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Langsam, gezogen von den kleinen, wendigen, anhaltend tutenden Schleppern, fuhr die >Espana< an einem frühen Morgen des Juli 1923 in die breite Bai von Lissabon, die Rada de Lisboa, ein.
Professor Destilliano und Dr. Albez standen an Deck der Kabinen 1. Klasse und blickten hinüber auf die Stadt zwischen den sieben Hügeln.
»Ich glaube, ich sehe den Chiado«, sagte Dr. Albez gerade und deutete mit der rechten Hand quer über Lissabon. »Und dort- täusche ich mich nicht - taucht auch unser Monte do Castello aus dem Dunst!«
Professor Destilliano nickte.
»Sie haben recht, lieber Doktor. Ich kann deutlich das alte Castell sehen.« Er blickte kurz zur Seite. »Wir sind zu Hause, mein Freund.«
Dr. Albez nickte glücklich und reckte sich wie nach einem langen Schlaf.
»Ja, zu Hause. Endlich! Wie das klingt : zu Hause! Und dabei ist es doch nur eine Stadt wie jede andere. Nur daß man in ihr geboren ist! Und doch erwartet uns keiner!«
»Oh, da täuschen Sie sich.« Professor Destilliano beobachtete Dr. Albez scharf. »Meine Nichte ist zu Besuch und wird uns sicherlich am Kai erwarten.«
»Ach!« Freudig überrascht blickte Dr. Albez auf und drehte sich zu dem Professor um. »Die kleine Anita Almiranda erwartet uns? Welche unerwartete Freude!«
»Na, na! So klein ist sie nicht mehr«, entgegnete lächelnd Destilliano. »Immerhin ist die kleine Anita jetzt 22 Jahre und macht mit ihrer Schönheit die Männer total verrückt!«
Im Inneren aber wunderte er sich, wie sehr und vollkommen Peter van Brouken Dr. Albez geworden war. Alles hätte er durch Zufälle wissen können - die kleine Anita kannte nur der wirkliche, gestorbene Dr. Albez! Er hat wirklich die Seele des Toten in sich, dachte Destilliano, und er schauderte ein wenig bei diesem phantastischen Gedanken.
Als das Schiff anlegte und der Laufsteg heruntergefahren wurde winkte tatsächlich eine quirlige, schwarzlockige, wilde Schönheit mit beiden Armen am Kai und drängte sich durch Kisten und Menschen nach vorn.
Dr. Albez, der sie sofort wahrnahm, winkte enthusiastisch und wandte sich dann an den merkwürdig stiller gewordenen Professor
»Das war eine gute Idee, in Marseille das Flugzeug mit den Schiff zu vertauschen«, rief er. »So hat man wenigstens das schöne Gefühl, Schritt für Schritt in die Heimat zu kommen. -Sehen Sie Ihre Nichte, Professor?!«
»Natürlich.« Destilliano lächelte schwach. »Das Mädel ist ja außer Rand und Band - wie lange haben Sie Anita eigentlich nicht gesehen?«
»Ich glaube, zehn Jahre. Ja, damals war sie zwölf, und ich fünfundzwanzig. Ich baute gerade meinen Doktor phil., und sie beglückwünschte mich mit einem dicken Blumenstrauß.«
»Dann wird sie Sie nicht mehr erkennen«, meinte Destilliano vorsichtig und vorbeugend. Sie haben sich seit damals sehr verändert.«
»Wir alle, Professor«, lachte Dr. Albez. »Am meisten das Mädel. Eine wirkliche Schönheit - Sie können als Vormund stolz darauf sein. Und jetzt mache ich den Weg frei, denn der kleine schwarze Teufel stürmt das Schiff!«
Er trat lachend zur Seite. Denn kaum hatte der Laufsteg den
Kai erreicht, sprang Anita schon über die Bretter, rannte einen der absperrenden Deckoffiziere zur Seite und fiel mit lautem Jubelgeschrei dem alten Professor um den Hals.
Als die stürmische Begrüßung beendet war, wandte sie sich verlegen zu Dr. Albez um. Ihre großen, fast schwarzen, leuchtenden Augen musterten ihn, schienen ihn nicht zu erkennen und warteten sichtlich auf eine Erklärung.
»Nun?« fragte der fremde Herr. »Wer bin ich denn?«
Mit staunenden Blicken sah ihn Anita an, wandte sich dann zu ihrem Onkel um und sah auch ihn erwartungsvoll lächeln. Aber sosehr sie auch den Herrn musterte und in ihrem Gedächtnis suchte - das Gesicht war ihr fremd, nur seine Stimme weckte eine dunkle Erinnerung in ihr.
»Es ist schon lange her, seit ihr euch das letzte Mal saht«, meinte Professor Destilliano gütig. »Zehn Jahre ist es her.« Und da Anita ratlos den Kopf schüttelte und sichtlich verlegen wurde, half ihr der Fremde aus der Beklemmung und verbeugte sich.
»Vielleicht erinnert Sie mein Name an etwas?«
»Und Sie heißen?« fragte Anita gespannt.
»Doktor Fernando Albez.«
Anitas Augen wurden groß und rund, sie öffnete den schönen Mund, wollte etwas sagen, stockte dann aber und schloß die Lippen wieder. Stumm sah sie Dr. Albez an, suchte in ihrer Erinnerung nach einem Bild und stammelte nach einer verlegenen Pause:
»Sie sind Doktor Fernando Albez?«
Professor Destilliano lachte laut. Geschickt überbrückte er die peinliche Situation - für ihn war es maßgebend, daß Anita die Tatsache als gegeben hinnahm. Einen Zweifel wollte und durfte er nicht aufkommen lassen und faßte deshalb Dr. Albez unter.
»Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Sie verändern unter
Umständen einen Menschen völlig. Aber seine Stimme ist geblieben und klingt noch immer arrogant«, lachte er frech, »seine näselnde, hochmütige Aristokratenstimme.« Und als auch Anita lächelte, faßte er sie gleichfalls unter und rief jugendlich: »Und jetzt geht es an Land! Das Gepäck kommt nach. Kindchen, ich freue mich auf meinen alten spanischen Tarragona -Wein!«
Lissabon gliedert sich in fünf Stadtteile, die untereinander äußerst verschieden sind und das wechselnde Schicksal der Stadt im Lauf der Jahrhunderte aufzeichnen. Alhama, die alte Stadt, die merkwürdigerweise von dem furchtbaren Erdbeben am 1.11.1755 verschont blieb, während ganz Lissabon in Trümmer ging, trägt als größte Sehenswürdigkeit den Monte do Castello mit der alten Burg. Rocio, die neue Stadt, zieht sich den Tejo entlang und ist mit Prachtstraßen und palastähnlichen Häusern ausgestattet, Bairro alto, die obere Stadt, und Alcantara, die westliche Stadt, sind mit der Villenvorstadt Belom durch breite Parkstraßen verbunden, so daß der erste Eindruck von Lissabon ein überwältigend schönes Bild ist. Doch bei genauerem Hinsehen entdeckt man, wie bei fast allen südlichen Städten, daß diese Schönheit nur eine prunkende Fassade ist. Enge, winkelige, schmutzige und übelriechende Straßen und Gassen ziehen sich auch heute noch zwischen den Hügeln hin und den Monte do Castello hinauf, und die vielgenannte Rua do Monte do Castello, einst die vornehmste Straße der Ritterzeit, ist heute nur noch eine enge Gasse mit halbverfallenen, dunklen Häusern, uralt, geheimnisvoll umwoben, versponnen wie eine alte Rittersage.
In dieser Straße wohnten Professor Destilliano und Dr. Albez seit langen Jahren. Das Haus des Gelehrten war ein großer Patrizierbau, dunkel und mit verblichenen Fenstern, während Dr. Albez nebenan ein kleines Gebäude im Stile eines Bungalows sein eigen nannte.
Während der Fahrt zu der Rua do Monte do Castello bemühte sich Destilliano, das Gespräch auf diese Häuser zu bringen. In den zwei Jahren nämlich, die der richtige Dr. Albez tot war, hatte der Professor das Grundstück erworben, als eine Art Laboratorium und Lagerschuppen umgebaut und zu einer bakteriologischen Forschungsstelle ernannt. Zwar war in den beiden Jahren noch keine wissenschaftliche Entdeckung Professor Destillianos bekanntgeworden, doch der große Totenschädel mit dem Warnungsschild hinderte alle Frager, sich etwas genauer mit dem Laboratorium zu beschäftigen. Selbst die Polizei, die einer Infektion mit Cholera- oder Pest-Bazillen gern aus dem Weg ging, machte einen großen Bogen um die Rua do Monte do Castello 12, zumal Professor Destilliano eine der geehrtesten Persönlichkeiten Lissabons war.
So lagerten denn in dem Hause Dr. Albez' ungestört Kisten mit Morphiumampullen, kleine Schachteln mit Kokain und Tausende gelbbraune Kügelchen, tropenfest und wasserdicht verpackt: Opium!
Das alles wußte Dr. Albez nicht, denn er war ja vor zwei Jahren gestorben und erst vor wenigen Tagen in der Bewußtseinsspaltung Pieter von Broukens wieder aufgestanden ... Für Dr. Albez begann das Leben also wieder, wo es vor zwei Jahren plötzlich durch einen Herzschlag abriß, und Professor Destilliano machte sich berechtigte Sorgen, wie Dr. Albez die Verwandlung seines Hauses aufnehmen würde.
»Mein lieber Doktor«, sagte er deshalb etwas betrübt. »Jetzt, wo wir wieder in der Heimat sind, auf der Fahrt zu Ihrem Haus, muß ich Ihnen etwas gestehen, das ich bisher aus einer psychologischen Scheu verschwieg.«
Dr. Albez, der gerade mit Anita angeregt über einen Plan für die Gestaltung des nächsten Sonntags beriet, blickte erstaunt auf. Dann aber lachte er und winkte dem Professor zu.
»Nur zu! Mich kann jetzt nichts mehr erschüttern!«
»Sagen Sie das nicht!« Destilliano wurde sehr ernst. »Es ist nämlich ein Irrtum, daß Sie nur fünf Tage verschwunden waren.«
»Ach!« Dr. Albez' Gesicht wurde starr. »Wie soll ich das verstehen? Ich schlief vergangenen Sonntag auf einer Wiese ein ... «
Destilliano nickte und sagte leise: »Und dieser Sonntag ist jetzt zwei Jahre her ...«
»Was?!!« Dr. Albez starrte den Professor an und begann zu zittern. »Zwei Jahre? Aber das ist doch unmöglich! Machen Sie bitte keine Witze! Ich kann doch nicht zwei Jahre hindurch schlafen! Ich erinnere mich genau ... ich ging - «
Destilliano wischte seinen Satz mit der Hand fort und schüttelte den Kopf. Er spielte ein gefährliches Spiel, denn es war möglich, daß durch diese seelische Erschütterung ein neuer Schock entstand und Pieter van Brouken wieder zu seiner Eigenpersönlichkeit zurückfand.
»Ihre Erinnerung liegt zwei Jahre zurück«, sagte er so schonend wie möglich. »Sie müssen Verbrechern in die Hände gefallen sein, die Sie unter Hypnose setzten, in eine Wachtrance, unter der Sie, geleitet durch den Willen der Schurken, zwei Jahre lang ohne Ihr reales Wissen lebten!«
Ungläubig, innerlich aufgewühlt und weiß im Gesicht vor einem unbestimmbaren Grauen, sank Dr. Albez in den Sitz zurück.
»Dann habe ich zwei Jahre lang unter Hypnose als Pieter van Brouken gelebt?« stammelte er.
Professor Destilliano nickte. Er konnte ihm ja nicht sagen, daß alles genau umgekehrt war, daß er Pieter van Brouken war und das Leben des toten Dr. Albez weiterlebte. Aber die Erschütterung war so schon groß genug, um Dr. Albez stumm und tief nachdenklich zu machen.
Anita, die von alldem nichts verstand, blickte erstaunt und von einer unbestimmbaren Ahnung erfüllt von einem zum anderen und hatte große, schwarze, fragende Augen.
Nach langer Zeit wischte sich Dr. Albez endlich mit der Hand über die Augen.
»Das ist ja kaum zu glauben«, sagte er stockend. »Zwei Jahre Leben, von dem man nichts weiß?!«
»Aber es ist so! Ich habe - und daran sehen Sie die Wahrheit -nach Ihrem spurlosen Verschwinden Ihr Haus gekauft und als Laboratorium umgebaut.«
»Sie haben ...« Dr. Albez schüttelte den Kopf ... »Also stimmt es doch ... Toll ... einfach toll!«
Er versank in ein fruchtloses Brüten und stierte vor sich hin. Selbst das Plappern Anitas konnte ihn nicht emporreißen - es floß an ihm vorbei, als sei es fremd, und drang nicht in seine Sinne ein.
Das waren die gefährlichsten Minuten für Professor Destilliano, der lauernd auf der Wacht saß und jeden Augenblick die Rückentwicklung in Pieter van Brouken erwartete.
Als die klappernde Taxe endlich vor der Rua do Monte do Castello 11, dem Hause Destillianos, hielt und Dr. Albez interessiert aufblickte, atmete der Professor hörbar auf, und sein Gesicht verlor den gespannten, maskenhaften Eindruck. Mit einer triumphierenden Freude sprang er aus dem Wagen und half Anita und Dr. Albez heraus auf die ungepflegte, grob gepflasterte Straße.
Mit einem halb resignierenden, halb ratlosen Lächeln überzeugte sich Dr. Albez, daß sein Haus wirklich zu einem bakteriologischen Laboratorium umgebaut war, und das schreckliche Bewußtsein, statt 5 Tage zwei volle Jahre im Unbewußten gelebt zu haben, machte ihn plötzlich scheu und ängstlich vor sich selbst.
»Es ist selbstverständlich, daß Sie zu mir ziehen«, riß ihn Professor Destilliano aus seinen Gedanken. »Wenn Ihr Haus nicht völlig umgebaut wäre, würde ich Ihnen sofort Ihren Besitz zurückgeben. So werde ich Sie auszahlen müssen. Doch eine Überraschung habe ich für Sie: etwas, was Sie sehr freuen wird, habe ich aus Ihrem Fuchsbau verwahrt, ja, fast gerettet: Ihre schöne Bibliothek!«
Ein Leuchten sprang für einen Augenblick in die Augen Dr. Albez'.
»Meine Bücher haben Sie noch?!« rief er. »Dann ist der Verlust nur halb so schmerzlich. Ich hatte ja nur eine Leidenschaft - die Bibliothek!« Er wandte sich an Anita. »Bis heute, wo ich Sie wiedersah ...«
Tief errötete das Mädchen, schlug die Augen nieder und eilte den Männern voraus in das Haus.
Lächelnd hob Destilliano die Hand und drohte spaßhaft.
»Verwirren Sie mir das Mädel nicht, Doktor!« rief er lachend. »Sie kocht für uns - und ich möchte nicht immer versalzene Suppen essen!«
Das Apartment, das Dr. Albez als Wohnung zugewiesen bekam, lag im ersten Stock mit einem herrlichen Blick auf das in der Sonne glitzernde Castello.
Ein weiträumiges Schlafzimmer, ein Herrenzimmer mit seiner alten Bibliothek, ein Rauchsalon und ein großer Balkon mit Liegestuhl und Sonnenschirm nach dem ungepflegten und verwilderten Garten hinaus bildeten sein neues Heim. Prof. Destilliano bewohnte das untere Stockwerk, Anita Almiranda die zweite Etage. In den Bodenkammern hausten ein Diener, eine Wäscheflickerin und ein Gärtner, von dessen Dasein und Tätigkeit Dr. Albez erst spät etwas merkte und der Garten überhaupt nichts!
Wenn er die Fenster seines Herrenzimmers öffnete und hinaus über die weite Stadt blickte, fühlte er wie so oft einen beklemmenden Druck in der Brust bei dem Gedanken, einmal dieses Leben, dieses herrliche, freie Leben verlassen zu müssen, um es nie wiederzuerlangen. Dann zog er sich meist auf das breite Sofa zurück und unterdrückte gewaltsam diese schwermütigen Gedanken, trank eine Flasche Wein oder rauchte eine starke amerikanische Zigarette.
Den ersten Tag hatte Dr. Albez vollauf zu tun, seine durcheinandergeratene Bibliothek zu ordnen. Der Verlust seines Hauses griff ihn weniger an, denn Professor Destilliano hatte ihm gleich am Abend nochmals versprochen, ihm die hinterlegte Verkaufssumme überweisen zu lassen oder ihm ein neues Haus für dieses Geld zu kaufen. Zwar hatte Dr. Albez höflich abgewehrt, aber es beruhigte ihn doch sehr, nicht ganz mittellos auf die Freundschaft Professor Destillianos angewiesen zu sein.
Mit Hochdruck ging er deshalb auch an die Vorarbeiten zu seinem neuen Buch, das seine Abenteuer in den vergessenen zwei Jahren fantasievoll schildern sollte.
Aber gleich am zweiten Abend seiner Rückkehr nach Lissabon nahm Professor Destilliano nach dem Abendessen Dr. Albez zur Seite und drückte ihn in einen Sessel.
»Mein lieber Albez«, sagte er, und sein Gesicht war ernst. »Sie erzählen mir eben, daß Sie ein neues Buch schreiben?«
»Ja, gewiß.« Dr. Albez staunte und wußte nichts mit dieser Frage anzufangen.
»Wollen Sie das Werk unter Ihrem Namen Albez veröffentlichen?«
»Aber ja! Warum denn nicht?! Wie die anderen Bücher auch!«
Destilliano wiegte den Kopf und stockte einen Augenblick.
»Zwischen damals und heute liegen zwei Jahre. Sie galten als vermißt, die Polizei gab sich alle Mühe - ohne Erfolg. Sie gelten jetzt als tot!«
»Sehr interessant ...«
»Ja. - Tauchen Sie nun wieder auf, so gibt das eine endlose Kette von Verhören, Berichten, das Ministerium schaltet sich ein, es wird eine Sensation - Untersuchungen jagen sich ... kurz, der riesige Beamtenapparat spielt auf der ganzen Klaviatur! Das möchte ich gerade in Ihrem rätselhaften Fall vermeiden. Ich habe deshalb auch schon vorgegriffen und Sie als einen Besuch aus Spanien angemeldet.«
Dr. Albez war zunächst so erstaunt, daß er keine Antwort fand. Diese Argumente Destillianos konnte er zwar nicht voll einsehen, denn eine Sensation wäre die beste Reklame für seine weiteren Bücher gewesen, aber auf der anderen Seite erkannte er die Unmöglichkeit, seinem freundlichen Gastgeber in einen gesellschaftlichen Skandal zu ziehen.
»Und als welche Puppe soll ich nun weiterleben?« fragte er sarkastisch.
Destilliano lächelte.
»Als Jose Biancodero aus Sevilla, Schriftsteller und Freund meines Hauses. - Aber bitte, nur Dritten gegenüber. Für Anita und mich sind und bleiben Sie« - er stockte einen Augenblick vor der Lächerlichkeit der Behauptung -, »Doktor Fernando Albez.«
Da auch diese Klippe glücklich umschifft war, sah Professor Destilliano keine Gefahr mehr, Dr. Albez auf die Menschheit loszulassen. Äußerlich war er unbekannt, und wollte er doch einmal sich als der verstorbene Albez vorstellen, so würde dies als ein taktloser Witz betrachtet werden, über den man höchstens anstandshalber lächelt. Wann er allerdings in den>Export<eingeschaltet werden konnte, war noch nicht abzusehen. Vorerst wollte Destilliano seine Tätigkeit nur auf die Beobachtung beschränken und dem >Patienten<, wie er ihn im stillen nannte, freien Lauf lassen.
Mit besonderer Spannung erwartete er die Auswirkungen des
Verhältnisses Dr. Albez' zu Anita, und es regte sich im Gewissen Destillianos nichts, wenn er daran dachte, daß Peter van Brouken in Amsterdam eine vergrämte Frau und einen kleinen Sohn besaß. Für ihn war dieser Fall nicht nur ein psychologisches Experiment, sondern ein völlig neues, noch nicht erschlossenes Forschungsgebiet, das zu den großen, unlösbaren Rätseln der Menschheit gehörte.
Zwischen Anita und Dr. Albez spannen sich in den nächsten Wochen zarte, zunächst noch unbewußte Fäden. Wenn auch der Schriftsteller kaum aus seinem Zimmer kam und am Tag und selbst in der Nacht über den Papieren hockte und schrieb, sich kaum Zeit für das Essen gönnte und nur ab und zu einen forschenden Blick auf die jedesmal errötende Anita warf - beide fühlten sie doch im Herzen, daß dieses Warten einmal ein Ende haben würde.
Es war an einem heißen Augustabend, als die ersten Schranken ihrer Herzen fielen.
Professor Destilliano war in die Vorstadt Belem gefahren, um einen Patienten zu besuchen, und Dr. Albez saß in der halb von wucherndem Gebüsch zugewachsenen Laube im Garten. Er schaute durch das glaslose Fenster auf den in der untergehenden Sonne karminrot leuchtenden Monte do Castello, hatte einen Stapel Papier vor sich liegen und überlegte den Fortgang eines Kapitels seines neuen Romanes.
Heiß stand die Luft über dem Garten. Es war drückend und atembeklemmend.
So saß er eine ganze Weile und starrte auf die sich in Violett verfärbende Burg. Als er sich umwandte, um weiterzuschreiben, stand Anita vor ihm und lächelte. Er hatte sie nicht kommen hören und war verblüfft und doch seltsam beglückt.
»Sie, Anita?« fragte er, und seine Stimme war ungewollt leise.
»Ich ging durch den Garten und sah in der Laube etwas
Weißes. Da trat ich näher und sah, daß Sie es sind.«
Das mühsam angefangene Gespräch stockte. Es fehlte die Verbindung zu weiteren Worten. Endlich, nachdem sie sich schweigend und verlegen gpgenüberstanden, sagte sie: »Können Sie denn hier draußen in der Hitze arbeiten?«
»Ich sammle nur Gedanken«, antwortete er. »Wissen Sie, ich stelle die Handlung zusammen und notiere mir den Verlauf.«
»Und woran dachten Sie eben, als Sie auf das Castello blickten? An ferne Länder, an Sonnenuntergang im Meer, an grenzenlose Weiten?«
»Nein ... An die Liebe und an eine herrliche, schöne Frau.«
Anita blickte zu Boden und spielte mit den Knöpfen ihres Kleides. Jetzt erst sah Dr. Albez, daß sie ein luftiges, tief ausgeschnittenes Sommerkleid trug.
»Sie sind ein Märchen«, sagte er leise ... »Ein Traum sind Sie, Anita ... «
»Das sollten Sie nicht sagen«, antwortete sie verschämt. »Ich könnte es glauben ...«
»Anita!«
Er riß das bebende Mädchen an sich, hob ihren Kopf zu sich hoch und blickte ihr in die flatternden Augen.
»Anita ... nenne es Wahnsinn, nenne es den Impuls einer Leidenschaft ... es ist alles nicht wahr ... Ich weiß es selbst nicht, wie es geschah ... Ich liebe dich!«
»Fernando!« Anita legte ihre weichen Arme um seinen Hals. »Fernando ... seit ich dich sah, schlafe ich keine Nacht, ohne an dich zu denken ...«
Wild küßte er ihre heißen, feuchten Lippen, fühlte, wie sie ihn wiederküßte, spürte ihre kleinen, spitzen Zähne an seinen Lippen und das wollüstige Drängen und Aufbäumen ihres Leibes, ihre Knie drückten sich an ihn, und weit sich in seinen Armen zurückbeugend, schloß sie die Augen.
»Anita«, stammelte er da ... »Göttliche, herrliche Anita ...«
Er sank mit ihr in den Armen zu Boden, das heiße Gras kitzelte in seinem Nacken.
Ihr heißer, junger Körper blühte auf unter seinen stammelnden Küssen ...
Als die fahlen Schatten des Abends vom Monte do Castello in den Garten krochen, lagen sie nebeneinander im Gras und hielten sich an den Händen. Schwer atmend starrten sie in den graugelben Himmel, und ihren verbrannten Herzen fiel es schwer, weiterzuschlagen.
Langsam pflückte Anita einige abgerissene Blüten von ihrem zerwühlten Kleid, während Fernando sich seiner Tollheit schämte und weiter schweigend in den sich ständig verfärbenden Himmel starrte.
»Du bist der erste Mann, dem ich gehöre«, sagte sie zart.
»Ich weiß es«, antwortete Fernando leise.
»So sehr liebe ich dich, daß ich dir alles schenke. Ich schenke es nur einmal. Jetzt gehören wir zusammen, für immer, du und ich, und nur der Tod kann uns trennen.«
»Nur der Tod ...« murmelte Fernando und schloß die Augen.
Sie beugte sich über ihn und küßte seine Lider. Als er Anita greifen wollte, fühlte er ihre Brust in seinen Händen. Ein Zittern durchlief ihn.
»Du Engel«, flüsterte er. »Du Zauberin ... deine Liebe macht mich ängstlich vor meiner Glut ...«
»O brenne doch, flamme auf und verbrenne mich mit deinem Feuer«, flüsterte sie heiß zurück. Und als er sie zu sich herunterriß und seine Arme um sie schlang, stammelte sie mit erlöschender Stimme: »Ein Kind möchte ich haben ... Fernando ... von dir ein Kind ...«
Etwa um die Mitte des September machte Professor Destilliano Dr. Albez den Vorschlag, ihn auf eine Reise nach
Las Palmas auf den Kanarischen Inseln zu begleiten. Er hätte dort geschäftlich zu tun, und für ihn, Dr. Albez, sei eine Erholung nach der anstrengenden Schriftstellerei äußerst notwendig. Das sage er nicht als Freund, betonte Destilliano, sondern als Arzt. Vier bis sechs Wochen in der milden Seeluft könnten Wunder wirken, und er lasse nicht ab, auf diese Erholung zu drängen. Schon sein guter Ruf als Arzt zwänge ihn dazu, keinen kranken Gast zu haben.
Lachend willigte Dr. Albez ein. Er wußte und ahnte nicht, welchen wirklichen Zweck diese Reise hatte. Konsul Don Manolda hätte bei der Erwähnung Las Palmas wieder gefroren. Mit wachen und zwinkernden Augen hatte Destilliano nämlich die flammende Leidenschaft Anitas und Dr. Albez' bemerkt und duldete sie stillschweigend, da sie seinem Ziele sehr in die Hand arbeitete. Jetzt nun schien Dr. Albez so völlig in den Liebesfesseln Anitas zu sein, daß er für nichts anderes mehr Auge noch Ohr hatte, als für das Warten auf die Nacht, die die Liebenden in Fernandos Wohnung heimlich vereinte.
Dieser Rauschzustand war das beste Werkzeug in Destillianos Hand. Er plante, Dr. Albez in Las Palmas vorsichtig in das »Exportgeschäft« einzuweihen und ihm eine Chance zu geben, als Jose Biancodero reich und unabhängig zu werden. Denn durch den Taumel seiner Sinne kam Dr. Albez nur noch selten dazu, an seinem Buch weiterzuarbeiten; meistens lag er tagsüber auf dem Balkon, träumte von den Küssen Anitas und fieberte der Nacht entgegen.
Es war ein gewagtes Spiel, das Professor Destilliano spielen wollte. Denn weigerte sich Dr. Albez, so war Destilliano gezwungen, ihn kurzerhand zu liquidieren, um sein Geschäft und seine Person zu retten. Das Verschwinden des Mannes würde ja nicht weiter auffallen, denn wie Konsul Manolda triumphierend aus Amsterdam berichtete, hatte man Pieter van Brouken als Selbstmörder für tot erklärt und die Akten geschlossen.
Ein Mensch hing also in der Luft. Ein lebender Mensch war einfach nicht mehr da und konnte von jetzt an verschwinden, ohne daß es jemandem auffiel. Ein Mensch wurde einfach gestrichen. Aus! Er lebt nicht mehr! Und sollte er doch noch leben - Teufel noch mal, dann soll er verschwinden, um keine weiteren Schwierigkeiten zu machen ... Als Pieter van Brouken war er also tot, als Dr. Albez lebte er außer seinem Bewußtsein, aber ein Dr. Albez war auch schon längst gestrichen, und einen Jose Biancodero gab es überhaupt nicht ... da war er ein Produkt der Fantasie. Welch eine Leichtigkeit, ihn im Falle der Weigerung einfach verschwinden zu lassen!
Bei Teneriffa gab es doch heute Haie ...
An einem strahlend sonnigen Septembermorgen schifften sie sich nach Teneriffa ein und fuhren hinaus in den ruhigen, blaugrün schillernden Atlantik.
Die Kanarischen Inseln sind alter spanischer Erbbesitz. Mitten aus dem weiten Weltmeer erheben sich, durch Klippen gegen die heftige Brandung geschützt, diese kleinen, paradiesischen Eilande. Sie strotzen von Fruchtbarkeit - Früchte, Weine und wundervolle kunsthandwerkliche Arbeiten sind der Mittelpunkt eines schwungvollen Handels mit dem europäischen Kontinent.
Las Palmas, neben Santa Cruz de Teneriffa die größte Stadt der Inselgruppe, ist begehrtes Urlaubsziel. Denn die Stadt Las Palmas ist berühmt durch ihren Wein, ihre Kanarienvögel und ihre auf den Höhen der Ansiedlung wohnenden Dirnen.
Das ist die Schattenseite des Paradieses der Bananen und der europäischen Hochzeitsreisenden. Aber es ist auch gleichzeitig das Glück Professor Destillianos, der auf diesen Höhen seine Unterschlupfe hat und seine nur des Nachts arbeitenden Verkäufer. >Zu den Ställen< nennt der Kanarier diese Lehmhütte des Lasters - für Destilliano waren sie der Drehpunkt seines schwunghaften >Exportes<.
Als sie nach ihrer Ankunft an der zweitürmigen gotischen
Kathedrale vorbeigingen und zu den Höhen emporstiegen, schaute Dr. Albez den Professor verwundert an und verhielt den Schritt.
»Wohin führen Sie mich?« fragte er erstaunt und blickte sich um. Er sah die spärlich bekleideten, grell geschminkten und lockigen Mädchen in den Türen stehen, sah nackte Brüste aus den Fensterhöhlen hängen und halbwüchsige Dirnen nackt auf den Schwellen der Lehmhütten liegen. »Um mir diese widerliche Bordellstraße zu zeigen, sind Sie doch bestimmt nicht nach Las Palmas gefahren!«
Destilliano wiegte den Kopf hin und her, wie er es immer tat, wenn er etwas Besonderes zu sagen hatte.
»Ja und nein! Jedenfalls müssen wir in dieser - wie sagten Sie doch - widerlichen Gegend hausen!«
»Wie soll ich das verstehen?«
»So, daß ich hier mein zweites Domizil habe.«
»Professor!«
»Ich verstehe und teilte Ihre Entrüstung vollkommen, liebster Freund.« Destilliano lächelte milde, aber seine Gedanken brüteten bereits über die Folgen einer Weigerung Dr. Albez'. »Doch wenn ich Ihnen sage, warum ich hier unter Dirnen niedrigster Sorte, Zuhältern, Homosexuellen, Dieben und vielleicht gar Mördern hause, werden Sie es weniger absurd finden. - Zunächst eine Kernfrage: Glauben Sie, daß ich durch meine Arztpraxis so viel Geld verdiene, um einen solch großen Hausstand führen zu können?«
Dr. Albez zögerte mit der Antwort. Er schaute Destilliano fragend an.
»Ich habe noch nie darüber nachgedacht«, sagte er dann stockend.
»Das ist ein Fehler! Man soll den Onkel der Erbnichte, die man liebt, etwas genauer betrachten.«
Dr. Albez wurde äußerst verlegen und blickte zu Boden. Nervös spielte er an den Knöpfen seines Anzuges. Wie Anita, mußte Destilliano unwillkürlich denken.
»Verzeihen Sie mir diesen Vertrauensbruch, Professor«, meinte Dr. Albez leise. »Ich wollte schon längst vor Sie hintreten und Ihnen gestehen, daß ...«
»... daß Sie Anita lieben. Das weiß ich schon längst! Auch eure nächtlichen, gegenseitigen Besuche sind mir bekannt. Ich habe bis heute nichts gesagt, ich habe es geduldet, da Sie ein fabelhafter Kerl sind und der beste Mann für die kleine Anita.«
»Herr Professor ...«
»Still! Über die Frage sprechen wir später in Lissabon bei einer alten, guten Flasche. De facto nur so viel: ich sage Ja! -Jedenfalls sollten Sie sich aber Gedanken machen, woher das Geld für den großen Haushalt kommt.«
»Sie sind berühmt, Professor ...«
»Berühmt! Für Ruhm bekommen Sie keinen Peseta! Ich kenne Berühmtheiten, die verhungerten! Denken Sie an Mozart, Schubert, an Schiller! Sehen Sie sich das Schicksal des Cervantes an - und dem alten Shakespeare ging es nicht besser! Der Name ist ein Dreck, wenn Sie vor leeren Tischen sitzen! Man muß da schon nachhelfen!«
Sie waren während dieses Gespräches in eine enge Seitengasse eingebogen und hielten vor einem einstöckigen, schuppenähnlichen Haus. Destilliano schloß die quietschende Tür auf und trat ein. Völlige Dunkelheit umgab sie. Erst als Destilliano eine Petroleumlampe anzündete, erhellte sich fahl der fensterlose Raum.
Dicker Staub lag auf dem Fußboden aus festgestampftem Lehm. An den Wänden standen, bis zur Decke gestapelt, große und kleine Holzkisten. In der Mitte des großen Raumes wackelte ein breiter Tisch, auf dem auch inmitten fingerdicken Staubes die Petroleumlampe qualmte.
»Bevor wir weitergehen, möchte ich unser Gespräch zu Ende führen«, sagte Destilliano und schüttelte den Staub von seinen Händen. »Sie sind erstaunt, wo Sie sich befinden.«
»Allerdings bin ich das«, gab Albez ehrlich zu und sah sich um. »Wie ich sehe, ein Lagerschuppen.«
»Sehr richtig! - Doch wo waren wir eben stehengeblieben? Ach so - man muß dem eitlen Ruhm pekuniär nachhelfen. Ich habe mich deshalb in einige Geschäfte eingelassen, von denen Zoll und staatliche Exportkontrolle nichts wissen.«
Dr. Albez schüttelte den Kopf und klopfte an die Kisten.
»Voll!« meinte er lakonisch. »Die Kisten sind voll!«
»Sehr richtig! Sie enthalten alle ein geheimes Präparat gegen den Bazillus der Tuberkulose.«
»Aber warum denn geheim? Professor - wenn dieses Mittel, ein Medikament gegen die Schwindsucht, das von Ihnen stammt ... «
»Sie haben recht ...«
»... wenn dieses Mittel Tausenden, vielleicht Millionen hilft, dann sind Sie doch ein Wohltäter der Menschheit!« Aus Dr. Albez sprühte ein begeisterndes Feuer. »Wenn Sie diese Geißel der Menschheit wirksam bekämpfen, sind Sie der Retter millionenfachen Lebens! Warum dann geheim und
ungesetzlich?«
Professor Destilliano lächelte und lehnte sich an einen Kistenstapel.
»Schon wieder der Ruhm! Sie haben einen viel zu idealen Begriff vom Leben, lieber Doktor. Hätte ich mein probates Mittel angemeldet und staatlich schützen lassen, wäre es sofort zu einem Staatsmonopol ernannt worden und mir aus den Händen geglitten. Ich hätte eine Abfindung und einen laufenden Prozentsatz des unkontrollierbaren Umsatzes erhalten, und nach kürzester Zeit wären auf dem Weltmarkt imitierte oder gar verbesserte Medikamente der Konkurrenzen erschienen. Erfolg: der große Gedanke wäre verwässert. So aber halte ich allein das Geheimnis in den Händen, hüte es wie den Stein der Weisen, erobere mir illegal den Weltmarkt ohne jegliche Konkurrenz und verdiene Millionen! Süd-, Mittel- und Nordeuropa habe ich schon fest in der Hand, nach Osten und Südosten laufen bereits meine Agenten, und Asien wird über den lohnenden Umweg von Australien aus erobert.«
Dr. Albez staunte ehrlich, seine Augen aber strahlten.
»Das ist ja gewaltig, Professor! Und wenn ich mit Ihrer Begründung der Illegalität nicht ganz einig bin, so muß ich doch sagen: Sie haben Großes geleistet!«
»Und Größeres soll noch folgen«, sagte Destilliano stolz. »Und dabei sollen Sie mir helfen!«
Dr. Albez blickte erstaunt auf und wußte zunächst mit dieser Mitteilung nichts anzufangen. Als er aber das aufmunternde Zunicken Destillianos richtig verstand, brauchte er eine Zeitlang, um sich mit dem unausgesprochenen Gedanken zu befreunden. Endlich meinte er nach langer Pause:
»Sie wollen mich in den illegalen Export dieses Medikamentes eingliedern?«
»Eingliedern ist ein falsches Wort. Wir wollen ehrlich sein, Doktor Albez: Nach zwei Jahren Vermißtheit unter einem anderen Namen ist es ungeheuer schwer, als Schriftsteller wieder im alten Maße Fuß zu fassen. Ihr Vermögen fiel - da keine Erben vorhanden waren - dem Staat zu. Es dauert noch eine Weile, bis Ihr neues Buch gedruckt wird - doch ich glaube, daß Sie Anita bald heiraten möchten.«
»Sicher«, stotterte Dr. Albez.
»Sehen Sie. Schon lange bemerke ich Ihre verzweifelten Versuche, selbständig zu werden. Das soll Ihnen nun geboten werden! Als Onkel Ihrer zukünftigen Frau habe ich als erster ein Recht dazu. Was Ihre Aufgabe ist, wird sich noch zeigen. Ich habe gedacht, Sie als Verbindungsmann und Kurier zwischen Lissabon und Amsterdam einzusetzen. Im Hause des Konsuls Don Manolda finden Sie dann Ihr zweites Standquartier.«
»Konsul Don Manolda?«
»Ja. Er vertritt unsere Interessen für den westlichen Kontinent.«
Dr. Albez fiel von einem Staunen in das andere. Daß auch der Konsul zu dem illegalen Medikamentenhandel gehörte, bewies ihm die Ausbreitung und die Bedeutung dieses Schmuggels. Denn etwas anderes war es vor dem Gesetz nicht!
Eine Weile zögerte Dr. Albez mit der Antwort. Doch dann dachte er an Anita, an ihre blühenden roten Lippen und die heißen Arme, die sich zitternd um ihn schlangen, er dachte an die betäubenden Nächte und fühlte im Herzen ein heißes, süßes Brennen.
»Ich bin im allgemeinen kein Freund von dunklen Geschäften«, sagte er vorsichtig. Professor Destilliano hielt den Atem an und steckte die rechte Hand langsam in die Jackettasche. Fest umklammert er dort den Griff eines Revolvers und drückte den Lauf leicht nach außen durch den Stoff. »Verzeihen Sie mir«, fuhr Dr. Albez fort, »wenn ich ein Geschäft, das Millionen hilft und sie vor einer Seuche rettet, dunkel nenne. Und nur, weil Sie der Onkel sind« - Destilliano schob den Zeigefinger an den Abzugsbügel des Revolvers -, »nur, weil Ihr Medikament Lebensrettung bedeutet, schlag ich ein und freue mich, nun auch geschäftlich mit Ihnen verbunden zu sein.«
Tief aufatmend zog Destilliano die Hand aus der Tasche und klopfte Dr. Albez liebenswürdig und mit breitem Lächeln auf die Schulter. Gewonnen, jubelte er im Inneren, jetzt soll die Welt mit Kokain überschwemmt werden!
»Mein lieber Doktor Albez«, sagte er laut und herzlich, »mit diesem Ja haben Sie Ihr Glück geschmiedet! Noch in dieser
Woche werden Sie mit einer besonderes Mission auf einer Privatjacht bis Amsterdam dampfen und Don Manolda wiedersehen! Und nun« - er stieß eine Tür im Hintergrund auf, und heller Sonnenschein flutete in goldenen Streifen in den Raum, daß der aufgewirbelte Staub wie glitzernder Nebel wirkte -, »nun wollen wir unsere vertiefte Freundschaft kräftig begießen. Ich habe eine vorzügliche Marke hier: Malvasier, den unsere Ahnen Kanariensekt nannten!«
Sie traten in einen großen, hellen Raum mit breiten Fenstern, die einen schönen Ausblick über die Höhen und die Stadt Palmas boten. Das elegant mit Korbmöbeln und einem großen Ventilator ausgestattete Zimmer war gepflegt und peinlich sauber - ein Beweis, daß es noch bis vor kurzem bewohnt worden war.
Behaglich auf schnaufend, denn es war brutheiß an diesem Septembertag, ließ sich Professor Destilliano in einen der Korbsessel fallen und wischte den Schweiß von der faltigen Stirn. Nun, da er Dr. Albez als einen Mitspieler betrachtete, verzichtete er auf die makellose Haltung eines Edelmannes und benahm sich etwas freier und bequemer.
»Eine Hitze ist das!« stöhnte er und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einen im Hintergrund stehenden Schrank. »Gehen Sie doch bitte einmal zu diesem Schrank, lieber Doktor, und nehmen Sie eine Flasche Malvasier aus dem Eisfach heraus. Ich bin, ehrlich gesagt, zu faul, wieder aufzustehen.«
Dr. Albez lachte und nahm aus dem Schrank eine Flasche heraus. Dabei wunderte er sich, daß es ein vollendeter Kühlschrank war, der erst vor ganz kurzer Zeit mit neuem Eis gefüllt worden war.
»Ihre Organisation, Professor, ist verblüffend«, meinte er ein wenig sarkastisch. »Ihr treuer Hausgeist hat gut vorgesorgt! Nur das Lager hätte er ein wenig fegen sollen.«
»Das ist reiner Konservatismus«, lachte Destilliano.
»Verstaubte Lager machen den Eindruck mangelhaften Geschäftsverkehrs. Und das ist es, was ich bei einer plötzlichen und immerhin einmal möglichen Kontrolle erwecken möchte.«
Gewandt entkorkte er mit einem Taschenkorkenzieher die Flasche und schüttete den schweren, aber prickelnden Wein in die von Dr. Albez herbeigebrachten Gläser. Schnuppernd führte Destilliano das Glas an seine Nase und roch wohlig den Duft des Weines.
»Ein Tropfen, den kein Gold aufwiegt«, rief er übermütig. »Prost, lieber Doktor Albez!« Und als sie angestoßen und getrunken hatten, meinte Destilliano verschmitzt: »Ihre Karriere ist eigentlich ein Märchen. Sie verschwinden als Doktor Albez, bleiben zwei Jahre verschollen, gelten als tot, leben unter Hypnose als Pieter van Brouken, kommen wieder als Jose Biancodero, werden der Geliebte meiner Nichte, Teilhaber eines illegalen Medikamentengeschäftes ... «
»Wieso Teilhaber?« Dr. Albez zuckte empor. Er war sprachlos.
»Ach so, das habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt? Kinder, ihr sollt glücklich sein, Anita und Sie! Und meine Mitgift, die ich Anita gebe, ist eine Teilhaberschaft für Sie von zehn Prozent des Netto-Gewinns! Es liegt jetzt um so mehr an Ihnen, ob Sie Millionen verdienen oder ein kleiner biederer Bürger mit einem Girokonto auf der Stadtsparkasse werden.«
Dr. Albez brauchte eine Weile, um diese neueste Überraschung zu schlucken. Dann aber sprang er auf, drückte dem lächelnden Professor die Hand und wollte etwas sagen. Aber die glückliche Erregung versagte ihm die Stimme, und so drückte er mit leuchtenden Augen nur immer wieder die Hände Destillianos.
Mit leiser Gewalt befreite sich der Professor dann von ihm und drückte ihn lächelnd in den nahe hinter ihm stehenden Sessel.
»Mein Junge, Sie haben Kraft in den Fingern! Ich brauche meine Hände doch noch für meine Patienten! Trinken Sie noch einmal auf unser aller Wohl!«
Es wurde Abend, ehe sie schwer schwankend aufstanden. Sechs leere Flaschen standen neben den Korbsesseln auf dem Bastteppich, und eine halb angetrunkene Flasche Kognak funkelte auf dem Tisch im feurigen Abendrot.
Hin und her pendelnd, mit wirren heißen Haaren und rotem, verschwitztem Gesicht half Destilliano Dr. Albez auf die Beine und boxte ihm in den Rücken.
»Haltung, Fernando!« rief er und schwankte dabei selbst besorgniserregend. »Haltung ist alles, Fernando!«
»Ich bin so müde, so müde, Ricardo«, lallte Dr. Albez mit geschlossenen Augen und klammerte sich mit beiden Armen an den Professor. »Ein Bett, ein Königreich für ein Bett!«
»Du Verschwender!« Destilliano wackelte und schleifte den fast besinnungslosen Dr. Albez zu einer Tür, die in einen Nebenraum führte. Mit unsicheren Händen klinkte er sie auf und schwankte dann auf der Schwelle gefährlich nach vorn über. »Du mußt mehr saufen!« brüllte er. »Verstehst du, Fernando -Saufen ist eines der Hauptbestandteile von großen, geschäftlichen Verhandlungen und Erfolgen! Sieger ist immer der, der alle Betrunkenen stehend überlebt! Saufen mußt du lernen, einen zünftigen, akademischen Suff ...«
Dr. Albez antwortete nicht. Röchelnd schlief er bereits an Destillianos Schulter. Mit letzter Kraft schleifte ihn der Professor in den Raum, in dem einige Feldbetten an den Wänden standen. Er ließ den Schlafenden auf die Leinengurte fallen und rollte selbst auf eines der Betten.
Vierzehn Tage später stach Dr. Albez von Las Palmas aus mit einer bis unter die Ladeluken gefüllten Jacht Destillianos in Richtung Amsterdam in See.
Es war ein herrlicher, sonniger Tag.
Er dachte, ein gutes Werk zu tun, Millionen zu helfen durch die Bekämpfung des Tbc-Bazillus.
Aber er brachte millionenfaches Leid.
Er schmuggelte Kokain und Opium ...