Polizei ausliefern?«
Destilliano hob schnell die Hand und schüttelte energisch den Kopf.
»Das wäre das Dümmste von allem! Angenommen, dieser Pieter van Brouken weiß wirklich etwas von uns, dann sind wir erledigt, wenn wir ihn ausliefern. Mir ist es bloß unverständlich, woher er etwas wissen will! Auf jeden Fall müssen wir diese Komödie mitmachen, bis sich die Gelegenheit findet, ihm den Mund zu stopfen.«
»Du willst dich von ihm erpressen lassen?« fragte Manolda erstaunt.
Destilliano lachte leise und wählte aus einem Eidechsleder-Etui eine goldhelle Zigarre, die er umständlich abschnitt und anrauchte.
»Wo denkst du hin«, sagte er dann. »Wenn mir der Bursche gefällt, nehme ich ihn mit nach Lissabon. Da er ja sowieso als vermißt gemeldet ist, fällt das nicht weiter auf. Wird er mir in Lissabon zu unbequem, verfrachte ich ihn auf unsere Außenstelle nach Las Palmas, und gibt er dort keine Ruhe« - er paffte eine dicke Wolke künstlerisch zur Decke -, »dann haben wir noch andere Mittel. Übrigens - man hat bei Las Palmas und Teneriffa neuerdings Haie gesichtet ...«
Eine leichte Gänsehaut zog sich für einen Augenblick über den Rücken des Konsuls. Die unheimliche Sicherheit seines Freundes erzeugte in ihm wieder einen Schauer von Grauen. Das ist nun einer der geehrtesten Gelehrten und Ärzte Portugals, dachte er bebend, und keiner weiß, daß hinter seinem Namen der vielfache, weiße, schreckliche Tod steht: Kokain, Opium, Morphium ...
»Es ist am besten, du siehst dir diesen sauberen Vogel einmal an«, sagte er laut. »Ich werde ihn holen lassen.«
Doch Destilliano winkte ab und lehnte sich behaglich zurück.
»Das hat Zeit«, meinte er. »Ich möchte mir den schönen Tag nicht verderben lassen. So ein Flug mit etlichen Zwischenlandungen ist nicht gerade ein Vergnügen. Heben wir uns die nette Aussprache für morgen auf. Außerdem glaube ich, daß wir zwei Wichtiges zu besprechen haben. Deine Ölaktien machen mir ernstlich Sorgen. Und in die Oper möchte ich heute abend auch. Ich habe auf dem Flugplatz gesehen - man spielt den >Troubadour<.«
Manolda nickte und stellte seinem Freund eine Flasche Kognak hin. Dann rief er den Sekretär und trug ihm auf, für den heutigen Abend seine Loge herzurichten. Dann holte er noch zwei gute Flaschen Rheinwein aus dem Keller und gab sich dann alle Mühe, Pieter van Brouken für einige Stunden zu vergessen und sich mit Eifer an den geschäftlichen Plänen Prof. Destillianos zu beteiligen. Es ging um die Rettung seines Vermögens und um die Ausdehnung des >Exportes< nach Deutschland, das sich in spätestens einem Jahr von der Inflation erholt haben mußte. Auch lockte der brachliegende belgische Markt, für den Destilliano Antwerpen als >Einfuhr-Hafen< vorschlug.
Gewaltsam riß sich Don Manolda von seinen Gedanken um Pieter van Brouken los und verfolgte die Rede seines Freundes.
Doch er wurde eine innere Unruhe nicht los, die ihn bedrückte und unsicher machte.
Und im Hintergrund aller Gedanken wühlte immer die eine, rätselhafte Frage:
Wie kommt Pieter van Brouken zu dem Namen Dr. Albez?!
Erregt donnerte am nächsten Morgen Konsul Don Manolda an die Zimmertür seines Freundes.
Es dauerte eine geraume Zeit, bis sich Prof. Destilliano erhob und im Nachthemd öffnete. Erstaunt steckte er den Kopf durch einen Spalt der Tür. Aber Manolda drückte sie ganz auf, stürmte ins Zimmer und warf einen Packen Morgenzeitungen auf das
Bett.
Dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Da, lies das!« rief er erregt. »Alle Zeitungen sind voll! Im Rundfunk geben sie es dauernd durch, überall hängen große Steckbriefe: Pieter van Brouken verschwunden! Und dann das Bild - da« - er wies auf eine Zeitung -, »genau das Gesicht unseres rätselhaften neuen Doktors Albez!«
Destilliano, den diese Nachricht nicht aus der Ruhe brachte, betrachtete die Fotografie und legte dann die Zeitung hin.
»Gar keine Ähnlichkeit mit dem richtigen, verstorbenen Doktor Albez«, meinte er bedachtsam. »Wenn das dein Mann ist, so ist er gewiß der vermißte Pieter van Brouken.«
»Aber er spricht Portugiesisch!«
Gegen dieses scharfe Argument kam selbst der Professor nicht auf. Nachdenklich betrachtete er nochmals das Bild van Broukens und wühlte mit einer Hand in seinen dichten, weißen Haaren.
»Es ist möglich, daß dieser van Brouken ein Doppelleben führte. Wie lange ist er denn bei der Sparkasse?«
»In der Zeitung steht: 7 Jahre!«
»Und wie alt ist er?«
»35 Jahre.«
»Hm. Dann kam er mit 28 Jahren an die Sparkasse.« Destilliano sah auf. »Und was machte er vorher?«
»Das ist unbekannt - wenigstens mir«, gestand der Konsul. »Du meinst, er könnte vorher in Portugal gewesen sein?«
»Zu erwägen ist alles«, nickte Destilliano. »Ich fände sonst keine Erklärung für seine Sprach- und Ortskenntnisse. Auf jeden Fall sehe ich mir den Burschen jetzt einmal an.«
Schnell wusch er sich und kleidete sich an und ging dann mit
Manolda in die Bibliothek. Dem herbeigerufenen Sekretär trug der Konsul auf, Dr. Albez herunterzubitten.
Es dauerte nicht lange, so klopfte es, und der geheimnisvolle Fremde trat mit großen Schritten ein. Prof. Destilliano, der sich hinter die Tür gesetzt hatte, konnte er deshalb nicht sehen, sondern er eilte sofort auf Don Manolda zu und schien sehr aufgeregt zu sein.
»Senor Konsul«, rief er aufgebracht. »Was soll das bedeuten?! Ich verlange eine Erklärung! Man schließt mich ein, als sei ich ein Verbrecher, verpflegt mich durch einen Speiseaufzug und kümmert sich fast 24 Stunden nicht um mich! Ich bin als Akademiker eine solche Behandlung nicht gewöhnt!«
Schon bei den ersten Worten war Prof. Destilliano zusammengezuckt und starrte entgeistert den Rücken des Fremden an. Diese Stimme, dieser Tonfall, dieses vorzügliche, geschliffene Portugiesisch, diese Haltung der Gestalt und die Bewegung der Hände alles kannte er, hatte er jahrelang beobachtet und gehört ... alles war genau wie bei dem seit zwei Jahren toten Dr. Albez.
Der Professor wischte sich mit der Hand über die Augen, als wolle er eine Vision vertreiben. Doch das Bild blieb, und die unverkennbar zu Dr. Albez gehörende Stimme sprach weiter.
»Sie haben mich unter dem Vorwand zurückgehalten, daß Sie meinen alten Bekannten Professor Doktor Ricardo Destilliano als Zeugen herbitten.« Destilliano durchfuhr es wie ein elektrischer Schlag. Bebend vor Erregung stand er auf und machte dem Konsul aufgeregte Zeichen. »Er sollte mit dem Flugzeug kommen! Meine Geduld ist nun zu Ende, ich bin ausgeplündert und entführt worden und will nun endlich nach Lissabon zurück. - Wo ist Professor Destilliano?«
»Hier!«
Ehe Manolda antworten konnte, hatte es der Professor gerufen und trat einen Schritt näher.
Auf dem Absatz wirbelnd drehte sich Dr. Albez herum. Ein kurzer Blick - und ein Leuchten ging über sein Gesicht. Mit ausgestreckten Händen eilte er auf den Gelehrten zu und ergriff dessen schlaff herabhängende Hände.
»Mein lieber Professor!« rief Dr. Albez in heller Freude. »Endlich sind Sie da! Bitte, helfen Sie mir! Man scheint mir hier nicht zu glauben!«
Destilliano blinzelte, rang nach Fassung und suchte nach Worten. Was er sah, war ein völlig fremdes Gesicht mit der Stimme Dr. Albez', ein Gesicht, das in der Zeitung stand und einem Pieter van Brouken gehörte. Der vor zwei Jahren gestorbene Dr. Albez hatte schwarze Locken und eine kühne Hakennase - dies hier war das blasse Gesicht eines Beamten und das fahle Haar eines typischen kleinen Mannes.
Aber diese ungeheuer bekannte Stimme, dieser leicht näselnde Tonfall, dieses wunderbar artikulierte Portugiesisch, diese vertrauten Bewegungen ...
Prof. Destilliano schluckte erregt und starrte den Fremden an.
»Mein lieber Doktor Albez«, stotterte er, während Manolda die Augen weit aufriß, sich an die Stirn faßte und in den Schreibtischsessel fallen ließ. »Wie kommen Sie denn nach Amsterdam?!«
Dr. Albez, glücklich, endlich erkannt worden zu sein, sprudelte sein einmaliges Erlebnis heraus und brachte damit den Professor völlig aus der Fassung.
»Auf einer Bank, denken Sie sich, auf einer Bank an einer Wasserstraße finde ich mich wieder!« rief Dr. Albez leidenschaftlich. »In fremden Sachen, mit falschem Paß und einem Gummiäffchen in der Rocktasche! Eine Geschichte, wie sie typischer, amerikanischer in keinem Wild-West-Reißer zu lesen wäre. Und ich habe keine Ahnung. Ich lege mich vergangenen Sonntag auf eine Wiese und schlafe ein. Und ich wache auf in Amsterdam!«
Destilliano lief es eiskalt über den Rücken. Er fror förmlich und kroch vor Entsetzen in sich zusammen.
Auf einer Wiese starb vor zwei Jahren Dr. Albez. Während er einen Sonntagsbummel machte, traf ihn ein Herzschlag.
Unfähig, eine Antwort zu geben, sank Destilliano auf seinen Stuhl zurück und starrte mit weit aufgerissenen Augen den Fremden an.
Ein Schwindler, schrie es in ihm. Ein genialer Schwindler? Oder ein Phantom? Oder bin ich irrsinnig? Aber Manolda starrt mich ja auch an - er müßte demnach auch wahnsinnig sein?! - Er hat die gleiche Stimme ... ach was, es ist die Stimme von Dr. Albez ... und die Bewegungen hat er auch ... und er kennt mich, das ist das Grauenhafteste ... er kennt mich!!
Plötzlich schoß ein Gedanke durch das langsam wieder klar werdende Gehirn Destillianos. Der Arzt wurde in ihm wach, der berühmte Arzt von Lissabon, und als er den plötzlichen Gedanken weiterspann, atmete er tief, wie erlöst, auf und fühlte sich auf einmal von dem Bann dieses fremden Menschen befreit.
Das muß es sein, sagte er sich. Es gibt nur eine Lösung ... so selten, so verwirrend, so geheimnisvoll für alle Wissenschaft sie auch ist ... es kann nur eins sein, was in hundert Jahren bei zig Milliarden Menschen nur ein- bis zweimal vorkommt.
Der Wissenschaftler in ihm begann zu arbeiten. Der rätselhafte Fall begann für ihn seine Maske zu verlieren. Klar und überdeutlich schälte sich aus dem Nebel des Unbegreiflichen die erschreckende Wahrheit.
Um eine Probe auf seine plötzliche Erkenntnis zu machen, stand er freudig auf und klopfte dem Fremden auf die Schulter.
»Mein lieber Doktor Albez«, rief er. »Ihre unfreiwillige Reise hat ja nun bald ein Ende. Nächste Woche fliegen wir nach Lissabon zurück, und dann setzen Sie sich hin und schreiben darüber einen wilden Roman. - Wie hieß doch noch Ihr letztes Buch?«
Dr. Albez lächelte ein wenig strafend.
»Aber lieber Professor. Ich habe Ihnen doch einen Band geschenkt. >Nächte über Alcantara< hieß es.«
Destilliano nickte, als besänne er sich. Natürlich wußte er, wie das letzte Buch Dr. Albez' hieß, und die richtige Antwort bestätigte nur noch mehr seine phantastischen Gedanken.
Konsul Manolda, der nicht wußte, was das alles bedeuten sollte, hockte in seinem Sessel und sah der Unterhaltung mit reichlich dummen Augen zu.
»Ich hatte Sie vergangenen Sonntag eigentlich als Gast erwartet«, führte Destilliano das Gespräch fort. »Aber Sie zogen Ihre Wiese meinem Kaffeetisch vor.«
Dr. Albez wehrte lächelnd ab.
»Aber nein! Am Vormittag besuchte ich erst die Basilica de Santa Maria und die herrliche alte gotische Kirche do Carmo. Ich brauche nämlich einen Kirchenhintergrund für mein neues Buch und konnte mich nicht entschließen. Schließlich verfiel ich auf die wundervolle Marmorkirche S. Roque und bummelte dann über den Chiado und den Terreiro do Paco, traf in einem Cafe in der Rua da Prata einen Bekannten und ließ mich zum Mittagessen einladen. Wie es so kommt - man kann nicht gleich wieder gehen, sondern muß noch ein Stündchen bleiben. Darauf zog ich dann durch die Wiesen heim, wollte zu Ihnen - aber das Essen war so gut gewesen, und ich legte mich in das Gras und hielt ein kurzes Mittagsschläfchen. Aufgewacht bin ich dann hier in Amsterdam!«
Professor Destilliano nickte ein paarmal. Die Erzählung stimmte mit den Tatsachen überein, die vor zwei Jahren geschehen waren. Nur das letzte stimmte nicht: Dr. Albez war nicht in Amsterdam erwacht, sondern auf der Wiese an Herzschlag gestorben und drei Tage päter feierlich begraben worden.
Die Theorie Destillianos wurde langsam zur Wirklichkeit. Mit den durchdringenden, wachsamen Augen eines Arztes betrachtete er den Fremden genau, doch sowohl in seinen Augen wie auch in seinem Mienenspiel konnte er keine Unklarheiten oder Krankheitszeichen entdecken. Dieses verstärkte nur noch seine Ansicht, und mit doppelter Freundlichkeit hakte er sich bei Dr. Albez unter.
»Unser Konsul wird jetzt so lieb sein«, rief er fröhlich und blinzelte dem aufzuckenden, ratlosen Manolda listig zu, »unser Wiedersehen und Ihre Rehabilitierung mit einer Flasche Wein zu feiern. Was halten Sie davon, Don Manolda?«
Der gewandte Geschäftsmann, dessen Überraschung schnell einer eiligen Überlegung wich, lächelte zurück, und nickte.
»Aber mit Freuden«, sagte er mit seiner samtweichen Stimme. »Nun, da alles geklärt ist, sollen die Pfropfen knallen! Ich werde sofort persönlich meinen besten Tropfen aus dem Keller holen.«
Schnell, es sah fast wie eine Flucht aus, verließ er das Zimmer und wischte sich in der Diele mit zitternden Händen über die schweißnassen Haare.
»Sind wir denn alle wahnsinnig?« stammelte er. »Destilliano nennt einen völlig Fremden Doktor Albez, und dieser Fremde ist der vermißte Pieter van Brouken und kann Portugiesisch.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Die Welt ist verrückt«, murmelte er. »Total verdreht! Am verrücktesten aber ist Professor Destilliano.«
Auf dem Wege zum Weinkeller hatte er noch einen Kampf auszuführen.
Sein Sekretär kam ihm entgegen und machte ihn darauf aufmerksam, daß der Gast des Konsuls niemand anders sei als der vermißte Pieter van Brouken. Er habe ihn aufgrund des Bildes in der Zeitung sofort erkannt.
Manolda nannte ihn verrückt, einen Gespensterseher und drohte mit einer sofortigen Entlassung, falls er auch nur ein Wort über die Anwesenheit eines Besuchers in der
Öffentlichkeit sage. Ihn ginge eine fremde Pressenotiz überhaupt nichts an!
Zerknirscht, aber voller widersprechender Gefühle, schlich sich der Sekretär davon.
Es wurde ein lustiger, ziemlich lauter und herzlicher Abend, den Manolda, Professor Destilliano und Dr. Albez feierten.
Der Wein war vorzüglich, das Essen, das sie von einem nahegelegenen Hotel kommen ließen, hervorragend und die Stimmung prächtig.
Wie alte Freunde begleiteten sie Dr. Albez auf sein Zimmer und saßen dann unten in der Bibliothek noch eine Stunde beisammen.
»Verzeih mir, wenn ich so dumm bin und mich nicht auskenne«, sagte Manolda sarkastisch, als sie allein waren. »Doktor Albez ist also nicht vor zwei Jahren gestorben?«
»Doch!« lachte Destilliano und trank einen kräftigen Schluck. »Ich stellte ja den Totenschein aus!«
»Aber Doktor Albez ist doch jetzt hier in Amsterdam!«
»Nein - Doktor Albez ist Pieter van Brouken!«
Manolda starrte seinen Freund an. »Einer von uns ist verrückt!« rief er. »Wieso nennst du ihn dann Doktor Albez?!«
»Weil Pieter van Brouken das Leben des Doktor Albez lebt.« Und da Destilliano sah, daß Manolda ihn nicht verstand, dozierte er: »Wir haben es hier mit einem vollendeten und einmalig klaren Fall von Bewußtseinsspaltung zu tun. Es gibt besonders sensible Menschen, deren Personen- und Umweltzentrum im Gehirn mit dem eigenen Ich nur lose verbunden sind und die durch einen physischen oder psychologischen Anstoß derart gestört, verwirrt oder anders verbunden werden können, daß sie ihr Ich ablegen und als eine völlig andere Person mit gleichem, wachem Bewußtsein weiterleben. Das Bewußtsein spaltet sich also, die Nerven des
Personen- und Umweltkomplexes haben sich anders gekoppelt. Wieso es nun kommt, daß ein solcher Mensch plötzlich eine fremde Sprache als Muttersprache spricht, ja, sogar das Leben eines Gestorbenen vom Tage dessen Todes ab weiterlebt - wie es hier der Fall ist -, daß also die Seele - nennen wir es so - des Toten in der Person des anderen wiederkehrt, und zwar mit dem Phänomen der Rückerinnerung -, das ist das bisher nicht gelöste, geheimnisvolle und phantastische Rätsel, an dem die
Wissenschaft bis heute ihre Grenzen gefunden hat. Die Anthroposophen nennen es die Wiedergeburt aus dem
vorherigen Leben, das unnatürlich abschloß und laut
unergründlicher Gesetze zu Ende in einem anderen Körper gelebt werden muß! Dieser Pieter van Brouken lebt als zweites Ich in der Spaltung seines Bewußtseins das Leben Doktor Albez'! Er ist also dieser Doktor Albez so lange, bis ein besonderer Anlaß die Spaltung aufhebt und Doktor Albez wieder erwacht als Pieter van Brouken.«
»Phantastisch«, flüsterte Manolda. »Einfach phantastisch! Ein Toter lebt weiter!«
»Seine Seele in einem anderen!«
»Also gibt es doch eine Seelenwanderung?«
Destilliano zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht. Hier fängt die Gottheit an - wir Menschen stehen vor einem Rätsel.«
»Und was willst du mit Pieter van ... mit Doktor Albez machen?« fragte Manolda leise.
Der Professor sann einen Augenblick nach und blickte dann auf seine Hände.
»Ich nehme ihn mit nach Lissabon«, sagte er fest. »Er kann uns sehr nützen. Doktor Albez ist gesetzlich tot« - er lächelte -, »und ein Toter kann nicht verhaftet werden, wenn es darauf ankommt ... »
Manolda hielt den Atem an.
»Du willst ihn in den >Export< bringen?«
»Ich will es versuchen. Fängt man ihn, so ist er Pieter van Brouken, wahnsinnig und damit für nichts verantwortlich. Er kann als Doktor Albez einen Mord begehen - sein Körper, eben Peter van Brouken, kann nicht bestraft werden! Das ist eine einmalige Gelegenheit, etwas Strafbares nicht strafbar zu machen. Denn seine Bewußtseinsspaltung, das Weiterleben des gestorbenen Doktor Albez, ist ein seltener, in der Welt bisher nur dreimal bekannter pathologischer Akt, ein Unterbewußtwahnsinn, eine psychopathische Hypnose: Er ist der Mann, der sein Leben vergaß!«
»Und wenn er plötzlich aufwacht, wenn sein reales Bewußtsein wiederkommt, wenn er wieder Pieter van Brouken wird?«
Manoldas Blicke hingen an Destillianos Lippen.
»Dann wird er unter Hypnose weiterleben ... oder er wird schweigen müssen«, antwortete der Professor leise. »Völlig schweigen. Bei Teneriffa gibt es heute Haie ...«
Manolda senkte die Augen. Er fühlte wieder, wie er fror und wagte nicht mehr, in diese kalten Augen vor ihm aufzublicken.
Und das Leben war ihm nur noch ein großes, großes Rätsel.