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Es waren Robs letzte, ruhige Augenblicke seliger Unwissenheit, doch in seiner Einfalt empfand er es als unbillig, dass er mit seinen Brüdern und seiner Schwester zu Hause bleiben musste. Es war Frühlingsbeginn, und die Sonne stand so tief, dass ihre wärmenden Strahlen unter das vorstehende Strohdach drangen. Rob rekelte sich auf dem unebenen, steinernen Vorplatz neben der Haustür und genoss die Behaglichkeit. Eine Frau bahnte sich vorsichtig einen Weg auf der mit Löchern übersäten Carpenter's Street. Die Straße war genauso reparaturbedürftig wie die meisten kleinen Arbeiterhäuser, die sie säumten. Handwerker, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, dass sie für Reichere und vom Glück Begünstigtere solide Häuser bauten, hatten sie ohne jede Sorgfalt gebaut.
Rob enthülste seinen Korb Früherbsen und behielt dabei die jüngeren Geschwister im Auge, für die er verantwortlich war, wenn Mam außer Haus war. Der sechsjährige William Stewart und die vierjährige Anne Mary wühlten neben dem Haus im Schmutz und kicherten beim Spielen. Der achtzehn Monate alte Jonathan Carter lag auf einem Lammfell und schmatzte, rülpste und gluckste zufrieden. Der siebenjährige Samuel Edward war Rob entwischt. Irgendwie gelang es dem schlauen Samuel immer, sich aus dem Staub zu machen, statt bei der Arbeit zu helfen, und Rob hielt verärgert nach ihm Ausschau. Dann bemerkte er die Frau, die auf ihn zukam.
Stäbchen in ihrem schmutzigen Mieder drückten ihren Busen hoch, so dass man manchmal, wenn sie sich bewegte, eine rotgeschminkte Brustwarze sehen konnte. Ihr fleischiges Gesicht war grell geschminkt. Rob war erst neun Jahre alt, aber als Londoner Kind erkannte er eine Dirne sofort. »Du da! Ist das Nathanael Coles Haus?«
Er sah sie abweisend an, denn es war nicht das erste Mal, dass eine Hure an ihre Tür klopfte und seinen Vater suchte. »Wer will das wissen?« fragte er grob. Er war froh, dass sein Pa fort war, um Arbeit zu suchen, so dass sie ihn verpasste, froh auch, dass seine Ma ihre Stickarbeit ablieferte und ihr damit die peinliche Begegnung erspart blieb.
»Seine Frau braucht ihn. Sie hat mich geschickt.«
»Was meinst du mit >sie braucht ihn<?« Die geschickten jungen Hände hörten auf, Erbsen zu enthülsen.
Die Dirne sah ihn kühl an, denn sie hatte an seinem Ton und Verhalten seine Ablehnung erkannt. »Ist's deine Mutter?«
Er nickte.
»Sie hat starke Wehen. Sie liegt in Egglestans Stall beim Puddle Dock.
Am besten, du suchst deinen Vater und sagst es ihm.« Die Frau machte sich wieder auf den Weg.
Der Junge sah sich verzweifelt um. »Samuel!« schrie er, aber der verdammte Samuel war wie gewöhnlich weiß Gott wo. Rob holte
William und Anne Mary vom Dreckbuddeln weg. »Gib auf die
Kleinen acht, Willum«, trug er ihm auf. Dann verließ er das Haus und fing an zu laufen.
Wenn man dem Geschwätz der Leute glauben wollte, dann war das Jahr des Herrn 1021, in dem Agnes Cole zum achtenmal schwanger war, das Jahr des Satans. Verhängnisvolle Ereignisse und Naturkatastrophen kennzeichneten es. Schon im Vorherbst war die Ernte auf den Feldern von bitteren Frösten vernichtet worden, die sogar die Flüsse zum Gefrieren brachten. Es fielen so viele Niederschläge wie nie zuvor, und als das Tauwetter einsetzte, führte die Themse Hochwasser, das Brücken und Häuser wegriss. Sternschnuppen fielen, deren Licht über gepeitschten Winterwolken flackerte, und ein Komet erschien am Himmel.
Agnes hatte ihrem älteren Sohn gesagt, er solle dem Gerede keine Beachtung schenken. Wenn er jedoch etwas Ungewöhnliches sehe oder höre, hatte sie besorgt hinzugefügt, müsse er ein Kreuz schlagen. In diesem Jahr haderten die Menschen mit Gott, denn die Missernte hatte schlimme Folgen gehabt. Nathanael war seit über vier Monaten ohne Verdienst und lebte von den schönen Stickarbeiten, die seine geschickte Frau herstellte.
Als sie frisch verheiratet waren, sind sie und Nathanael vor Liebe krank gewesen, und sie hatten sehr zuversichtlich in die Zukunft geblickt; sein Plan war, als selbständiger Baumeister reich zu werden.
Er hatte sechs Jahre als Zimmermannslehrling und doppelt so lange als Geselle gearbeitet. Er hätte längst Anwärter zum Zimmermannsmeister sein können, was die Voraussetzung war, um selbständig zu werden. Aber um den Meister zu schaffen, brauchte man Energie und Zeiten des Wohlstands, er dagegen war zu niedergeschlagen, um es zu versuchen.
Ihr Leben kreiste weiterhin um die Handwerksgilde, doch nun ließ sie sogar die Londoner Zimmermannszunft im Stich, denn Nathanael meldete sich jeden Morgen im Zunfthaus, wo er nur erfuhr, dass es keine Arbeit gab.
Wie viele andere entmutigte Männer suchte er Zuflucht bei einem Gebräu, das sie Pigment nannten: Einer der Zimmerleute steuerte Honig bei, ein anderer brachte ein paar Gewürze, und die Zunft hatte immer einen Krug Wein zur Verfügung. Trotz Nathanaels schlechter Seiten konnte ihn Agnes nicht meiden, dazu liebte sie die fleischlichen Wonnen zu sehr. Ihr Bauch war daher immer dick. Er machte ihr gleich wieder ein Kind, sobald eines geboren war, und immer, wenn der Zeitpunkt der Geburt näherkam, blieb er von zu Hause fort. Ihr Leben entsprach fast wörtlich den düsteren Prophezeiungen, die ihr Vater ausgesprochen hatte, als sie Rob bereits unter dem Herzen trug und den jungen Zimmermann heiratete, der nach Watford gekommen war, um ihrem Nachbarn eine Scheune zu bauen. Ihr Vater hatte ihre Schulbildung dafür verantwortlich gemacht, weil er meinte, dass Bildung einer Frau nur lüsternen Unsinn in den Kopf setzte.
Er besaß ein kleines Anwesen, das ihm Aethelred von Wessex als Anerkennung für seinen militärischen Einsatz übereignet hatte. Er war der erste in der Familie Kemp gewesen, der Freisasse wurde. Walter Kemp hatte seine Tochter zur Schule geschickt in der Hoffnung, dass sie daraufhin einen Gutsbesitzer heiraten würde, denn für einen Eigentümer eines großen Gutes war es nützlich, eine Vertrauensperson zu haben, die lesen und rechnen konnte, und warum sollte dies nicht die eigene Ehefrau sein? Es hatte Kemp verbittert, als sie eine niedrige, liederliche Liebschaft unter ihrem Stand einging. Der arme Mann hatte sie jedoch nicht einmal enterben können: Als er starb, fiel sein kleiner Besitz wegen außenstehender Abgaben an die Krone zurück. Aber sein Ehrgeiz hatte ihr Leben bestimmt. Die fünf glücklichsten Jahre, an die sie sich erinnern konnte, waren diejenigen, da sie als Kind
die Klosterschule besuchen durfte. Die Nonnen hatten ihr Lesen und Schreiben beigebracht und eine oberflächliche Kenntnis der lateinischen Sprache, in der der Katechismus abgefasst war. Sie hatten sie gelehrt, wie man Kleider zuschnitt und einen unsichtbaren Saum nähte und wie man Goldstickereien anfertigt, die so elegant waren, dass sie in Frankreich, wo sie »englische Stickerei« genannt wurden, sehr begehrt waren.
Der »Unsinn«, den sie von den Nonnen gelernt hatte, hielt jetzt ihre Familie am Leben.
An diesem Morgen hatte sie noch überlegt, ob sie die Stickarbeit wirklich abliefern sollte. Ihre Niederkunft stand kurz bevor, und sie fühlte sich schwer und unförmig. Aber die Lebensmittelvorräte waren aufgebraucht. Sie musste auf den Billingsgate-Markt gehen, um Mehl und Fleisch zu kaufen, dafür brauchte sie aber das Geld, das ihr der Exporteur bezahlen würde, der in Southwark wohnte, auf der anderen Seite des Flusses. Sie ging langsam mit ihrem kleinen Bündel die Thames Street zur London Bridge hinunter. Wie gewöhnlich wimmelte die Thames Street vor Packtieren und Schauerleuten, die Waren zwischen den höhlenartigen Lagerhäusern und dem Wald von Schiffmasten an den Kais hin und her beförderten. Der Lärm erfrischte sie belebend wie Regen ausgedörrten Boden. Trotz aller Schwierigkeiten war sie Nathanael dafür dankbar, dass er sie von Watford und dem Anwesen ihres Vaters weggeholt hatte. Sie liebte diese Stadt so sehr.
Sie ging an zerlumpten Unfreien vorbei, die Eisenbarren zu vor Anker liegenden Schiffen schleppten. Hunde bellten die unglücklichen Männer an, die sich unter ihren schweren Lasten abmühten, so dass Schweißperlen auf ihren kahlgeschorenen Köpfen glänzten. Sie atmete den Knoblauchgestank ungewaschenen Körper ein und den metallischen Geruch der Eisenbarren, dann einen angenehmen Duft, der von einem Karren kam, auf dem ein Mann Fleischpasteten feilbot. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, aber sie hatte nur ein Geldstück in der Tasche und hungrige Kinder daheim. »Pasteten, verführerisch wie die Sünde«, pries der Verkäufer. »Heiß und gut!« Die Docks dufteten nach sonnenwarmem Fichtenharz und geteerten Tauen. Sie presste eine Hand auf den Bauch, als sie spürte, wie sich ihr Kind in dem Ozean zwischen ihren Hüften bewegte. An der Ecke sang eine Gruppe von Seeleuten mit Blumen an den Mützen fröhliche Lieder, zu denen drei Musikanten auf einer Querpfeife, einer Trommel und einer Harfe spielten. Während sie an ihnen vorbeiging, bemerkte sie einen Mann.
Er lehnte an einem merkwürdig aussehenden Wagen, auf den die Zeichen des Tierkreises aufgemalt waren. Er mochte an die vierzig Jahre alt sein, und die Haare begannen ihm auszugehen, die wie sein Bart rötlich waren.
Seine Züge waren sympathisch, und er hätte besser ausgesehen als Nathanael, wenn er nicht so dick gewesen wäre. Sein Gesicht war wettergegerbt, und sein Bauch stand genauso weit vor wie der ihre. Doch war seine Korpulenz nicht abstoßend; im Gegenteil, sie wirkte entwaffnend und anziehend und verriet, dass hier ein freundlicher, geselliger Geist den Freuden des Lebens zu sehr zugetan war. Seine blauen Augen glänzten und blitzten und passten zu dem Lächeln auf seinen Lippen.
»Hübsche Dame, wollt Ihr mein Liebchen sein?« fragte er. Überrascht sah sie sich um, um festzustellen, mit wem er sprach, aber außer ihr war niemand in der Nähe.
»Wir sind füreinander geschaffen. Ich würde für Euch sterben, meine Dame«, rief er ihr begeistert nach.
»Nicht nötig. Christus hat es schon getan, Sir«, entgegnete sie, hob den Kopf, straffte die Schultern und ging weiter. Dabei wiegte sie sich verführerisch in den Hüften, schob ihren beinahe unglaublichen, vom Kind ausgefüllten Bauch vor sich her und stimmte in sein Gelächter ein.
Sie lächelte noch, als in der Nähe des Puddle Dock die Wehen einsetzten. »Barmherzige Mutter!« flüsterte sie.
Der Schmerz setzte wieder ein, begann in ihrem Bauch, griff jedoch auf den ganzen Körper und ihre Sinne über, so dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Als sie auf das Kopfsteinpflaster sank, platzte die Fruchtblase.
Sofort sammelte sich eine Menge von neugierigen Londonern, und ein Wald von Beinen schloss sie ein. Durch einen Nebel von Schmerzen nahm sie einen Kreis von Gesichtern wahr, die auf sie herunterschauten.
Agnes stöhnte.
»Hört mal, ihr erbärmlichen Scheißkerle«, brummte ein Rollkutscher. »Lasst ihr Platz zum Atmen. Und lasst uns unser tägliches Brot verdienen. Bringt sie von der Straße weg, damit unsere Wagen vorbei können.«
Man trug sie an einen Ort, wo es dunkel und kühl war und stark nach Dung roch. Dabei machte sich jemand mit ihrem Bündel Stickereien davon. Weiter hinten in der Dunkelheit bewegten sich schwankend große Gestalten.
Ein Huf schlug hallend an ein Brett, gefolgt von lautem Wiehern.
»Was soll das? Ihr könnt sie nicht hierher bringen«, wehrte sich eine mürrische Stimme. Es war ein aufgeregter, kleiner Mann mit rundem Bauch und lückenhaften Zähnen, und als sie seine Stallknechtstiefel und die Mütze sah, erkannte sie Geoff Egglestan und wußte, daß sie in seinem Stall lag. Vor mehr als einem Jahr hatte Nathanael hier einige Boxen neu gebaut, und sie wollte diese Tatsache nützen.
»Master Egglestan«, keuchte sie leise. »Ich bin Agnes Cole, die Frau des Zimmermanns, den Ihr gut kennt.«
Sein Gesicht verriet, daß er sie widerwillig erkannte und ihm klar wurde, daß er sie nicht hinauswerfen konnte.
Die Leute drängten sich neugierig hinter ihm. Agnes rang nach Atem. »Bitte, würde jemand so freundlich sein und meinen Mann holen?« fragte sie.
»Ich kann von meiner Arbeit nicht weg«, murmelte Egglestan. »Das muß jemand anderer besorgen.«
Niemand rührte sich.
Sie steckte die Hand in die Tasche und fand das Geldstück. »Bitte«, wiederholte sie und hielt es in die Höhe.
»Ich werde meine Christenpflicht tun«, meldete sich sofort eine Frau, offenbar eine Prostituierte. Ihre Finger schlössen sich wie eine Klaue um die Münze.
Der Schmerz war unerträglich. Diesmal war es ein anderer, neuer Schmerz. Sie war an dicht aufeinanderfolgende Wehen gewöhnt; nach den ersten beiden Schwangerschaften waren die Geburten etwas schwierig gewesen, aber im Lauf der Zeit hatte sich der Muttermund gedehnt. Sie hatte vor und nach Anne Mary Fehlgeburten gehabt, aber sowohl Jonathan als auch das Mädchen hatten nach dem Platzen der Fruchtblase ihren Körper mühelos verlassen wie kleine, zwischen zwei Fingern herausgedrückte Samen. Bei fünf Geburten hatte sie nichts Derartiges erlebt.
Liebe Agnes, betete sie in dumpfem Schweigen. Liebe Agnes, der du den Lämmern hilfst, hilf auch mir!
Sie betete immer, wenn sie Wehen hatte, zu ihrer Namensheiligen, doch diesmal war die ganze Welt ein unablässiger Schmerz, und das Kind steckte in ihr wie ein großer Pfropfen.
Schließlich erregten ihre rauen Schreie die Aufmerksamkeit einer vorbeigehenden Hebamme, eines alten Weibes, das ziemlich betrunken war und die Gaffer fluchend aus dem Stall jagte. Als sie wieder zurückkam, betrachtete sie Agnes angewidert. »Die verdammten Männer haben dich in der Scheiße abgesetzt«, murmelte sie.
Sie wusste keinen anderen Platz, an den sie Agnes hätte bringen können. Sie schob ihr die Röcke bis zur Taille hinauf und schnitt die Unterwäsche weg; dann fegte sie auf dem Boden vor der offenen Vulva den strohigen Dung mit den Händen beiseite, die sie an ihrer schmutzigen Schürze abwischte.
Aus ihrer Tasche zog sie ein Glas mit Schweinefett, das schon vom Blut und den Säften anderer Frauen dunkel gefärbt war. Sie nahm etwas von dem ranzigen Fett heraus und bewegte die Hände wie beim Waschen, bis sie eingeschmiert waren. Dann schob sie zuerst zwei Finger, dann drei, dann die ganze Hand in die erweiterte Öffnung der pressenden Frau, die jetzt wie ein Tier heulte.
»Es wird dir noch doppelt so weh tun, Frau«, sagte die Hebamme nach einigen Augenblicken und schmierte ihre Arme bis zu den Ellbogen ein. »Der kleine Kerl könnte sich selbst in die Zehen beißen, wenn er wollte. Er kommt mit dem Arsch voran heraus.«
Rob wollte zuerst zum Puddle Dock laufen. Dann wurde ihm aber klar, dass er seinen Vater finden musste, und er rannte zum Zunfthaus der Zimmerleute, was für jedes Kind eines Mitglieds bei Schwierigkeiten verständlich war.
Die Londoner Zunft der Zimmerleute war am Ende der Carpenter's Street in einem alten Gebäude aus mit Lehm beworfenem Flechtwerk untergebracht, einem Fachwerk aus Pfosten, die mit Weidenruten und
-zweigen verflochten und dick mit Mörtel bedeckt waren, der alle paar Jahre erneuert werden musste. In dem geräumigen Haus saßen ein Dutzend Männer in Lederwämsen und mit den Werkzeuggürteln ihres Handwerks auf den rohen Stühlen, welche die fürs Haus zuständigen Mitglieder hergestellt hatten. Rob erkannte Nachbarn und Mitglieder der Zehnschaft seines Vaters, sah aber Nathanael nicht. Die Zunft war für die Londoner Holzarbeiter alles: Büro, Krankenhaus, Beerdigungsinstitut, gesellschaftliches Zentrum, Wohlfahrtsorganisation in den Zeiten der Arbeitslosigkeit, Schiedsrichter, Stellenvermittlung und Verdingungshalle, politischer Rückhalt und moralische Stütze. Es handelte sich um eine straff organisierte Gesellschaft, die aus vier Gruppen von Zimmerleuten bestand, die Hundertschaften genannt wurden. Jede Hundertschaft bestand aus zehn Zehnschaften, die gesondert und in vertrautem Kreis zusammenkamen, und erst wenn eine Zehnschaft ein Mitglied durch Tod, dauernde Erkrankung oder Abwanderung verlor, wurde ein neues Mitglied als Zimmermannslehrling in die Zunft aufgenommen, für gewöhnlich gemäß einer Warteliste mit den Namen von Söhnen der Mitglieder. Das Wort des Zunftmeisters besaß genauso viel Gewicht wie das eines Fürsten, und zu dieser angesehenen Person, Richard Bukerei, rannte Rob jetzt.
Bukerei ging gebückt, als laste die Verantwortung bildlich auf seinen Schultern. Alles an ihm war dunkel. Sein Haar war schwarz, seine Augen hatten die Farbe von gealterter Eichenrinde; seine engen Hosen, der Kittel und der Wams waren aus grobem Wollstoff, den man gefärbt hatte, indem man ihn mit Walnussschalen kochte, und seine Haut hatte die Farbe von gebeiztem Leder, das die Sonne bei tausend Hausbauten gegerbt hatte. Er bewegte sich, dachte und sprach bedächtig und hörte Rob aufmerksam zu. »Nathanael ist nicht hier, mein Junge.« »Wisst Ihr, wo man ihn finden kann, Master Bukerei?« Bukerei zögerte. »Entschuldige mich, bitte«, sagte er endlich und ging zu einigen Männern, die in der Nähe beisammensaßen. Rob verstand nur gelegentlich ein Wort oder einen geflüsterten Satz. »Bei diesem Weibsstück ist er?« murmelte Bukerei. Einen Augenblick später kam der Zunftmeister zurück. »Wir wissen, wo wir deinen Vater finden können«, erklärte er. »Lauf zu deiner
Mutter, mein Junge! Wir werden Nathanael holen und gleich nachkommen.«
Rob stammelte seinen Dank hervor und rannte davon. Er blieb nicht einmal stehen, um Luft zu holen. Er wich Lastfuhrwerken und Betrunkenen aus und rannte durch dichtes Menschengewühl zum Puddle Dock. Auf halbem Weg erblickte er seinen Feind, Anthony Tite, mit dem er im letzten Jahr dreimal erbittert gekämpft hatte.
Halt mich jetzt nicht auf, du glotzäugiger Fisch! dachte Rob beherrscht. Versuch es nur, Scheiß-Tony, und ich mach dich wirklich fertig - wie ich es einmal mit meinem niederträchtigen Pa tun werde. Er geriet außer Atem und hatte Seitenstechen, als er Egglestans Stall erreichte, wo er sah, wie eine ihm unbekannte alte Frau ein Neugeborenes wickelte.
Im Stall roch es nach Pferdemist und dem Blut seiner Mutter. Sie lag auf dem Boden, ihre Augen waren geschlossen, und ihr Gesicht war bleich. Es erstaunte ihn, wie klein sie war. »Ma?«
»Du bist der Sohn?«
Er nickte, seine magere Brust hob und senkte sich. Die alte Frau räusperte sich und spuckte auf den Boden.
»Lass sie in Ruhe!« sagte sie.
Als sein Pa eintraf, hatte er für Rob kaum einen Blick übrig. In einem mit Stroh gepolsterten Leiterwagen, den sich Bukerei von einem Baumeister geliehen hatte, brachten sie Ma zusammen mit dem Neugeborenen nach Hause. Es war ein Junge, der auf den Namen Roger Kemp Cole getauft werden sollte.
Ma hat immer, wenn sie ein Kind zur Welt gebracht hatte, das Neugeborene den anderen Kindern übermütig und stolz gezeigt. Jetzt starrte sie nur zum Strohdach empor.
Schließlich holte Nathanael die Witwe Hargreaves vom Nachbarhaus. »Sie kann nicht einmal das Kind stillen«, sagte er zu ihr. »Vielleicht wird es sich geben«, meinte Della Hargreaves. Sie kannte eine Amme und brachte den Kleinen zu Robs großer Erleichterung zu ihr. Er hatte alle Hände voll zu tun, weil er sich um die übrigen vier Geschwister kümmern musste. Jonathan Carter war schon aufs
Töpfchen gegangen, hatte dies aber, weil ihm die Betreuung durch seine Mutter fehlte, wieder verlernt.
Sein Pa blieb zu Hause. Rob sprach kaum mit ihm und ging ihm aus dem Weg. Der Unterricht, den die Mutter jeden Morgen abgehalten hatte, fehlte Rob, denn Ma hatte ihn als ein fröhliches Spiel dargeboten. Er kannte niemanden, der so voller Wärme, herzlichem Übermut und Geduld mit jemandem war, der sich alles nur langsam merkte. Rob befahl Samuel, Willum und Anne Mary außerhalb des Hauses zu beschäftigen. Am Abend weinte dann Anne Mary und wollte ihr Schlummerlied hören. Rob drückte sie an sich und nannte sie seine Maid Anne Mary, was sie am liebsten hörte. Schließlich erzählte er ihr von weichen, süßen Kaninchen und flaumigen Vögeln im Nest und war froh, dass Anthony Tite nicht dabei war. Seine Schwester hatte rundere Wangen und zartere Haut als ihre Mutter, obwohl Ma immer behauptete, dass Mary den Kemps wie aus dem Gesicht geschnitten sei, sogar wenn ihr Mund sich im Schlaf entspanne. Ma sah am zweiten Tag besser aus, aber sein Vater meinte, die Farbe auf ihren Wangen komme vom Fieber. Sie zitterte, und sie breiteten zusätzliche Decken über sie.
Als Rob ihr am dritten Morgen Wasser zu trinken gab, erschrak er über die Hitze, die von ihrem Gesicht ausging. Sie streichelte seine Hand. »Mein Rob«, flüsterte sie, »ein richtiger Mann.« Ihr Atem roch übel und ging sehr schnell.
Als er ihre Hand ergriff, ging etwas von ihrem Körper in ihn über. Es war eine Art Gewissheit: Er wusste genau, was mit ihr geschehen würde. Er konnte nicht weinen. Er konnte nicht aufschreien. Die Haare in seinem Nacken sträubten sich, und er empfand tiefes Entsetzen. Er hätte damit nicht fertig werden können, selbst wenn er erwachsen gewesen wäre, und dabei war er noch ein Kind. In seinem Entsetzen drückte er Mas Hand zu fest, was ihr Schmerzen bereitete. Sein Vater sah es und gab ihm eine Kopfnuss. Als er am nächsten Morgen aufstand, war seine Mutter tot.
Nathanael Cole weinte, was seine Kinder, die die Tatsache, dass Ma für immer von ihnen gegangen war, noch nicht begriffen hatten, in Angst versetzte. Sie hatten ihren Vater noch nie weinen sehen, und sie drängten sich mit blassen Gesichtern furchtsam zusammen.
Die Zunft sorgte für alles.
Zuerst kamen die Frauen. Keine war Agnes' vertraute Freundin gewesen, denn ihre Schulbildung hätte sie verdächtig gemacht. Doch jetzt verziehen ihr die Frauen ihre Überlegenheit und bahrten sie auf. Von da an hasste Rob den Geruch von Rosmarin. Wenn die Zeiten besser gewesen wären, hätten sich die Männer erst am Abend nach der Arbeit eingefunden, aber viele waren arbeitslos und kamen deshalb früh. Hugh Tite, Anthonys Vater, der ihm vollkommen glich, kam als Vertreter der Sarg-Knocker, eines ständigen Ausschusses, der die Särge für die Begräbnisse von Mitgliedern zimmerte. Er klopfte Nathanael auf die Schulter. »Ich hab' genügend harte Kieferbretter auf der Seite, die bei der Bardwell-Taverne voriges Jahr übriggeblieben sind. Du erinnerst dich doch an das schöne Holz? Wir werden ihr Ehre widerfahren lassen.« Dann wandten sich beide den Getränken zu.
Die Zunft hatte ausreichend Vorsorge getroffen, denn ein Begräbnis war die einzige Gelegenheit, bei der Trunkenheit und Gefräßigkeit geduldet wurden. Außer Apfelwein und Starkbier gab es süßes Bier und ein Getränk namens Slip, für das man Honig, mit Wasser vermischt, sechs Wochen gären ließ. Dann gab es den Freund und Trost der Zimmerleute: Pigment, den nach Maulbeeren schmeckenden Wem, der Morat hieß, und einen gewürzten Met, der Metheglin genannt wurde. Ferner brachte man Unmengen gebratener Wachteln und Rebhühner, viele gebackene und gebratene Gerichte von Hasen und anderem Wild, Räucherheringe, frisch gefangene Forellen und Schollen sowie Laibe von Gerstenbrot.
Die Zunft beschloss eine Spende von zwei Pence für Almosen im Namen von Agnes Coles seligem Andenken und stellte Sargträger zur Verfügung, welche die Prozession zur Kirche anführten, dazu Totengräber, die das Grab ausschaufelten. In der St.-Botolphs-Kirche las ein Priester namens Kempton geistesabwesend die Messe und empfahl Ma Jesus. Die Angehörigen der Zunft rezitierten zwei Psalmodien für ihre Seele. Vor einer kleinen Eibe wurde sie im Kirchhof bestattet.
Als sie ins Haus zurückkehrten, hatten die Frauen das Totenmahl zubereitet, und die Leute aßen und tranken stundenlang; der Tod einer Nachbarin erlöste sie von ihrer kärglichen Kost. Die Witwe Hargreaves saß bei den Kindern, stopfte sie mit Leckerbissen voll und machte viel Aufhebens davon. Sie drückte sie an ihre schweren, duftenden Brüste, während sie sich wanden und litten. Als William übel wurde, führte ihn Rob hinter das Haus und hielt ihm den Kopf, solange er würgte und erbrach.
Rob begriff, was der Tod bedeutete, wartete aber dennoch ständig darauf, dass Ma nach Hause komme. Er wäre gar nicht so schrecklich überrascht gewesen, wenn sie die Tür geöffnet hätte und mit Lebensmitteln vom Markt oder Geld vom Exporteur in Southwark hereingekommen wäre.
Geschichtsstunde, Rob.
Welche drei germanischen Stämme sind während des fünften und sechsten Jahrhunderts n. Chr. in England eingefallen ? Die Angeln, die Juten und die Sachsen, Ma. Woher sind sie gekommen, mein Liebling?
Aus Germanien und Dänemark. Sie haben die Briten an der Ostküste besiegt und die Königreiche Northumbria, Mercia und Ost-Anglia gegründet. Wodurch wird mein Sohn so klug? Durch seine kluge Mutter.
Da hast du einen Kuss von deiner klugen Mutter. Und noch einen, weil du einen klugen Vater hast. Du darfst deinen klugen Vater nie vergessen...
Zu Robs großer Überraschung blieb sein Vater zu Hause. Nathanael schien mit den Kindern sprechen zu wollen, brachte es aber nicht fertig. Er verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, das Strohdach zu erneuern. Ein paar Wochen nach dem Begräbnis, während die Betäubung langsam nachließ und Rob allmählich begriff, wie anders sein Leben verlaufen würde, bekam sein Vater endlich Arbeit. Der Lehm am Flussufer von London war braun und tief, ein weicher, zäher Schlamm, in dem Teredines genannte Schiffsbohrwürmer leben. Diese Pfahlwürmer hatten das Holz der Uferbefestigung übel zugerichtet, sich jahrhundertelang hineingebohrt und die Kais durchlöchert, so dass einige ersetzt werden mussten. Die Arbeit war schwer, ganz anders als das Errichten von schönen Häusern, aber angesichts der Schwierigkeiten nahm Nathanael sie gern an.
Die Verantwortung für das Haus fiel Rob zu, obwohl er ein schlechter Koch war. Della Hargreaves brachte oft Lebensmittel oder kochte eine Mahlzeit, meist, wenn Nathanael zu Hause war. Dann achtete sie auch darauf, gut zu duften und zu den Kindern freundlich und aufmerksam zu sein. Jonathan Carter und Anne Mary weinten ständig. William Stewart hatte keinen Appetit mehr, ein schmales Gesicht und große Augen, und Samuel Edward war frecher denn je und brachte Schimpfworte nach Hause, die er Rob mit solchem Vergnügen an den Kopf warf, dass der Ältere sich nicht anders zu helfen wusste, als ihn zu verprügeln.
Er versuchte, immer das zu tun, was er glaubte, das Ma getan hätte. Am Morgen, nachdem das Kleine seinen Brei bekommen hatte und die anderen Gerstenbrot gegessen und etwas getrunken hatten, säuberte er den Herd unter dem runden Rauchloch, durch das, wenn es regnete, Tropfen zischend ins Feuer fielen. Er trug die Asche hinter das Haus und kehrte dann die Böden. Er staubte die wenigen Möbel in allen drei Räumen ab. Dreimal in der Woche kaufte er in Billingsgate die Lebensmittel ein, die Ma bei ihrem einzigen wöchentlichen Marktbesuch nach Hause gebracht hatte. Viele Ladenbesitzer kannten ihn. Manche überreichten ihm für die Familie Cole zusammen mit ihren Beileidsbezeugungen ein kleines Geschenk, als er das erste Mal allein kam: ein paar Äpfel, ein Stück Käse, einen halben gepökelten Dorsch. Aber nach ein paar Wochen kehrte der Alltag ein, und er feilschte mit ihnen wilder als Ma, damit sie nicht auf den Gedanken kamen, ein Kind zu übervorteilen.
Dieses Jahr hatte Ma Samuel zur Schule schicken wollen. Sie hatte sich gegen Nathanael durchgesetzt und ihn dazu überredet, dass Rob bei den Mönchen von St. Botolph Unterricht nahm. Er war zwei Jahre lang täglich in die Klosterschule gegangen, bis er zu Hause bleiben musste, damit sie genügend Zeit fand zu sticken. Jetzt würde keiner von ihnen zur Schule gehen, denn sein Vater konnte weder lesen noch schreiben und fand, dass die Lernerei Zeitvergeudung war. Doch Rob fehlte die Schule sehr.
Eines Abends lobte ihn sein Vater, weil er so tüchtig war. »Du warst immer sehr reif für deine Jahre«, stellte Nathanael fast missbilligend fest. Sie sahen einander befangen an, da sie sich sonst nichts zu sagen hatten. Wenn Nathanael seine freie Zeit mit Huren verbrachte, wollte
Rob nichts davon wissen. Er hasste seinen Vater immer noch bei dem Gedanken daran, wie es Ma ergangen war, doch er wusste, dass Nathanael sich auf eine Weise abschuftete, die sie bewundert hätte. Seine Schwester und die Brüder hätte er bereitwillig der Witwe überlassen, und er beobachtete Della Hargreaves' Kommen und Gehen erwartungsvoll, denn die Anzüglichkeiten und Witze der Nachbarn hatten ihm verraten, dass sie seine Stiefmutter werden könnte. Sie war kinderlos, und ihr Mann war ein Zimmermann gewesen, den vor fünfzehn Monaten ein herabfallender Balken getötet hatte. Wenn eine Frau starb und kleine Kinder hinterließ, war es üblich, dass der Witwer bald wieder heiratete, und so wunderte sich niemand, als Nathanael begann, sich allein mit Della in ihrem Haus aufzuhalten. Aber solche Zwischenspiele waren begrenzt, weil Nathanael für gewöhnlich zu müde war. Er arbeitete in Nässe und Kälte, wenn sie während der Ebbe große Pfähle für Wälle tief in das Flussbett rammten. Wie die übrigen seiner Arbeitsgruppe zog er sich einen rauen, trockenen Husten zu und kam immer völlig erschöpft nach Hause. Aus der Tiefe des kalten Themseschlamms förderten sie Fundstücke der Geschichte ans Tageslicht: eine römische Ledersandale mit langen Knöchelriemen, einen zerbrochenen Speer, Scherben von Tongefäßen. Einmal brachte er einen bearbeiteten Feuersteinsplitter für Rob nach Hause; die Pfeilspitze war scharf wie ein Messer und in sechs Meter Tiefe gefunden worden.
»Ist sie römisch?« fragte Rob eifrig. Sein Vater hob die Schultern. »Vielleicht sächsisch.« Aber über den Ursprung der Münze, die ein paar Tage später gefunden wurde, gab es keinen Zweifel. Als Rob Asche befeuchtete und die Münze damit lange rieb, erschienen auf einer Seite der geschwärzten Scheibe die Worte PRIMA COHORS BRITANNIAE LONDONII. Sein Kirchenlatein reichte zum Entziffern kaum aus. »Vielleicht bezieht sich das auf die erste Kohorte, die in London stationiert war«, meinte er. Auf der anderen Seite befanden sich ein berittener Römer und die drei Buchstaben IOX.
»Was bedeutet IOX?« fragte sein Vater.
Er wusste es nicht. Ma hätte es sicher gewusst, aber er kannte sonst niemanden, den er hätte fragen können, und so legte er die Münze beiseite.
Sie hatten sich so sehr an Nathanaels Husten gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr hörten. Als Rob eines Morgens den Herd reinigte, entstand vor dem Haus Unruhe. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, sah er Harmon Whitelock aus der Arbeitsgruppe seines Vaters und zwei Unfreie, die er von den Schauerleuten requiriert hatte, um Nathanael nach Hause tragen zu lassen.
Die unfreien Knechte flößten Rob Entsetzen ein. Es gab verschiedene Möglichkeiten, durch die ein Mann seine Freiheit verlieren konnte: Ein Kriegsgefangener wurde der servus eines Kriegers, der ihm das Leben hätte nehmen können, ihn aber verschont hatte; freie Männer konnten wegen schwerer Verbrechen zur Knechtschaft verurteilt werden; ebenso Schuldner oder Leute, die außerstande waren, eine große Geldstrafe zu bezahlen. Frau und Kinder eines Mannes kamen mit ihm in die Knechtschaft, und ebenso künftige Generationen seiner Familie.
Die Unfreien vor der Tür waren große, muskulöse Männer mit rasierten Köpfen, die sie äußerlich kennzeichneten, und zerlumpter Kleidung, die entsetzlich stank. Rob wusste nicht, ob sie gefangene Ausländer oder Engländer waren, denn sie sprachen kein Wort, sondern starrten ihn nur gleichmütig an. Nathanael war nicht klein, aber sie trugen ihn, als würde er nichts wiegen. Die Unfreien jagten Rob noch mehr Angst ein als die fahle Blässe im Gesicht seines Vaters oder die Art, wie Nathanaels Kopf kraftlos herabhing, als sie ihn hinlegten* »Was ist geschehen?«
Whitelock zuckte mit den Achseln. »Es ist ein Jammer. Die Hälfte von uns leidet daran, hustet und spuckt die ganze Zeit. Heute war er so schwach, dass er zusammenbrach, als die schwere Arbeit begann. Nach ein paar Tagen Ruhe wird er schon wieder auf dem Damm sein.« Am nächsten Morgen war Nathanael nicht imstande, das Bett zu verlassen; seine Stimme war nur ein heiseres Krächzen. Frau Hargreaves brachte heißen Tee mit Honig und blieb bei ihm. Sie sprachen leise und vertraulich miteinander, und ein- oder zweimal lachte die Frau.
Doch als sie am nächsten Morgen kam, hatte Nathanael hohes Fieber, er konnte weder scherzen noch schmeicheln, und sie ging bald wieder. Seine Zunge und Kehle wurden grellrot, und er verlangte immer wieder zu trinken.
In der Nacht fieberte er, und einmal schrie er, dass die stinkenden Dänen in ihren Schiffen mit dem hohen Bug die Themse heraufsegel-ten. Seine Brust füllte sich mit zähem Schleim, den er nicht loswerden konnte, und das Atmen fiel ihm immer schwerer. Als der Morgen kam, eilte Rob ins Nachbarhaus, um die Witwe zu holen, doch Della Hargreaves weigerte sich herüberzukommen. »Ich halte es für Soor. Das ist ansteckend«, wehrte sie ab und schloss die Tür.
Da Rob sonst niemanden haue, an den er sich wenden konnte, ging er wieder zum Zunfthaus. Richard Bukerei hörte ihm ernst zu, dann begleitete er ihn nach Hause, setzte sich für einige Zeit ans Fußende von Nathanaels Bett, bemerkte sein gerötetes Gesicht und hörte das Röcheln, wenn er atmete. Er wusste, was mit dieser Familie geschehen würde, wenn auch noch der Vater starb. Also eilte er davon und verwendete Geld der Zunft, um Thomas Ferraton, einen Medicus, zu holen.
An diesem Abend bekam Bukerei die scharfe Zunge seiner Frau zu spüren. »Einen Medicus? Gehört Nathanael Cole plötzlich zum Landoder gar zum Hochadel? Wenn ein gewöhnlicher Bader, der seine Arzneien selbst zubereitet, gut genug ist, um jeden Armen in London zu behandeln, warum braucht Nathanael Cole einen Arzt, der uns teuer zu stehen kommt?«
Bukerei konnte nur eine Entschuldigung murmeln, denn sie hatte recht. Nur Adelige und reiche Kaufleute leisteten sich die teuren Dienste eines Medicus. Gewöhnliche Menschen wandten sich an einen Bader, und manchmal zahlte ein Arbeiter einem Barbier einen halben Penny für einen Aderlass oder eine fragwürdige Behandlung. Bukerei hielt alle Heiler für verdammte Blutsauger, die mehr Schaden anrichteten als Gutes stifteten. Aber er wollte Cole jede nur mögliche Hilfe angedeihen lassen, und so hatte er in einem schwachen Augenblick den teuren Arzt geholt, dem er die schwerverdienten Beiträge ehrlicher Zimmerleute in den Rachen warf.
Der in eine reiche Familie hineingeborene Ferraton - sein Vater war der Wollhändler Johann Ferraton gewesen -
war bei einem Medicus namens Paul Willibald in die Lehre gegangen, dessen wohlhabende Familie feine Klingen erzeugte und verkaufte. Willibald hatte reiche Leute behandelt, und Ferraton hatte nach seiner Lehrzeit diese Praxis übernommen. Adelige Patienten waren zwar für den Sohn eines Kaufmanns unerreichbar, aber er fühlte sich den Wohlhabenden zugehörig; er teilte ihre Ansichten und Interessen. Er behandelte niemals wissentlich einen Patienten, der nur Arbeiter war, hatte vielmehr angenommen, dass Bukerei der Bote einer bedeutenden Persönlichkeit war. In Nathanael Cole erkannte er sofort einen seiner nicht würdigen Patienten, doch da er keine Szene machen wollte, beschloss er, die unangenehme Aufgabe möglichst schnell hinter sich zu bringen. Er berührte vorsichtig Nathanaels Stirn, schaute ihm in die Augen und roch an seinem Atem. »Es wird vorübergehen«, orakelte er.
»Was ist es?« fragte Bukerei, aber Ferraton antwortete nicht. Rob spürte instinktiv, dass der Doktor es nicht wusste. »Es ist die Halsbräune«, erklärte Ferraton endlich und zeigte auf weiße Eiterpünktchen im hochroten Rachen seines Patienten. »Eine eiternde Entzündung vorübergehender Art. Nicht mehr.« Er schnürte seine Aderpresse um Nathanaels Arm, stach geschickt mit einer Lanzette hinein und ließ ihn gründlich zur Ader. »Und wenn es nicht besser wird?« fragte Bukerei. Der Medicus runzelte die Stirn. Er würde dieses Armeleutehaus nicht wieder betreten. »Ich werde ihn am besten noch einmal zur Ader lassen, um ganz sicher zu gehen«, entschloss er sich und nahm sich den anderen Arm vor. Er ließ ein Fläschchen flüssiges Kalomel, gemischt mit verkohltem Schilfrohr, zurück und berechnete Bukerei den Besuch, die Aderlässe und die Medizin einzeln.
»Menschenmordender Blutsauger! Schlächter, Gentlemanschwanz«, murmelte Bukerei, der ihm nachstarrte. Der Zunftmeister versprach Rob, eine Frau zu schicken, die seinen Vater pflegen würde.
Der totenblasse, ausgeblutete Nathanael bewegte sich nicht. Ein paarmal verwechselte er den Jungen mit Agnes und versuchte, seine Hand zu ergreifen. Aber Rob erinnerte sich daran, wie sich sein Vater während der Krankheit seiner Mutter verhalten hatte, und zog ihm die Hand weg.
Später schämte er sich und kehrte ans Bett seines Vaters zurück. Er ergriff Nathanaels schwielige Hand, sah die hornigen, abgebrochenen Nägel, den eingefressenen Schmutz und die steifen, schwarzen Haare. Es war genauso wie beim ersten Mal. Er nahm ein Schwinden wahr gleich der Flamme einer Kerze, die herabgebrannt ist und flackert. Irgendwie wußte er, daß sein Vater im Sterben lag und daß der Tod sehr bald eintreten würde. Stummes Entsetzen erfaßte ihn genau wie damals, als seine Ma gestorben war.
Auf der anderen Seite des Bettes standen seine Brüder und die Schwester. Er war jung, aber sehr intelligent, und sofort übertönte eine praktische Überlegung seinen Schmerz und seine schreckliche Angst. Er schüttelte den Arm seines Vaters. »Was soll jetzt aus uns werden?« fragte er laut, doch niemand antwortete.
Weil diesmal ein Zunftmitglied gestorben war und nicht nur eine Familienangehörige, zahlte die Zimmermannszunft fünfzig Psalmodien. Zwei Tage nach dem Begräbnis zog Della Hargreaves nach Ramsey, um bei ihrem Bruder zu wohnen. Richard Bukerei nahm Rob zu einem Gespräch beiseite.
»Wenn keine Verwandten da sind, müssen die Kinder und der Besitz aufgeteilt werden«, erklärte der Zunftmeister energisch. »Die Zunft wird für alles sorgen.«
Am Abend versuchte Rob, dies seinen Brüdern und seiner Schwester zu erklären. Nur Samuel durchschaute, wovon er sprach.
»Dann werden wir also getrennt?«
»Ja.«
»Jeder von uns wird bei einer anderen Familie leben?«
»Ja.«
In dieser Nacht kroch eines seiner Geschwister zu ihm ins Bett. Er hatte Willum oder Anne Mary erwartet, aber es war Samuel, der die Arme um ihn schlang und sich an ihn klammerte, als hätte er Angst zu fallen. »Ich will, dass sie wiederkommen, Rob.«
»Ich auch.« Er streichelte die knochige Schulter, die er oft verprügelt hatte. Eine Zeitlang weinten sie gemeinsam.
»Werden wir uns also nie mehr sehen?«
Ihm wurde kalt. »Ach Samuel, sei doch nicht so dumm! Wir werden bestimmt beide in der Gegend wohnen und uns immer wieder sehen. Wir bleiben ewig Brüder.«
Das tröstete Samuel, und er schlief ein wenig, aber vor Morgengrauen nässte er das Bett, als wäre er jünger als Jonathan. Am Morgen schämte er sich und konnte Rob nicht in die Augen schauen. Seine Angst war nicht unbegründet, denn er war der erste, der fortging. Die meisten Mitglieder der Zehnschaft ihres Vaters waren noch arbeitslos. Von den neun Zimmerleuten war nur ein Mann imstande und auch bereit, ein Kind in seine Familie aufzunehmen. Mit Samuel übersiedelten Nathanaels Hämmer und Sägen zu Turner Hörne, einem Zimmermannsmeister, der nur sechs Häuser weiter wohnte.
Zwei Tage später kam ein Priester namens Ranald Lovell in Begleitung von Pater Kempton, der die Messen für Ma und Pa gelesen hatte. Vater Lovell sagte, dass er nach Nordengland versetzt worden sei und ein Kind zu sich nehmen wolle. Er musterte alle und fand an William Gefallen. Er war ein großer, kräftiger Mann mit hellblondem Haar und grauen Augen, und Rob versuchte sich einzureden, dass die Augen freundlich waren.
Sein blasser, zitternder Bruder konnte nur nicken, als er den beiden Priestern aus dem Haus folgte. »Dann leb wohl, William!« sagte Rob.
Er überlegte, ob er nicht vielleicht wenigstens die beiden Kleinen behalten konnte. Aber er verteilte schon die Reste vom Totenmahl seines Vaters, und er war ein realistisch denkender Junge. Jonathan wurde mitsamt der Lederweste und dem Werkzeuggürtel seines Vaters einem Schreinergesellen namens Aylwyn übergeben, der zu der Hundertschaft Nathanaels gehörte. Als Frau Aylwyn kam, erklärte Rob, dass Jonathan zwar aufs Töpfchen gehe, aber noch Windeln brauche, wenn er Angst habe, und sie nahm die vom Waschen zerschlissenen Sachen und das Kind, lächelte, nickte und ging. Den kleinen Roger behielt vorerst die Amme, und sie bekam Agnes'
Stickmaterial. Richard Bukerei teilte Rob, der die Frau nie gesehen hatte, mit, dass der jüngste Bruder ihm zugesprochen worden sei. Am nächsten Tag nahmen der Bäcker Haverhill und seine Frau die besseren Möbelstücke mit, weil Anne Mary künftig über ihrem Pastetenladen wohnen sollte. Rob nahm sie an der Hand und brachte sie zu ihnen. Es hieß also: leb wohl, kleines Mädchen! »Ich liebe dich, meine Maid Anne Mary«, flüsterte er und drückte sie an sich. Aber sie schien ihn für alles verantwortlich zu machen, was geschehen war, und wollte sich nicht von ihm verabschieden.
Jetzt war nur noch Rob übrig, der nichts mehr besaß. Am Abend kam Bukerei zu ihm. Der Zunftmeister hatte getrunken, aber sein Kopf war klar. »Es wird vielleicht lang dauern, bis wir einen Platz für dich finden. Die schlechten Zeiten sind daran schuld, niemand hat Essen für einen Jungen, der den Appetit eines Erwachsenen hat, aber noch keine Männerarbeit leisten kann.« Nach brütendem Schweigen fuhr er fort: »Als ich jünger war, meinten alle, wenn wir nur wirklichen Frieden haben und König Aethelred los sind, den schlimmsten König, der jemals seine Zeitgenossen zugrundegerichtet hat, dann kommen wieder gute Zeiten. Und dann erfolgte eine Invasion nach der anderen: Sachsen, Dänen, alle möglichen verdammten Piraten. Jetzt haben wir endlich König Knut, einen starken, friedliebenden Monarchen, aber es ist, als hätte sich die Natur gegen uns verschworen.
Gewaltige Sommer- und Winterstürme richten uns zugrunde. Drei Jahre hintereinander hat es Missernten gegeben. Die Müller mahlen kein Korn, die Seeleute bleiben im Hafen. Niemand baut ein Haus, und die Handwerker sind arbeitslos. Es sind schwere Zeiten, mein Junge. Aber ich werde eine Stelle für dich finden, das verspreche ich dir.« »Danke, Zunftmeister.«
Bukereis dunkle Augen waren besorgt. »Ich habe dich beobachtet, Robert Cole. Ich habe einen Jungen gesehen, der für seine Familie gesorgt hat wie ein vollwertiger Mann. Ich würde dich in mein Haus aufnehmen, wenn mein Weib anders wäre.« Er blinzelte verlegen, als ihm klar wurde, dass der Alkohol seine Zunge stärker gelöst hatte, als ihm recht war, und er erhob sich schwankend. »Ich wünsche dir eine friedliche Nacht, Rob.« »Auch eine friedliche Nacht, Zunftmeister!«
Er wurde zum Einsiedler und die fast leeren Räume wurden zu seiner Höhle. Niemand lud ihn zum Essen ein.
Die Nachbarn konnten sein Vorhandensein nicht übersehen, aber sie unterstützten ihn nur widerwillig. Frau Haverhill kam am Morgen und gab ihm einen übriggebliebenen Laib Brot aus der Bäckerei, und Frau Bukerei erschien am Abend, brachte eine kleine Portion Käse, bemerkte seine geröteten Augen und tadelte ihn, weil nur Frauen weinen durften. Er holte Wasser vom öffentlichen Brunnen wie zuvor, und er hielt das Haus sauber, aber es war gar niemand da, der die ruhige, geplünderte
Behausung in Unordnung gebracht hätte, und so hatte er kaum etwas anderes zu tun, als sich Sorgen zu machen und Haltung zu bewahren. Einmal hörte er, wie sich Zunftmitglieder unterhielten. »Rob Cole wäre für jeden ein Gewinn. Jemand sollte ihn sich schnappen«, meinte Bukerei.
Er hörte schuldbewusst im geheimen mit, wie andere über ihn sprachen, als handle es sich um einen Fremden.
»Ja, sieh dir doch an, wie groß er ist! Er wird eine tüchtige Arbeitskraft sein, wenn er einmal erwachsen ist«, gab Hugh Tite widerwillig zu. Und wenn Tite ihn nahm? Rob erschreckte die Aussicht, mit Anthony in einem Haus zu leben. Deshalb war er beruhigt, als Hugh schnaubend fortfuhr: »Er wird erst in drei Jahren alt genug für die Zimmermannslehre sein und isst jetzt schon wie ein Scheunendrescher, während London voll von Burschen mit starken Rücken und leeren Bäuchen ist.« Die Männer gingen weiter.
Zwei Tage später büßte er hinter demselben Fenstervorhang bitter für den Frevel, dass er heimlich lauschte, als er zuhörte, wie Frau Bukerei mit Frau Haverhill über das Amt ihres Mannes sprach. »Alle sprechen von der Ehre, Zunftmeister zu sein. Es bringt kein Brot auf meinen Tisch. Ganz im Gegenteil, es bringt unangenehme Verpflichtungen mit sich. Ich habe genug davon, meine Vorräte mit so jemandem wie diesem großen, faulen Burschen da drinnen zu teilen.« »Was soll denn aus ihm werden?« seufzte Frau Haverhill. »Ich habe Master Bukerei geraten, ihn als mittellos zu verkaufen. Sogar in schlechten Zeiten erzielt man für einen jungen Unfreien einen Preis, mit dem man der Zunft und uns allen zurückzahlen kann, was wir für die Familie Cole ausgegeben haben.« Ihm stockte der Atem.
Frau Bukerei schniefte. »Aber der Zunftmeister will nichts davon hören«, beklagte sie sich bitter.
Er war viel zu jung, um als Schauermann im Hafen zu arbeiten, wusste aber, dass junge Unfreie in den Bergwerken eingesetzt wurden, wo sie in Stollen arbeiteten, die zu eng für Männer waren. Er wusste auch, dass Unfreie erbärmlich schlecht gekleidet und ernährt und oft schon wegen kleiner Übertretungen brutal ausgepeitscht wurden. Und dass man, wenn man einmal unfrei war, es sein Leben lang blieb. Er weinte.
Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und sagte
sich, dass Richard Bukerei ihn nie als Unfreien verkaufen würde, aber er traute es Frau Bukerei zu, dass sie andere Leute schicken könnte, um ihren Vorsatz auszuführen, ohne ihren Mann zu fragen. Ihr war so etwas durchaus zuzutrauen. So wartete er in dem stillen, verlassenen Haus und begann bei dem leisesten Geräusch zu zittern.
Fünf bleierne Tage nach dem Begräbnis seines Vaters klopfte ein Fremder an die Tür.
»Du bist der junge Cole?«
Er nickte vorsichtig, sein Herz pochte laut.
»Ich heiße Croft. Ein Mann namens Richard Bukerei hat mich zu dir geschickt, den ich beim Bier in der Bardwell-Taverne kennengelernt habe.«
Rob hatte einen weder jungen noch alten Mann mit einem riesigen, fetten Körper und einem wettergegerbten Gesicht vor sich, das vom langen Haar eines freien Mannes und einem gekräuselten Bart von der gleichen rötlichen Farbe umgeben war.
»Wie lautet dem voller Name?«
»Robert Jeremy Cole, Sir.«
»Alter?«
»Neun Jahre.«
»Ich bin Bader und suche einen Lehrling. Weißt du, was ein Bader tut, junger Cole?«
»Seid Ihr eine Art Arzt?«
Der dicke Mann lächelte. »Vorläufig genügt das. Bukerei hat mich über deine Lage unterrichtet. Sagt dir mein Beruf zu?«
Das war nicht der Fall; er hatte keine Lust, so zu werden wie der Blutsauger, der seinen Vater zu Tode geschröpft hatte. Aber noch weniger wollte er als Unfreier verkauft werden, und er antwortete ohne Zögern mit ja.
»Keine Angst vor der Arbeit?«
»O nein, Sir!«
»Das ist gut, denn bei mir kannst du dir die Finger wund arbeiten. Bukerei hat gesagt, daß du lesen und schreiben und auch Latein kannst?«
Rob zögerte. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, sehr wenig Latein.«
Der Mann lächelte. »Ich werde dich eine Zeitlang zur Probe nehmen.
Hast du eigene Sachen?«
Das kleine Bündel war seit Tagen geschnürt. Bin ich nun gerettet? fragte er sich. Draußen kletterten sie in den merkwürdigsten Wagen, den er jemals gesehen hatte. Zu beiden Seiten des Kutschbocks stand eine weiße Stange, um die ein dicker Stoffstreifen wie eine karmesinrote Schlange gewickelt war. Die Abdeckung des grellroten Gefährts war mit den sonnengelben Bildern eines Widders, eines Löwen, einer Waage, eines Steinbocks, zweier Fische, eines Schützen und eines Krebses bemalt.
Der Apfelschimmel zog an, und sie rollten die Carpenter's Street hinunter und am Zunfthaus vorbei. Rob saß wie erstarrt da, als sie durch die lebhafte Thames Street fuhren, und es gelang ihm immer wieder, einen schnellen Blick auf den Mann zu werfen; jetzt bemerkte er ein trotz des Fetts ansprechendes Gesicht, eine kräftige, gerötete Nase, eine Geschwulst auf dem linken Augenlid und ein Netz von feinen Fältchen, die von den Winkeln der durchdringenden, blauen Augen ausgingen.
Der Wagen überquerte die kleine Brücke über den Walbrook und fuhr an Egglestans Stall und der Stelle vorbei, an der Ma zusammengebrochen war. Dann bogen sie rechts ab und ratterten über die London Bridge zum Südufer der Themse. Er erkannte das Haus des Exporteurs, für den Ma gestickt hatte. Über diese Stelle war er nie hinausgekommen. »Master Croft?«
Der Mann runzelte die Stirn. »Nein, nein. Man nennt mich niemals Croft. Ich werde immer Bader genannt, wegen meines Berufes.« »Ja, Bader«, sagte Rob. Nach wenigen Augenblicken lag Southwark hinter ihnen, und er erkannte voll Panik, dass er nun die seltsame, unbekannte Außenwelt betrat.
»Wohin fahren wir, Bader?« Er konnte den Schrei nicht unterdrücken. Der Mann lächelte, ließ die Zügel schnalzen, und der Apfelschimmel fiel in Trab. »Überallhin«, antwortete er.
Vor Einbruch der Dämmerung schlugen sie auf einem Hügel neben einem Bach ihr Lager auf. Der Mann verriet ihm, dass der schwerfällige Apfelschimmel Tatus hieß. »Eine Abkürzung für Incitatus, nach dem Roß, das Kaiser Caligula so geliebt hatte, dass er das Tier zum Priester und Konsul ernannte. Unser Incitatus ist für einen armen Kerl, den man kastriert hat, ein annehmbares Tier«, erklärte der Bader und zeigte ihm, wie man den Wallach betreute, indem er das Pferd mit weichem, trockenem Gras abrieb, es dann trinken und anschließend weiden ließ, bevor sie für ihre Bedürfnisse sorgten. Sie befanden sich im Freien in einiger Entfernung vom Waldrand, und der Bader ließ ihn trockenes Holz für ein Feuer sammeln. Rob musste den Weg mehrmals zurücklegen, um einen Haufen zusammenzukriegen. Bald knisterte das Feuer, und beim Kochen stiegen Düfte auf, bei denen seine Beine weich wurden. Der Bader hatte reichlich dünne Scheiben Räucherspeck in einen Eisentopf gelegt. Nun schüttete er den Großteil des ausgelassenen Fettes weg und schnitt eine große Rübe und mehrere Stangen Lauch in den Topf, zu denen er eine Handvoll getrocknete Maulbeeren und einige Kräuter hinzufügte. Als das duftende Gericht fertig schien, war Rob, als habe er noch nie etwas Besseres gerochen. Der Bader aß gleichmütig, sah zu, wie Rob eine große Portion verschlang, und gab ihm schweigend noch eine. Sie wischten ihre Holzschüsseln mit Brocken von Gerstenbrot aus. Ohne auf eine Anweisung zu warten, trug Rob den Topf und die Schüsseln zum Bach und rieb sie mit Sand rein.
Nachdem er das Geschirr zurückgebracht hatte, ging er hinter ein nahes Gebüsch, um Wasser zu lassen.
»Grundgütiger Herrgott, das ist aber ein bemerkenswerter Zipfel!« staunte der Bader, der plötzlich hinter ihm stand. Rob brach sein Geschäft vorzeitig ab und steckte sein Glied in die Hose. »Als ich klein war«, erklärte er schüchtern, »hatte ich eine Verletzung... eben dort. Ein Chirurg hat das Häutchen am Ende entfernt.«
Der Bader starrte ihn erstaun an. »Er hat die Vorhaut entfernt. Du bist beschnitten worden wie ein verdammter Heide.« Der Junge ging sehr verwirrt zurück und wartete aufmerksam.
Vom Wald her kroch Feuchtigkeit herüber, er öffnete sein kleines Bündel, entnahm ihm sein zweites Hemd und zog es über das an, das er trug.
Der Bader holte zwei Felle aus dem Wagen und warf sie ihm zu. »Wir schlafen im Freien, denn der Wagen ist mit allerlei Kram angefüllt.« Der Bader sah in dem offenen Bündel die Münze glänzen und hob sie auf. Er fragte nicht, woher sie stammte, und Rob verriet es ihm auch nicht. »Es ist eine Inschrift drauf«, sagte er. »Mein Vater und ich... wir haben angenommen, dass sie den Namen der ersten römischen Kohorte angibt, die nach London kam.« Der Bader untersuchte sie. »Ja.«
Offensichtlich wusste er eine Menge über die Römer und schätzte sie, nach dem Namen zu urteilen, den er seinem Pferd gegeben hatte. Rob war plötzlich davon überzeugt, dass der Mann seinen Schatz behalten würde.
»Auf der anderen Seite stehen Buchstaben«, sagte er heiser. Der Bader hielt die Münze näher ans Feuer, um besser lesen zu können. »IOX. IO bedeutet >hurra<, X ist >zehn<. Es ist ein römischer Siegesschrei: >Zehnmal hurra<!«
Rob nahm die Münze erleichtert wieder entgegen und schlug sein Lager beim Feuer auf. Die Felle waren ein Schafspelz, den er mit dem Fell nach oben auf den Boden legte, und ein Bärenfell, das er als Decke verwendete.
Sie waren alt und rochen kräftig, hielten ihn aber sicher warm.
Der Bader bereitete sich sein Lager auf der anderen Seite des Feuers und legte Schwert und Messer neben sich, damit sie zur Abwehr von Angreifern oder, so dachte Rob, zum Ermorden eines flüchtenden Jungen dienen konnten. Der Bader hatte ein sächsisches Hörn abgenommen, das er an einem Riemen um den Hals trug. Er schloss den Boden mit einem knöchernen Stöpsel, füllte es mit einer dunklen Flüssigkeit aus einer Flasche und reichte es Rob. »Mein eigenes Destillat. Nimm einen kräftigen Schluck!«
Er wollte es eigentlich nicht, hatte aber Angst, das Angebot abzulehnen. Einem Kind der Londoner Arbeitervorstadt drohte man nicht mit der milden, abgeschwächten Form des schwarzen Mannes, sondern es lernte früh, dass es Seeleute und Schauermänner gab, die darauf aus waren, einen Jungen hinter verlassene Lagerhäuser zu locken. Er
kannte Kinder, die Zuckerwerk und Münzen von solchen Männern
angenommen hatte, und er wusste, was dafür verlangt wurde. Ihm war klar, dass Trunkenheit ein häufiges Mittel zum Zweck war.
Er versuchte, einen zweiten Schluck abzulehnen, aber der Bader
runzelte die Stirn. »Trink!« befahl er. »Es wird dich beruhigen.«
Der Bader war erst zufrieden, als er noch zwei kräftige Schluck
getrunken hatte und heftig husten musste. Er nahm das Hörn auf seine Seite des Feuers zurück, trank die Flasche aus und noch eine, gab schließlich einen gewaltigen Furz von sich und legte sich hin. Er blickte nur noch einmal zu Rob hinüber. »Du kannst ruhig sein, Kleiner«, sagte er. »Schlaf gut! Von mir hast du nichts zu befürchten.«
Rob war sicher, dass dies ein Trick war. Er lag unter dem stinkenden Bärenfell und wartete mit gespanntem Gesäß. In der rechten Hand
hielt er seine Münze. In der linken Hand hielt er einen schweren Stein, obwohl er wusste, dass er nicht einmal mit des Baders Waffen einen Gegner für diesen Mann abgeben würde, ihm also hilflos ausgeliefert war.
Doch schließlich war ganz klar, dass der Bader schlief. Er war nämlich ein schrecklicher Schnarcher.
Der Bader wusste, was in seinem neuen Lehrling vor sich ging. Er war genau in diesem Alter gewesen, als wütende Horden das Fischerdorf Clacton, in dem er zur Welt gekommen war, überfallen hatten und er allein zurückgeblieben war. Es hatte sich in sein Hirn eingebrannt. Aethelred war der König seiner Kindheit gewesen.
So weit er zurückdenken konnte, hatte sein Vater Aethelred verflucht und gesagt, dass das Volk unter keinem anderen König je so arm gewesen sei. Aethelred saugte es aus und belastete es mit Abgaben, um Emma, der willensstarken, schönen Frau, die er sich als seine Königin aus der Normandie geholt hatte, ein verschwenderisches Leben zu bieten. Er hatte zwar mit den Abgaben eine Armee aufgestellt, benützte sie aber mehr zum Schutz seiner eigenen Person als seines Volkes, und er war so grausam und blutrünstig, dass manche Männer ausspuckten, wenn sie seinen Namen hörten.
Im Frühling Anno Domini 991 beschämte Aethelred seine Untertanen, indem er dänische Angreifer mit Gold bestach, um sie zur Umkehr zu bewegen. Im folgenden Frühjahr kehrte die dänische Flotte nach London zurück, wie sie es seit hundert Jahren tat. Diesmal hatte Aethelred keine Wahl: Er sammelte seine Krieger und Kriegsschiffe, und die Dänen wurden in einer blutigen Schlacht auf der Themse besiegt. Doch zwei Jahre später folgte eine ernstere Invasion, als Olaf, König der Norweger, und Swegen, König der Dänen, mit vierundneunzig Schiffen die Themse stromaufwärts segelten. Wieder zog Aethelred seine Armee um London zusammen, und es gelang ihm, die Nordländer abzuwehren, aber diesmal erkannten die Eindringlinge, dass der feige König sein Land schutzlos preisgegeben hatte, um sich zu wahren. Die Nordländer teilten ihre Flotte, zogen ihre Schiffe an der englischen Küste auf den Sand und verwüsteten die kleinen Küstenstädte.
In dieser Woche hatte Henry Crofts Vater ihn zu seinem ersten langen Heringsfang mitgenommen. An dem Morgen, an dem sie mit reichem Fang heimkehrten, war er vorausgelaufen, um als erster seiner Mutter in die Arme zu stürzen und sich von ihr loben zu lassen. Außer Sicht, in einer kleinen Bucht in der Nähe versteckt, lag ein halbes Dutzend norwegischer Langboote. Als er die väterliche Hütte erreichte, sah er einen fremden Mann, der in Tierhäute gekleidet war und ihn durch die offenen Läden des Fensterlochs anstarrte.
Er hatte keine Ahnung, wer der Mann war, doch instinktiv machte er kehrt und lief um sein Leben geradewegs zu seinem Vater. Seine Mutter lag bereits vergewaltigt und tot auf dem Boden, doch das wusste sein Vater nicht.
Luke Croft zog das Messer, während er auf das Haus zurannte, doch die drei Männer, die ihm vor dem Eingang entgegentraten, trugen Schwerter. Von ferne sah Henry Croft, wie sein Vater überwältigt und gefangengenommen wurde. Einer der Männer bog seinem Vater die Hände auf den Rücken. Ein anderer riss mit beiden Händen an seinen Haaren und zwang ihn niederzuknien und den Hals vorzustrecken. Der dritte schlug ihm mit seinem Schwert den Kopf ab. Der Bader hatte später mit neunzehn Jahren zugesehen, wie ein Mörder in Wolverhampton hingerichtet wurde; der Henker des Sheriffs hatte dem Verbrecher den Kopf abgeschlagen, als töte er einen Hahn. Im Gegensatz dazu war sein Vater ungeschickt geköpft worden, denn der Wikinger hatte eine Reihe von Schlägen gebraucht, als würde er ein Scheit zu Kleinholz zerhacken. Halb wahnsinnig vor Kummer und Schmerz war Henry Croft in die
Wälder gelaufen und hatte sich wie ein gejagtes Tier versteckt. Als er betäubt und halb verhungert wieder zum Vorschein kam, waren die Norweger weggewesen, aber sie hatten Tod und Asche hinterlassen. Henry war mit anderen Waisenjungen in die Abtei Crowland nach Lincolnshire geschickt worden.
Als Folge der jahrzehntelangen Überfälle durch die heidnischen Nordländer gab es in den Klöstern zu wenig Mönche und zu viele Waisen, deshalb lösten die Benediktiner zwei Probleme mit einem Schlag, indem sie viele der elternlosen Jungen zu Priestern weihten. Henry war im Alter von neun Jahren die Profess abgenommen worden, und man hatte ihn Gott versprechen lassen, dass er für immer in Armut und Keuschheit leben und den vom seligen Sankt Benedikt von Nursia aufgestellten Ordensregeln gehorchen würde.
Dafür bekam er eine Ausbildung. Er studierte vier Stunden täglich und verrichtete sechs Stunden am Tag feuchte, schmutzige Arbeit. Crowland besaß ausgedehnte Ländereien, zumeist Marschland, und Henry und die anderen Mönche gruben täglich die schlammige Erde um und zogen wie torkelnde Tiere Pflüge, um den Sumpf in Felder zu verwandeln. Man erwartete von ihnen, dass sie den Rest ihrer Zeit der Meditation oder dem Gebet widmeten. Es gab Andachten am Morgen, Andachten am Nachmittag, Andachten am Abend - fortwährend Andachten. Jedes Gebet galt als eine Stufe auf der endlosen Treppe, auf der die Seele zum Himmel emporstieg.
Es gab keine Erholung oder sportliche Betätigung, aber die Mönche durften im Kreuzgang wandeln, einem überdeckten Weg in Form eines Rechtecks. An der Nordseite des Klosters lag die Sakristei, das Gebäude, in dem die heiligen Geräte aufbewahrt wurden, im Osten stand die Kirche, im Westen das Stiftshaus, im Süden ein düsteres Refektorium, das aus einem Speisesaal, einer Küche und Vorratskammer im Erdgeschoss und einem Schlafsaal im ersten Geschoss bestand.
Innerhalb des Rechtecks waren Gräber angelegt, der deutliche Beweis dafür, dass das Leben in der Abtei Crowland voraussehbar war: Das Morgen würde genauso wie das Gestern sein, und schließlich legte sich jeder Mönch innerhalb der Klostermauern zur Ruhe. Weil manche Leute das irrtümlich für Frieden hielten, hatten die Patres von Crowland mehrere Adelige bei sich aufgenommen, die von der Politik des Hofes und Aethelreds Grausamkeit geflohen waren und ihr Leben
gerettet hatten, indem sie die Mönchskutte nahmen. Diese einflussreiche Elite lebte in Einzelzellen wie echte Mystiker, die Gott durch geistige Kasteiung und körperlichen Schmerz suchen, der durch härene Hemden, Fasten und Selbstgeißelung verursacht wurde. Das Zuhause der übrigen siebenundsechzig Männer, die die Tonsur trugen, obwohl sie dafür nicht berufen und gottlos waren, bildete ein einziger großer Raum, der siebenundsechzig Schlafpritschen enthielt. Wenn Henry Croft nachts erwachte, hörte er Husten und Niesen, verschiedene Schnarchgeräusche, das Stöhnen der Onanierenden, die ängstlichen Schreie von Träumenden, Furze und Brechen der Schweigepflicht durch lästerliches Fluchen und heimliche Unterhaltungen, die sich fast immer um das Essen drehten. Die Mahlzeiten in Crowland waren sehr kärglich.
Die Stadt Peterborough lag zwar nur acht Meilen entfernt, aber Henry bekam sie nie zu Gesicht. Als er vierzehn Jahre alt war, ersuchte er seinen Beichtvater, Pater Dunstan, einmal um die Erlaubnis, zwischen der Vesper und dem Nachtchoral am Flussufer Hymnen singen und Gebete aufsagen zu dürfen. Das wurde ihm gestattet. Als er durch die Au ging, folgte ihm Vater Dunstan in vorsichtiger Entfernung. Henry schritt langsam und bedächtig, hielt die Hände auf dem Rücken und beugte den Kopf in einem Gebet, das eines Bischofs würdig war. Es war ein schöner, warmer Sommerabend mit einer frischen Brise, die vom Wasser herwehte. Bruder Matthew, ein Geograph, hatte ihm von diesem Fluss berichtet. Er hieß Weiland, entsprang in den Midlands in der Nähe von Corby und schlängelte sich nach Crowland, von dort an wendete er sich zwischen welligen Hügeln und fruchtbaren Tälern nach Norden, bis er die Küstensümpfe durchquerte und sich in die große Bucht an der Nordsee ergoss, die The Wash hieß. Den Fluss hatte Gott mit Wäldern und Feldern umgeben. Grillen zirpten schrill. Vögel zwitscherten in den Bäumen, und Kühe glotzten ihn stumm staunend an, während sie grasten. Ein kleiner Kahn war auf den Ufersand gezogen.
In der darauffolgenden Woche bat er um die Erlaubnis, nach den Laudes, dem Morgenlob bei Tagesanbruch, ein einsames Gebet am Fluss sprechen zu dürfen. Er erhielt die Erlaubnis, und diesmal folgte ihm Pater Dunstan nicht. Als Henry zum Flussufer kam, schob er das kleine Boot ins Wasser, stieg hinein und stieß ab.
Er benützte die Riemen nur, um in die Strömung zu gelangen, dann saß er sehr ruhig in der Mitte des gebrechlichen Bootes, betrachtete das braune Wasser und ließ sich von dem Fluss wie ein herabgefallenes Blatt mitnehmen. Nach einiger Zeit, als er wusste, dass er sich außer Reichweite der Abtei befand, begann er zu lachen. Er jubelte und schrie kindisches Zeug.
Er blieb den ganzen Tag auf dem Fluss, bis das Wasser, das zum Meer strömte, für seinen Geschmack zu tief und gefährlich wurde. Dann erst lenkte er das Boot ans Ufer, und nun fing eine Zeit an, in der er den Preis der Freiheit kennerlernte.
Er wanderte durch die Dörfer an der Küste, schlief irgendwo und lebte von dem, was er erbetteln oder stehlen konnte. Gar nichts zu essen zu haben war viel schlimmer, als nur wenig zu essen zu haben. Eine Bäuerin gab ihm einen Sack voll Nahrungsmittel, einen alten Kittel und eine ausgefranste Hose für die Benediktinerkutte, aus der sie Wollhemden für ihre Söhne schneidern wollte. Im Hafen Grimsby nahm ihn schließlich ein Fischer als Gehilfen auf, der ihn mehr als zwei Jahre lang für ein paar Bissen Essen und ein armseliges Obdach hart arbeiten ließ. Als der Fischer starb, verkaufte seine Frau das Boot an Leute, die keine Helfer brauchten. Henry litt einige Monate Hunger, bis er auf eine Truppe von Gauklern stieß und mit ihnen reiste: Er schleppte das Gepäck und half ihnen bei ihren Vorführungen, als Gegenleistung erhielt er ein paar Essensreste und ihren Schutz. Selbst seiner Meinung nach waren ihre Künste bescheiden, sie verstanden jedoch, die Trommel zu schlagen und Zuschauer anzulocken, und wenn eine Mütze herumgereicht wurde, warfen überraschend viele Leute aus dem Publikum eine Münze hinein. Er sah ihnen hungrig zu. Er war zu alt, um Akrobat zu werden, denn bei diesem Beruf mussten die Gelenke geschmeidig gemacht werden, solange einer noch ein Kind war. Aber die Jongleure unterrichteten ihn in ihrer Kunst. Er ahmte den Magier nach und lernte einfache Taschenspielertricks. Der Magier brachte ihm auch bei, dass er nie den Eindruck erwecken durfte, die Schwarze Kunst auszuüben, denn in ganz England hängten die Kirche und die Krone die Hexer. Er hörte dem Geschichtenerzähler aufmerksam zu, dessen junge Schwester die erste war, die ihn in ihren Körper eindringen ließ. Er fühlte sich den Gauklern verwandt, aber die Truppe löste sich nach einem Jahr in Derbyshire auf. Jeder ging seines Weges, und keiner nahm ihn mit.
Einige Wochen später wendete sich in der Stadt Matlock sein Schicksal, weil ihn ein Landbader namens James Farrow für sechs Jahre vertraglich verpflichtete. Später erfuhr er, dass keiner der ortsansässigen Jungen Farrow als Lehrling dienen wollte, weil es hieß, dass er es mit der Hexerei zu tun habe. Als Henry zum erstenmal von den Gerüchten hörte, arbeitete er bereits zwei Jahre für Farrow, und er wusste längst, dass der Mann kein Hexer war. Obwohl der Landbader ein kühler Kopf und verdammt streng war, stellte er für Henry Croft einen echten Glücksfall dar.
Die Gemeinde Matlock lag in einem ländlichen, dünn besiedelten Gebiet, es gab keine Patienten aus dem Adel oder wohlhabende Kaufleute, die einen Arzt ernährt hätten, aber auch nicht zu viele arme Leute, die einen weniger teuren Chirurgen angezogen hätten. In dem weiten Gebiet der Bauernhöfe um Matlock gab es nur den Landbader James Farrow, der nicht nur mit Klistieren purgierte, Haare schnitt und rasierte, sondern auch chirurgische Eingriffe vornahm und Heilmittel verschrieb. Henry führte über fünf Jahre lang seine Anweisungen aus. Farrow war ein strenger Dienstherr; er schlug Henry, wenn er Fehler machte, aber er lehrte ihn alles, was er wusste, und zwar peinlich genau.
Während des vierten Jahres, das Henry in Matlock zubrachte - man schrieb das Jahr 1002 —, erlaubte sich König Aethelred etwas, das weitreichende und schreckliche Folgen nach sich ziehen sollte. Angesichts seiner Schwierigkeiten erlaubte der König einigen Dänen, sich in Südengland niederzulassen, und stellte ihnen Land zur Verfügung unter der Bedingung, dass sie an seiner Seite gegen seine Feinde kämpften. Er hatte sich auf diese Weise auch der Dienste eines dänischen Adeligen namens Fällig versichert, der der Ehemann von Gunnhilda war, der Schwester des Königs Swegen von Dänemark. In diesem Jahr fielen die Wikinger in England ein und mordeten und brandschatzten wie üblich. Als sie Southampton erreichten, beschloss der König, ihnen wieder Tribut zu bezahlen, und er gab den Eindringlingen vierundzwanzigtausend Pfund, damit sie das Land verließen.
Als die Schiffe mit den Nordländern abgesegelt waren, schämte sich Aethelred und verfiel in kalte Wut. Er befahl, dass alle Dänen, die sich in England befanden, am St.-Brice-Tag, dem 13. November, erschlagen werden sollten. Der heimtückische Massenmord wurde ausgeführt, wie es der König befohlen hatte, und er entfesselte ein Übel, das im englischen Volk schon lange geschwärt hatte. Die Welt war immer brutal gewesen, aber nach der Ermordung der Dänen wurde das Leben noch grausamer. In ganz England waren Gewaltverbrechen an der Tagesordnung. Hexen wurden gejagt und gehängt oder verbrannt, und das Land taumelte im Blutrausch. Henry Crofts Lehrzeit war beinahe zu Ende, als ein älterer Mann namens Bailey Aelerton starb, während ihn Farrow behandelte. An dem Todesfall war nichts Bemerkenswertes, aber es hieß bald, dass der Mann gestorben sei, weil Farrow ihn mit Nadeln gestochen und ihn verhext habe.
Am Sonntag zuvor hatte der Priester in der kleinen Kirche in Matlock eröffnet, dass böse Geister um Mitternacht auf den Gräbern im Friedhof gezecht und fleischlich mit Satan kopuliert hätten. »Es ist ein abscheulicher Frevel an unserem Erlöser, dass die Toten durch Teufelswerk auferstehen.« Der Teufel sei in ihrer Mitte, warnte der Priester die Gemeinde, unterstützt von einer Armee von Hexern, die als menschliche Wesen verkleidet seien, Schwarze Magie trieben und insgeheim mordeten.
Er wappnete die von scheuer Furcht ergriffenen, erschrockenen Andächtigen mit einem Gegenzauber, der gegen jeden angewendet werden sollte, der der Hexerei verdächtig war: »Erzhexer, der meine Seele überfällt, dein Zauber soll gegen dich gekehrt, dein Fluch dir tausendfach zurückgegeben werden. Im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit, gib mir meine Gesundheit und Kraft wieder zurück. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Und er erinnerte sie an das kirchliche Gebot: »Du sollst nicht zulassen, dass ein Hexer am Leben bleibt. Sie müssen ausfindig gemacht und ausgerottet werden, wenn nicht jeder von euch in den schrecklichen Flammen des Fegefeuers brennen will«, ermahnte er sie. Bailey Aelerton starb am Dienstag, sein Herz blieb stehen, während er das Feld hackte. Seine Tochter behauptete, sie hätte Nadelstiche auf seiner Haut gesehen. Außer ihr hatte sie niemand gesehen, aber Donnerstag morgens kam ein Pöbelhaufen in Farrows Scheunenhof, gerade als der Landbader sein Pferd bestiegen hatte, um Patienten zu besuchen. Er sah noch zu Henry hinunter und erteilte ihm Anweisungen für den Tag, als sie ihn aus dem Sattel rissen.
Sie wurden von Simon Beck angeführt, dessen Land an Farrows Besitz grenzte. »Zieht ihn aus!« schrie Beck.
Farrow zitterte, als sie ihm die Kleidung vom Leib rissen. »Du bist ein Esel, Beck!« schrie er. »Ein Esel!« Er sah ohne Kleider älter aus, seine runden Schultern waren schmal, die Muskeln schwach und verbraucht, die Haut auf seinem Bauch schlotterte und war faltig, der Penis über dem großen, dunkelroten Hodensack zusammengeschrumpft.
»Da ist es!« schrie Beck. »Das Satansmal!«
Auf der rechten Seite von Farrows Leiste waren deutlich zwei kleine dunkle Flecken sichtbar wie ein Schlangenbiss. Beck stach mit der Spitze seines Messers in einen. »Leberflecke!« brüllte Farrow.
Blut quoll hervor, was bei einem Hexer eigentlich nicht geschehen sollte.
»Sie sind schlau, so höllisch schlau«, rief Beck. »Sie können nach Belieben bluten.«
»Ich bin ein Bader und kein Hexer«, schleuderte ihnen Farrow verächtlich entgegen, doch als sie ihn an ein Holzkreuz fesselten und ihn zu seinem Viehteich trugen, schrie er um Gnade. Das Kreuz wurde in den seichten Teich geworfen, dass es aufklatschte, und unter Wasser gedrückt. Die Menge wurde still und betrachtete die aufsteigenden Luftblasen. Dann zogen sie Farrow heraus und gaben ihm Gelegenheit zu einem Geständnis. Er atmete noch und spie schwach Wasser aus.
»Gestehst du, Nachbar Farrow, dass du mit dem Teufel im Bund gewesen bist?« fragte ihn Beck mit freundlicher Stimme. Doch der Gefesselte konnte nur husten und nach Luft schnappen. Also tauchten sie ihn wieder in den Teich. Diesmal wurde das Kreuz unter Wasser gedrückt, bis keine Luftblasen mehr aufstiegen. Und sie hoben ihn noch immer nicht heraus.
Henry konnte nur zuschauen und weinen, als sähe er zum zweitenmal, wie sie seinen Vater ermordeten. Er war erwachsen, kein Junge mehr, doch er war machtlos gegen die Hexenjäger und befürchtete, sie könnten auf den Gedanken kommen, dass der Baderlehrling der Gehilfe des Hexers war. Schließlich ließen sie das untergetauchte Kreuz los, sprachen den
Gegenzauber und gingen von dannen; sie ließen es auf dem Teich schwimmen.
Als alle fort waren, watete Henry durch den Morast, um das Kreuz an Land zu ziehen. Rosa Schaum hatte sich zwischen den Lippen seines Lehrherrn gebildet. Er drückte die Augen zu, die blicklos in dem weißen Gesicht anklagten, und entfernte die Wasserlinsen von Farrows Schultern, bevor er ihn vom Kreuz schnitt. Der Landbader war ein Witwer ohne Familie gewesen, und deshalb fiel die Verantwortung seinem Lehrling zu. Er begrub Farrow so rasch wie möglich.
Als er sich im Haus umsah, entdeckte er, dass sie vor ihm dagewesen waren. Zweifellos hatten sie Beweise für Farrows Teufelswerk gesucht, als sie sein Geld und seinen Alkohol mitnahmen. Das Haus war geplündert worden, doch es gab noch Kleidungsstücke, die in besserem Zustand waren als die seinen, und Lebensmittel, die er in einen Sack steckte. Er nahm auch eine Tasche mit chirurgischen Instrumenten mit und fing Farrows Pferd ein, auf dem er aus Matlock hinausritt, bevor sie sich seiner erinnerten und zurückkamen.
Er wurde wieder ein Wanderer, doch diesmal hatte er einen Beruf, und das machte einen gewaltigen Unterschied. Überall gab es kranke Menschen, die einen oder zwei Penny für eine Behandlung bezahlten.
Irgendwann begriff er, was man mit dem Verkauf von Arzneien verdienen konnte, und um eine Menschenmenge zusammenzubringen, verwendete er einige der Methoden, die er auf den Reisen mit den Gauklern gelernt hatte.
Da er glaubte, man könnte ihn suchen, hielt er sich nie lang an einem Ort auf, und er vermied die Nennung seines vollen Namens: So wurde er der Bader. Bald entwickelte sich auf diese Weise ein Leben, das ihm zusagte: Er kleidete sich warm und gut, hatte Frauen, so viele er wollte, trank, wenn er Lust dazu verspürte, aß bei jeder Mahlzeit reichlich und gelobte sich, nie wieder zu hungern. Er nahm rasch zu. Als er die Frau kennerlernte, die er heiratete, wog er über zweihundertzwanzig Pfund. Lucinda Eames war eine Witwe mit einem schönen Anwesen in Canterbury. Er kümmerte sich ein halbes Jahr lang um ihre Tiere und Felder und spielte den Ehemann. Ihr kleines, weißes Gesäß gefiel ihm, es war wie ein blasses, umgekehrtes Herz. Wenn sie sich liebten, streckte sie die rosige Zungenspitze aus dem linken Mundwinkel, wie ein Kind, das eine schwierige Aufgabe macht. Sie machte ihm Vorwürfe, weil sie nicht schwanger wurde. Vielleicht hatte sie recht, aber sie hatte von ihrem ersten Mann auch kein Kind empfangen. Ihre Stimme wurde schrill, ihr Ton bitter, und sie gab sich keine Mühe beim Kochen. Und lange bevor ein Jahr mit ihr vorbei war, erinnerte er sich an herzlichere Frauen, köstlichere Mahlzeiten, und er sehnte sich danach, ihrer spitzen Zunge zu entkommen.
Man schrieb das Jahr 1012, in dem Swegen, König der Dänen, die Herrschaft über England übernahm. Zehn Jahre lang hatte Swegen Aethelred immer wieder überfallen, um Schmach über den Mann zu bringen, der seine Verwandten hatte ermorden lassen. Schließlich floh Aethelred mit seinen Schiffen auf die Insel Wight, und Königin Emma fand Zuflucht bei ihren Söhnen Edward und Alfred in der Normandie. Bald danach starb Swegen eines natürlichen Todes. Er hinterließ zwei Söhne, Harold, der ihm auf dem dänischen Thron folgte, und Knut, einen Jüngling von neunzehn Jahren, der von den dänischen Streitkräften zum König von England ausgerufen wurde. Aethelred hatte noch Kraft für einen Angriff und vertrieb die Dänen, doch Knut kehrte schon bald wieder zurück, und diesmal eroberte er das ganze Land mit Ausnahme von London. Er war im Begriff, auch diese Stadt zu erobern, als er erfuhr, dass Aethelred gestorben war. Mutig berief er eine Versammlung des Witan ein, des Rates der weisen Männer von England, und Bischöfe, Äbte, Grafen und Lehensleute kamen nach Southampton und wählten Knut zum König. Knut bewies sein Talent für die Befriedung der Nation, als er Gesandte in die Normandie schickte, die Königin Emma dazu überreden sollten, jenen Mann zu heiraten, der ihrem verstorbenen Gemahl auf den Thron gefolgt war, und sie erklärte sich sofort dazu bereit. Sie war um Jahre älter als Knut, aber noch immer eine begehrenswerte, sinnliche Frau; man witzelte kichernd darüber, wieviel Zeit sie und Knut in der Schlafkammer verbrachten.
So eilig es der neue König mit der Ehe hatte, so schnell floh der Bader vor ihr. Er ließ einfach eines Tages Lucinda Eames mit ihrem Gezänk und ihrem ungenießbaren Essen stehen und nahm seine Reisen wieder auf. Er kaufte seinen ersten Wagen in Bath und nahm in Northumberland seinen ersten Lehrling unter Vertrag.
Die Vorteile waren sofort deutlich zu spüren. Er hatte seither im Lauf der Jahre viele junge Burschen ausgebildet. Die wenigen, die tüchtig gewesen waren, hatten ihm Geld eingebracht, die anderen aber hatten ihn gelehrt, was er von einem Lehrling erwarten musste.
Er wusste, was mit einem Jungen geschah, der versagte und fortgeschickt wurde. Den meisten erging es katastrophal: Wenn sie Glück hatten, wurden sie Lustknaben oder Unfreie, die weniger Glücklichen verhungerten oder wurden umgebracht. Diese Einsicht machte ihm mehr zu schaffen, als er wahrhaben wollte, doch er konnte es sich nicht leisten, einen untalentierten Jungen zu behalten. Er hatte selbst nur knapp überlebt und brachte es fertig, sein Herz zu verhärten, wenn es um sein eigenes Wohlergehen ging.
Der letzte, dieser Junge, den er in London gefunden hatte, war offenbar bestrebt, alles richtig zu machen, doch der Bader wusste, dass bei Lehrlingen der äußere Anschein oft trog. Es hatte keinen Sinn, sich mit dem Problem zu plagen wie ein Hund mit einem Knochen. Die Zeit würde es an den Tag bringen, und er würde bald genug erfahren, ob der junge Cole fähig war zu überleben.
Rob erwachte beim ersten schwachen Tageslicht und stellte fest, dass sein Meister schon wach und ungeduldig war. Er sah sofort, dass der Bader den Tag nicht in allerbester Laune begann, und in dieser nüchternen Stimmung nahm der Mann den Speer aus dem Wagen und zeigte Rob, wie man mit ihm umging. »Er ist nicht zu schwer für dich, wenn du beide Hände benützt. Du brauchst keine besondere Geschicklichkeit dazu. Stoß so fest zu, wie du kannst. Wenn du auf die Leibesmitte des Angreifers zielst, musst du ihn irgendwo treffen. Sobald du ihn durch eine Verwundung aufhältst, habe ich die Möglichkeit, ihn zu töten. Hast du mich verstanden?« Rob nickte. »Wie wirst du für gewöhnlich gerufen, Kleiner?«
»Rob.«
»Rob... und?«
Er zögerte dem Bader gegenüber verlegen. »Jeremy.« »Also, Rob Jeremy, wir müssen wachsam sein und die Waffen in Griffweite bereithalten, denn nur so bleiben wir am Leben. Diese römischen Straßen sind noch immer die besten in England, aber sie werden nicht instand gehalten. Die Krone ist dafür verantwortlich, sie auf beiden Seiten freizuhalten, um es den Straßenräubern zu erschweren, Reisende aus dem Hinterhalt zu überfallen. Aber an den meisten unserer Straßen wird das Unterholz nie zurückgeschnitten.« Er zeigte ihm, wie man das Pferd einspannt. Als sie weiterfuhren, saß Rob in der heißen Sonne neben ihm auf dem Kutschbock und wurde noch immer von allerlei Befürchtungen geplagt. Bald lenkte der Bader Tatus von der römischen Straße weg auf einen kaum befahrbaren Weg durch den tiefen Schatten des Urwaldes. Über seiner Schulter hing an einer Sehne das braune Sachsenhorn, das einmal einen großen Ochsen geziert hatte. Er setzte es an den Mund und entlockte ihm ein lautes, weiches Geräusch, halb Signal, halb Stöhnen. »Es kündet jedem in Hörweite, dass wir uns nicht heimlich heranschleichen, um zu rauben und zu morden. In manchen abgelegenen Orten töten sie den Fremden, auf den sie unerwartet stoßen. Das Hörn verkündet, dass wir ehrenwerte und selbstsichere Leute und imstande sind, uns zu wehren.«
Auf des Baders Geheiß versuchte Rob, ebenfalls das Hörn zu blasen, aber obwohl er die Backen ganz voll nahm und kräftig pustete, brachte er keinen Ton hervor.
»Du brauchst kräftigere Lungen und eine gewisse Fertigkeit. Du wirst es lernen, keine Angst - und schwierigere Dinge, als ein Hörn zu blasen.«
Der Weg war schlammig. Über seine ärgsten Stellen war Strauchwerk gelegt worden, aber er erforderte trotzdem einen geschickten Lenker. »Wir wollen unser Frühstück fangen«, verkündete der Bader. Er schnitt zwei Weidenruten ab und holte Haken und Schnüre aus dem Wagen. Aus dem Schatten hinter dem Sitz zog er eine Schachtel heraus. »Das ist unsere Heuschreckenschachtel«, erklärte er. »Es gehört zu deinen Pflichten, dass sie stets gefüllt ist.« Er hob den Deckel nur so weit, dass Rob mit der Hand hineingreifen konnte.
Spitze Lebewesen raschelten erschreckt vor Robs Fingern davon, und er nahm eines vorsichtig in die Hand. Als er diese zurückzog und das Insekt zwischen Daumen und Zeigefingern an den Flügeln hielt, zappelten dessen Beine wild. Die vier Vorderbeine waren haardünn, die beiden hinteren aber kräftig, mit starken Oberschenkeln, die es zum Hüpfen brauchte.
Der Bader zeigte ihm, wie er die Spitze des Hakens unter den kurzen Vorsprung des harten Rückenpanzers hinter dem Kopf stecken mußte.
»Nicht zu tief, sonst scheidet er Körperflüssigkeit aus und stirbt. Wo hast du gefischt?«
»In der Themse.« Er war stolz auf seine Geschicklichkeit als Fischer, denn er und sein Vater hatten oft mit Würmern in dem breiten Fluss gefischt, da sie auf die Fische angewiesen waren, um während der Arbeitslosigkeit die Familie zu ernähren.
Der Bader brummte. »Das ist eine ganz andere An zu fischen«, meinte er. »Laß die Ruten einen Moment, und geh auf Knie und Hände nieder!«
Sie krochen vorsichtig zu einem Uferplatz, der einen Ausblick auf die nächste tiefe Stelle gewährte, und legten sich auf den Bauch. Rob fand, dass der dicke Mann verrückt war.
Vier Fische standen regungslos im Wasser.
»Zu klein«, flüsterte Rob.
»In dieser Größe schmecken sie aber am besten«, wandte der Bader ein, während sie vom Ufer wegkrochen.
»Deine großen Flussforellen sind zäh und tranig. Wenn du kräftig am Ufer auftrittst, spüren sie die Erschütterung und zerstreuen sich. Deshalb verwendest du die lange Rute. Geh ein Stück zurück, und laß die Heuschrecke vorsichtig über der tiefen Stelle herab, so dass die Strömung sie zu dem Fisch trägt!«
Er beobachtete kritisch, wie Rob die Heuschrecke zu der Stelle auswarf, die er bezeichnet hatte.
Bereits der erste Wurf war erfolgreich: Rob zog eine Forelle an Land.
»Fang noch fünf!« befahl der Bader und verschwand in den Wald. Rob fing noch zwei, verfehlte eine und ging daraufhin zu einer anderen Stelle.
Der Bader kehrte mit Morcheln und wilden Zwiebeln zurück.
»Wir essen zweimal täglich«, erklärte er, »am späten Vormittag und am frühen Abend, wie alle zivilisierten Menschen:
Heraus um sechs, Frühstück um zehn, Dinner um fünf, zu Bett um zehn, Schenkt dir Jahre zehnmal zehn.»
Er hatte Speck dabei und schnitt ihn in dicke Scheiben. Als das Fleisch in der geschwärzten Pfanne gar war, tauchte er die Forellen in Mehl und briet sie in dem Fett knusprig und braun; die Zwiebeln und Pilze kamen zuletzt dazu.
Während sie sich den Fisch und das Fleisch schmecken ließen, briet der Bader in dem würzigen Fett, das zurückgeblieben war, Gerstenbrot und bedeckte den Toast mit kräftigen Käseschnitten, die er in der Pfanne brutzelnd schmelzen ließ. Zum Schluss tranken sie das kalte Wasser des Bachs, der ihnen die Fische geschenkt hatte. Danach war der Bader in besserer Laune. Ein dicker Mann muss ausreichend ernährt werden, erkannte Rob. Ihm wurde auch klar, dass der Bader ein ausgezeichneter Koch war, und er freute sich im voraus auf jede Mahlzeit als das große Ereignis des Tages.
Das nächste Dorf hieß Farnham. Der Bader machte am Rand des Dorfes halt. Er nahm eine kleine Trommel und einen Stock aus dem Wagen, die er Rob reichte. »Trommle!«
Tatus wusste, was sie vorhatten: Er streckte den Kopf vor und wieherte, tänzelte und hob die Vorderhufe. Rob schlug stolz die Trommel, angesteckt von der Aufregung, die sie auf beiden Seiten der Straße hervorriefen.
»Heute Nachmittag gibt's Unterhaltung«, rief der Bader. »Anschließend werden menschliche Krankheiten und große und kleine medizinische Probleme behandelt.«
Frauen kamen aus den Häusern und redeten laut miteinander, während ihre Kinder auf die Straße strömten und sich schwatzend den bellenden Hunden anschlössen, die dem roten Wagen folgten. Aus dem Wirtshaus kamen einige Zecher, gefolgt von der Kellnerin, die sich mit glänzenden Augen die nassen Hände an der Schürze abtrocknete.
Der Bader hielt auf dem kleinen Dorfplatz. Er hob vier Klappbänke vom Wagen herunter und stellte sie nebeneinander auf. »Das heißt das Podium«, bezeichnete er Rob gegenüber die kleine Plattform, die damit entstanden war. »Du wirst es jedes Mal sofort aufbauen, sobald wir in einen neuen Ort kommen.«
Auf das Podium stellten sie zwei Körbe voller kleiner, zugestöpselter Flaschen, von denen der Bader behauptete, dass sie Medizin enthielten. Dann verschwand er in den Wagen und zog den Vorhang zu. Rob saß auf dem Podium und sah zu, wie die Dorfbewohner auf die Hauptstraße drängten. Wartende Familien setzten sich auf den Boden, damit sie einen Platz in der Nähe des Podiums bekamen. Frauen knüpften und strickten, während sie warteten, und Kinder schrien und zankten. Eine Gruppe Dorfjungen gaffte Rob an. Da er den Neid und den Respekt in ihren Augen sah, setzte er sich großspurig in Positur. Dann stieg der Bader auf das Podium.
»Guten Tag und guten Morgen«, begrüßte er die Leute. »Ich freue mich, in Farnham zu sein.« Und er begann zu jonglieren. Er fing mit einem roten und einem blauen Ball an. Seine Hände schienen sich kaum zu bewegen. Es war wunderhübsch. Seine dicken Finger ließen die Bälle ununterbrochen im Kreis fliegen, zuerst langsam, dann immer schneller. Als die Leute klatschten, griff er in die Jacke und fügte einen grünen Ball hinzu. Und dann einen braunen. Und oh - einen gelben.
Wie wundervoll muss es sein, dachte Rob, diese Kunst zu beherrschen. Er hielt den Atem an und wartete darauf, dass der Bader einen Ball fallen ließ, doch er kam mit allen fünf mühelos zurecht und redete auch noch die ganze Zeit. Er brachte die Dörfler zum Lachen, erzählte Geschichten und sang Liedchen.
Dann jonglierte er mit Seilringen und Holztellern, und nach dem Jonglieren gab er Zauberkunststücke zum besten. Er ließ ein Ei verschwinden, fand in den Haaren eines Kindes eine Münze, ließ ein Halstuch die Farbe wechseln.
»Möchtet ihr sehen, wie ich einen Krug Bier verschwinden lasse?« Auf den allgemeinen Applaus hin lief die Kellnerin ins Wirtshaus und erschien mit einem schäumenden Krug Bier. Der Bader setzte ihn an die Lippen und leerte den Inhalt mit einem einzigen langen Zug. Er verneigte sich vor dem gutmütigen Gelächter, dann fragte er die Frauen, ob jemand ein Band haben wolle.
»O ja!« rief die Kellnerin. Sie war jung und üppig, und auf ihre spontane, natürliche Erwiderung hin kicherte die Menge.
Der Bader sah das Mädchen an. »Wie heißt du?« »Amelia Simpson, Sir.«
»In welcher Farbe wünschst du dir denn das Band, Miss Amelia?« »Rot.«
»Und die Länge?« »Zwei Yard sollten mir genügen.«
»Ich will es hoffen«, murmelte er und zog die Brauen hoch. Anzügliches Gelächter wurde laut, und er schien die Kellnerin zu vergessen. Er schnitt ein Seil in vier Teile, dann setzte er es nur mit Gesten zusammen, so dass es wieder ganz war. Er legte ein Halstuch über einen Ring und verwandelte ihn in eine Walnuss. Und dann führte er die Finger fast überrascht an den Mund, zog etwas zwischen seinen Lippen hervor, machte eine Pause und zeigte dem Publikum, dass es das Ende eines roten Bandes war.
Während sie zusahen, zog er es Stück für Stück aus dem Mund. Er ließ dabei den Kopf hängen und schielte.
Schließlich hielt er das letzte Stück fest, griff nach seinem Dolch, setzte die Klinge dicht an die Lippen, schnitt das Band ab und reichte es der Kellnerin mit einer Verbeugung.
Neben ihr stand der Dorfsänger, der das Band an seinen Zollstab hielt. »Genau zwei Yard!« erklärte er, und es gab großen Beifall. Der Bader wartete, bis sich der Lärm gelegt hatte, dann hielt er ein Fläschchen seiner Medizin in die Höhe.
»Herren, Damen und Jungfrauen! Nur meine universelle, spezifische Arznei verlängert die euch zugemessene Lebensspanne, regeneriert die verbrauchten Gewebe des Körpers, macht steife Gelenke biegsam und ausgeleierte Gelenke fest. Nur sie entlockt trüben Augen ein schelmisches Glitzern, verwandelt Krankheit in Gesundheit, gebietet dem Haarausfall Einhalt und lässt neue Haare auf spiegelnden Glatzen sprießen. Dazu schärft sie müde Augen und einen abgestumpften Verstand. Eine ausgezeichnete Herzstärkung, anregender als das beste Tonikum, ein sanfteres Abführmittel als ein Salbenklistier. Das universelle Spezificum bekämpft Blähungen und blutigen Fluss, erleichtert die Leiden des Kindbetts und der Monatsregel und heilt den Scharbock, den die Seefahrer heimbringen. Es ist gut für Mensch und Tier, behebt die Taubheit, heilt entzündete Augen, Husten, Auszehrung, Magenschmerzen, Gelbsucht, Fieber und Wechselfieber...«
Der Bader verkaufte vom Podium aus. Dann stellten er und Rob einen Wandschirm auf, hinter dem der Bader Patienten untersuchte. Die Kranken und die Leidenden warteten in einer langen Reihe und bezahlten einen oder zwei Penny für die Behandlung.
An diesem Abend aßen sie im Wirtshaus gebratene Gans, das erste Mal, dass Rob eine nicht selbst zubereitete Mahlzeit aß. Er fand sie besonders köstlich, obwohl der Bader behauptete, dass das Fleisch zu lange gebraten sei, und über Klumpen in dem Rübenmus murrte. Danach breitete der Bader auf dem Tisch eine Karte der britischen Insel aus. Es war die erste Landkarte, die Rob zu Gesicht bekam, und er sah fasziniert zu, wie des Baders Finger eine gewundene Linie darauf beschrieben: die Route, der sie in den kommenden Monaten folgen wollten.
Schließlich fielen Rob die Augen zu, und er taumelte durch die helle Mondnacht schläfrig zu ihrem Lager zurück, um sein Bett zurechtzumachen. In den letzten Tagen hatte sich aber so viel ereignet, dass sein verwirrter Geist ihn am Einschlafen hinderte.
Als Rob in der Kühle des Morgens erwachte, brachen sie das Quartier ab und verließen Farnham, während die meisten Bewohner noch in den Federn lagen.
Bald nach Sonnenaufgang kamen sie an einem Brombeerdickicht vorbei und hielten an, um einen Korb voll Beeren zu pflücken. Beim nächsten Bauernhof besorgte der Bader Lebensmittel. Als sie lagerten, um zu frühstücken, entfachte Rob ein Feuer und briet den Speck und den Käsetoast; der Bader schlug neun Eier in eine Schüssel, fügte reichlich dicke Sahne hinzu, schlug die Mischung schaumig und buk sie dann, ohne umzurühren, zu einer weichen Masse, die er mit überreifen Brombeeren bestreute. Er schien sich über den Eifer zu freuen, mit dem Rob seinen Anteil verzehrte.
Am Nachmittag kamen sie an einer großen, von Bauernhöfen umgebenen Burg vorbei. Rob konnte Menschen und Erdwälle in der Anlage sehen. Der Bader trieb das Pferd zum Trab an, um rasch vorbeizukommen.
Drei Reiter kamen ihnen jedoch von der Burg nach und riefen ihnen zu, anzuhalten. Die strengen, finsteren, waffenstarrenden Männer betrachteten neugierig den auffälligen Wagen. »Was ist dein Beruf?« fragte einer, der den leichten Kettenpanzer einer Person von Rang
trug.
»Bader, Mylord«, antwortete der Gefragte.
Der Mann nickte zufrieden und wendete sein Pferd. »Folgt mir!« Umringt von ihrer Begleitung, ratterte der Wagen durch ein schweres Tor, das in die Wälle eingelassen war, dann durch ein zweites Tor in einer Palisade aus zugespitzten Stämmen und schließlich über eine Zugbrücke, auf der sie den Burggraben überquerten. Rob war noch nie einer mächtigen Burg so nahe gekommen. Das riesige Gebäude hatte Grund- und Untergeschossmauern aus Stein und hölzerne Obergeschosse, dazu komplizierte Schnitzereien an Portal und Giebeln und einen vergoldeten Firstbalken, der in der Sonne glänzte. »Lass deinen Wagen im Hof stehen! Nimm deine chirurgischen Instrumente mit!«
»Worum handelt es sich, Mylord?« »Die Hündin hat sich die Pfote verletzt.«
Mit Instrumenten und Arzneiflaschen beladen, folgten sie dem Ritter in die höhlenartige Halle. Der Kamin in der Mitte war kalt, aber der Raum roch nach dem Rauch des vergangenen Winters; dazu kam ein weniger angenehmer Geruch, der am stärksten wurde, als sie vor dem Hund stehenblieben, der neben dem Kamin lag.
»Hat vor vierzehn Tagen in einer Falle zwei Zehen eingebüßt. Sie sind zunächst schön geheilt, haben aber dann zu eitern begonnen.« Der Bader nickte. Er leerte aus einer Silberschüssel neben dem Kopf der Hündin das Fleisch und goss den Inhalt zweier seiner Flaschen hinein. Die Hündin sah mit trüben Augen zu und knurrte, als er die Schüssel neben sie stellte, doch einen Augenblick später begann sie, das Spezificum auszulecken.
Der Bader ging kein Risiko ein; als die Hündin betäubt war, band er ihr die Schnauze zu und fesselte ihre Läufe, so dass sie ihm nichts tun konnte.
Die Hündin zitterte und jaulte, als der Bader schnitt. Es stank schrecklich, und im Fleisch saßen bereits Würmer.
»Sie wird noch eine Zehe verlieren.«
»Sie darf kein Krüppel werden. Mach deine Sache gut!« befahl ihm der Mann kalt.
Als er fertig war, wusch der Bader das Blut mit dem Rest der Arznei von der Pfote, dann verband er sie mit einem Lappen.
»Bezahlung, Mylord?« brachte er vorsichtig vor.
»Du musst warten, bis der Earl von der Jagd zurückkommt, und ihn darum bitten«, sagte der Ritter und ging.
Sie banden die Hündin behutsam los, nahmen dann die Instrumente
und kehrten zum Wagen zurück. Der Bader fuhr gemessen weg wie ein Mann, der die Erlaubnis hat zu gehen.
Doch als sie außer Sichtweite der Burg waren, räusperte er sich und spuckte. »Vielleicht kommt der Earl erst in einigen Tagen zurück.
Wenn die Hündin bis dahin gesund ist, würde der gute Earl vielleicht sogar bezahlen. Wenn die Hündin aber gestorben ist oder der Earl an einer Verstopfung leidet, würde er uns vielleicht schinden lassen. Ich gehe diesen Herrschaften aus dem Weg und versuche mein Glück
lieber in den kleinen Dörfern.« Nun trieb er das Pferd an.
Am nächsten Morgen war er besser gelaunt, als sie nach Chelmsford kamen. Aber dort hatte schon ein Salbenhändler Aufstellung genommen, um die Dorfbewohner zu unterhalten, ein schlanker Mann in einem grellen, orangefarbenen Kittel, der eine weiße Haarsträhne hatte.
»Sei gegrüßt, Bader«, sagte der Mann leichthin. »Hallo, Wat. Hast du die Bestie noch?«
»Nein, sie ist krank und zu bösartig geworden. Ich habe sie bei einer Tierhatz verloren.«
»Schade, dass du ihr nicht mein Spezificum gegeben hast. Es hätte sie geheilt.« Beide lachten.
»Ich habe ein neues Tier. Willst du es dir ansehen?« »Warum nicht?« sagte der Bader. Er fuhr den Wagen unter einen Baum und ließ das Pferd grasen, während sich die Menge versammelte. Chelmsford war ein großes Dorf, und es gab ein gutes Publikum. »Hast du schon einmal gerungen?« fragte der Bader Rob. Der nickte. Er war ein begeisterter Ringkämpfer; es war in London der tägliche Sport der Jungen aus der Arbeiterklasse. Wat begann seinen Auftritt auf die gleiche Art wie der Bader, indem er jonglierte. Er jonglierte gekonnt, fand Rob, aber im Geschichtenerzählen konnte er sich nicht mit dem Bader messen, und die Leute lachten auch seltener. Aber sie liebten den Bären. Der Käfig stand im Schatten und war mit einer Decke zugedeckt. Die Menge murmelte, als Wat die Abdeckung wegzog. Rob hatte schon einmal einen dressierten Bären gesehen. Als er sechs Jahre alt war, hatte ihn sein Vater zu einem solchen Tier mitgenommen, das vor Swanns Inn seine Künste zeigte und das ihm riesig erschienen war. Als Wat seinen Bären, der einen Maulkorb trug, an einer langen Kette auf das Podium führte, wirkte der kleiner. Er war kaum größer als ein großer Hund, aber er wirkte überaus geschickt. »Bartram der Bär!« kündigte Wat an.
Der Bär legte sich auf den Boden und tat auf Befehl, als wäre er tot. Dann rollte er einen Ball herum, er kletterte eine Leiter rauf und runter, und während Wat auf einer Flöte spielte, tanzte er einen beliebten Holzschuhtanz, den Carol, drehte sich dabei tollpatschig, statt herumzuwirbeln, ergötzte aber die Zuschauer so sehr, dass sie jede Bewegung des Tieres beklatschten.
»Und jetzt«, verkündete Wat, »wird Bartram mit jedem Herausforderer ringen. Wem es gelingt, ihn zu werfen, der bekommt kostenlos einen Tiegel mit Wats Salbe, dem wunderbarsten Heilmittel zur Erleichterung menschlicher Leiden.« Die Leute murmelten belustigt, doch niemand trat vor. »Kommt vor, ihr Ringer!«
forderte Wat sie heraus. Die Augen des Baders funkelten. »Hier ist ein Bursche, der keine Angst hat«, sagte er laut.
Zu Robs Überraschung und großer Besorgnis wurde er nach vorn gestoßen. Bereitwillige Hände halfen ihm auf das Podium. »Mein Lehrling gegen deinen Bären, Freund Wat«, rief der Bader. O Mann! dachte Rob wie betäubt.
Es war ein wirklicher Bär. Er schwankte auf den Hinterbeinen und legte seinen großen, pelzigen Kopf schief.
Das war kein Hund, kein Spielgefährte aus der Carpenter's Street. Rob bemerkte massige Schultern und kräftige Gliedmaßen, und sein Instinkt riet ihm, vom Podium herunterzuspringen und zu fliehen. Aber damit würde er sich dem Bader widersetzen und alles in Frage stellen, was dieser Mann für sein Dasein bedeutete. Er entschied sich für die schwierigere Lösung und stellte sich der Bestie.
Mit klopfendem Herzen umkreiste er den Bären. Er bewegte dabei die ausgestreckten Hände vor sich, wie er es oft bei älteren Ringern gesehen hatte. Vielleicht machte er es nicht ganz richtig, denn jemand kicherte, und der Bär schaute in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Rob versuchte zu vergessen, dass sein Gegner kein Mensch war, und handelte, wie er es im Kampf gegen einen anderen Jungen getan hätte: Er stürzte sich auf Bartram und versuchte, ihn aus dem Gleichgewicht zu stemmen, doch es war, als versuche er, einen großen Baum auszureißen.
Bartram hob eine Tatze und schlug träge zu. Dem Bären waren zwar die Krallen gestutzt worden, aber der Schlag warf Rob nieder und halb vom Podium hinunter. Jetzt hatte er mehr als Angst; er wusste, dass er nichts tun konnte, und wäre gern geflohen, aber Bartram bewegte sich unerwartet schnell und erwartete ihn schon. Als Rob auf die Beine kam, umschlangen ihn die Vordertatzen. Sein Gesicht wurde in das Bärenfell gedrückt, das ihn in Nase und Mund drang. Er erstickte in dem schmutzigen, schwarzen Fell, das genauso roch wie der Pelz, mit dem er sich nachts zudeckte. Der Bär war nicht ganz ausgewachsen, Rob freilich auch nicht. Er wehrte sich und blickte plötzlich in kleine, verzweifelte, rote Augen über sich. Rob wurde klar, dass der Bär die gleiche Angst hatte wie er, aber das Tier hatte die Oberhand und nützte sie aus. Bartram konnte nicht beißen, aber er hätte es sicherlich getan; so bohrte er den ledernen Maulkorb in Robs Schulter, und sein Atem ging heftig und stank.
Wat langte nach einem kleinen Griff am Halsband des Tieres. Er berührte ihn kaum, doch der Bär wimmerte und duckte sich. Er ließ Rob los und fiel auf den Rücken. »Halte ihn fest, du Dummkopf!« flüsterte Wat.
Rob warf sich nieder und berührte das schwarze Fell bei den Schultern. Niemand ließ sich täuschen, und einige Leute spotteten sogar, aber die Menge war unterhalten worden und guter Laune. Wat führte Bartram in den Käfig und kehrte dann zurück, um Rob, wie versprochen, mit einem kleinen Tiegel Salbe zu belohnen. Alsbald schilderte der Unterhalter die vielen Bestandteile seiner Salbe und deren Anwendungen. Rob ging mit weichen Knien zum Wagen.
»Du hast dich gut gehalten«, lobte ihn der Bader. »Hast dich sofort auf ihn gestürzt. Ein bisschen Nasenbluten?«
Rob schnupfte und wusste, dass er Glück gehabt hatte. »Die Bestie wollte mir an den Kragen«, beschwerte er sich.
Der Bader schüttelte grinsend den Kopf. »Hast du den kleinen Griff an seinem Halsband bemerkt? Es ist ein Würgehalsband. Mit dem Griff wird das Halsband zugezogen und dem Tier die Luft abgeschnitten, wenn es nicht gehorcht. So wird der Bär dressiert.« Er half Rob auf den Kutschbock, nahm dann ein wenig Salbe aus dem Tiegel und rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Talg und Schmalz und eine Spur Parfüm. Und er verkauft nicht wenig davon«, meinte er, während er sah, wie sich eine Schlange von Käufern bildete, um Wat ihre Pennies aufzudrängen. »So ein Tier garantiert Wohlstand. Es gibt Belustigungen, bei denen Murmeltiere, Ziegen, Krähen, Dachse und Hunde im Mittelpunkt stehen, sogar Eidechsen. Und für gewöhnlich bringt dergleichen mehr Geld, als wenn ich allein arbeite.« Das Pferd gehorchte den Zügeln, schlug den Weg in die Kühle der Wälder ein und ließ Chelmsford und den ringenden Bären hinter ihnen. Rob zitterte innerlich immer noch. Er dachte nach. »Warum verwendet Ihr dann kein Tier?« fragte er langsam. Der Bader drehte sich zur Seite. Er richtete seine freundlichen, blauen Augen auf Rob, und sie schienen mehr auszudrücken als sein lächelnder Mund. »Ich hab' doch dich«, antwortete er.
Sie begannen mit dem Jonglieren, und Rob wusste von Anfang an, dass er dieses wunderliche Kunststück nie erlernen würde. »Steh aufrecht, aber entspannt, lass die Hände herunterhängen! Hebe die Unterarme, bis sie parallel zum Boden sind! Dreh die Handflächen nach oben!« Der Bader beobachtete ihn kritisch und nickte dann. »Du musst dir vorstellen, dass ich dir eine Schale mit Eiern auf die Handflächen gestellt habe. Die Schale darf keinen Augenblick schiefstehen, sonst rollen die Eier hinunter. Mit dem Jonglieren ist es das gleiche. Wenn deine Arme nicht in dieser Haltung bleiben, werden die Bälle auf dem Boden herumkullern. Verstanden?«
»Ja, Bader.« Aber er hatte ein ungutes Gefühl im Magen. »Mach hohle Hände, als wolltest du aus ihnen Wasser trinken!« Er nahm zwei Holzbälle, legte den roten Ball in Robs rechte Hand und den blauen in die linke. »Jetzt wirf sie hoch wie ein Jongleur, aber gleichzeitig!«
Die Bälle flogen über Robs Kopf und fielen dann zu Boden. »Gib acht! Der rote Ball ist höher gestiegen, weil du im rechten Arm mehr Kraft besitzt als im linken. Du musst daher lernen, das auszugleichen, weniger Kraft in der rechten Hand einzusetzen und mehr in der linken, denn die Wurfhöhe muss gleich sein. Die Bälle sind außerdem zu hoch gestiegen. Ein Jongleur hat schon genug zu tun, ohne dass er auch noch den Kopf in den Nacken legen und in die Sonne hinaufblicken muss, um zu sehen, wo die Bälle hingeflogen sind. Die Bälle sollten nicht höher steigen als bis hierher.« Er berührte Robs Haaransatz. »So siehst du sie, ohne den Kopf zu bewegen.«
Er runzelte die Stirn. »Noch etwas. Ein Jongleur wirft nie den Ball: Die Bälle werden geschleudert. Deine Handfläche muss sich einen Augenblick straffen, so dass die Höhlung verschwindet und die Hand ganz flach wird. Aus der Mitte deines Handtellers wird der Ball dann gerade hinaufgeschnellt, während zugleich auch das Handgelenk leicht hochschnellt und der Unterarm eine winzige Aufwärtsbewegung vollführt. Von den Ellbogen bis zu den Schultern sollten sich deine Arme nicht bewegen.«
Er holte die Bälle und reichte sie Rob.
Als sie Hertford erreichten, stellte Rob das Podium auf, trug die Flaschen mit des Baders Elixier hinaus, nahm dann die beiden Holzbälle und übte allein das Hochschleudern. Es war ihm nicht schwierig vorgekommen, doch er stellte fest, dass er oft dem Ball, wenn er ihn hochschnellte, einen Drall versetzte, so dass er die Richtung änderte. Wenn er das Abschnellen verzögerte, indem er den Ball zu lang festhielt, fiel er ihm ins Gesicht oder auf seine Schulter, wenn er aber eine Hand erschlaffen ließ, flog der Ball von ihm weg. Aber er ließ nicht locker, und bald erfasste er den Trick mit dem Schnellen. Der Bader schaute zufrieden aus, als Rob an diesem Abend vor dem Essen seine neue Fertigkeit vorführte.
Am nächsten Tag hielt der Bader den Wagen vor dem Dorf Luton an und zeigte Rob, wie er zwei Bälle so schnellen konnte, dass sich ihre
Flugbahnen kreuzten. »Du kannst Zusammenstöße in der Luft vermeiden, wenn ein Ball etwas früher oder höher geschnellt wird als der andere«, belehrte er ihn.
Sobald die Darbietung in Luton begonnen hatte, stahl sich Rob mit den beiden Bällen davon und übte auf einer kleinen Lichtung im Wald. Der blaue Ball traf meist den roten mit einem leise klappernden Geräusch, das Rob zu verspotten schien. Die Bälle fielen zu Boden, rollten davon und mussten wieder eingesammelt werden, und Rob kam sich ungeschickt und irgendwie linkisch vor. Aber außer einer Waldmaus und gelegentlich einem Vogel sah niemand zu, und er setzte seine Versuche fort. Er brauchte zwei Tage des ständigen Ausprobierens, bevor er endlich einigermaßen mit sich zufrieden war und dem Bader seine Fortschritte vorführte.
Der zeigte ihm nun, wie er beide Bälle in einem Kreis bewegen konnte. »Es sieht schwieriger aus, als es ist. Die Bälle werden durch das Hochschnellen rasch hinaufgeschickt, kommen aber viel langsamer herunter. Das ist das Geheimnis des Jongleurs, das rettet ihn: Du hast viel Zeit.»
Eine Woche später brachte ihm der Bader bei, wie man beide Bälle aus derselben Hand jongliert.
Sie hielten vor einer Stadt namens Bletchly, weil der Bader von einem Bauern einen Schwan kaufte. Er war kaum mehr als ein Schwänchen, aber dennoch größer als jedes essbare Geflügel, das Rob jemals gesehen hatte.
Der Bauer verkaufte ihn bereits gerupft, doch der Bader bereitete den Vogel sorgfältig vor, wusch ihn gründlich in einem Bach und hielt ihn an den Beinen über ein kleines Feuer, um die Stoppeln abzusengen. Er füllte ihn mit Maronen, Zwiebeln, Fett und Kräutern, wie es sich für einen Vogel gehörte, der so viel gekostet hatte. »Das Fleisch eines Schwanes ist trockener als das einer Ente, deshalb muss es gespickt werden«, belehrte er Rob glücklich. Statt den Vogel zu spicken, wickelten sie ihn jedoch vollkommen in dünne Scheiben von gesalzenem Schweinespeck, die einander überlappten und fest anlagen. Der Bader verschnürte das Tier mit einer Flachsschnur und steckte es dann auf einen Spieß über dem Feuer.
Rob übte in der Nähe des Feuers, so dass die Gerüche zu einer süßen Qual wurden. Die Hitze der Flammen entzog dem Schweinespeck das Fett und durchtränkte mit ihm das magere Fleisch, während das Fett in der Füllung langsam schmolz und den Vogel von innen saftig machte. Während der Bader den Schwan auf dem grünen Zweig drehte, der als Spieß diente, trocknete die dünne Speckschicht allmählich und wurde braun; als der Vogel schließlich durchgebraten war und der Bader ihn vom Feuer nahm, platzte die gesalzene Speckkruste und fiel ab. Innen war der Schwan saftig und köstlich, ein wenig fest, aber fein gewürzt. Sie aßen das Fleisch mit der heißen Maronenfüllung und gekochtem frischen Kürbis. Rob bekam eine große, rosa Keule. Am nächsten Morgen standen sie früh auf, um flott und nach dem Ruhetag gut erholt weiterzufahren. Sie hielten zum Frühstück am Straßenrand und ließen sich kalte Schwanenbrust mit geröstetem Brot und Käse schmecken. Als sie aufgegessen hatten, rülpste der Bader und übergab Rob einen dritten hölzernen Ball, der grün bemalt war.
Sie bewegten sich wie Ameisen über das Tiefland. Die Cotswold-Hügel waren leicht gewellt und schön in ihrer sommerlichen Sanftheit. Die Dörfer duckten sich in die flachen Täler, und es gab mehr Steinhäuser, als Rob in London gesehen hatte. Drei Tage nach dem St.-Swithin-Tag, dem 15. Juli, wurde Rob zehn Jahre alt. Er erwähnte es dem Bader gegenüber nicht.
Er wuchs, und die Ärmel seines Hemdes, die Ma absichtlich zu lang zugeschnitten hatte, endeten jetzt ein Stück oberhalb seiner kräftigen Handgelenke. Der Bader ließ ihn schwer arbeiten. Rob erledigte die meisten täglichen Arbeiten, belud und entlud den Wagen in jeder Stadt und jedem Dorf, sammelte Brennholz und holte Wasser.
Sein Körper bildete aus dem guten, nahrhaften Essen, das den Bader so dickbäuchig erhielt, Knochen und Muskeln. Er hatte sich schnell an das wunderbare Essen gewöhnt.
Und auch der Bader und Rob gewöhnten sich aneinander. Wenn der dicke Mann ab und zu eine Frau ans Lagerfeuer brachte, war es für Rob längst nichts Neues mehr. Manchmal horchte er auf die Geräusche beim Bumsen und versuchte, etwas zu sehen, aber für gewöhnlich drehte er sich um und schlief. Wenn die Umstände günstig waren, verbrachte der Bader auch einmal die Nacht im Haus einer Frau, doch traf er immer pünktlich beim Wagen ein, wenn es Morgen wurde und es Zeit war, den Ort zu verlassen. Allmählich begriff Rob, dass der Bader versuchte, jede Frau um den
Finger zu wickeln, die er sah, und es genauso mit den Leuten hielt, die seiner Vorstellung beiwohnten. Der Bader redete ihnen ein, dass das universelle Spezificum eine Arznei aus dem Osten war, die man gewann, indem man aus den zerriebenen und getrockneten Blüten einer Pflanze, die Vitalia hieß und nur in den Wüsten des fernen Assyrien vorkam, einen Aufguss bereitete.
Wenn das Heilmittel knapp wurde, half Rob dem Bader beim Mischen eines neuen Vorrats, und er sah, dass das Spezificum überwiegend aus gewürztem Met bestand.
Sie mussten sich nur ein halbes Dutzend Mal erkundigen, bis sie einen Bauern fanden, der ihnen gern ein Fässchen Metheglin verkaufte. Jedes andere alkoholische Getränk hätte denselben Dienst geleistet, aber der Bader sagte, dass ihm Metheglin, ein Gemisch aus gegorenem Honig und Wasser, am liebsten sei. »Es ist eine Erfindung der Waliser, Kleiner, eines der wenigen Dinge, die wir ihnen verdanken. Der Name kommt von meddyg, ihrem Wort für Arzt, und llyn, was starker Alkohol bedeutet. Metheglin ist ihre Allerweltsmedizin, und sie ist gut, denn sie betäubt die Zunge und wärmt die Seele.« Vitalia, das Kraut des Lebens aus dem fernen Assyrien, entpuppte sich als eine Prise Salpeter, die Rob tüchtig in jede Gallone Metheglin verrührte. Sie verlieh dem alkoholischen Getränk medizinische Schärfe, die durch die Süße des gegorenen Honigs, der den Grundbestandteil darstellte, gemildert wurde.
Die Flaschen waren klein. »Kauf ein Fässchen billig, verkaufe ein Fläschchen teuer«, lehrte der Bader. »Unsere Kundschaft sind die einfachen Leute und die Armen. Über uns stehen die Chirurgen, die fettere Honorare einstreichen und unsereinem manchmal ein dreckiges Geschäft zuschanzen, mit dem sie sich nicht die Hände schmutzig machen wollen, so wie man einem Köter ein faules Stück Fleisch zuwirft. Über diesem erbärmlichen Gesindel stehen die verdammten Ärzte, die sich Medicus schimpfen und die vornehmen Herrschaften betreuen, weil sie die höchsten Honorare berechnen. Hast du dich jemals gefragt, warum dieser Bader keine Barte stutzt oder Haare schneidet? Weil ich es mir leisten kann, mir meine Tätigkeit selbst auszusuchen. Wenn ein Bader eine besondere Arznei mischt und sie fleißig verkauft, kann er genauso viel Geld verdienen wie ein Medicus.
Sollte alles andere versagen, ist dies das einzige, was du wissen musst.«
Als sie genügend Arznei für den Verkauf gemischt hatten, nahm der Bader einen kleineren Topf für ein weiteres Quantum. Dann machte er sich an seiner Kleidung zu schaffen; Rob sah starr vor Staunen zu, wie ein Urinstrahl in das universelle Spezificum plätscherte. »Meine Spezialabfüllung«, grinste der Bader sinnig, während er sich entleerte. »Übermorgen werden wir in Oxford sein. Der dortige Vogt, Sir John Fitts, knöpft mir viel Geld ab unter der Drohung, mich sonst aus der Grafschaft auszuweisen. In vierzehn Tagen treffen wir in Bristol ein, wo ein Kneipenwirt namens Porter während meiner Vorstellung immer in wüste Beschimpfungen ausbricht. Ich versuche stets, für solche Männer passende kleine Präsente bereitzuhalten.« Als sie in Oxford ankamen, verschwand Rob nicht, um mit seinen farbigen Bällen zu üben. Er wartete und schaute zu, wie der Vogt in einer schmutzigen Seidenjacke erschien, ein langer, dürrer Mann mit eingefallenen Wangen und ständig einem listigen Lächeln auf den Lippen, das offenbar auf eine persönliche Belustigung zurückzuführen war. Rob sah, wie der Bader den Erpresser bezahlte und ihm dann wie auf einen nachträglichen Einfalt hin ein Fläschchen Spezificum anbot. Der Vogt öffnete die Flasche und trank sie aus. Rob wartete darauf, dass er würgte und spuckte und ihre sofortige Festnahme anordnete, aber Lord Fitts schluckte auch den letzten Tropfen und schmatzte.
»Annehmbares Getränk.« »Danke, Sir John.«
»Gib mir ein paar Flaschen, ich nehme sie mit.« Der Bader seufzte, als würde er ausgenützt. »Selbstverständlich, Mylord.«
Die mit Pisse versetzten Flaschen wurden geritzt, um sie von dem unverdünnten Metheglin zu unterscheiden, und in einer Ecke des Wagens getrennt aufbewahrt. Aber Rob wagte nun nie mehr, den Honigmet zu trinken, weil er Angst vor einem Irrtum hatte. Das Vorhandensein der Spezialabfüllung verleidete ihm das ganze Metheglin und bewahrte ihn vielleicht davor, früh ein Trinker zu werden.
Mit drei Bällen zu jonglieren war gemein schwer. Er arbeitete wochenlang ohne großen Erfolg daran, obwohl er jeden freien Augenblick übte. Noch nachts im Schlaf sah er farbige Bälle, die wie Vögel durch die Luft tanzten.
Sie waren in Stratford, als er den Trick herausbekam. Er erkannte keine Veränderung in der Art und Weise, wie er die Bälle emporschnellte oder fing. Er hatte ganz einfach den richtigen Rhythmus gefunden; die drei Bälle flogen wie von selbst aus seinen Händen in die Höhe und kehrten zurück, als wären sie ein Teil von ihm.
Der Bader war zufrieden. »Es ist mein Geburtstag, und du hast mir ein schönes Geschenk gemacht«, lobte er ihn.
Um beide Ereignisse zu feiern, gingen sie auf den Markt und kauften eine Rehkeule, die der Bader abkochte, spickte, mit Minze und Sauerampfer würzte und dann mit kleinen Karotten und Zuckererbsen in einer Biersauce schmorte.
»Wann ist denn dein Geburtstag?« fragte er beim Essen.
»Drei Tage nach dem St.-Swithin-Tag.«
»Das ist doch bereits vorbei! Und du hast es mit keinem Wort erwähnt!«
Rob antwortete nicht.
Der Bader sah ihn an und nickte. Dann schnitt er Scheiben von der Keule und häufte sie auf Robs Teller.
Am Abend nahm er ihn ins Wirtshaus von Stratford mit. Rob trank süßen Apfelwein, der Bader dagegen ölte seine Gurgel mit frischem Ale und sang darauf ein Lied. Er hatte keine große Stimme, konnte aber ein Lied gut vortragen. Als der letzte Ton verklungen war, gab es Beifall, und die Leute trommelten mit den Humpen auf die Tische.
Zwei Frauen saßen allein m einer Ecke, sie waren die einzigen Frauen im Wirtshaus. Die eine war jung, drall und blond, die andere mager und älter; sie hatte graue Strähnen im braunen Haar. »Mehr!« schrie die ältere keck.
»Mistress, Ihr seid ja unersättlich«, rief der Bader. Er warf den Kopf zurück und sang:
»Ein lustig Lied will ich euch singen, Die Wittib nahm sich einen Jungen hold. Er besorgte ihr's richtig und lehrte sie springen, Als Dank für das Bumsen stahl er ihr Gold.«
Die Frauen kreischten, sie quietschten vor Lachen und bedeckten die Augen mit den Händen.
Der Bader schickte ihnen Ale und sang weiter:
»Deine Blicke liebkosten mich einst Deine Arme umfangen mich jetzt, Drum schwöre keinen sinnlosen Eid, In mein Bett kommst du doch noch zuletzt."
Der Bader, der für einen so beleibten Mann erstaunlich behend war, tanzte mit jeder der beiden Frauen einen ausgelassenen Holzschuhtanz, während die Männer an den Tischen den Takt klatschten und johlten. Er schwenkte und wirbelte die entzückten Frauen mühelos herum, denn unter dem Speck saßen die Muskeln eines Zugpferdes. Bald schlief Rob ein. Undeutlich merkte er, dass er geweckt und von den Frauen gestützt wurde, die dem Bader halfen, ihn taumelnd zum Wagen zurückzuführen.
Als er am nächsten Morgen erwachte, lagen die drei ineinander verschlungen wie tote Riesenschlangen unter dem Gefährt. Brüste interessierten ihn neuerdings brennend; er ging nah an die drei heran und studierte die weibliche Anatomie. Die jüngere Frau hatte einen Hängebusen mit schönen Brustwarzen in großen, braunen Höfen, in denen Haare wuchsen. Die ältere war beinahe flachbrüstig mit kleinen, bläulichen Zitzen wie bei einer Hündin oder einer Sau. Der Bader öffnete ein Auge und beobachtete, wie sein Lehrling sich die weiblichen Formen einprägte. Dann löste er sich von ihnen, tätschelte die missgelaunten, schläfrigen Frauen und weckte sie, damit er das Bettzeug in den Wagen bringen konnte. Rob spannte währenddessen das Pferd ein. Der Bader überließ jeder von ihnen eine Münze und eine Flasche Universal-Spezificum als Geschenk. Ein flatternder Reiher schimpfte hinter ihnen her, als sie Stratford verließen.
Eines Morgens, als Rob versuchte, das Sachsenhorn zu blasen, entlockte er ihm statt zischender Luft einen vollen Ton. Bald kündigte er mit dem einsamen, hallenden Ton täglich stolz ihr Kommen auf der ganzen Fahrtstrecke an. Als der Sommer zur Neige ging und die Tage immer kürzer wurden, reisten sie Richtung Südwesten. »Ich besitze
ein kleines Haus in Exmouth«, erzählte ihm der Bader. »Ich versuche, möglichst den ganzen Winter im milden Küstenklima zu verbringen, denn ich mag die Kälte nicht.« Er gab Rob einen braunen Ball.
Der fürchtete sich nicht davor, mit vier Bällen zu jonglieren, denn er konnte es bereits mit zwei Bällen in einer Hand, und jetzt jonglierte er eben mit zwei Bällen in jeder Hand.
In Glastonberry blamierte er sich, weil er vor einer ehrfürchtig staunenden Jungenschar auf dem Dorffriedhof seine Künste zeigte, während der Bader auf dem nahen Platz eine Vorstellung gab und ihr Lachen und ihren Beifall hörte. Der Bader tadelte ihn scharf. »Du darfst erst eine Vorstellung geben, wenn du ein wirklicher Jongleur bist, was geschehen kann oder auch nicht. Verstanden?« »Ja, Bader«, antwortete er.
Schließlich erreichten sie eines Abends Ende Oktober Exmouth. Das Haus stand einsam und verlassen ein paar Gehminuten vom Meer entfernt.
»Es war ein Bauernhof, aber ich habe ihn ohne den Landbesitz und daher billig gekauft«, erklärte der Bader.
»Das Pferd wird im ehemaligen Heuschuppen untergebracht, und der Wagen kommt in die Scheune, die früher für die Lagerung von Korn diente.« Im Anbau, in dem die Kuh des Bauern gestanden hatte, war das Brennholz vor Witterungseinflüssen geschützt. Das Gebäude war kaum größer als das Haus in der Carpenter's Street in London und hatte ebenfalls ein Strohdach, doch anstelle eines Abzuglochs für den Rauch in der Decke hatte es einen großen, aus Steinen gemauerten Kamin. An der offenen Feuerstelle hatte der Bader einen Topfhaken, einen Dreifuß, eine Schaufel, große Schürhaken, einen Kessel und einen Fleischhaken untergebracht. Neben dem Kamin befand sich ein Wärmeofen, und in dessen unmittelbarer Nähe stand ein riesiges Bett. Der Bader hatte während der vergangenen Winter für Behaglichkeit gesorgt. Rob entdeckte einen Backtrog, einen Tisch, eine Bank, einen Käseschrank, mehrere Krüge und ein paar Körbe.
Als in der Feuerstelle die Flammen loderten, wärmten sie den Rest eines Schinkens auf, der sie schon die ganze Woche ernährt hatte. Das abgehangene Fleisch hatte einen starken Beigeschmack, und das Brot war schimmlig.
Es war keine Mahlzeit nach dem Geschmack des
Meisters. »Morgen müssen wir Vorräte anlegen«, brummte er misslaunig.
Rob nahm die Holzbälle und übte in dem flackernden Lichtschein kreuzweise Würfe. Es ging gut, aber schließlich landeten die Bälle doch auf dem Fußboden.
Der Bader zog einen gelben Ball aus der Tasche und warf ihn auf den Boden zu den anderen. Grün und braun, rot, blau. Und jetzt gelb.
Rob dachte an die Farben des Regenbogens und versank in tiefe Verzweiflung. Er blickte den Bader an. Er wusste, dass der Mann ihm den Widerstand, der vorher nicht da gewesen war, von den Augen ablesen konnte, doch er war nicht fähig, sich zu verstellen. »Wie viele noch?«
Der Bader verstand die Frage und die Verzweiflung. »Keine. Das ist der letzte«, antwortete er ruhig.
Sie arbeiteten, um sich auf den Winter vorzubereiten. Es war genug Holz vorhanden, aber ein Teil musste noch kleingehackt werden; man musste auch Holz zum Unterzünden sammeln, brechen und neben dem Herd aufschichten. In dem Haus gab es zwei Räume, einen zum Wohnen und den anderen für die Lebensmittelvorräte.
Der Bader wusste genau, wo sie die haltbarsten Vorräte bekamen. Sie kauften Rüben, Zwiebeln und einen Korb Kürbisse. In einem Obstgarten in Exeter pflückten sie ein Fass Äpfel mit goldener Schale und weißem Fleisch und brachten es mit dem Wagen nach Hause. Sie erstanden ein Fässchen gepökeltes Schweinefleisch. Ein benachbarter Bauer besaß ein Räucherhaus; sie kauften Schinken und Makrelen und ließen sie bei ihm gegen Bezahlung räuchern. Dann hängten sie sie zusammen mit einem gekauften Viertel von einem Hammel hoch und trocken auf. Der Bauer kannte nur Leute, die ihre Nahrung stahlen oder selbst erzeugten, und wunderte sich, dass ein einfacher Mann so viel Fleisch kaufte.
Rob hasste den gelben Ball. Der gelbe Ball war sein Ruin. Mit fünf Bällen zu jonglieren funktionierte von Anfang an nicht. Der Bader versuchte ihm zu helfen. »Du musst sie sehr rasch hochschnellen.« Als Rob es versuchte, war ihm, als ginge ein Regen herabfallender Bälle auf ihn nieder. Er haschte nach ihnen, doch sie fielen alle um ihn
herum und rollten in sämtliche Ecken. Der Bader lächelte: »Das wird deine Aufgabe für den Winter sein«, stellte er fest.
Das Wasser schmeckte bitter, weil der Brunnen hinter dem Haus unter einer dichten Schicht faulender Eichenblätter erstickte. Rob fand im Pferdeschuppen einen Holzrechen und holte große Haufen schwarzer, triefender Blätter heraus. Dann schaffte er Sand aus einer nahen Grube herbei und schüttete ihn in den Brunnen.
Als sich das aufgewühlte Wasser klärte, war es süß.
Der Winter kam schnell: eine seltsame Jahreszeit. Rob liebte den richtigen Winter, während dem der Boden mit Schnee bedeckt war. In Exmouth regnete es dagegen die meiste Zeit, und wenn es schneite, schmolzen die Flocken sogleich auf der feuchten Erde. Es gab kein Eis außer dünnen Nadeln im Wasser, wenn er es aus dem Brunnen holte. Der Wind blies immer kalt und feucht vom Meer her, und auch im kleinen Haus war es sehr feucht. Nachts schlief er mit dem Bader im großen Bett. Zwar lag der Bader näher beim Feuer, aber sein mächtiger Leib strahlte für Rob genügend Wärme aus.
Rob begann langsam, das Jonglieren zu hassen. Er nahm jede Tätigkeit auf sich, um nicht üben zu müssen. Er trug das Nachtgeschirr hinaus, ohne dass es ihm aufgetragen wurde, und schrubbte den Topf jedes Mal. Er spaltete mehr Holz, als sie brauchen konnten, und füllte den Wasserkrug dauernd frisch. Er striegelte Tatus, bis das graue Fell des Pferdes glänzte, und flocht die Mähne des Tieres. Er durchsuchte das Fass mit Äpfeln, um verfaulte Früchte auszulesen. Er hielt das Haus noch sauberer als seinerzeit seine Mutter ihres in London. Am Ufer der Lyme-Bucht beobachtete er die weißen Wellen, die an den Strand schlugen. Der Wind wehte geradewegs vom schäumenden Meer her, so dass seine Augen tränten. Der Bader merkte, wie er vor Kälte zitterte, und trug einer verwitweten Näherin namens Editha Lipton auf, aus einem seiner alten Kleidungsstücke für Rob einen warmen Kittel und eine enge Hose zu schneidern. Edithas Mann und ihre beiden Söhne waren während eines Sturms, der sie beim Fischen überrascht hatte, im Meer ertrunken. Sie war eine üppige Matrone mit freundlichem Gesicht und traurigen Augen. Sie wurde rasch des Baders Frau. Wenn er bei ihr im Ort blieb, lag Rob allein in dem großen Bett neben dem Feuer und tat so, als gehöre das ganze Haus ihm. Als es einmal graupelte und der Wind durch die
Spalten pfiff, verbrachte Editha die Nacht bei ihnen. Rob musste auf den Boden, wo er einen mit Tüchern umwickelten heißen Stein an sich drückte und Reste von dem Steifleinen der Näherin um die Füße
wickelte. Er hörte ihre leise, freundliche Stimme: »Sollte der Junge nicht zu uns ins Bett kommen, wo es wärmer ist?«
»Nein«, erwiderte der Bader.
Kurz darauf, als der Mann knurrend auf ihr bockte, glitt ihre Hand in der Dunkelheit herab und blieb auf Robs Kopf leicht wie bei einer Segnung liegen.
Er rührte sich nicht. Als der Bader mit ihr fertig war, zog sie ihre Hand zurück. Danach wartete Rob, wenn sie in des Baders Haus schlief, stets im Dunkeln am Boden neben dem Bett, doch sie berührte ihn nie wieder.
»Du machst keine Fortschritte«, tadelte ihn der Bader. »Gib acht. Der Wert meines Lehrlings besteht darin, dass er die Menge unterhält. Mein Junge muss ein Jongleur sein.«
»Genügt es nicht, wenn ich mit vier Bällen jongliere?« »Ein erstklassiger Jongleur kann sieben Bälle in der Luft halten. Ich kenne einige, die es zumindest mit sechs hinkriegen. Ich brauche nur einen gewöhnlichen Jongleur.
Aber wenn du es nicht einmal mit fünf Bällen schaffst, wird es bald mit uns aus sein.« Der Bader seufzte. »Ich hatte schon verschiedene Lehrjungen, und von allen waren nur drei es wert,- dass man sie behielt. Der erste war Evan Curry, der fünf Bälle sehr gut jonglieren konnte, aber er hatte eine Schwäche für den Alkohol. Er blieb nach seiner Lehrzeit vier einträgliche Jahre bei mir, bis er bei einer Rauferei unter Betrunkenen in Leicester erstochen wurde: ein lächerlicher Tod. Der zweite war Jason Earle. Er war geschickt, der beste Jongleur von allen. Er erlernte meinen Baderberuf, heiratete die Tochter des Vogts in Portsmouth und ließ sich von seinem Schwiegervater zu einem ehrenwerten Dieb und Kassierer von Bestechungsgeldern machen. Der vorletzte Junge war wunderbar. Er hieß Gibby Nelson. Er war mir unentbehrlich wie das tägliche Brot, erwischte aber in York ein Fieber und starb daran.« Er runzelte die Stirn. »Der letzte Junge war ein verdammter Dummkopf. Es ging ihm wie dir, er konnte mit vier Bällen jonglieren, aber mit dem fünften schaffte er es nicht, und ich habe ihn in London fortgejagt, kurz bevor ich auf dich gestoßen bin.« Sie blickten einander unglücklich an.
»Du bist kein Dummkopf. Du bist ein vielversprechender Kerl, man kommt mit dir gut aus, du verrichtest deine Arbeit schnell. Aber ich habe das Pferd und die Ausrüstung, dieses Haus und das Fleisch, das an seinen Dachsparren hängt, nicht damit erworben, dass ich mein Können Jungen beibringe, die ich nicht gebrauchen kann. Du bist im Frühjahr ein Jongleur, oder ich muss dich irgendwo zurücklassen. Verstehst du?« »Ja, Bader.«
Die Weihnachtszeit war herangekommen, ohne dass sie es recht bemerkt hatten. Editha forderte sie auf, sie in die Kirche zu begleiten, und der Bader knurrte: »Sind wir denn eine verdammte Familie?« Aber er erhob keinen Einwand, als sie fragte, ob sie nur den Jungen mitnehmen könne.
Die kleine, ländliche, aus mit Lehm beworfenem Flechtwerk erbaute Kirche war überfüllt und daher warm. Rob hatte, seit er London verlassen hatte, keine Kirche mehr betreten. Er atmete den Geruch von Weihrauch und die Menschenausdünstungen sehnsüchtig ein und versenkte sich in die Messe an diesem vertrauten Zufluchtsort.
Später predigte der Priester, der wegen seines Dartmoor-Dialekts nur schwer zu verstehen war, von der Geburt des Erlösers und von seinem segensreichen Erdenwallen, das endete, als er von den Juden gekreuzigt wurde, und er sprach ausführlich von dem gefallenen Engel Luzifer, mit dem Jesus zur Verteidigung der Menschen ewig kämpft. Rob suchte nach einem Heiligen für ein besonderes Gebet, wandte sich aber schließlich an die reinste Seele, die er sich vorstellen konnte. Gib acht auf die anderen, bitte, Mo.! Mir geht es gut, aber hilf deinen jüngeren Kindern. Doch er konnte es nicht unterlassen, doch noch eine persönliche Bitte anzuschließen: Bitte, M
a, hilf mir, fünf Bälle zu jonglieren.
Von der Kirche gingen sie heim zu der gebratenen Gans, die sich auf des Baders Spieß drehte und mit Pflaumen und Zwiebeln gefüllt war. »Wenn ein Mann zu Weihnachten Gänsebraten isst, wird er das ganze Jahr hindurch Geld im Säckel haben«, behauptete der Bader. Editha lächelte. »Ich habe immer gehört, dass man zu Michaeli, am
29- September, Gänsebraten essen muss, wenn man zu Geld kommen will«, wendete sie ein, bestand aber nicht auf ihrer Ansicht, als der Bader behauptete, der Spruch gelte nur für Weihnachten. Er spendierte großzügig Alkohol, und die Mahlzeit verlief in vergnügter Stimmung.
Editha wollte nicht über Nacht bleiben, vielleicht weil ihre Gedanken anlässlich der Geburt Christi bei ihrem toten Mann und ihren Söhnen weilten; auch Rob wirkte geistesabwesend. Als sie nach Hause gegangen war, sah der Bader zu, wie Rob zusammenräumte. »Ich würde mein Herz nicht an Editha hängen«, riet ihm der Bader schließlich. »Sie ist nur eine Frau, und wir werden sie bald verlassen.«
Die Sonne kam nie hervor. Während der ersten drei Wochen im neuen Jahr bedrückte das ewige Grau des Himmels ihr Gemüt. Nun begann der Bader ihn anzutreiben, und er bestand darauf, dass er unaufhörlich übte, ganz gleich, wie jämmerlich es ihm immer wieder misslang. »Erinnerst du dich nicht daran, wie es war, als du versucht hast, mit drei Bällen zu jonglieren? Lange konntest du es nicht, dann gelang es dir auf einmal. Und beim Blasen des Sachsenhorns war es ebenso. Du darfst keine Möglichkeit auslassen, es mit fünf Bällen zu schaffen.«
Doch wie viele Stunden er auch darauf verwandte, das Ergebnis war immer das gleiche. Er ging schon mutlos an die Aufgabe heran, denn er wusste im voraus, dass er versagen würde.
Eines Nachts träumte er, dass Editha seinen Kopf wieder berührte, ihre dicken Schenkel öffnete und ihm ihre Punze zeigte. Als er erwachte, konnte er sich nicht mehr erinnern, wie sie aussah, doch während des Traumes war etwas Seltsames, Verstörendes passiert. Er wischte den Schleim vom Bärenfell, als der Bader außer Haus war, und rieb es mit feuchter Asche sauber.
Er war nicht so närrisch zu glauben, dass Editha auf ihn warten würde, bis er ein Mann war, um ihn dann heiraten zu können, doch er fand, dass es sie freuen würde, wenn sie einen Sohn bekam. »Der Bader wird wegziehen«, erwähnte er eines Morgens, während sie ihm half, das Brennholz hineinzutragen. »Könnte ich nicht in Exmouth bleiben und bei dir leben?« In ihre sanften Augen trat ein harter Ausdruck, doch sie schaute nicht weg. »Ich kann nicht für dich sorgen. Schon um mein Leben zu fristen, muss ich halb Näherin und halb Hure sein. Wenn ich dich auch noch auf dem Hals hätte, müsste ich mit jedem Kerl schlafen.« Ein Holzstück fiel aus dem Bündel in ihren Armen. Sie wartete, bis er es aufhob, dann drehte sie sich um und ging ins Haus.
Danach kam sie seltener und sprach nur gelegentlich mit ihm. Schließlich blieb sie ganz aus. Dem Bader fehlte sein Vergnügen, und er wurde reizbarer.
Plötzlich waren es nur noch wenige Wochen bis zum Frühlingsbeginn. Eines Nachts, als der Bader dachte, dass Rob schlief, zog er ihm das Bärenfell zurecht, so dass es warm und angenehm bis unters Kinn reichte. Er beugte sich über das Bett und blickte lang auf Rob hinunter. Dann seufzte er und entfernte sich.
Am Morgen holte er eine Peitsche aus dem Wagen. »Du denkst nicht an das, was du tust«, erklärte er. Er hatte nie das Pferd mit der Peitsche geschlagen, doch als Rob die Bälle fallen ließ, pfiff die Peitsche und schnitt ihm in die Beine. Es schmerzte furchtbar; Rob schrie auf und begann zu schluchzen. »Heb die Bälle auf!«
Er sammelte sie ein, warf sie mit dem gleichen erbärmlichen Ergebnis in die Höhe, und das Leder klatschte wieder um seine Beine. Er war von seinem Vater oft geschlagen worden, doch nie mit einer Peitsche. Immer wieder hob er die fünf Bälle auf und versuchte, mit ihnen zu jonglieren, brachte es aber nicht zustande. Jedes Mal, wenn es ihm misslang, schlang sich die Peitsche um seine Beine, und er schrie. »Heb die Bälle auf!« »Bitte, Bader!«
Das Gesicht des Mannes war unerbittlich. »Es ist zu deinem Besten. Benütze deinen Kopf! Denke!« Obwohl es ein kalter Tag war, schwitzte der Bader.
Vor Schmerzen gelang es Rob zwar, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, doch er bebte, weil er verzweifelt schluchzte, und seine Muskeln versagten ihm den Dienst. Seine Leistung war schlechter denn je. Er zitterte, Tränen nässten sein Gesicht, und der Rotz rann ihm in den Mund, während der Bader die Peitsche schwang. Ich bin ein Römer, sagte sich Rob. Wenn ich einmal erwachsen bin, werde ich diesen Mann aufspüren und umbringen.
Der Bader schlug ihn, bis Blut durch die Beine der neuen Hose drang, die Editha genäht hatte. Dann ließ er die Peitsche fallen und verließ das Haus.
Der Bader kehrte in dieser Nacht spät zurück und fiel betrunken ins Bett.
Als er am Morgen erwachte, waren seine Augen sanft, aber er schob die Lippen vor, als er Robs Beine betrachtete. Er wärmte Wasser und benützte einen Lappen, um sie von dem getrockneten Blut zu säubern, dann holte er einen Topf mit Bärenfett. »Reib es gut ein«, befahl er
ihm.
Das Bewusstsein, dass er seine Chance vertan hatte, schmerzte Rob mehr, als es die blutigen Striemen taten.
Der Bader zog seine Landkarten zu Rate. »Ich werde mich am Gründonnerstag auf den Weg machen und dich bis Bristol mitnehmen. Das ist eine blühende Hafenstadt, vielleicht kannst du dort Arbeit finden.«
»Ja, Bader«, flüsterte er.
Der Bader brauchte lange Zeit, um das Frühstück zuzubereiten, und als es fertig war, teilte er großzügig Haferbrei, Käsetoast, Eier und Speck aus. »Iß nur, iss!« murrte er.
Er setzte sich und sah zu, wie Rob das Essen hinunterwürgte. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich war selbst ein herumziehender Waisenjunge und weiß, dass das Leben hart sein kann.« Nur noch einmal wendete sich der Bader an diesem Morgen an ihn. »Du kannst die Klamotten behalten«, meinte er.
Die farbigen Bälle wurden weggeräumt, und Rob übte nicht mehr. Aber bis zum Gründonnerstag waren es noch fast vierzehn Tage, und der Bader ließ ihn hart arbeiten und befahl ihm, die Schieferböden in beiden Räumen zu schrubben. Jeden Frühling hatte Ma daheim auch die Wände gestrichen, und das tat er jetzt hier. Es gab zwar weniger Rauch in diesem Gebäude als zu Hause, aber diese Wände schienen zuvor nie gestrichen worden zu sein, und als er mit dieser Arbeit fertig war, sahen sie entschieden freundlicher aus.
Eines Nachmittags schien wie durch ein Wunder wieder die Sonne, das Meer glitzerte blau, und die salzhaltige Luft wurde weich. Zum
erstenmal konnte Rob verstehen, warum manche Leute Exmouth zu ihrem Wohnsitz wählten. In den Wäldern hinter dem Haus begannen kleine, grüne Triebe aus der feuchten, laubbedeckten Erde zu sprießen. Er pflückte einen Topf voll Farnschösslinge, und sie kochten das erste Grün mit Speck. Die Fischer hatten sich auf die ruhiger gewordene See hinausgewagt, und der Bader begegnete einem heimkehrenden Boot und kaufte einen schrecklich aussehenden Dorsch und ein halbes Dutzend Fischköpfe. Er ließ Rob gesalzenes Schweinefleisch in Würfel schneiden und briet das fette Fleisch langsam in der Pfanne, bis es knusprig war. Dann kochte er eine Suppe, in die er Fleisch und Fisch, aufgeschnittene Rüben, geschmolzenes Fett, dicke Milch und eine Spur Thymian rührte. Sie genossen das Mahl schweigend mit knusprigem, warmem Brot und wussten beide, dass Rob sehr bald keine solchen Mahlzeiten mehr essen würde.
Ein Teil des aufgehängten Hammelfleisches war schimmlig geworden. Der Bader schnitt den verdorbenen Teil ab und trug ihn in den Wald. Aus dem Äpfelfass stieg stechender Gestank, denn nur mehr wenige Früchte waren nicht angefault. Rob kippte das Fass um und leerte es aus, prüfte jeden Apfel und legte die gesunden Früchte beiseite. Sie fühlten sich in seinen Händen fest und rund an. Er erinnerte sich, wie der Bader ihm das weiche Auffangen beigebracht hatte, indem er ihm Äpfel zum Jonglieren gab, und so schnellte er drei von ihnen in die Höhe: hopp-hopp-hopp.
Er fing sie auf. Dann warf er sie wieder, diesmal sehr hoch, und klatschte in die Hände, bevor er sie auffing. Er hob zwei weitere Äpfel auf und schickte alle fünf hinauf, aber - o Pech! - sie stießen in der Luft zusammen und landeten einigermaßen zermatscht auf dem Fußboden. Er erstarrte, da er nicht wusste, ob sich der Bader in der Nähe befand; er war sicher, wieder Hiebe einzustecken, wenn sein Meister entdeckte, wie er mit dem Essen umging. Aber aus dem anderen Raum kam kein Protest. Er begann, die gesunden Äpfel wieder in das Fass zu legen. Es war gar nicht so schlecht gegangen, sagte er sich, die zeitliche Abstimmung schien besser geworden zu sein.
Er wählte wieder fünf Äpfel von der richtigen Größe aus und warf sie in die Höhe. Diesmal klappte es beinahe, aber seine Nerven hielten nicht durch, und
die Früchte fielen knallend auf den Boden, als hätte ein Herbststurm sie vom Baum gebeutelt.
Er hob die Äpfel auf und schnellte sie wieder empor. Er musste ihnen überallhin nachrennen, und es war ein Hinundherlaufen statt flüssiger, schöner Bewegungen, doch diesmal flogen die fünf Äpfel in die Luft, landeten in seinen Händen und wurden gleich wieder hinaufgeschickt, als wären es nur drei. Hinauf und hinunter und hinauf und hinunter. Immer wieder.
»O Ma!« keuchte er, obwohl er noch Jahre später nicht ins reine kommen konnte, ob sie etwas damit zu tun hatte oder nicht. Hopp-hopp-hopp-hopp-hopp! »Bader!« sagte er laut, er hatte Angst zu schreien. Die Tür ging auf. Im nächsten Augenblick verlor er die Übersicht, und überall purzelten Äpfel zu Boden.
Als er aufblickte, wich er zurück, denn der Bader stürzte mit erhobenen Händen auf ihn zu.
»Ich habe es gesehen!« schrie er, und Rob fand sich in einer begeisterten Umarmung wieder, die sich mit den heftigsten Angriffen des Bären Bartram durchaus messen konnte.
Der Gründonnerstag kam und verging, doch sie blieben in Exmouth, denn Rob musste in allen Sparten der Unterhaltungskunst geschult werden. Sie arbeiteten an einer gemeinsamen Jongleurnummer, was ihm von Anbeginn viel Spaß machte, und er erbrachte auch eine außerordentlich gute Leistung. Dann gingen sie zu Zaubertricks über, die etwa so schwierig waren wie das Jonglieren mit vier Bällen. »Magier werden nicht vom Teufel ernannt«, erklärte der Bader. »Die Magie ist eine menschliche Kunst, die man lernen muss wie das Jonglieren. Aber sie ist viel leichter«, fügte er rasch hinzu, als er Robs Gesicht sah.
Vom Bader wurde Rob in die einfachen Grundlagen der Magie eingeweiht: »Du musst einen tapferen, kühnen Geist besitzen und bei allem, was du tust, ein selbstbewusstes Gesicht machen. Du brauchst geschickte Finger und große Präzision bei der Arbeit, du musst die Zuschauer durch deine Zungenfertigkeit ablenken und fremdartige Worte verwenden, um deine Vorführung auszuschmücken. Die letzte Regel ist bei weitem die wichtigste: Du musst über Vorrichtungen, bestimmte Körperbewegungen und andere Ablenkungsmanöver verfügen, damit die Zuschauer überall hinschauen, nur nicht auf das, was du wirklich tust.«
Die beste Ablenkung seien sie beide, sagte der Bader und benützte den Bandtrick, um es Rob vorzuführen.
»Dafür brauche ich blaue, rote, schwarze, gelbe, grüne und braune Bänder. An das Ende jedes Yards schlinge ich einen Laufknoten, dann rolle ich das geknotete Band fest zu kleinen Knäueln zusammen, die ich in meiner Kleidung verteile. Jede Farbe hat ihre bestimmte Tasche. >Wer möchte ein Band?< frage ich >Ah ja, Sir, ein blaues Band, zwei Yard lang.< Sie verlangen selten ein längeres. Sie brauchen ja keine Bänder, um eine Kuh anzubinden. Ich vergesse die Bitte scheinbar und befasse mich mit anderen Dingen. Dann sorgst du für Ablenkung, vielleicht indem du jonglierst. Während alle Blicke auf dich gerichtet sind, greife ich in meine linke Kitteltasche, in der das blaue Band aufbewahrt wird. Ich täusche Husten vor, verdecke mit der Hand meinen Mund, und das Knäuel ist schon drinnen. Wenn die allgemeine Aufmerksamkeit dann wieder mir gilt, entdecke ich das Ende des Bandes zwischen meinen Lippen und ziehe es Stück um Stück heraus. Sobald der erste Knoten bei meinen Zähnen anlangt, geht er auf. Wenn der zweite Knoten kommt, weiß ich, dass ich bei zwei Yards bin, schneide das Band ab und zeige es her.« Rob lernte den Trick begeistert, war aber von der schnöden Manipulation enttäuscht und seiner Illusion beraubt.
Der Bader beraubte ihn aber noch mehrer Illusionen. Obwohl Rob längst nicht als ausgelernter Magier gelten konnte, arbeitete er bald als Helfer des Zauberers. Er lernte einfache Tänze, Zauberformeln und Lieder, Scherze und Anekdoten, die er nicht verstand. Schließlich plapperte er auch die Reden nach, die zum Verkauf des Universal-Spezificums gehörten. Der Bader lobte ihn, weil er rasch lernte. Lang bevor sein Lehrling es für möglich hielt, erklärte der Bader, dass er nun gerüstet sei.
Sie brachen an einem nebligen Aprilmorgen auf und reisten zwei Tage lang in leichtem Frühlingsregen durch die Blackdown Hills. Am dritten Nachmittag klarte der Himmel auf, und sie erreichten das Dort Bridgeton. Der Bader hielt das Pferd bei der Brücke an, der der Ort seinen Namen verdankte, und erteilte Rob letzte Anweisungen. Als dann die Vorstellung begann, sprang er mit dem Bader auf das Podium.
»Guten Tag und guten Morgen«, begrüßte der Bader die Menge. Sie begannen beide, mit zwei Bällen zu jonglieren. »Wir freuen uns sehr, in Bridgeton zu sein.«
Gleichzeitig zogen beide einen dritten Ball aus der Tasche, dann einen vierten und schließlich einen fünften.
Der Beifall war das lauteste und zugleich schönste Geräusch, das Rob je gehört hatte.
Der Bader ließ dann in einem leeren Korb Papierrosen aufblühen, verwandelte ein dunkles Halstuch in eine Reihe farbiger Fähnchen, griff sich Münzen aus der leeren Luft und ließ zuerst einen Krug Bier und dann ein Hühnerei verschwinden.
Rob sang »Der reichen Witwe Liebesnot« zu einem entzückten Pfeifkonzert, dann verkaufte der Bader schnell sein universelles Spezificum, leerte drei Körbe und schickte Rob um Nachschub in den Wagen. Danach wartete eine lange Reihe von Patienten darauf, wegen verschiedener Leiden behandelt zu werden, denn wenn auch die leichtgläubige Menge schnell bereit war zu lachen und auf einen Scherz einzugehen, bemerkte Rob, dass die Leute doch äußerst ernst wurden, wenn es sich darum handelte, Heilung für die Krankheiten ihres Körpers zu finden.
Sobald die Patienten gegangen waren, verließen sie Bridgeton, denn der Bader behauptete, es sei ein Räubernest, in dem einem nach Einbruch der Dunkelheit die Kehle durchgeschnitten wurde. Der Meister war mit ihren Einnahmen sichtlich zufrieden, und Rob schlief an diesem Abend mit dem Bewusstsein ein, sich seinen Platz in dieser Welt gesichert zu haben.
Als nächstes hielten sie in Glastonbury, einem Ort mit frommen Leuten, die ihre Häuser um die große, schöne St.-Michaels-Kirche errichtet hatten.
»Wir müssen hier etwas zurückhaltend sein«, sagte der Bader. »In Glastonbury führen die Pfaffen das große Wort, und Pfaffen hassen
jede Form von ärztlicher Behandlung, denn sie glauben, dass Gott sie mit der heiligen Verantwortung für die Seele und den Körper des Menschen betraut hat.«
Rob bemerkte nicht weniger als fünf finster dreinblickende Priester unter den Zuschauern.
Er und der Bader jonglierten mit roten Bällen, die der Bader kommentierend mit den Feuerzungen verglich, die den Heiligen Geist der Apostelgeschichte 2.3 verkörpern. Die Zuschauer waren von dem Jonglieren begeistert und klatschten eifrig Beifall, verstummten jedoch, als Rob »Alle Glorie, Preis und Ehre« sang. Der Bader brachte dann heilige Reliquien in einer abgenutzten Truhe aus Eschenholz auf die Bühne. »Gebet acht, Mitbrüder im Herrn«, begann er mit seiner, wie er Rob später erklärte, Mönchsstimme. Er zeigte ihnen Erde und Sand, die vom Berg Sinai und vom Ölberg nach England gebracht worden waren, hielt einen Splitter vom heiligen Kreuz in die Höhe und ein Stück von dem Balken, der die heilige Krippe getragen hatte; er zeigte Wasser aus dem Jordan, eine Erdscholle von Gethsemane und Knochensplitter, die von vielen Heiligen stammten.
Die Zuschauer waren gerührt. Während sie noch seufzten, hielt der Bader eine Flasche Universal-Spezificum hoch. »Freunde«, deklamierte er, »wie der Herr das Heilmittel für eure Seele gefunden hat, habe ich die Arznei für euren Körper gefunden.« Er erzählte die Geschichte von Vitalia, dem Kraut des Lebens, die offensichtlich ebenso gut bei Frommen wie bei Sündern wirkte, denn die Leute kauften das Spezificum gierig und stellten sich dann vor dem Wandschirm des Baders zur Beratung und Behandlung an. An diesem Nachmittag rasteten sie frohgelaunt. Das war vielleicht der richtige Moment, um ein Thema anzuschneiden, das schon lange schwer auf Robs Gemüt lastete. »Bader«, begann er. »Hmmm?«
»Bader, wann fahren wir nach London?«
Der Bader war gerade damit beschäftigt, die Münzen aufzustapeln, und winkte ab, da er sich nicht verzählen wollte. »Demnächst«, murmelte er, »irgendwann.«
In Kingswood versagte Rob bei vier Bällen. In Mangotsfield ließ er einen Ball fallen, aber das war das letzte Mal, und nachdem sie den Dorfbewohnern von Redditch Mitte Juni eine Vorstellung und Behandlung geboten hatten, brauchte er nicht mehr jeden Tag stundenlang das Jonglieren zu üben, denn die häufigen Auftritte hielten seine Finger geschmeidig und sein Gefühl für den Rhythmus wach. Bald wurde er ein sicherer Jongleur. Er nahm an, dass er auch noch gelernt hätte, mit sechs Bällen zurechtzukommen, doch der Bader wollte nichts davon wissen, denn es war ihm lieber, wenn er ihm bei seiner Arbeit half. Sie reisten wie die Zugvögel nach Norden, doch statt zu fliegen schlängelten sie sich langsam durch die Berge zwischen England und Wales. In der Stadt Abergavenny, einer Reihe baufälliger Häuser, die an einem düsteren Gebirgskamm aus Schiefergestein lehnten, half Rob dem Bader zum erstenmal bei der Untersuchung und Behandlung. Rob hatte Angst. Er hatte mehr Hemmungen als seinerzeit bei den beiden Holzbällen. Es war ihm rätselhaft, warum die Leute erkrankten. Er dachte, ein Mensch könne unmöglich Krankheiten verstehen und heilen, und merkte, dass der Bader klüger war als jeder Mensch, den er bisher kennengelernt hatte, weil er dazu imstande war. Die Kranken standen Schlange vor dem Wandschirm, und er ließ einen nach dem anderen dahintertreten, sobald der Bader mit dem vorhergehenden Patienten fertig war. Der erste Mann, den Rob seinem Meister vorführte, war groß und ging gebeugt, er hatte schwärzliche Spuren am Hals, an den Knöcheln und unter seinen Fingernägeln. »Es könnte dir nicht schaden, wenn du dich einmal wäschst«, meinte der Bader nicht unfreundlich.
»Es ist die Kohle, versteht Ihr«, erläuterte der Mann. »Der Staub setzt sich fest, wenn man schürft.«
»Du schürfst Kohle?« fragte der Bader. »Ich habe gehört, sie ist giftig, wenn man sie verbrennt. Ich habe selbst gesehen, dass sie Gestank und dicken Rauch verbreitet, der nicht leicht durch das Rauchloch eines Hauses abzieht. Kann man unter solchen Umständen leben?« »Man kann es, Sir, und wir sind arm. Aber in letzter Zeit habe ich Schmerzen und Schwellungen an den Gelenken, und die Arbeit tut mir weh.«
Der Bader betastete die schmutzigen Gelenke und drückte mit seiner dicken Fingerspitze auf die Geschwulst am Ellbogen des Mannes. »Es kommt daher, dass du die Ausdünstungen der Erde einatmest. Du musst in der Sonne sitzen, so oft du kannst. Bade häufig in warmem Wasser, aber nicht in heißem, denn heiße Bäder führen zur Schwächung des Herzens und der Glieder. Reibe deine geschwollenen Gelenke mit dem universellen Spezificum ein. Das hilft auch, wenn du es innerlich anwendest.«
Er berechnete dem Mann sechs Pence für drei kleine Fläschchen und weitere zwei Pence für die Beratung und sah Rob dabei nicht an. Rasch nacheinander behandelte er einen Mann, dessen gebrochenes Bein vor acht Jahren schlecht zusammengewachsen war und der beim Gehen den linken Fuß nachzog, eine Frau, die von Kopfschmerzen geplagt wurde, einen Mann mit Krätze auf der Kopfhaut und ein dümmlich lächelndes Mädchen mit einer schrecklichen Wunde auf der Brust, die ihm gestand, sie habe zu Gott gebetet, dass ein Bader durch ihre Stadt kommen möge.
Er verkaufte allen das Universal-Spezificum, außer dem Mann mit der Krätze, der es nicht wollte, obwohl der Bader es ihm dringend empfahl; vielleicht besaß er die zwei Pence nicht.
Sie kamen in die sanfteren Hügel der westlichen Midlands. Vor dem Dorf Hereford musste Incitatus am Fluss Wye warten, weil Schafe durch die Furt wateten, ein scheinbar endloser Zug blökender Felle, die Rob gründlich ängstigten. Er hätte gern eine unbefangene Einstellung zu Tieren gehabt, aber er war ein Stadtjunge, obwohl seine Ma von einem Bauernhof stammte. Tatus war das einzige Pferd, mit dem er je zu tun gehabt hatte. Ein entfernter Nachbar in der Carpenter's Street hatte zwar eine Milchkuh gehalten, doch keiner der Coles hatte je etwas mit Schafen zu tun gehabt.
Hereford war eine wohlhabende Gemeinde. Jeder Bauernhof, an dem sie vorbeikamen, besaß einen Schweinepfuhl und grüne buckelige Wiesen, auf denen Schafe und Rinder weideten. Die Steinhäuser und Scheunen waren groß und massiv gebaut und die Menschen im allgemeinen fröhlicher als die nur ein paar Tagereisen entfernten armen Waliser Bergbauern. Ihre Vorstellung auf dem Dorfanger zog eine ansehnliche Menschenschar an, und der Verkauf ging gut.
Der erste Patient des Baders hinter dem Wandschirm stand etwa in Robs Alter, wenn er auch viel kleiner war.
»Er ist vor nicht ganz sechs Tagen vom Dach gefallen, und schaut Euch das an!« sagte der Vater des Jungen, ein Faßbinder. Eine zersplitterte Faßdaube am Boden hatte die linke Handfläche durchbohrt, und nun war das Fleisch entzündet wie ein aufgeblasener Kugelfisch.
Der Bader zeigte Rob, wie er die Hände des Jungen festhalten, und dem Vater, wie er dessen Beine packen solle, dann nahm er ein kurzes, scharfes Messer aus seiner Instrumententasche. »Haltet ihn fest!« befahl er.
Rob spürte, wie die Hände zitterten. Der Junge schrie auf, als die Klinge in sein Fleisch drang. Grünlich-gelber Eiter spritzte heraus, gefolgt von üblem Geruch und einem Strom roten Blutes. Der Bader reinigte die Wunde von Fäulnis, untersuchte sie dann vorsichtig und gründlich und zog mit einer eisernen Pinzette kleine Splitter heraus. »Es sind die Splitter von dem Holzstück, das ihm in die Hand eingedrungen ist, verstehst du?« Er zeigte sie dem Vater. Der Junge stöhnte. Rob fühlte Übelkeit aufsteigen, doch er hielt ihn weiter fest, während der Bader langsam und vorsichtig zu Werke ging. »Wir müssen alle entfernen«, erklärte er, »denn sie enthalten verderbliche Säfte, die die Hand wieder brandig machen.« Als er überzeugt war, dass sich kein Holzsplitter mehr in der Wunde befand, goss er etwas Spezificum hinein und verband sie mit einem Tuch. Dann trank er den Rest der Flasche selbst. Der schluchzende Patient schlich davon und war froh, dass er sie verlassen konnte, während sein Vater bezahlte.
Als nächster war ein gebeugter alter Mann mit hohlem Husten an der Reihe. Rob führte ihn hinter den Wandschirm.
»Morgenschleim. Oh, eine große Menge, Sir!« Er keuchte, wenn er sprach.
Der Bader strich mit der Hand nachdenklich über die eingefallene Brust. »Ich werde dich schröpfen.« Er sah Rob an. »Hilf ihm, sich teilweise freizumachen, damit man an seiner Brust Schröpfköpfe ansetzen kann.«
Rob zog dem alten Mann vorsichtig das Unterhemd aus, denn er wirkte gebrechlich. Um den Patienten wieder zum Bader hinzudrehen, ergriff er beide Hände des Mannes. Es war, als fasse er zwei zitternde Vögel. Die steifen Finger lagen in den seinen und übermittelten ihm eine Botschaft.
Der Bader warf ihnen einen Blick zu und merkte, wie der Junge erstarrte. »Komm!« forderte er ihn ungeduldig auf. »Wir dürfen nicht den ganzen Tag herumtrödeln.« Rob schien ihn nicht zu hören. Schon zweimal hatte Rob gespürt, wie diese seltsame, unangenehme Gewissheit aus dem Körper eines anderen in den seinen gedrungen war. Auch jetzt wurde er von Entsetzen überwältigt. Er ließ die Hände des Kranken fallen und floh.
Fluchend suchte der Bader seinen Lehrling, bis er ihn fand: Er kauerte hinter einem Baum.
»Ich will den Grund hören. Und zwar sofort!«
»Er... der Alte wird sterben.«
Der Bader machte große Augen. »Was ist das für ein ausgewachsener Unsinn?«
Sein Lehrling begann zu weinen.
»Hör damit auf!« herrschte der Bader ihn an. »Woher willst du das wissen?«
Rob versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton hervor. Der Bader versetzte ihm eine Ohrfeige, und Rob schnappte nach Luft. Als er zu sprechen begann, sprudelten die Worte aus ihm heraus, denn sie waren ihm immer wieder durch den Kopf gegangen, noch bevor sie London verlassen hatten. Er hatte den bevorstehenden Tod seiner Mutter gespürt, und er war eingetreten. Dann hatte er gewußt, dass sein Vater sterben würde, und er war gestorben.
»Du meine Güte«, sagte der Bader skeptisch, aber er hörte genau zu und beobachtete Rob dabei. »Du meinst also, dass du tatsächlich bei diesem alten Mann den Tod gefühlt hast?«
»Ja.« Er erwartete nicht, dass man ihm Glauben schenken würde.
»Wann?«
Er hob die Schultern. »Bald?«
Er nickte. Er konnte nur die trostlose Wahrheit sagen. In des Baders Augen sah er, dass der Mann das erkannte.
Der Bader zögerte, dann faßte er einen Entschluß: »Während ich uns die Leute vom Hals schaffe, belädst du den Wagen!« befahl er.
Sie verließen das Dorf langsam, aber sobald sie außer Sichtweite waren, fuhren sie so rasch, wie es die holprige Straße zuließ. Incitatus stampfte spritzend und geräuschvoll durch die Furt des Flusses und vertrieb aufgescheuchte Schafe, deren ängstliches Blöken beinahe das Geschrei des erzürnten Schäfers übertönte.
Rob erlebte zum erstenmal, dass der Bader dem Pferd die Peitsche gab. »Warum beeilen wir uns so?« rief er, während er sich festklammerte. »Weißt du, was sie mit Hexenmeistern machen?« Der Bader musste schreien, um das Trommeln der Hufe und das Klappern der Dinge im Wagen zu übertönen. Rob schüttelte den Kopf.
»Sie knüpfen sie an einem Baum auf oder nageln sie an ein Kreuz. Manchmal tauchen sie Verdächtige in deiner verdammten Themse unter, und wenn sie ertrinken, erklärt man sie für unschuldig. Wenn der alte Mann stirbt, werden sie behaupten, es kommt daher, dass wir Hexer sind«, brüllte er und schlug mit der Peitsche immer wieder auf den Rücken des entsetzten Pferdes ein.
Sie hielten nicht an, um zu essen oder ihre Notdurft zu verrichten. Als sie Tatus erlaubten, in Schritt zu fallen, lag Hereford schon weit hinter ihnen, aber sie trieben das arme Tier bis zur Dämmerung weiter an. Erschöpft schlugen sie das Lager auf und aßen schweigend ein kärgliches Mahl.
»Schildere es noch einmal!« forderte der Bader ihn schließlich auf. »Laß nichts aus!«
Er hörte aufmerksam zu und unterbrach Rob nur einmal, um ihn zu bitten, lauter zu sprechen. Als er die Geschichte des Jungen angehört hatte, nickte er.
»In meiner Lehrlingszeit habe ich miterlebt, wie mein Badermeister zu Unrecht als Hexer ertränkt wurde«, sagte er.
Rob starrte ihn an und war zu erschrocken, um weitere Fragen zu stellen.
»Einige Male in meinem Leben sind Leute gestorben, während ich sie behandelt habe. Einmal ist in Durham eine alte Frau verschieden, und ich war sicher, dass ein geistliches Gericht die Prüfung durch Untertauchen oder Halten einer weißglühenden Eisenstange anordnen würde. Ich wurde erst nach der peinlichsten Befragung, nach Fasten und
Almosenspenden freigelassen. Ein andermal in Eddisbury starb ein Mann, als er sich hinter meinem Wandschirm befand. Er war jung und schien kerngesund zu sein. Unruhestifter hätten leichtes Spiel gehabt, aber ich hatte Glück, und niemand verstellte mir den Weg, als ich den Ort verließ.«
Rob fand seine Stimme wieder. »Glaubt Ihr... dass ich vom Teufel besessen bin?« Es war eine Frage, die ihn den ganzen Tag beschäftigt hatte.
Der Bader schnaubte. »Wenn du das glaubst, bist du kindisch und dumm. Und ich weiß, dass du weder das eine noch das andere bist.« Er ging zum Wagen, füllte sein Hörn mit Metheglin und trank es aus, bevor er fortfuhr.
»Mütter und Väter sterben. Und alte Leute sterben. Das ist der Lauf der Welt. Bist du sicher, dass du etwas gefühlt hast?« »Ja, Bader.«
»Ein junger Kerl wie du kann sich doch einmal irren oder phantasieren?«
Rob schüttelte eigensinnig den Kopf.
»Und ich sage, es war alles nur Phantasie«, behauptete der Bader. »Jetzt reicht es mit dem Fliehen und Reden, wir müssen uns ausruhen.«
Sie schlugen ihr Nachtlager zu beiden Seiten des Feuers auf, aber sie lagen stundenlang dort, ohne zu schlafen.
Der Bader wälzte sich und warf sich herum, dann stand er auf und öffnete eine weitere Flasche. Er nahm sie zu Robs Seite des Feuers mit und hockte sich nieder. »Angenommen«, begann er und trank einen Schluck, »nur angenommen, alle anderen Menschen auf der Welt würden ohne Augen geboren, und du kämst allein mit Augen auf die Welt?« »Dann würde ich sehen, was niemand sonst sehen kann.« Der Bader trank und nickte. »Ja. Oder stell dir vor, wir hätten keine Ohren, und du hättest welche? Oder nimm an, dass uns ein anderer Sinn fehlt. Und irgendwie von Gott oder der Natur oder von wem du willst hättest du eine... besondere Gabe erhalten. Nimm an, du kannst vorhersagen, wenn jemand sterben wird?« Rob schwieg, weil er wieder schreckliche Angst hatte. »Es ist Unsinn, wir beide wissen das«, stellte der Bader fest. »Es ist alles deiner Phantasie entsprungen. Aber nur angenommen...« Er trank nachdenklich aus der Flasche, sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, und das verlöschende Feuer glänzte warm in seinen hoffnungsvollen Augen, als er Rob ansah. »Es wäre eine Sünde, eine solche Gabe nicht zu verwerten«, schloss er.
In Chipping Norton kauften sie Metheglin und füllten wieder eine Menge Spezificum ab, um den einträglichen Vorrat aufzufüllen. »Wenn ich sterbe und vor dem Himmelstor in der Reihe stehe«, sagte der Bader, »wird der heilige Petrus alle fragen: >Wie hast du dein Brot verdient?< - >Ich war ein Bauers wird ein Mann sagen, oder
>Ich habe Stiefel aus Leder hergestellte Aber ich werde antworten: >Fumum vendidi<«, lachte der ehemalige Mönch fröhlich, und Robs Latein reichte dafür aus: Ich habe Dunst verkauft.
Doch der Bader war viel mehr als ein Hausierer mit fragwürdigen Arzneien. Wenn er hinter dem Wandschirm die Leute behandelte, bewies er Sachkenntnis und oft auch Mitgefühl. Was er unternahm, verstand und tat er einwandfrei, und er führte Rob eine sichere Urteilskraft vor und eine feinfühlige Hand.
In Buckingham zeigte ihm der Bader, wie man Zähne zieht, denn er stieß zufällig auf einen Viehtreiber mit verfaulten Zähnen. Der Patient war ebenso dick wie der Bader, ein Angsthase mit hervorquellenden Augen, der schrie wie eine Frau. Mittendrin überlegte er es sich. »Halt, halt, halt! Lasst mich los!« flüsterte er mit blutigem Mund, aber es war klar, dass die Zähne gezogen werden mussten, und sie machten weiter; es war für Rob eine ausgezeichnete Lektion.
In Clavering mietete der Bader die Schmiede für einen Tag, und Rob lernte, wie man eiserne Lanzetten und Punktiernadeln herstellte. Es war eine Arbeit, die er in den nächsten Jahren noch in einem halben Dutzend Schmieden in ganz England wiederholen musste, bis sein Meister davon überzeugt war, dass er sie beherrschte.
Die meisten Instrumente, die sie in Clavering herstellten, wollte der Bader nicht haben, er gestattete Rob jedoch widerwillig, eine kleine zweischneidige Lanzette als erstes Instrument eines eigenen Satzes chirurgischer Instrumente zu behalten: ein wichtiger Anfang. Während sie die Midlands verließen und in die Fens fuhren, lehrte ihn der Bader, welche Venen zum Aderlass geöffnet werden, wodurch er freilich traurige Erinnerungen an die letzten Lebenstage von Robs Vater heraufbeschwor. -n i
Manchmal stahl sich sein Vater in Robs Gedanken, denn seine Stimme begann so zu klingen wie die seines Erzeugers. Sie wurde tiefer, und er bekam Körperhaar. Es war noch nicht so dicht, wie es einmal werden würde, denn durch die Mitarbeit hinter dem Wandschirm war er mit dem Anblick unbekleideter Männer vertraut. Frauen blieben für ihn ein Mysterium, denn der Bader gebrauchte eine rätselhaft lächelnde, wollüstige Puppe, die sie Thelma nannten, auf deren nackter Gipsfigur weibliche Patienten sittsam die Körperstellen bezeichneten, wo ihr Leiden saß, so dass eine direkte Untersuchung nicht mehr nötig war. Es machte Rob zwar noch immer verlegen, in die Intimsphäre von Fremden einzudringen, doch er gewöhnte sich an die geschäftsmäßigen Fragen über gestörte Körperfunktionen. »Wann hattet Ihr Euren letzten Stuhl, Master?« »Mistress, wann ist Eure Monatsregel fällig?«
Auf des Baders Rat hin ergriff Rob die Hände eines Patienten, sobald er hinter den Wandschirm trat.
»Was fühlst du, wenn du ihre Finger angreifst?« fragte ihn der Bader eines Tages in Tisbury, als sie das Podium abbauten. »Manchmal fühle ich nichts.«
Der Bader nickte. Er nahm eine der Bänke von Rob entgegen, verstaute sie im Wagen und kam mit gerunzelter Stirn zurück. »Aber manchmal ... ist da etwas ?« Rob nickte.
»Was?« fragte der Bader aufgeregt. »Was fühlst du, Junge?« Doch er konnte es nicht erklären oder mit Worten beschreiben. Es war eine plötzliche Eingebung über die Lebenskraft des Kranken, als würde man in dunkle Brunnen blicken und fühlen, wieviel Leben in jedem enthalten ist.
Der Bader nahm Robs Schweigen als Beweis dafür, dass er seiner Sache nicht sicher war. »Wir werden nach Hereford zurückkehren und nachsehen, ob der alte Mann noch lebt«, meinte er mit schlauem Lächeln.
Er ärgerte sich, als Rob einverstanden war. »Wir können nicht zurückfahren, du Dummkopf!« schimpfte er.
»Wenn er nämlich tatsächlich gestorben ist, stecken wir unseren Kopf freiwillig in die Schlinge.« Er spottete weiterhin oft und laut über »die Gabe«. Doch als Rob die Hände der Patienten nicht mehr ergreifen wollte, befahl er ihm, es zu tun. »Warum nicht? Ich bin doch ein vorsichtiger Geschäftsmann. Und es kostet ja nichts, an diese Einbildung zu
glauben.«
In Peterborough, nur ein paar Meilen, aber ein Leben von der Abtei entfernt, aus der er als Junge geflohen war, saß der Bader einen ganzen langen, regnerischen Augustabend allein im Wirtshaus und trank
beständig und pausenlos.
Um Mitternacht suchte ihn sein Lehrling. Rob fand ihn, als er den Weg entlang schwankte, und stützte ihn auf dem Rückweg zu ihrem Lager.
»Bitte«, flüsterte der Bader ängstlich.
Rob wunderte sich, als der Betrunkene beide Hände hob und sie ihm entgegenstreckte.
»Ich bitte dich, um Christi willen«, wiederholte der Bader.
Endlich verstand ihn Rob. Er ergriff die beiden Hände und blickte ihm in die Augen. Einen Augenblick später nickte Rob.
Der Bader sank auf sein Bett. Er rülpste, drehte sich auf die Seite und verfiel in ruhigen Schlaf.
In diesem Jahr gelang es dem Bader nicht rechtzeitig, in das Winterquartier nach Exmouth zu kommen, denn sie waren zu spät aufgebrochen, und als die Herbstblätter fielen, befanden sie sich in dem Dorf Gate Fulford in den Wäldern von York. Die Heide stand voll in der Blüte und erfüllte die kühle Luft mit ihrem Duft. Rob und der Bader folgten dem Polarstern, machten in den Dörfern an ihrem Weg halt, um sehr gute Geschäfte zu machen, und fuhren mit dem Wagen über den endlosen Teppich aus purpurnem Heidekraut, bis sie die Stadt Carlisle erreichten.
»So hoch in den Norden bin ich noch nie gereist«, sagte der Bader. »Ein paar Stunden von hier ist Northumbria zu Ende, und wir kommen an die Grenze. Jenseits von ihr liegt Schottland, ein Land von Schaffickern, wie jeder weiß, und gefährlich für jeden anständigen Engländer.« Eine Woche lang lagerten sie in Carlisle und besuchten jeden Abend die
Kneipe. Hier erfuhr der Bader dank wohlüberlegt spendierter Drinks bald, wo es eine Unterkunft gab. Er mietete ein Haus auf der Heide mit drei kleinen Räumen. Es war ein ähnliches Haus wie das an der Südküste, aber zu seinem Missfallen besaß es keinen offenen Kamin und keinen gemauerten Schornstein. Sie breiteten ihr Bettzeug zu beiden Seiten des Herdes aus, als wäre er ein Lagerfeuer, und fanden in der Nähe einen Stall, wo sie Tatus unterbrachten. Auch diesmal kaufte der Bader reichliche Vorräte für den Winter ein und sparte dabei nicht, so dass Rob staunte und sich wohlfühlen konnte. Der Bader pökelte Rind- und Schweinefleisch ein. Er hatte auch daran gedacht, eine Rehkeule zu kaufen, aber drei Jäger, die Wildbret verkauft hatten, waren im Sommer in Carlisle gehängt worden, weil sie Hirsche des Königs getötet hatten, die für den Jagdsport der Adeligen bestimmt waren. Also kauften sie statt dessen fünfzehn fette Hennen und einen Sack Futter.
»Die Hühner fallen in deinen Aufgabenbereich«, erklärte der Bader Rob. »Du hast sie zu füttern, zu schlachten, wenn ich es anordne, zu rupfen und für meinen Topf herzurichten.« "*• Rob hatte jetzt braunen Flaum im Gesicht, ein Bart war es eigentlich noch nicht. Der Bader meinte, dass nur Dänen sich rasierten, aber Rob wusste, dass es gelogen war, denn sein Vater hatte keinen Bart getragen. Unter des Baders chirurgischen Geräten befand sich ein Rasiermesser, und der dicke Mann nickte widerwillig, als Rob es benützen wollte. Er schnitt sich zwar öfter, aber das Rasieren gab ihm das Gefühl, älter zu sein.
Als der Bader ihm das erste Mal befahl, ein Huhn zu schlachten, kam er sich dagegen sehr jung vor. Der Vogel starrte ihn aus kleinen, schwarzen Perlenaugen an, als wolle er sagen, dass sie vielleicht Freunde geworden wären. Schließlich zwang er sich, mit seinen kräftigen Fingern den warmen Hals zu umklammern, und schloss schaudernd die Augen. Ein heftig drehender Ruck, und es war geschehen. Aber der Vogel rächte sich noch im Tod, denn er gab seine Federn nicht leicht her. Rob rupfte stundenlang, und der Bader blickte den zerschundenen Körper verächtlich an, als Rob ihn ihm überreichte. Als das nächste Mal ein Huhn benötigt wurde, zeigte der Bader Rob ein echtes Zauberkunststück. Er hielt den Schnabel der Henne auf und schob ein dünnes Messer durch den Gaumen ins Gehirn. Die Henne
entspannte sich im Augenblick des Todes und gab ihre Federn frei; sie lösten sich schon beim leichtesten Ziehen in großen Büscheln. »Merk dir die Lehre«, sagte der Bader. »Es ist genauso leicht, einen Menschen zu töten, und ich habe es schon getan. Wesentlich schwieriger ist es, das Leben zu erhalten, noch schwieriger, die Gesundheit zu bewahren. Das sind die Aufgaben, die wir im Auge behalten müssen.« Das Wetter im Spätherbst war ideal für das Kräutersammeln, und sie durchstreiften die Wälder und Heideflächen. Der Bader suchte vor allem nach Portulak; wenn man ihn in Spezificum tauchte, gab es einen Wirkstoff frei, der das Fieber senkte und es verschwinden ließ. Zu seiner Enttäuschung suchte er umsonst. Anderes ließ sich leichter finden, zum Beispiel Blütenblätter wilder Rosen für Umschläge, und Thymian und Eicheln, die zerrieben, mit Fett vermischt und auf Pusteln im Nacken geschmiert wurden. Manche Heilmittel erforderten harte Arbeit, wie das Ausgraben von Eibenwurzeln, die schwangeren Frauen halfen, ihren Foetus nicht zu verlieren. Sie sammelten Zitronenkraut und Dill gegen Schwierigkeiten beim Harnlassen, Sumpfschwertlilien zur Bekämpfung des Gedächtnisschwundes infolge von nassen und kalten Körpersäften, Wacholderbeeren, die gekocht wurden, um verstopfte Nasengänge freizumachen. Lupinen für heiße Packungen, um Abszesse zum Reifen zu bringen, und Myrte sowie Käsepappel, um juckende Hautausschläge zu behandeln. »Du bist schneller gewachsen als das Unkraut«, bemerkte der Bader schmerzlich, aber es stimmte: Rob war schon fast so groß wie sein Meister und längst aus der Kleidung herausgewachsen, die Editha Lipton in Exmouth für ihn geschneidert hatte. Als der Bader ihn in Carlisle zu einem Schneider mitnahm, und »neue Winterkleidung, die eine Zeitlang passen muss« bestellte, schüttelte der Schneider den Kopf.
»Der Junge ist noch im Wachsen, nicht wahr? Darf ich vorschlagen, dass wir ein altes Kleidungsstück für ihn umarbeiten?« So wurde also abermals ein Kleidungsstück des Baders, diesmal aus gutem, grauem Stoff, frisch zugeschnitten und genäht. Zur allgemeinen Belustigung war der Anzug, als Rob ihn das erste Mal anzog, viel zu weit, aber an den Armen und Beinen zu kurz. Der Schneider nahm etwas von dem in der Weite übrigen Stoff, verlängerte die Hose und die Ärmel und verdeckte die Nähte mit hübschen Bändern aus blauem Stoff- Rob war beinahe den ganzen Sommer barfuß gelaufen, doch da es bald schneien würde, war er dankbar, als der Bader ihm Stiefel aus Rindsleder kaufte.
In ihnen ging er über den Marktplatz zur St.-Mark's-Kirche und betätigte den Klopfer an dem großen Holztor, das endlich von einem triefäugigen ältlichen Hilfspfarrer geöffnet wurde. »Bitte, Vater, ich suche einen Priester namens Ranald Lovell.«
Der Hilfspfarrer blinzelte. »Ich kannte einen Priester dieses Namens. Er las die Messe unter Lyfing zu der Zeit, als Lyfing Bischof von Wells war. Kommende Ostern sind es zehn Jahre, dass er gestorben ist.«
Rob schüttelte den Kopf. »Es kann nicht derselbe Priester sein. Ich habe Ranald Lovell vor wenigen Jahren mit eigenen Augen gesehen.«
»Vielleicht hieß der Mann, den ich kannte, Hugh Lovell und nicht Ranald.«
»Ranald Lovell wurde von London zu einem Pfarrer hier im Norden versetzt. Bei ihm lebt mein Bruder, William Stewart Cole, der drei Jahre jünger ist als ich.«
»Dein Bruder hat vielleicht längst schon einen anderen Namen in Christo, mein Sohn. Manchmal bringen Priester ihre Jungen in eine Abtei, damit sie Meßgehilfen werden. Du musst überall nach ihm fragen, denn die heilige Mutter Kirche ist ein großes, grenzenloses Meer, und ich bin nur ein einsamer, winziger Fisch darin.«
Der alte Priester nickte freundlich, und Rob half ihm, die Torflügel zu schließen.
Eine Decke aus Kristallen trübte die Oberfläche des kleinen Teiches hinter der Stadttaverne. Der Bader zeigte auf ein Paar Schlittschuhe, die an einem Dachsparren ihres kleinen Hauses hingen. »Schade, dass sie nicht größer sind. Sie werden dir nicht passen, denn du hast ungewöhnlich große Füße.«
Die Eisdecke wurde täglich dicker, bis es eines Morgens kräftig hallte, als der Bader zur Mitte hinging und mit den Füßen aufstampfte. Rob nahm die zu kleinen Schlittschuhe zum Teich mit und band sie sich an die Füße.
Aber ihre Kufen waren schartig und stumpf, und weil sie zudem so klein waren, kam er beim ersten Ansatz zu einem Bogen aus dem Gleichgewicht. Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, stürzte und glitt noch eine gute Strecke auf dem glatten Eis dahin. Jemand lachte über ihn.
Das Mädchen war vielleicht fünfzehn Jahre alt. Es lachte schallend. »Kannst du es denn besser?« fragte er hitzig und musste sich zugleich eingestehen, dass es ein hübsches Mädchen war. Es war zwar mager und hatte einen großen Kopf, aber dafür schwarzes Haar, das ihn an Editha erinnerte.
»Ich kann es gar nicht und hätte auch nie den Mut dazu.« »Die Schlittschuhe passen eher für deine Füße als für meine«, stellte er fest, band sie ab und ging zu ihr zum Ufer. »Es ist gar nicht schwer. Ich werde es dir zeigen.«
Er ließ ihre Einwände nicht gelten und band ihr die Schlittschuhe an die Füße. Da sie auf dem ungewohnt glatten Eis nicht stehen konnte, klammerte sie sich an ihn. »Hab keine Angst, ich halte dich«, beruhigte er sie. Er hielt sie fest und schob sie von hinten über das Eis, wobei er ihre warmen Hüften deutlich wahrnahm.
Jetzt lachte sie und quietschte, während er sie auf dem Teich im Kreis herumschob. Sie sagte, sie heiße Garwine Talbott und ihr Vater Aelfric Talbott besitze einen Bauernhof außerhalb der Stadt. »Und wie heißt du?«
»Rob Cole.«
Sie plauderten, und bald gefiel es ihr auf dem Eis. Ihre Augen glänzten vor Vergnügen. Ihre Oberlippe war schmal, aber ihre Unterlippe war so voll, dass sie fast geschwollen wirkte. Als sie lächelte, sah er, dass einer ihrer unteren Zähne krumm gewachsen war. »Du untersuchst also die Leute?« »Ja, natürlich.« »Auch Frauen?«
»Wir haben eine Puppe. Frauen zeigen auf die Stellen, an denen sie Schmerzen spüren.«
»Wie schade, dazu eine Puppe zu verwenden!« Er war über ihren Seitenblick verblüfft. »Ist die Puppe schön?«
»Sie heißt Thelma.«
»Thelma!« Sie lachte schallend und rau. »O weh!« sagte sie mit einem Blick zur untergehenden Sonne. »Ich muss zum Abendmelken zurück.«
Er kniete vor ihr nieder und nahm ihr die Schlittschuhe ab- »Sie gehören mir nicht. Ich habe sie im Haus gefunden«, erklärte er. »Aber du kannst sie eine Weile behalten und benützen.«
Sie schüttelte schnell den Kopf. »Wenn ich sie heimbringe, würde er mich fast umbringen, nur um herauszukriegen, was ich angestellt
habe, um sie zu bekommen.«
Er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Um seine Verlegenheit zu überspielen, hob er drei Kiefernzapfen auf und begann, für sie zu jonglieren.
Sie klatschte lachend in die Hände, und dann sprudelte sie atemlos hervor, wie er das Gehöft ihres Vaters finden könne. Als sie ging, drehte sie sich zögernd noch einen Augenblick nach ihm um.
»Donnerstagvormittag«, schlug sie vor. »Er will keine Besucher, aber Donnerstag morgens bringt er den Käse auf den Markt.«
Er hatte von Garwine Talbott geträumt. Im Traum hatten sie auf einem Heuboden gelegen, vielleicht in der Scheune ihres Vaters. Es war jene Art von Traum, in der ihm schon mehrmals Editha erschienen war, und er bemühte sich, sein Bettzeug sauberzubekommen, ohne des Baders Aufmerksamkeit zu erregen.
Es fiel Schnee. Er schwebte wie Gänsedaunen, und der Bader band Felle vor die Fensteröffnungen. Die Luft im Haus wurde dumpf, und sogar bei Tag war es unmöglich, etwas zu sehen, außer dicht beim Feuer.
Es schneite vier Tage lang mit nur kurzen Unterbrechungen. Rob suchte eine Beschäftigung, setzte sich zum Herd und zeichnete die verschiedenen Kräuter, die sie gesammelt hatten. Er verwendete dazu Holzkohlestücke, die er aus dem Feuer holte, und Rindenplatten, die er von dem Brennholz abschälte. So skizzierte er Krausminze, schlaffe Blüten von trocknenden Blumen und die geäderten Blätter des wilden Bohnenklees. Am Nachmittag schmolz er Schnee über dem Feuer, tränkte und fütterte die Hühner und achtete sorgfältig darauf, die Tür zum Hühnerstall zu schließen, denn der Gestank wurde trotz des Ausmistens unerträglich.
Der Bader blieb im Bett und nippte an dem Metheglin. Als es schon den zweiten Abend schneite, wanderte er schwerfällig zum Wirtshaus und brachte eine stille, blonde Hure namens Heien mit. Rob versuchte, die beiden von seinem Bett auf der anderen Seite des Feuers aus zu beobachten, denn obwohl er die üblichen Bewegungen nun schon oft gesehen hatte, verwirrten ihn doch gewisse Einzelheiten, die in letzter Zeit seine Gedanken und Träume beschäftigten. Aber er war nicht imstande, das Dunkel mit den Augen zu durchdringen, und so studierte er nur ihre vom Feuer schwach beleuchteten Köpfe. Der Bader war verzückt und ganz bei der Sache, aber die Frau wirkte gelangweilt und melancholisch, als verrichte sie eine freudlose Arbeit.
Nachdem sie gegangen war, holte Rob eine Rindenplatte und ein Kohlestück. Statt die Pflanzen zu zeichnen, versuchte er, die Züge einer Frau festzuhalten.
Der Bader, der unterwegs zum Nachttopf war, blieb stehen, um die Zeichnung zu begutachten, und zog die Stirn in Falten. »Dieses Gesicht kommt mir bekannt vor«, brummte er. Kurz darauf, als er wieder im Bett lag, hob er den Kopf vom Fell. »Das ist ja Heien!« Rob freute sich darüber sehr. Er versuchte, den Salbenverkäufer Wat möglichst gut zu treffen, aber der Bader erkannte den Porträtierten erst, als Rob die kleine Gestalt von Bartram dem Bären hinzufügte. »Du solltest den Versuch, Gesichter möglichst genau wiederzugeben, fortsetzen, denn ich glaube, das ist eine Fertigkeit, die uns nützlich sein kann«, meinte der Bader. Doch er wurde es bald müde, Rob zuzusehen, und trank wieder, bis er einschlief.
Am Mittwoch hörte es zu schneien auf. Der Bader nahm die Felle ab, die die Fensteröffnungen schützten, und ließ kühle, frische Luft ins Haus. Er feierte diesen Tag, indem er eine Lammkeule briet, die er mit Minzengelee und Apfelkuchen auf den Tisch brachte. Donnerstag morgens nahm Rob die Schlittschuhe und hängte sie sich an ihren Lederriemen um den Hals. Er ging zum Stall, legte Tatus nur Zaum und Halfter an, bestieg das Pferd und ritt aus der Stadt. Die Luft knisterte vor Kälte, die Sonne strahlte, und der Schnee war blendend weiß.
Rob verwandelte sich in einen Römer. Es hatte keinen Sinn, sich als Caligula zu fühlen, der auf dem Vorfahr von Incitatus ritt, denn er wusste, dass Caligula verrückt gewesen war und ein schlimmes Ende genommen hatte. Er beschloss, Caesar Augustus zu sein, der die Prätorianergarde über die Via Appia nach Brundisium führte. Es fiel ihm nicht schwer, das Gehöft der Talbotts zu finden. Das Haus stand schief und sah schäbig aus, sein Dach war eingesunken, aber das Stallgebäude war groß und schön. Die Tür stand offen, und er hörte, wie drinnen jemand zwischen den Tieren herumging.
Er blieb unsicher auf seinem Pferd sitzen, aber Tatus wieherte, und es blieb ihm keine andere Wahl, als sich zu melden.
»Garwine?« rief er.
Ein Mann erschien in der Tür des Stalles und kam langsam auf ihn zu. Er hielt eine Holzgabel voll Mist in der Hand, der in der kalten Luft dampfte. Er ging sehr vorsichtig, und Rob merkte, dass er betrunken war. Das konnte nur Garwines Vater sein.
»Wer bist du?« fragte er.
Rob sagte es ihm.
Der Mann schwankte. »Du hast kein Glück, Rob Cole. Sie ist nicht hier. Sie ist durchgebrannt, diese dreckige kleine Hure. Verschwinde von meinem Hof!« Talbott weinte.
Rob ritt langsam nach Carlisle zurück. Er fragte sich, wohin sie wohl gegangen sein mochte, und ob sie durchkommen würde.
Nun war er nicht mehr Caesar Augustus, der die Prätorianergarde anführte: Er war nur ein in Zweifel und Angst verstrickter Junge.
Sie konnten nichts anderes tun, als auf den Frühling zu warten. Ein neuer Vorrat des Universal-Spezificums war bereits gemischt und in Flaschen gefüllt. Alle Kräuter, die der Bader gesammelt hatte, waren getrocknet und pulverisiert oder in Alkohol eingelegt, nur Portulak zur Bekämpfung des Fiebers fehlte noch. Sie hatten genug jongliert und Magie geübt, und der Bader hatte genug vom Norden, aber auch vom Trinken und Schlafen. »Ich bin zu ungeduldig, um herumzutrödeln, bis der Winter zu Ende geht«, erklärte er eines Morgens im März, und sie verließen Carlisle vorzeitig, obwohl sie nur langsam nach Süden vorankamen, weil die Straßen noch in schlechtem Zustand waren.
In Beverley trafen sie auf den Frühling. Die Luft war lau, die Sonne tauchte auf, und mit ihr eine Schar Pilger, die die große Steinkirche der Stadt besucht hatten, die Johannes dem Evangelisten geweiht war. Rob und der Bader veranstalteten eine Vorstellung, und ihr erstes Publikum m der neuen Saison zeigte sich begeistert.
Während der Behandlungen
ging alles gut, bis Rob die sechste Patientin hinter des Baders Wandschirm führte und die Hände der gutaussehenden Frau ergriff. Sein Puls hämmerte. »Kommt, Mistress«, sagte er schwach. Seine Haut kribbelte vor Angst an den Stellen, wo ihre Hände einander berührten. Er wandte sich um und begegnete dem Blick seines Meisters.
Der Bader wurde blass. Fast grob zog er Rob außer Hörweite unbefugter Lauscher. »Gibt es keine Zweifel? Du musst dir vollkommen sicher sein.«
»Sie wird bald sterben«, antwortete Rob.
Der Bader kehrte zu der Frau zurück, die nicht alt war und gesund aussah. Sie klagte auch nicht über irgendein Leiden, sondern war hinter den Wandschirm gekommen, um einen Liebestrank zu kaufen. »Mein Mann wird zusehends älter. Seine Leidenschaft lässt nach, doch er verehrt mich sehr.« Sie sprach ruhig, und ihre Vornehmheit und der Verzicht auf falsche Bescheidenheit verliehen ihr Würde. Sie trug Reisekleidung aus feinem Tuch und war sichtlich eine reiche Frau.
»Ich verkaufe keine Liebeselixiere. Das fällt in den Bereich der Magie und nicht der Medizin, Mylady.«
Sie murmelte etwas Bedauerndes. Der Bader erschrak, als sie seine Form der Anrede nicht richtig stellte. Beim Tod einer Adeligen der Hexerei angeklagt zu werden, bedeutete sicheres Verderben. »Ein Schluck Alkohol erzielt oft die erwünschte Wirkung, wenn er stark ist und heiß vor dem Schlafengehen getrunken wird.« Der Bader wollte keine Bezahlung annehmen. Sobald sie gegangen war, entschuldigte er sich bei den Kranken, die er noch nicht untersucht hatte. Rob packte bereits den Wagen. Und so flohen sie wieder.
Diesmal sprachen sie während der Flucht kaum ein Wort. Als sie weit genug entfernt waren und beruhigt das Nachtlager aufschlagen konnten, brach der Bader das Schweigen.
»Wenn jemand binnen eines Augenblicks stirbt, wird sein Blick leer«, flüsterte er. »Das Gesicht verliert den Ausdruck oder wird manchmal purpurrot. Ein Mundwinkel hängt herab, ein Augenlid erschlafft, die Glieder werden starr.« Er seufzte. »Der Tod ist barmherzig.« Rob antwortete nicht.
Sie machten ihre Betten und versuchten zu schlafen. Der Bader stand auf und trank, doch diesmal ließ er seinen Lehrling nicht seine Hände halten.
Rob wusste, dass er kein Hexer war. Doch es gab eine einzige andere Erklärung, und er verstand sie nicht. Er betete: Bitte, willst du diese scheußliche Gabe nicht von mir nehmen und sie dorthin zurückgeben, woher sie kam? Wütend und niedergeschlagen konnte er nicht anders als schimpfen, denn seine Sanftmut hatte ihm bisher nicht weitergeholfen. Es ist eine Fähigkeit, die vom Satan stammen könnte, und ich will sie nicht mehr haben, erklärte er seinem Gott.
Scheinbar wurde sein Gebet erhört. In diesem Frühjahr gab es keinen Zwischenfall mehr. Das gute Wetter hielt an, wurde sogar noch besser und brachte sonnige Tage, die wärmer und trockener als für gewöhnlich und vorteilhaft für das Geschäft waren. »Schönes Wetter am St.-Swithin-Tag«, triumphierte der Bader eines Morgens. »Jeder wird dir bestätigen, dass das weitere vierzig Tage Schönwetter bedeutet.« Allmählich legten sich ihre Befürchtungen, und ihre Laune besserte sich. Sein Meister erinnerte sich an seinen Geburtstag! Am dritten Morgen nach dem St.-Swithin-Tag machte ihm der Bader ein schönes Geschenk in Form von drei Gänsekielen, Tuschpulver und einem Bimsstein. »Jetzt kannst du die Gesichter mit etwas Geeigneterem kritzeln als mit einem Kohlestück«, meinte er.
Rob besaß kein Geld, um sich für des Baders Geburtstagsgeschenk zu revanchieren. Doch spät am Nachmittag erspähte er eines Tages, als sie durch ein Feld fuhren, bestimmte Pflanzen. Am nächsten Morgen stahl er sich weg und ging eine halbe Stunde zu dem Feld zurück, wo er eine ordentliche Menge der Pflanzen pflückte. An des Baders Geburtstag schenkte ihm Rob dann Portulak, das Fieberkraut, das er mit sichtlicher Freude entgegennahm.
An ihren Vorstellungen merkte man, dass sie sich vertrugen. Sie gingen aufeinander ein, und ihre Vorführungen erhielten Glanz und eine Präzision, die ihnen rauschenden Beifall eintrugen. Rob hatte Tagträume, in denen er seine Brüder und seine Schwestern unter den Zuschauern sah; er stellte sich den Stolz und das Staunen von Anne Mary und Samuel Edward vor, wenn sie sahen, wie ihr älterer Bruder Zauberkunststücke vorführte und mit fünf Bällen jonglierte.
Sie werden gewachsen sein, sagte er sich. Würde sich Anne Mary an ihn erinnern? War Samuel Edward noch immer so wild? Jonathan Carter konnte inzwischen bestimmt schon gehen und sprechen und war ein richtiger kleiner Mann.
Es war ihm als Lehrling unmöglich, seinem Meister zu sagen, wohin sie ihr Pferd lenken sollten, doch als sie sich in Nottingham aufhielten, hatte er Gelegenheit, sich des Baders Karte anzusehen, und dabei stellte er fest, dass sie sich fast im Herzen der englischen Insel befanden. Um London zu erreichen, mussten sie nach Süden weiterfahren, sich zugleich aber auch nach Osten wenden. Er prägte sich die Städtenamen und die Orte ein, damit er erkennen konnte, ob sie dorthin reisten, wohin er so verzweifelt gern fahren wollte.
In Leicester hatte ein Bauer, der einen Felsblock auf seinem Feld ausgraben wollte, einen Sarkophag freigelegt.
Er hatte den Steinsarg rundherum ausgeschaufelt, aber er war zu schwer, um ihn herauszuheben: Sein Boden wurde von der Erde festgehalten wie ein Felsblock. »Der Herzog schickt Männer und Zugpferde, um ihn loszubekommen, und wird ihn in seinem Schloss aufstellen«, berichtete ihnen der Bauer stolz.
In den groben, weißkörnigen Marmor war eine Inschrift eingemeißelt: Dus MANIBUS Vivn MARCIANI MILITIS LEGIONIS SECUNDAE AUGUSTAE IANUARIO MARINA CONJUNX PIISSIMA Posurr MEMO-RIAM. >»Den Manen<«, übersetzte der Bader. »>des Vivius Marcianus, eines Soldaten der Zweiten Legion des Augustus errichtete seine liebende Frau Marina im Januar ein Denkmal.<« Sie sahen einander an. »Ich möchte wissen, was aus der süßen Marina geworden ist, nachdem sie ihn begraben hat, denn sie war weit von zu Hause fort«, sagte der Bader nüchtern. Und Rob dachte: Das sind wir alle.
Leicester war eine große Stadt. Ihre Vorstellung war daher gut besucht, und als der Verkauf des Heilmittels beendet war, hatten sie alle Hände voll zu tun. In rascher Aufeinanderfolge half er dem Bader mit der Lanzette, den Karbunkel eines jungen Mannes zu öffnen, den gebrochenen Finger eines Jungen zu schienen, eine fiebernde Matrone mit Portulak und ein Kind, das an Kolik litt, mit Kamille zu behandeln. Als nächstes führte er einen untersetzten Mann mit einer Glatze und milchigen Augen hinter den Wandschirm. »Wie lange bist du schon blind?« fragte der Bader. »Seit zwei Jahren. Es begann damit, dass ich alles verschwommen sah, und allmählich verschlimmerte es sich dann, bis ich jetzt kaum einen Lichtschimmer wahrnehmen kann. Ich bin Schreiber, kann aber nicht arbeiten.«
Der Bader schüttelte den Kopf, da er vergaß, dass der Blinde diese Geste gar nicht sehen konnte. »Ich kann dir ebenso wenig die Sehkraft wiedergeben wie deine Jugend.«
Der Schreiber ließ sich wegführen. »Es ist eine bittere Erkenntnis«, sagte er zu Rob, »nie wieder sehen zu können.« Ein in der Nähe stehender magerer Mann mit scharfgeschnittenem Gesicht und Adlernase hörte ihrem Gespräch zu und blickte sie an. Sein Haar und Bart leuchteten weiß, aber er war noch jung, etwa doppelt so alt wie Rob.
Er trat vor und legte dem Patienten die Hand auf den Arm. »Wie heißt Ihr?« Er sprach mit einem französischen Akzent, wie ihn Rob oft von Normannen im Londoner Hafen gehört hatte. »Ich bin Edgar Thorpe«, stellte sich der Schreiber vor. »Ich bin Benjamin Merlin, Medicus im nahegelegenen Tettenhall. Darf ich mir Eure Augen ansehen, Edgar Thorpe?«
Der Schreiber nickte blinzelnd. Der Mann hob die Lider mit dem Daumen hoch und studierte die weißliche Trübung. »Ich kann Euch den Star stechen und die trübe Linse entfernen«, versprach er schließlich. »Ich habe diese Operation schon durchgeführt, aber Ihr müsst stark sein, um den Schmerz zu ertragen.« »Den Schmerz fürchte ich nicht«, flüsterte der Schreiber. »Dann müsst Ihr Euch am nächsten Dienstag frühmorgens nach Tettenhall in mein Haus bringen lassen«, beschied ihm der Mann und wandte sich ab.
Rob stand wie vom Blitz getroffen da. Er war nie auf die Idee gekommen, dass jemand etwas versuchen könnte, was des Baders Können überstieg.
»Magister Medicus!« Er lief dem Mann nach. »Wo habt Ihr das gelernt... Augen zu stechen?« »Auf einer Akademie, einer Schule für Ärzte.«
»Wo gibt es diese Schule für Ärzte?«
Merlin sah einen großen Jungen in schlecht geschnittener Kleidung vor sich, die ihm zu klein war. Sein Blick erfasste den grellbunten Wagen und das Podium, auf dem Jonglierbälle lagen und Fläschchen standen mit einem Heilmittel, dessen Art er leicht erraten konnte.
»Eine halbe Welt von hier entfernt«, gab er freundlich Auskunft. Er ging zu einer angebundenen schwarzen Stute, schwang sich auf sie und ritt weg, ohne zurückzublicken.
Rob erzählte dem Bader später von Benjamin Merlin, während Tatus ihren Wagen bedächtig aus Leicester hinauszog. Der Bader nickte. »Ich habe von ihm gehört. Der Medicus von Tettenhall.« »Ja. Er sprach wie ein Franzose.« »Er ist ein Jude aus der Normandie.« »Was ist ein Jude?«
»Ein anderer Name für einen Hebräer, das biblische Volk, das Jesus getötet hat und von den Römern aus dem Heiligen Land vertrieben wurde.«
»Er hat von einer Schule für Ärzte gesprochen.« »Manchmal hält man so einen Lehrgang am College in Westminster ab. Er gilt allgemein als beschissener Lehrgang, der beschissene Ärzte hervorbringt. Die meisten von ihnen arbeiten als Gehilfen bei einem Medicus, um von ihm geschult zu werden, so wie du den Beruf eines Baders erlernst.«
»Ich glaube nicht, dass er Westminster gemeint hat. Er hat gesagt, dass die Schule weit entfernt ist.«
Der Bader zuckte mit den Achseln. »Vielleicht befindet sie sich in der Normandie oder der Bretagne. Es gibt massenhaft Juden in Frankreich, und manche sind hierher gekommen, darunter natürlich auch Ärzte.«
»Ich habe von Hebräern in der Bibel gelesen, hatte aber noch nie einen gesehen.«
»Es gibt noch einen jüdischen Medicus in Malmesbury, Isaak Adoles-centoli heißt er. Ein berühmter Arzt.
Vielleicht bekommst du ihn zu Gesicht, wenn wir nach Salisbury kommen«, sagte der Bader. Malmesbury und Salisbury lagen im Westen von England. »Dann können wir also nicht nach London?«
„Nein.« Der Bader hatte einen Unterton in der Stimme seines Lehrlings gehört und wusste längst, dass der Junge sich nach seinen Verwandten sehnte. »Wir fahren geradewegs nach Salisbury«, entgegnete er streng, »um den Umstand auszunützen, dass bei dem Jahrmarkt in Salisbury viele Menschen zusammenkommen. Von dort fahren wir nach Exmouth, denn dann wird es langsam Herbst. Verstehst du?« Rob nickte.
»Aber im Frühjahr, wenn wir wieder auf die Reise gehen, fahren wir nach London.«
»Danke, Bader«, erwiderte Rob mit stillem Jubel. Schließlich kehrten seine Gedanken wieder zu anderen Dingen zurück. »Glaubt Ihr, dass er dem Schreiber sein Augenlicht wiedergeben wird?«
Der Bader hob die Schultern. »Ich habe von dieser Operation gehört. Wenige sind imstande, sie durchzuführen, und ich bezweifle, dass der Jude das kann. Aber Menschen, die Christus getötet haben, fällt es nicht schwer, einen Blinden zu belügen.« Der Bader trieb das Pferd an, denn die Stunde der Abendmahlzeit rückte näher.
Als sie in Exmouth ankamen, war das zwar nicht wie eine Heimkehr, aber Rob fühlte sich viel weniger einsam als früher. Das kleine Haus am Meer war vertraut und heimelig. Der Bader strich mit der Hand über den großen Kamin mit seinen Kochgeräten und seufzte. Wieder war Rob aus seinen Kleidern herausgewachsen. »Das Wachstum deiner Knochen macht mich noch arm«, klagte der Bader und gab Rob einen Ballen braunen Wollstoff, den er auf dem Jahrmarkt in Salisbury gekauft hatte. »Ich werde mit dem Wagen und Tatus nach Athelny fahren, um Käse und Schinken auszusuchen, und dort im Gasthaus übernachten. Während ich fort bin, musst du den Brunnen von Blättern säubern und beginnen, das Brennholz für den Winter zu hacken. Aber bring diesen Wollstoff trotzdem zu Editha Lipton und bitte sie, für dich zu nähen. Du erinnerst dich doch noch an den Weg zu ihrem Haus?«
Rob nahm den Stoff und dankte ihm. »Ich weiß, wo sie wohnt.« »Man muss die neuen Sachen weiter und länger machen«, brummte der Bader noch. »Richte ihr aus, sie soll genügend Einschlag lassen, den man auslassen kann!«
Er hatte den Stoff gegen den kalten Regen, der offenbar in Exmouth im Winter vorherrschte, in ein Schaffell gewickelt. Den Weg kannte er.
Vor zwei Jahren war er manchmal an ihrem Haus vorbeigegangen und hatte auf einen Blick von ihr gehofft.
Sie kam auf sein Klopfen sofort zur Tür. Er ließ das Bündel beinahe fallen, als sie seine Hände ergriff und ihn aus der Nässe zu sich hineinzog.
»Rob! Lass dich ansehen! Ich hätte nie geglaubt, dass du dich so veränderst in diesen Jahren!«
Er wollte ihr sagen, dass sie sich kaum verändert hatte, doch er blieb stumm. Aber sie deutete seinen Blick richtig. »Ich bin inzwischen alt und grau geworden«, meinte sie leichthin.
Er schüttelte den Kopf. Ihr Haar war noch immer schwarz, und sie war in jeder Hinsicht genauso, wie er sie m Erinnerung behalten hatte.
Sie kochte Pfefferminztee, er fand seine Stimme wieder und erzählte ihr eifrig und ausführlich, wo sie gewesen waren und was er erlebt hatte.
»Was mich betrifft«, berichtete sie, »geht es mir jetzt besser als damals.
Die Zeiten haben sich geändert, und jetzt sind die Leute wieder in der Lage, neue Kleider zu bestellen.«
Dies erinnerte ihn an den Grund seines Kommens. Er schlug das
Schaffell zurück und zeigte ihr den Stoff, den sie als gutes Wolltuch bezeichnete. »Ich hoffe, es wird reichen«, meinte sie besorgt, »denn du bist jetzt größer als der Bader.« Sie holte ihr Messband und maß die Breite seiner Schultern, seinen Taillenumfang und die Länge seiner Arme und Beine. »Ich werde dir eine enge Hose, einen losen Kittel und einen Umhang nähen, und du wirst prächtig ausstaffiert sein.«
Er nickte und stand auf, hatte aber noch keine Lust zu gehen.
»Erwartet dich denn der Bader?«
Er erklärte, dass der Bader unterwegs war, und sie winkte ihn zurück.
»Es ist Essenszeit. Ich kann dir zwar nicht dasselbe bieten wie er, aber du kannst mein ländliches Mahl mit mir teilen.«
Sie nahm einen Laib Brot aus dem Schrank und schickte ihn in den Regen hinaus zu ihrem kleinen Kühlhaus, um ein Stück Käse und einen Krug frischen Apfelwein zu holen. Als er zurückkam, schnitt er den Käse und das Gerstenbrot in Scheiben und steckte sie auf Spieße, um über dem Feuer Käsetoast zuzubereiten. Sie lächelte.
»Dieser Mann hat dir für alle Zeiten seinen Stempel aufgedrückt.« Er erwiderte das Lächeln. »In einer solchen Nacht ist es vernünftig, warm zu essen.«
Sie aßen und tranken, dann plauderten sie freundschaftlich. Er legte Holz ins Feuer, das zu zischen und zu dampfen begonnen hatte, weil der Regen durch das Rauchloch hereinfiel. »Das Wetter wird immer schlimmer«, stellte sie fest. »Ja.«
»Es wäre Unsinn, bei einem solchen Wetter im Dunkeln heimzugehen.«
Er war schon durch dunklere Nächte und tausendmal schlimmere Regenfälle gewandert. »Es sieht nach Schnee aus«, meinte er. »Dann habe ich Gesellschaft.« »Ich bin dafür dankbar.«
Er ging wie betäubt mit dem Rest vom Käse und dem Apfelwein zum Kühlhaus hinaus und wagte nicht zu denken. Als er zurückkam, war sie im Begriff, das Kleid auszuziehen. »Am besten, du legst die nassen Sachen ab«, riet sie ihm und stieg ruhig im Hemd ms Bett. Er zog die feuchte Hose und den Kittel aus und breitete sie auf einer Seite des runden Herdes aus. Dann lief er nackt zum Bett und legte sich zitternd neben sie zwischen die Felle. »Kalt!« sagte er. Sie lächelte. »Du hast schon mehr gefroren. Als ich deinen Platz im Bett des Baders eingenommen habe.«
»Und ich in einer bitterkalten Nacht auf dem Boden schlafen musste. Ja, da war mir sehr kalt.«
Sie wandte sich ihm zu. »Armes, mutterloses Kind, dachte ich immer wieder. Ich hätte dich so gern ins Bett gelassen.« »Du hast mit der Hand meinen Kopf berührt.« Jetzt streichelte sie seinen Kopf, glättete sein Haar und drückte sein Gesicht an ihren weichen Busen. »Ich habe in diesem Bett meine Söhne im Arm gehalten.« Sie schloss die Augen. Dann schob sie das lose Hemd hinunter und gab ihm die schwere Brust.
Das lebendige Fleisch in seinem Mund erinnerte ihn an die vergessene warme Geborgenheit seiner Kindheit. Es prickelte hinter seinen Lidern.
Ihre Hand führte die seine. »Du musst es so machen.« Sie hielt die Augen geschlossen.
»Leicht und geduldig. Immer im Kreis, so wie du es machst«, sagte sie träumerisch.
Trotz der Kälte warf er die Decke zurück und schob ihr Hemd hinauf. Seine Augen betrachteten die Geheimnisse, die seine Finger erforscht hatten. Ihre Weiblichkeit war wie in seinem Traum, doch jetzt enthüllte ihm der Feuerschein die Einzelheiten.
»Schneller...« Sie wollte mehr sagen, doch er fand ihre Lippen. Es war nicht der Mund einer Mutter, und er merkte, dass sie mit ihrer gierigen Zunge etwas interessantes machte.
Flüsternd leitete sie ihn über sich und zwischen ihre kräftigen Schenkel. Dann war keine weitere Anleitung mehr erforderlich; instinktiv drang er in sie ein und stieß. Ihm wurde klar, dass Gott ein ausgezeichneter Zimmermann war, denn sie besaß ein heißes, glitschiges Loch und er den dazupassenden Zapfen.
Ihre Augen öffneten sich, und sie sah direkt zu ihm hoch. Ihre Lippen entblößten mit angespanntem Lächeln ihre Zähne, und sie stieß ein heiseres Röcheln aus, bei dem er gedacht hätte, dass sie im Sterben liege, wenn er nicht schon früher solche Laute gehört hätte. Jahrelang hatte er zugesehen und zugehört, wie andere Leute sich liebten: sein Vater und seine Mutter in dem kleinen, engen Haus und der Bader mit einer langen Reihe von Dirnen. Er war überzeugt gewesen, dass die Punze einen Zauber enthalten müsse, weil die Männer so sehr nach ihr verlangten. Außer sich entdeckte er in der höchsten Wonne den gewaltigen Unterschied zwischen Beobachtung und eigenem Erleben.
Am nächsten Morgen wurde Editha von einem Klopfen geweckt. Sie
tappte barfuss zur Tür und öffnete sie.
»Ist er fort?« flüsterte der Bader.
»Schon lange«, antwortete sie und ließ ihn ein. »Er ging als Mann zu Bett und erwachte als Junge. Er murmelte etwas davon, dass er den Brunnen reinigen müsse, und rannte davon.«
per Bader lächelte. »Ist alles gutgegangen?« Sie nickte gähnend und zu des Baders Überraschung verlegen.
»Schön. Er war mehr als reif dafür. Es ist viel besser für ihn, bei dir freundlich aufgenommen zu werden, als eine grausame Erfahrung bei der falschen Frau zu machen.«
Sie sah zu, wie er Münzen aus seiner Börse nahm und sie auf den Tisch legte. »Nur für dieses eine Mal«, warnte er sie sachlich. »Sollte er dich wieder besuchen...«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin zur Zeit viel mit einem Schmied beisammen. Ein braver Mann, hat ein Haus in Exeter und drei Söhne. Ich glaube, er will mich heiraten.«
Er nickte. »Und hast du Rob davor gewarnt, meinem schlechten Vorbild zu folgen?«
»Ich habe ihm erzählt, wenn du trinkst, bist du oft roh und kein Mensch.«
»Ich erinnere mich nicht, dir diese Worte in den Mund gelegt zu haben.«
»Ich habe aus eigener Erfahrung gesprochen«, erklärte sie und hielt ruhig seinem Blick stand. »Ich habe auch deine Worte benützt, die du mir aufgetragen hast, und ihm gesagt, dass sein Meister sein Leben mit Trinken und billigen Frauen verplempert. Ich habe ihm geraten, wählerisch zu sein und nicht deinem Beispiel zu folgen.« Der Bader hörte ernst zu.
»Er wollte nicht zulassen, dass ich dich kritisiere«, erwähnte sie trocken. »Er findet, dass du ein vernünftiger Mann bist, wenn du nüchtern bist, ein ausgezeichneter Meister, der ihm gegenüber freundlich ist.« »Na, so was.«
Da sie sich mit dem Mienenspiel eines Mannes auskannte, merkte sie, dass er sich freute.
Er setzte den Hut auf und ging wieder. Während sie das Geld wegsteckte und ins Bett zurückkehrte, hörte sie ihn draußen pfeifen. Männer sind manchmal ein Trost und manchmal wie Tiere, aber sie bleiben immer ein Rätsel, dachte sie, während sie sich auf die Seite legte und wieder einschlief.
Charles Bostock sah eher wie ein Stutzer aus als wie ein Kaufmann. Sein langes, blondes Haar hielten Bänder und Schleifen zurück, er war in roten Samt gekleidet, einen offenbar teuren Stoff, saß auf einem großen Schimmel und war von einem Trupp Bedienter umgeben, die zur Verteidigung gegen Räuber schwer bewaffnet waren. Er unterhielt sich vergnügt mit dem Bader, dem er erlaubt hatte, sich mit dem Wagen seiner Pferdekarawane anzuschließen, die Salz aus den Salzbergwerken bei Arundel beförderte.
»Ich besitze drei Lagerhäuser am Fluss und habe einige weitere gemietet. Wir Händler erschaffen ein neues London und sind deshalb dem König und dem ganzen englischen Volk von Nutzen.« Der Bader nickte höflich.
Dieser Aufschneider langweilte ihn, aber er war glücklich über die Gelegenheit, unter dem Schutz einer bewaffneten Eskorte nach London zu reisen, denn es ereigneten sich viele Verbrechen auf den Landstraßen, je näher man der Stadt kam. »Berichtet uns bitte, was es in der Stadt Neues gibt«, sagte der Bader, und Bostock erklärte sich überlegen dazu bereit. König Knut hatte dicht an der Ostseite der Westminsterabtei einen großen Königspalast gebaut. Der König dänischer Abstammung erfreute sich großer Beliebtheit, weil er ein neues Gesetz erlassen hatte, das jedem freien Engländer das Recht verlieh, auf seinem eigenen Grund zu jagen - ein Recht, das früher dem König und seinen Adeligen vorbehalten gewesen war. »Jetzt kann sich jeder Grundbesitzer einen Rehbock holen, als wäre er Monarch auf seinem Besitz.«
Knut war seinem Bruder Harold als König von Dänemark gefolgt und regierte nun dieses Land ebenso wie England. »Dies verleiht ihm die Herrschaft über die Nordsee«, meinte Bostock, »und er hat eine Flotte aus schwarzen Schiffen gebaut, die die Meere von Piraten säubern und England Sicherheit und den ersten wirklichen Frieden seit hundert Jahren bescheren.«
Rob hörte wenig von der Unterhaltung. Während sie zum Abendessen in Alton haltmachten, gab er mit dem Bader eine Vorstellung, mit der sie sich für den Schutz im Gefolge des Kaufmanns revanchierten. Bostock lachte schallend und klatschte beim Jonglieren wild Beifall. Er schenkte Rob zwei Pence. »Du wirst sie in der Haupt-Stadt, wo Betthäschen teuer sind, brauchen«, meinte er augenzwinkernd.
Sie lagerten auf dem Feld eines Bauern in Reading, kaum eine Tagesreise von Robs Geburtsstadt entfernt. In dieser Nacht schlief er nicht, er versuchte sich zu entscheiden, welches seiner Geschwister er als erstes besuchen solle.
Am nächsten Nachmittag trennten sie sich in Southwark von der Karawane, weil der Kaufmann dort Geschäfte abwickelte. Der Bader lenkte Tatus im dichten Verkehr über die London Bridge. Auf der anderen Flussseite herrschte ein solches Gewirr von Menschen und Tieren, dass sie mit dem Wagen nicht in die Thames Street einbiegen konnten, sondern geradeaus weiterfuhren, nach links in die Fenchurch Street einbogen, den Walbrook überquerten und dann über Kopfsteinpflaster zur Cheapside rumpelten. Rob konnte kaum ruhig sitzen bleiben, denn die alten Straßen mit den kleinen, verwitterten Holzhäusern hatten sich überhaupt nicht verändert. Sein Problem, welches der Geschwister er zuerst aufsuchen solle, wurde von selbst gelöst, denn sie kamen in die Newgate Street, in der sich die Bäckerei befand, also würde er Anne Mary als erste sehen. »Hier, halt!« rief er dem Bader zu und sprang vom Sitz, bevor Tatus stehen bleiben konnte.
Als er jedoch über die Straße lief, merkte er, dass es der Laden eines Händlers für Schiffsbedarf war. Verdutzt öffnete er die Tür und trat ein. Ein rothaariger Mann hinter dem Ladentisch blickte auf. »Was ist aus der Bäckerei geworden?« Der Ladenbesitzer zuckte mit den Achseln. »Wohnen die Haverhills noch im oberen Stockwerk?« »Nein, dort wohne jetzt ich. Ich habe gehört, dass hier früher ein Bäcker gewohnt hat.« Aber der Laden sei leer gewesen, als er das Haus vor zwei Jahren gekauft habe, erwähnte er, von Durman Monk, der weiter unten in der Straße wohne.
Rob ließ den Bader auf dem Wagen warten und suchte Durman Monk auf, einen einsamen alten Mann in einem Haus voller Katzen, der sich freute, sich mit jemandem unterhalten zu können. »Du bist also der Bruder der kleinen Anne Mary. Ich erinnere mich an sie, ein süßes, höfliches kleines Mädchen. Ich habe die Haverhills gut gekannt, und sie waren sehr angenehme Nachbarn. Sie sind nach Salisbury gezogen.« Der alte Mann streichelte eine getigerte Katze.
Robs Magen verkrampfte sich, als er das Zunfthaus betrat, das in jeder Einzelheit unverändert geblieben war. Ein paar Zimmerleute saßen herum und tranken, doch kein Gesicht befand sich darunter, das Rob gekannt hätte. »Ist Bukerei hier?«
Ein Zimmermann stellte seinen Krug hin. »Wer? Richard Bukerei?« »Ja. Richard Bukerei.« »Der ist vor zwei Jahren gestorben.« »Wer ist jetzt Zunftmeister der Zimmerleute?« »Luard«, antwortete der Mann kurz. »Du!«
rief er einem Lehrling zu. »Hole Luard! Da ist ein Junge, der ihn sprechen will.« Luard nickte gleichmütig, als Rob ihn nach dem Verbleib eines Zunftmitglieds fragte. Er blätterte einige Minuten in den Pergamentseiten eines großen Hauptbuches. »Da ist es«, stellte er schließlich kopfschüttelnd fest. »Ich habe einen abgelaufenen Vermerk über einen Schreiner namens Aylwyn, aber seit einigen Jahren ist keine Eintragung mehr erfolgt.«
Niemand in der Halle kannte Aylwyn oder wusste, warum er nicht mehr in dem Mitgliederverzeichnis stand.
»Manche ziehen fort und treten dann andernorts einer Zunft bei«, meinte Luard.
»Was ist mit Turner Hörne?« fragte Rob leise.
»Der Zimmermannsmeister? Er wohnt noch in dem gleichen Haus.« Rob seufzte erleichtert auf: Er würde wenigstens Samuel sehen können.
»Mister Cole«, fuhr Luard fort. »Turner Hörne ist Vorarbeiter einer Mannschaft, die ein Haus auf dem Edred's Hithe baut. Es wäre besser, wenn Ihr direkt dorthin geht und mit ihm sprecht.« »Ich kenne Edred's Hithe nicht.«
»Ein neuer Stadtteil. Kennt Ihr Queen's Hithe, den alten römischen Hafen bei der Flussmauer?« Rob nickte.
»Geht dorthin. Von dort wird Euch jeder den Weg zu Edred's Hithe zeigen können.«
Queen's Hithe war dicht besiedelt, und es gab dort viele Kneipen. In einem übelriechenden Wirtshaus beschrieb man Rob, wie er nach Edred's Hithe gelangte. Es war ein neuer Stadtteil neben dem alten, und er fand Turner Hörne auf einer Baustelle am Rand einer sumpfigen Wiese.
Hörne kletterte vom Dach herunter, als er gerufen wurde. Rob erinnerte sich wieder an ihn, als er sein Gesicht sah. »Ich bin Samuels Bruder, Master Hörne«, stellte er sich vor. »Rob Cole.«
»Ja, richtig. Aber wie groß du geworden bist!« Hornes freundliche Augen verengten sich vor Kummer. »Er ist nicht einmal ein Jahr bei uns gewesen«, berichtete Hörne einfach. »Er war ein vielversprechender Junge. Meine Frau war ganz vernarrt in ihn. Wir hatten ihnen immer wieder gepredigt: >Spielt nicht am Kai.< Es kann einen erwachsenen Mann das Leben kosten, wenn er unter einen Lastwagen gerät, weil ein Kutscher vier Pferde rückwärts gehen lässt ganz zu schweigen von einem Neunjährigen.« »Acht.«
Hörne blickte ihn fragend an.
»Wenn es ein Jahr, nachdem Ihr ihn aufgenommen habt, geschehen ist, war er acht«, stellte Rob fest. Seine Lippen verkrampften sich und wollten ihm nicht gehorchen, so dass ihm das Sprechen schwerfiel. »Er war zwei Jahre jünger als ich.«
»Du musst es am besten wissen«, sagte Hörne sanft. »Er ist bei der St.-Botolphs-Kirche begraben, hinten rechts auf dem Friedhof. Es wurde uns gesagt, dass es der Teil des Kirchhofs ist, wo auch euer Vater begraben liegt.«
Er machte eine Pause. »Was die Werkzeuge deines Vaters betrifft«, meinte er verlegen, »eine von den Sägen ist zerbrochen, aber die Hämmer sind noch in Ordnung. Du kannst sie zurückhaben.«
Rob schüttelte den Kopf. »Behaltet sie bitte. Als Erinnerung an Samuel.«
Sie lagerten auf einer Wiese bei Bishopsgate in der Nähe der feuchten Gründe an der Nordostecke der Stadt. Am Morgen ging Rob auf Erkundigung und gelangte nach Westminster, wo die Häuser am Fluss spärlicher wurden.
Auf den Feldern und Wiesen des großen Klosters standen neue Gebäude. Es konnte sich nur um King's House handeln, denn es war von Truppenbaracken und Nebengebäuden umgeben, von denen Rob annahm, dass dort allerlei Staatsgeschäfte abgewickelt wurden. Er sah die schreckenerregenden Gardesoldaten, von denen in jedem Wirtshaus mit Ehrfurcht gesprochen wurde. Es handelte sich um riesige dänische Kerle, die wegen ihrer Größe und Kraft für König Knuts persönlichen Schutz ausgesucht worden waren. Nach Robs Meinung waren es freilich zu viele bewaffnete Wachen für einen von seinem Volk geliebten Monarchen. Er kehrte in die Stadt zurück und befand sich schließlich, ohne zu wissen, wie er dorthin gelangt war, vor der St.-Pauls-Kathedrale, als ihm jemand die Hand auf den Arm legte.
»Ich kenne dich. Du bist Cole.«
Rob blickte den Jungen an, war einen Augenblick lang wieder neun Jahre alt und wusste nicht, ob er kämpfen oder davonlaufen soll, denn es war unverkennbar Anthony Tite.
Aber Tite lächelte, und er hatte auch offensichtlich keine Gefolgsleute bei sich. Außerdem bemerkte Rob, dass er jetzt um drei Köpfe größer und um vieles kräftiger war als sein alter Feind. Er schlug Tony auf die Schulter und freute sich plötzlich, ihn wiederzusehen, so als wären sie als kleine Jungen die besten Freunde gewesen.
»Komm mit in eine Kneipe und erzähl mir von dir!« forderte Anthony ihn auf, doch Rob zögerte, denn er besaß nur die zwei Pence, die ihm der Kaufmann Bostock für das Jonglieren geschenkt hatte.
Anthony Tite verstand. »Ich lade dich auf einen Drink ein. Ich habe das ganze vergangene Jahr gearbeitet.«
Er sei Zimmermannslehrling, erzählte er Rob, als sie in der Ecke eines neuen Wirtshauses saßen und Ale tranken. »In der Sägegrube«, setzte er hinzu, und Rob bemerkte, dass seine Stimme heiser klang und seine Haut blaß war.
Rob kannte diese Arbeit. Ein Lehrling stand in einer tiefen Grube, über die quer ein Balken gelegt wurde. Der Lehrling zog an einem Ende der langen Säge und atmete den ganzen Tag das Sägemehl ein, das auf ihn herunterrieselte, während ein Tischlergeselle auf dem Rand der Grube stand und die Säge von oben führte.
»Mit den schlechten Zeiten für Zimmerleute scheint es zu Ende zu sein«, sagte Rob. »Ich war im Zunfthaus und habe nur wenige Männer gesehen, die beschäftigungslos herumlungerten.«
Tite nickte. »London wächst. Die Stadt hat schon hunderttausend Einwohner; ein Achtel aller Engländer lebt hier. Überall wird gebaut, pie Chancen stehen gut, als Lehrling in die Zunft aufgenommen zu werden, denn es geht das Gerücht, dass bald eine weitere Hundertschaft aufgestellt wird. Du bist doch der Sohn eines Zimmermanns...«
Rob schüttelte den Kopf. »Ich habe schon eine Lehrstelle.« Er erzählte von seinen Reisen mit dem Bader und sah befriedigt den Neid in Anthonys Augen.
Tite erwähnte Samuels Tod. »Ich habe meine Mutter und zwei Brüder in den letzten Jahren verloren, alle durch die Pocken, und meinen Vater durch ein Fieber.«
Rob nickte düster. »Ich muss meine Geschwister finden, die noch am Leben sind. In jedem Haus, an dem ich in London vorbeikomme, kann das letzte Kind leben, das meine Mutter geboren hat, bevor sie starb, und das Richard Bukerei zugesprochen wurde.« »Vielleicht weiß Bukereis Witwe darüber Bescheid.« Rob richtete sich auf.
»Sie hat wieder geheiratet, einen Gemüsehändler namens Buffington. Ihr neues Heim liegt nicht weit von hier.
Gleich hinter Ludgate«, sagte Anthony.
Das schäbige Haus der Buffingtons stand am Rand der ordentlich mit Kohl und Salat bebauten Felder, die von einem nicht entwässerten Sumpf umgeben waren. Rob fand Mistress Buffington im Haus, und
sie begrüßte ihn. »Ich erinnere mich an dich und deine Familie«, sagte sie und musterte ihn wie ein erlesenes Gemüse.
Doch als er nach Roger fragte, konnte sie sich nicht mehr erinnern, ob ihr erster Mann jemals den Namen oder den Wohnsitz der Amme
erwähnt hatte, die das Kind aufgenommen hatte.
»Hat denn niemand den Namen aufgeschrieben?«
»Ich kann nicht schreiben. Warum hast du dir den Namen nicht
geben lassen und aufgeschrieben? Ist es nicht dein Bruder?«
Er fragte sich, ob dergleichen von einem Jungen in seiner Lage
verlangt hätte werden können, doch er wusste, dass sie eher recht als unrecht hatte.
Er dachte wehmütig an Bukerei, erinnerte sich an die schreckliche Selbstgerechtigkeit, die knauserige Nächstenliebe seiner Frau und daran, dass sie ihn als Unfreien verkauft hätte.
Er starrte sie kalt an, murmelte seinen Dank und trollte sich.
In der St.-Botolphs-Kirche kam der Mesner auf sein Klopfen an die Tür, ein alter, pockennarbiger Mann mit schmutziggrauem, ungeschnittenem Haar. Rob fragte nach dem Priester, der seine Eltern begraben hatte.
»Vater Kempton wurde vor zehn Monaten nach Schottland versetzt.« Der alte Mann führte ihn auf den Friedhof der Kirche. »Das Gedränge bei uns wird immer ärger«, seufzte er. »Du warst wohl in den letzten Jahren, während der Pockenseuche, nicht hier?« Rob schüttelte den Kopf.
»Da hast du aber Glück gehabt. So viele Menschen sind gestorben, wir haben den ganzen langen Tag Begräbnisse gehabt. Jetzt fehlt es uns an Platz.«
Rob wartete vor der Leichenhalle, während der Mesner das Totenregister zu Rate zog. Der betrunkene Alte konnte ihn dann wenigstens durch ein Labyrinth schiefer Grabsteine im östlichen Teil des Friedhofs in die Nähe der bemoosten hinteren Mauer führen und ihm erklären, dass sowohl sein Vater als auch sein Bruder Samuel
»irgendwo hier« begraben worden seien. Rob versuchte, sich das Begräbnis seines Vaters ins Gedächtnis zu rufen, um sich an sein Grab zu erinnern, aber es gelang ihm nicht.
Das Grab seiner Mutter ließ sich leichter finden, denn die Eibe über ihrer letzten Ruhestätte war zwar inzwischen gewachsen, ihm aber noch immer vertraut.
Plötzlich eilte er entschlossen zum Lager zurück. Der Bader ging mit ihm zu einem felsigen Uferstück in der Nähe der Themse-Mündung, wo sie einen grauen Geröllblock mit flacher Oberfläche wählten, den Ebbe und Flut in langen Jahren geglättet hatten. Mit Hilfe von Tatus zogen sie den Block heraus.
Rob hatte die Inschriften selbst einmeißeln wollen, kam aber davon ab. »Wir sind schon zu lange hier«, drängte der Bader. »Lass es rasch und ordentlich von einem Steinmetz besorgen. Ich werde ihn für diese Arbeit bezahlen, und wenn du deine Lehrzeit beendet hast und für Lohn arbeitest, kannst du mir den Betrag zurückzahlen.«
Sie blieben noch so lange in London, bis die drei Namen und die Daten in den Block gemeißelt waren und der Stein auf dem Friedhof unter der Eibe aufgestellt wurde.
per Bader schlug Rob mit seiner fleischigen Hand auf die Schulter und warf ihm einen wissenden Blick zu. »Wir sind Reisende. Wir kommen schließlich an jeden Ort, wo du dich nach deinen anderen drei Geschwistern erkundigen kannst.«
Er breitete die Karte von England aus und zeigte Rob, dass sechs große Landstraßen von London ausgingen: nach Nordosten die nach Colchester; nach Norden die nach Lincoln und York; nach Nordwesten die nach Shrewsbury und Wales; nach Westen die nach Silchester, Winchester und Salisbury; nach Südosten die nach Richborough, Dover und Lyme; nach Süden die nach Chichester. »Hier in Ramsey«, erklärte er ihm und zeigte mit dem Finger auf Mittelengland, »lebt doch eine verwitwete Nachbarin Della Hargreaves bei ihrem Bruder. Sie wird dir den Namen der Amme sagen können, der sie den kleinen Roger übergeben hat, und du wirst ihn aufsuchen, sobald wir das nächste Mal nach London kommen. Und hier liegt Salisbury, wohin deine Schwester Anne Mary, wie du erfahren hast, von ihrer Pflegefamilie, den Haverhills, mitgenommen wurde.« Er runzelte die Stirn. »Schade, dass wir nichts davon wussten, als wir während des Jahrmarktes in Salisbury haltmachten«, sagte er, und Rob lief ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er daran dachte, dass er und das kleine Mädchen einander sehr wohl in der Menge begegnet sein mochten.
»Das macht nichts«, tröstete ihn der Bader. »Wir werden im Herbst auf dem Rückweg nach Exmouth wieder nach Salisbury kommen.« Rob fasste frischen Mut. »Und in allen Orten, in die wir im Norden gelangen, werde ich Priester und Mönche fragen, ob sie Vater Lovell und seinen jungen Schützling William Cole kennen.« Früh am Morgen verließen sie London auf der breiten Lincoln Road, die nach Norden führte. Als sie alle Häuser und den Gestank der großen Stadt hinter sich gelassen hatten und zu einem besonders reichhaltigen Frühstück neben einem laut plätschernden Gewässer haltmachten, waren sich die beiden einig, dass eine Stadt nicht der angenehmste Aufenthaltsort war, um Gottes reine Luft zu atmen und die Wärme der Sonne zu genießen.
An einem Tag Anfang Juni lagen sie auf dem Rücken am Rand eines Baches in der Nähe von Chipping Norton, beobachteten die Wolken durch das Blätterdach und warteten darauf, dass die Forellen anbissen.
Ihre Weidenruten lagen bewegungslos auf zwei Astgabeln, die im Boden steckten.
»Es ist zu spät im Jahr, da beißen keine Forellen mehr auf Regenwürmer an«, murmelte der Bader. »In zwei Wochen, wenn es Heuschrecken auf den Feldern gibt, wird man die Fische rascher fangen.« »Wie erkennen männliche Würmer den Unterschied?« fragte Rob. Der Bader, der halb schlief, lächelte. »Zweifellos sehen alle Würmer in der Dunkelheit gleich aus - wie die Frauen.« »Frauen sehen weder bei Tag noch bei Nacht gleich aus«, widersprach Rob. »Sie sind einander ähnlich, doch jede riecht und schmeckt verschieden, fühlt sich anders an.«
Der Bader seufzte. »Das ist das große Geheimnis, das die Männer anlockt.«
Rob stand auf und ging zum Wagen. Als er zurückkam, hielt er ein glattes Stück Fichtenrinde in der Hand, auf das er mit Tusche das Gesicht eines Mädchens skizziert hatte. Er hockte sich neben den Bader und hielt es ihm hin. »Erkennt Ihr sie?« Der Bader betrachtete die Zeichnung. »Es ist das Mädchen von letzter Woche, die Kleine aus St. Ives.«
Rob nahm sein Werk zurück und betrachtete es zufrieden. »Warum hast du ihr das hässliche Mal auf die Wange gezeichnet?« »Das Mal war da.«
Der Bader nickte. »Ich erinnere mich. Aber du kannst sie mit Gänsekiel und Tusche hübscher erscheinen lassen, als sie in Wirklichkeit ist. Warum ermöglichst du ihr nicht, sich vorteilhafter zu sehen, als die Welt sie sieht?«
Rob runzelte die Stirn und war verwirrt, ohne zu wissen, warum. Er musterte das Bild. »Jedenfalls hat sie die Zeichnung nicht gesehen, weil ich sie angefertigt habe, nachdem ich sie verlassen hatte.« »Aber du hättest doch nach der Natur zeichnen können.« Rob hob lächelnd die Schultern.
Der Bader setzte sich hellwach auf. »Nun wird es Zeit, deine Begabung praktisch auszuwerten«, sagte er.
Am nächsten Morgen machten sie bei einem Holzfäller halt und ersuchten ihn, Scheiben von einem Fichtenstamm abzuschneiden. Die Holzscheiben waren eine Enttäuschung, denn sie waren so stark gemasert, dass man kaum mit Kiel und Tusche auf ihnen zeichnen konnte. Aber die Scheiben von einer jungen Buche erwiesen sich als glatt und hart, worauf der Holzfäller bereitwillig eine mittelgroße Buche für sie zersägte, die sie mit einer Münze bezahlten. An diesem Nachmittag verkündete der Bader nach der Vorstellung, dass sein Mitarbeiter kostenlos Porträts von einem halben Dutzend Einwohner von Chipping Norton anfertigen würde. Die Folge waren ein Mordsgedränge und große Aufregung. Die Menge versammelte sich um Rob und sah neugierig zu, wie er die Tusche anrieb. Aber er war schon ein erfahrener Gaukler, und prüfende Blicke machten ihm nichts aus. Auf jede Holzscheibe zeichnete er ein Gesicht: eine alte Frau, zwei Jungen, zwei Milchmädchen, die nach Kuhstall rochen, und einen Mann mit einer Warze auf der Nase.
Die Frau hatte tiefliegende Augen und einen zahnlosen Mund mit faltigen Lippen. Einer der Jungen war dick und hatte ein rundliches Gesicht, und es kam Rob vor, als male er Gesichtszüge auf einen Kürbis. Die Mädchen waren Schwestern und sahen einander so ähnlich, dass es eine Herausforderung darstellte, die fast unmerklichen Unterschiede festzuhalten; der Versuch misslang, denn sie hätten ihre Porträts vertauschen können, ohne es zu bemerken. Von den sechs Zeichnungen war Rob nur mit dem letzten Porträt zufrieden. Der Mann war nicht mehr jung, und seine Augen und jede Linie seines Gesichts zeugten von Schwermut. Ohne zu wissen, wie, hatte Rob die Traurigkeit festgehalten, und ohne zu zögern zeichnete er die Warze auf der Nase. Der Bader erhob keinen Einspruch, denn alle Abgebildeten waren mit ihrem Konterfei sichtlich zufrieden, und es gab andauernden Beifall von den Zuschauern.
»Wenn ihr sechs Flaschen kauft, bekommt ihr- gratis, meine Freunde! -ein solches Porträt«, brüllte der Bader, hielt das universelle Spezificum in die Höhe und ließ seinen immer gleichbleibenden Vortrag vom Stapel.
Bald hatte sich vor Rob, der eifrig zeichnete, eine Schlange gebildet. Eine noch längere Schlange stand vor dem Podium, auf dem der Bader stand und seine Medizin verkaufte.
Seit König Knut die Jagdgesetze gemildert hatte, bekam man in den Fleischerläden ab und zu Wildbret. Auf dem Marktplatz von Aldreth kaufte der Bader einen großen Rehrücken. Er rieb ihn mit wildem Knoblauch ein und brachte tiefe Schnitte an, die er mit kleingewürfeltem Schweinespeck und Zwiebeln füllte; die Außenseite bestrich er reichlich mit süßer Butter und begoss sie während des Bratens andauernd mit einer Mischung aus Honig, Senf und braunem Ale. Rob aß herzhaft, aber der Bader aß das meiste selbst, dazu eine erstaunliche Menge Rübenmus und einen Laib frisches Brot. »Noch ein kleines Stückchen, um bei Kräften zu bleiben.« Er grinste. Seit Rob ihn kannte, hatte er eine Menge zugenommen, vielleicht an die achtzig Pfund. Er hatte einen Specknacken, seine Unterarme waren dick wie Schenkel und sein Bauch segelte vor ihm her wie ein geblähtes Segel in einer steifen Brise. Sein Durst war ebenso erstaunlich wie sein Appetit.
Zwei Tage, nachdem sie Aldreth verlassen hatten, kamen sie endlich in das Dorf Ramsey, wo der Bader im Wirtshaus die Aufmerksamkeit des Besitzers erregte, indem er wortlos zwei Krüge Ale nacheinander in sich hineinschüttete, bevor er rülpste und zur Sache kam: »Wir suchen eine Frau namens Della Hargreaves.« Der Wirt zuckte kopfschüttelnd mit den Achseln. »Ihr Mann hieß Hargreaves. Sie ist Witwe. Vor vier Jahren zog sie hierher zu ihrem Bruder. Seinen Namen kenne ich nicht, aber ich bitte Euch nachzudenken, denn das ist ja nur ein kleiner Ort.« Der Bader bestellte weiteres Ale, um ihn zu ermutigen. Der Wirt sah ihn ausdruckslos an.
»Oswald Sweeter«, flüsterte seine Frau, die das Getränk auftrug. »Ah ja, Sweeters Schwester«, erinnerte sich nun der Mann und nahm des Baders Geld entgegen.
Oswald Sweeter war der Dorfschmied von Ramsey. Er war so kräftig wie der Bader, bestand aber nur aus Muskeln.
»Della? Ich habe sie bei mir aufgenommen, mein Fleisch und Blut. Meine Frau war freundlich zu ihr, aber Della hat ein Talent dafür,
sich vor der Arbeit zu drücken. Die beiden Frauen haben sich nicht vertragen. Della verließ uns nach einem halben Jahr.«
»Wohin ist sie gezogen?«
„Nach Bath.«
»Was macht sie in Bath?«
»Das gleiche wie hier, bevor wir sie aus dem Haus gejagt haben«, antwortete Sweeter ruhig. »Sie ist mit einem Mann abgehauen wie eine Ratte.«
»In London war sie jahrelang unsere Nachbarin. Dort galt sie als achtbar«, verteidigte sie Rob, obwohl er sie nicht gemocht hatte.
»Junger Mann, heute ist meine Schwester eine Schlampe, die lieber die Beine breit macht, als ihren Lebensunterhalt mit ehrlicher Arbeit zu verdienen. Sie können sie überall dort finden, wo es Huren gibt.«
Sweeter beendete das Gespräch, indem er ein weißglühendes Eisen aus dem Feuer nahm und wild darauf hämmerte, so dass ihnen ein wilder Schauer von Funken durch die Tür folgte.
Es regnete eine Woche lang, als sie die Küste entlangfuhren. Dann krochen sie eines Morgens aus ihrem feuchten Nachtlager unter dem Wagen und gewahrten einen so lieblichen, strahlenden Tag, dass alles vergessen war außer der herrlichen Tatsache, dass sie frei und ungebunden waren. »Machen wir eine Spazierfahrt durch die jungfräuliche Welt!« rief der Bader, und Rob wusste genau, was er meinte, denn trotz seines Bedürfnisses, die Geschwister zu finden, fühlte er sich an so einem Tag jung, gesund und voll Leben.
Sie fuhren langsam auf einem Waldweg, der ihnen abwechselnd warmen Sonnenschein und erfrischenden, kühlen Schatten bot. »Was kannst du dir mehr wünschen?« fragte der Bader. »Waffen«, antwortete Rob sofort.
Des Baders Lächeln verschwand. »Ich werde dir keine Waffen kaufen«, stellte er kurz und bündig fest.
»Ich brauche kein Schwert. Aber ein Dolch wäre angebracht, man könnte uns ja überfallen.« Sie fuhren schweigend weiter.
Jahrhunderte, während denen sie bewaffnet überfallen wurden, hatten jeden Engländer dazu gebracht, wie ein Soldat zu denken. Unfreie durften laut Gesetz keine Waffen tragen, und Lehrlinge konnten sich keine leisten. Aber jeder Mann, der sein Haar lang trug, zeigte seine freie Geburt durch das Tragen von Waffen an.
Es stimmte: Ein schwacher Mann mit einem Messer konnte einen unbewaffneten kräftigen Jungen mühelos töten, gestand sich der Bader widerstrebend ein.
»Du solltest mit Waffen umgehen können, bis du einmal welche besitzen darfst«, befand er. »Es ist ein Teil der Lektionen, den ich bisher vernachlässigt habe. Daher werde ich dich im Gebrauch von Schwert und Dolch unterrichten.« Rob strahlte. »Danke, Bader.«
Auf einer Lichtung stellten sie sich einander gegenüber auf, und der Bader zog einen Dolch aus dem Gürtel.
»Du darfst ihn nicht halten wie ein Kind, das in einem Ameisenbau stochert. Halte das Messer im Gleichgewicht in deiner nach oben gedrehten Handfläche, als wolltest du es jonglieren. Die vier Finger schließen sich um den Griff. Der Daumen kann flach auf dem Griff liegen oder die Finger bedecken, je nach dem Stoß. Jener Stoß, gegen den man sich am schwersten wehren kann, wird von unten nach oben geführt. Beim Messerkampf beugt man die Knie ein wenig und bewegt sich leichtfüßig, bereit, vor- und zurückzuspringen, bereit, auszuweichen, um dem Stoß eines Angreifers zu entgehen, bereit zu töten, denn diese Waffe ist für den schmutzigen Nahkampf gedacht. Der Dolch hat die gleiche Klinge wie ein Skalpell. Wenn du dich für diese Geräte entschieden hast, musst du schneiden, als hinge das Leben davon ab, denn das ist oft der Fall.«
Er steckte den Dolch wieder in die Scheide und reichte ihm sein Schwert.
Rob hob es hoch und hielt es vor sich hin. «Romanus sum«, flüsterte er.
Der Bader lächelte. »Nein, du bist kein verdammter Römer. Nicht mit diesem englischen Schwert. Das römische Schwert war aus Stahl, kurz, lief spitz zu und hatte zwei scharfe Schneiden. Die Römer bevorzugten den Nahkampf und verwendeten es manchmal wie einen Dolch. Dies hier ist ein englisches, breites Schwert, es ist länger und schwerer. Die beste Waffe, um sich Feinde vom Leib zu halten. Es ist eine Hiebwaffe, eine Axt, mit der man Menschen statt Bäume fällt.« Er nahm das Schwert an sich und trat zurück. Er hielt es in beiden Händen und drehte sich. Das breite Schwert blitzte und funkelte in tödlichen Kreisen, während es die Sonnenstrahlen durchkreuzte. Dann hielt er inne und stützte sich außer Atem auf das Schwert. »Jetzt versuch du es!« Er überreichte Rob die Waffe und beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie leicht sein Lehrling das schwere, breite Schwert in einer Hand hielt. Es ist zwar eine Waffe für einen starken Mann, dachte er neidisch, doch noch wirkungsvoller ist sie, wenn sie mit der Behendigkeit der Jugend geführt wird. Rob machte es dem Bader nach und wirbelte über die kleine Lichtung. Die Klinge des breiten Schwertes zischte durch die Luft, und er stieß unwillkürlich einen heiseren Schrei aus. Der Bader sah äußerst beruhigt zu, wie schrecklich Rob durch ein unsichtbares Heer fegte und eine breite Schneise schlug.
Die nächste Lektion erhielt Rob mehrere Nächte später in einem überfüllten, lauten Wirtshaus in Fulford. Die englischen Treiber einer nach Norden ziehenden Pferdekarawane waren dort auf dänische Treiber einer nach Süden ziehenden Karawane getroffen. Beide Gruppen übernachteten in der Stadt, tranken viel und beäugten einander wie zwei Rudel streitlustiger Hunde.
Rob trank mit dem Bader friedlich Apfelwein. Es war eine Situation, die sie bereits kannten, und sie hatten genügend Erfahrung, um sich nicht in solche Rivalitäten hineinziehen zu lassen. Einer der Dänen war hinausgegangen, um zu urinieren. Als er zurückkam, trug er ein quiekendes Ferkel und ein Seil unter dem Arm.
Er knüpfte ein Ende des Seils um den Hals des Ferkels und das andere Ende an einen Pfosten in der Mitte der Kneipe. Dann klopfte er mit einem Krug auf den Tisch.
»Wer ist Manns genug, mir in einem Saustechen gegenüberzutreten?« rief er den englischen Treibern zu.
»Gut, Vitus!« rief einer seiner Kameraden aufmunternd und begann, auf seinen Tisch zu klopfen, worauf sich alle seine Gefährten anschlössen.
Die englischen Treiber lauschten mit finsterer Miene dem Pochen und den höhnischen Rufen, dann trat einer von ihnen zu dem Pfosten in der Mitte und nickte. Ein halbes Dutzend der vorsichtigeren Gäste in dem Wirtshaus trank
aus und verdrückte sich. Auch Rob wollte aufstehen, um, wie es des Baders Gewohnheit war, zu verschwinden, bevor der Wirbel losging. Doch zu seiner Überraschung legte ihm sein Meister eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück.
»Zwei Pence auf Dustin!« rief ein englischer Treiber. Bald schlössen beide Gruppen eifrig Wetten ab.
Die Männer waren einander ziemlich ebenbürtig: Beide waren Mitte zwanzig, der Däne war kräftiger und etwas kleiner, während der Engländer die größere Reichweite besaß.
Man band ihnen Tücher über die Augen, dann wurden sie in gebührendem Abstand zu beiden Seiten des Pfostens mit einem drei Yard langen Seil am Fußknöchel festgebunden.
»Wartet«, rief der Mann namens Dustin. »Zuerst noch einen Drink!« Johlend brachten die Freunde jedem Kandidaten einen Becher Metheglin, der rasch ausgetrunken wurde.
Die Männer mit den verbundenen Augen zogen ihre Dolche. Das Schwein, das zwischen den beiden festgehalten worden war, wurde nun auf den Boden hinuntergelassen. Es versuchte sofort davonzulaufen, aber weil es angebunden war, konnte es nur im Kreis rennen.
»Das Ferkel kommt, Dustin!« rief jemand. Der Engländer machte sich bereit und wartete, aber das Geräusch des laufenden Tieres wurde vom Schreien der Männer übertönt, und das Schwein war an ihm vorbei, bevor er es merkte. »Jetzt, Vitus!« schrien die Dänen.
In seiner Angst rannte das Ferkel geradewegs in den dänischen Treiber hinein. Der Mann stach dreimal nach ihm, ohne es zu treffen, und es flüchtete laut quiekend dorthin zurück, wo es hergekommen war. Nun konnte sich Dustin nach dem Geräusch richten und stürzte aus seiner Richtung auf das Ferkel, während Vitus aus der anderen kam. Der Däne stach auf das Ferkel ein, und Dustin wimmerte, als die scharfe Klinge ihm den Arm aufschlitzte.
»Du nordisches Arschloch.« Er schlug in einem wilden Bogen zu, kam aber weder in die Nähe des quiekenden Ferkels noch in die seines Gegners.
Jetzt rannte das Schwein über Vitus' Füße. Der dänische Treiber packte das Seil des Tieres und konnte das Schwein in Reichweite seines
Dolches ziehen. Sein erster Stich traf es am rechten Vorderhuf, und das Schwein schrie. »Jetzt hast du es, Vitus!« „Mach es fertig! Wir essen es morgen!«
Pas schreiende Schwein war ein leicht auszumachendes Ziel, und Dustin stürzte sich auf das Geräusch. Doch seine Hand glitt an der glatten Flanke des Ferkels ab, und die Klinge bohrte sich bis zum Heft in Vitus' Bauch.
Der Däne stöhnte nur leise, sprang aber zurück und riss sich damit den Bauch auf.
Das einzige Geräusch in der Kneipe war nun das Quieken des Schweins.
»Leg das Messer weg, Dustin, du hast ihn erledigt«, rief einer der Engländer. Sie umringten den Treiber; die Augenbinde wurde ihm heruntergerissen und seine Fußfessel durchschnitten. Wortlos führten die dänischen Treiber ihren Kameraden weg, ehe die Engländer sich rächen oder die Männer des Vogts geholt werden konnten.
Der Bader seufzte. »Lass uns zu ihm durch, denn wir sind Bader-Chirurgen und können ihm vielleicht Beistand leisten.« Aber es war klar, dass sie kaum etwas für ihn tun konnten. Vitus lag wie zerbrochen auf dem Rücken, hatte die Augen aufgerissen, und sein Gesicht war grau. In der klaffenden Wunde seines geöffneten Bauches waren die Gedärme fast durchschnitten worden. Der Bader ergriff Robs Arm und zog ihn in die Hocke. »Sieh es dir an!« befahl er streng.
Rob sah mehrere Schichten an der Oberfläche sonnengebräunte Haut, blasses Fleisch, eine schleimige, helle Schicht. Der Darm war rosa wie ein Osterei, das Blut tiefrot.
»Es ist merkwürdig, dass ein aufgeschnittener Mensch viel ärger stinkt als ein aufgeschnittenes Tier«, stellte der Bader fest. Blut quoll aus der Bauchdecke, und der durchtrennte Darm entleerte in einem Schwall seinen Kot.
Der Mann sprach leise auf Dänisch, vielleicht betete er.
Rob würgte, aber der Bader hielt ihn bei dem niedergestochenen Mann fest, als würde er einem jungen Hund die Nase in seinen eigenen Kot reiben.
Rob ergriff die Hand des Treibers. Der Mann war wie ein Sandsack mit einem Loch im Boden; Rob spürte, wie das Leben aus ihm rann. £r hockte neben dem Treiber und hielt seine Hand fest, bis kein Sand mehr in dem Sack war und Vitus' Seele mit einem trocken raschelnden Geräusch wie ein welkes Blatt einfach davonflog.
Sie übten weiter mit den Waffen, aber jetzt war Rob vorsichtiger und etwas weniger hitzig.
Er dachte öfter über seine Gabe nach, beobachtete den Bader, hörte ihm zu und eignete sich nach und nach sein gesamtes Wissen für spätere Tage an. Während er mit den Krankheiten und ihren Symptomen vertrauter wurde, begann er insgeheim ein Spiel, bei dem er versuchte, an den äußerlichen Anzeichen festzustellen, was jedem Kranken fehlte.
In dem Dorf Richmond in Northumbria sahen sie in der Reihe der wartenden Kranken einen bleichen Mann mit Triefaugen und einem quälenden Husten.
»Was fehlt diesem Mann?« fragte der Bader.
»Höchstwahrscheinlich Schwindsucht, oder?«
Der Bader lächelte zustimmend.
Als der hustende Patient jedoch an die Reihe kam, ergriff Rob seine Hände, um ihn hinter den Wandschirm zu führen. Es war nicht der Griff eines Sterbenden: Robs Gefühl verriet ihm, dass dieser Mann zu kräftig war, um an Schwindsucht zu leiden. Er spürte, dass der Mann sich nur erkältet hatte und bald die Beschwerden los sein würde.
Er sah keinen Grund, dem Bader zu widersprechen; allmählich merkte er aber, dass seine Gabe es ihm nicht nur ermöglichte, den Tod eines Menschen vorauszusagen, sondern dass sie auch nützlich sein konnte, um eine Krankheit zu erkennen und vielleicht den Lebenden zu helfen.
Tatus zog den roten Wagen langsam nach Norden über die englische Erde von Dorf zu Dorf, von denen manches zu klein war, um einen Namen zu haben. Wann immer sie zu einem Kloster oder einer Kirche kamen, wartete der Bader geduldig im Wagen, während sich Rob nach Vater Ranald Lovell und einem Jungen namens William Stewart Cole erkundigte. Doch niemand hatte je von ihnen gehört. Irgendwo zwischen Carlisle und Newcastle-upon-Tyne kletterte Rob auf einen Steinwall, den Hadrians Kohorten neunhundert Jahre zuvor errichtet hatten, um England vor schottischen Plünderern zu schützen. Er war zwar noch m England, aber seine Gedanken wanderten nach Schottland hinüber, und er machte sich klar, dass die größte Aussicht, jemanden von seinen Geschwistern zu treffen, in Salisbury bestand, wohin die Haverhills seine Schwester Anne Mary mitgenommen hatten.
Als sie endlich Salisbury erreichten, machte die Bäckerzunft zunächst einen Strich durch seine Rechnung. Der Zunftmeister der Bäcker hieß Cummings. Er war untersetzt und sah aus wie ein Frosch. Er war zwar nicht so schwer wie der Bader, aber wohlbeleibt, wie es seinem Beruf entsprach. »Ich kenne keine Haverhills.« »Könntet Ihr nicht in Euren Aufzeichnungen nachsehen?« »Hör zu, es ist Jahrmarkt. Viele Angehörige meiner Zunft beteiligen sich an dem Jahrmarkt in Salisbury, wir wissen nicht, wo uns der Kopf steht. Du musst uns nach dem Jahrmarkt aufsuchen.« Während des Jahrmarktes war er beim Jonglieren, beim Aderlassen und bei der Behandlung der Kranken nur halb bei der Sache und hielt ständig nach einem vertrauten Gesicht Ausschau, um vielleicht das junge Mädchen zu erblicken, das Anne Mary sein musste. Er sah sie nicht.
Am Tag nach dem Jahrmarkt betrat er wieder das Gebäude der Bäckerzunft von Salisbury. Es war ein sauberes, anziehendes Haus, und trotz seiner Unruhe fragte er sich, warum die Häuser anderer Zünfte immer besser gebaut waren als die der Zimmerleute. »Ah, der junge Bader!« Cummings begrüßte ihn jetzt freundlicher und war auch zugänglicher. Er blätterte in dicken Büchern, dann schüttelte er den Kopf. »Wir hatten niemals einen Bäcker namens Haverhill.« »Es war ein Mann mit seiner Frau«, sagte Rob. »Sie haben ihren Pastetenladen in London verkauft und wollten hierher ziehen. Sie haben ein kleines Mädchen bei sich, das meine Schwester ist. Sie heißt Anne Mary.«
»Es ist klar, was geschehen ist, junger Chirurg. Nachdem sie ihren Laden verkauft hatten, fanden sie auf dem Weg hierher eine bessere Gelegenheit. Vielleicht erfuhren sie von einer Ortschaft, die dringend einen Bäcker brauchte.«
»Ja, das klingt einleuchtend.« Rob dankte dem Mann und kehrte zum Wagen zurück.
Der Bader war sichtlich enttäuscht, sprach ihm aber Mut zu. »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben! Eines Tages wirst du sie wiederfinden, du wirst sehen.«
Rob kam es jedoch vor, als habe sich die Erde geöffnet und die Lebenden wie die Toten verschlungen. Die geringe Hoffnung, die er noch gehegt hatte, erschien ihm jetzt töricht. Er ahnte, dass die Tage eines eventuellen Familienlebens wirklich vorbei waren, und zwang sich fröstelnd zuzugeben, dass er seiner Zukunft höchstwahrscheinlich allein die Stirn bieten musste.
Einige Monate vor dem Ende von Robs Lehrzeit saßen sie bei braunem Ale im Gastraum des Wirtshauses in Exeter und unterhielten sich vorsichtig über die Bedingungen für Robs Anstellung als Geselle. Der Bader trank schweigend, scheinbar gedankenverloren, und bot ihm schließlich ein kleines Gehalt an. »Dazu eine Garnitur neuer Kleidungsstücke«, verbesserte er sein Angebot, als hätte er einen Anfall von Großzügigkeit.
Rob war nicht umsonst seit vielen Jahren mit ihm zusammen. Er hob unschlüssig die Schultern. »Es zieht mich nach London«, erklärte er und füllte ihre Krüge nach.
Der Bader nickte. »Jedes Jahr eine vollständige Garnitur Kleidungsstücke, ob du sie brauchst oder nicht«, fügte er hinzu, nachdem er Robs Gesicht gemustert hatte.
Sie bestellten zum Abendessen eine Wildkaninchenpastete, die Rob mit Appetit verzehrte. Der Bader beschäftigte sich mehr mit dem Wirt als mit dem Essen. »Welches Fleisch ich auch vorgesetzt bekomme, es ist zu zäh und kaum gewürzt«, brummte er. »Wir könnten vielleicht auch den Lohn erhöhen, ein wenig«, schränkte er gleich wieder ein. »Es ist schlecht gewürzt«, bestätigte Rob. »Das kommt bei Euch niemals vor. Ich war immer begeistert, wie Ihr Wild zubereitet.« »Wie viel Lohn hältst du denn für angemessen - für einen sechzehnjährigen Jungen?« »Ich will gar keinen Lohn.«
»Du willst keinen Lohn?« Der Bader sah ihn argwöhnisch an. „Mein. Das Einkommen stammt vom Verkauf des Spezificums und der Behandlung von Kranken. Deshalb möchte ich den Erlös von jeder zwölften verkauften Flasche und jedem zwölften behandelten Kranken.«
»Von jeder zwanzigsten Flasche und jedem zwanzigsten Kranken.« Rob zögerte nur einen Augenblick, bevor er nickte. »Diese Bedingungen gelten für ein Jahr«, sagte er. »Sie können dann nach Übereinkunft neu festgesetzt werden.« »Abgemacht!«
»Abgemacht!« stimmte Rob ruhig zu. Beide hoben grinsend ihre Krüge.
Der Bader hielt sich an die Abmachung. In Northampton jedoch, wo es erfahrene Handwerker gab, ließ er eines Tages von einem Tischler einen zweiten Wandschirm anfertigen, und als sie im nächsten Ort hielten, stellte er ihn nicht weit von dem seinen auf. »Es ist Zeit, dass du auf eigenen Füßen stehst«, erklärte er. Nach der Vorstellung und dem Porträtzeichnen setzte sich Rob hinter den Wandschirm und wartete. Würden sie ihn ansehen und lachen? Oder würden sie sich von ihm abwenden und sich vielleicht in der Schlange des Baders anstellen?
Sein erster Patient zuckte zusammen, als Rob dessen Hände ergriff, denn eine alte Kuh war ihm auf das Handgelenk getreten. »Das Mistvieh hat den Eimer umgestoßen. Als ich ihn aufstellen wollte, ist das verdammte Vieh mir draufgestiegen, versteht Ihr?« Rob hielt das Gelenk vorsichtig in der Hand und vergaß sofort alles ringsherum. Er sah einen schmerzhaften Bluterguss. Auch ein Knochen war gebrochen, der vom Daumen zur Handwurzel führte. Ein wichtiger Knochen. Er brauchte einige Zeit, um das Handgelenk richtig zu verbinden und in eine Schlinge zu legen. Er wartete hinter dem Wandschirm auf den nächsten Patienten, als ein junger Mann hereinkam, der vielleicht nur ein oder zwei Jahre älter war als er. Rob unterdrückte einen Seufzer, als er sah, dass sich der linke Zeigefinger in einem fortgeschrittenen Stadium des Brandes befand. »Kein schöner Anblick.«
Der junge Mann wurde blass um die Mundwinkel, dennoch gelang es ihm zu lächeln. »Ich habe ihn mir vor zwei Wochen beim Holzhacken zerquetscht. Er hat natürlich ziemlich geschmerzt, schien aber gut zu heilen. Und dann...«
Das erste Fingerglied war schwarz und ging in eine entzündlich verfärbte Stelle über, an die sich eine mit Blasen bedeckte Partie anschloss. Aus den großen Blasen trat blutiger Ausfluss und Fäulnisgeruch.
»Wie wurde der Finger behandelt?«
»Ein Nachbar riet mir, feuchte, mit Gänsekot vermischte Asche aufzulegen, um den Schmerz herauszuziehen.«
Rob nickte, denn es war ein allgemein übliches Mittel. »Jetzt ist es eine verzehrende Erkrankung, die sich, wenn man nichts dagegen unternimmt, in die Hand und dann in den Arm fressen wird. Lang bevor sie den Rumpf erreicht, wirst du sterben. Der Finger muss abgenommen werden.«
Der junge Mann nickte tapfer.
Rob seufzte nun doch. Er musste sich doppelt absichern; einen Finger abzunehmen war ein ernster Eingriff, und diesem Jungen würde sein Finger ein Leben lang fehlen, wenn es darum ging, seinen Lebensunterhalt zu verdierifcn. Er ging zu des Baders Wandschirm. »Ist etwas los?« Des Baders Augen glitzerten.
»Ein Fall, den ich Euch zeigen muss«, antwortete Rob und ging zu seinem Kranken voraus, während der dicke Mann etwas langsamer folgte.
»Ich habe ihm gesagt, dass er abgenommen werden muss.« »Ja«, bestätigte der Bader, und sein Lächeln war verschwunden. »Das ist richtig. Brauchst du Hilfe, Kleiner?«
Rob schüttelte den Kopf. Er gab dem Patienten drei Flaschen Spezificum zu trinken und legte dann sorgfältig alles bereit, was er benötigte, damit er nicht während der Amputation etwas suchen oder gar den Bader zu Hilfe rufen mußte.
Er legte zwei scharfe Messer, eine Nadel und einen gewachsten Faden, ein kurzes Brett, Leinenstreifen zum Verbinden und eine kleine Säge mit feinen Zähnen bereit. Der Arm des Jungen wurde an das Brett festgebunden, so dass seine
Hand mit der Handfläche nach oben lag. »Mach eine Faust, aber strecke dabei den brandigen Finger aus!« befahl Rob, umwickelte die Hand mit Leinenstreifen und band sie fest, damit die gesunden Finger nicht im Weg waren.
Er holte sich drei kräftige, herumstehende Müßiggänger: zwei, um den Jungen festzuhalten, und einen, um das Brett zu fixieren. Er hatte ein dutzendmal zugesehen, wie der Bader selbst dermaßen vorgegangen war, und hatte die Amputation zweimal selbst unter des Baders Aufsicht vorgenommen, aber allein hatte er es noch nie versucht. Das Wesentlichste war, den Schnitt entfernt genug von der brandigen Stelle zu legen, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern, zugleich aber einen möglichst großen Stumpf übrigzulassen. Er ergriff das Messer und schniu in das gesunde Fleisch. Der Patient brüllte auf und versuchte aufzuspringen. »Haltet ihn fest!«
Er schnitt kreisförmig um den Finger herum und unterbrach einen Augenblick, um die Blutung mit einem Lappen aufzusaugen, bevor er den gesunden Teil des Fingers auf beiden Seiten aufschlitzte und vorsichtig die Haut bis zum Knöchel abschälte, so dass zwei Hautlappen entstanden.
Der Mann, der das Brett festhielt, ließ es los und erbrach. »Nimm das Brett«, befahl Rob dem Mann, der die Schultern gehalten hatte. Der Wechsel war nicht schwierig, denn der Patient hatte inzwischen das Bewusstsein verloren.
Knochen ließen sich leicht durchtrennen, und die Säge erzeugte ein beruhigendes Geräusch, als er den Finger abnahm. Er schnitt die beiden Hautlappen zurecht und formte einen ordentlichen Stumpf, wie er es gelernt hatte, weder zu eng, was Schmerzen verursacht hätte, noch zu lose, weil das später Schwierigkeiten bereiten würde.
Dann nahm er Nadel und Faden und setzte kleine, enge Nähte. Etwas Blut sickerte hervor, das er abwusch, indem er Universal-Spezificum über den Stumpf goß. Rob half dann, den stöhnenden Jungen in den Schatten eines Baumes zu tragen, wo er sich erholen konnte.
Danach verband er rasch einen verstauchten Knöchel, versorgte einen tiefen Sichelschnitt im Arm eines Kindes, verkaufte einer Witwe, die von Kopfschmerzen geplagt wurde, drei Flaschen Spezificum und ein weiteres halbes Dutzend Flaschen einem Mann, der an Gicht litt. Da erblickte er plötzlich den abgetrennten Finger auf dem Fußboden. Er hob ihn auf, wickelte ihn in einen Lappen, trug ihn dorthin, wo der Junge unter dem Baum zu sich gekommen war, und legte ihn in seine gesunde Hand.
Verwirrt blickte er Rob an. »Was soll ich damit anfangen?«
»Die Priester sagen, dass man abgetrennte Körperteile bestatten muss, damit sie einen auf dem Friedhof erwarten, so dass man am Tag des Jüngsten Gerichts wieder vollständig im Fleische auferstehen kann.«
Der junge Mann dachte darüber nach, dann nickte er. »Ich danke dir, Baderchirurg.«
Der Bader kam nicht auf die Idee, dass er und Rob je streiten könnten.
Der ehemalige Lehrling unterschied sich auch mit seinen siebzehn Jahren nicht von dem arbeitsamen, gefälligen Jungen, der er früher gewesen war.
Nur feilschte er wie ein Fischweib.
Am Ende seines ersten Gesellenjahres verlangte er einen Anteil von einem Zwölftel statt einem Zwanzigstel. Der Bader knurrte, erklärte sich aber dann damit einverstanden, weil er einsah, dass Rob ein höherer Lohn zustand.
Der Bader bemerkte auch, dass Rob von seinem Lohn kaum etwas ausgab, und er wusste, dass er sparte, um Waffen zu kaufen. In einer Winternacht versuchte ein Gärtner in der Kneipe von Exmouth Rob einen Dolch zu verkaufen.
»Was sagt Ihr dazu?« fragte Rob und reichte diesen dem Bader.
Es war die Waffe eines Gärtners. »Die Klinge ist aus Bronze und wird brechen. Der Griff geht vielleicht, aber ein so dick bemalter Griff könnte Mängel verbergen.«
Rob gab die billige Waffe zurück.
Als sie sich im Frühjahr auf den Weg machten, fuhren sie die Küste entlang, und Rob suchte die Hafenkais nach Spaniern ab, denn die besten stählernen Klingen kamen aus Spanien. Aber er hatte immer noch keine Waffe, als sie ins Landesinnere fahren mußten.
Im Juli waren sie im oberen Mercia. In der Gemeinde Blyth fanden sie eines Morgens Tatus steif und leblos auf dem Boden. Rob blickte traurig auf das tote Pferd, während der Bader seinen Gefühlen durch Fluchen Luft machte.
„Glaubt Ihr, dass er an einer Krankheit gestorben ist?« Der Bader zuckte mit den Achseln. »Gestern haben wir zwar noch kein Anzeichen bemerkt, aber er war alt. Er war schon nicht mehr jung, als ich ihn vor langer Zeit kaufte.«
Rob verbrachte einen halben Tag damit, eine Grube aufzuhacken und zu schaufeln, denn sie wollten nicht, dass Incitatus von Hunden und Krähen gefressen wurde. Während Rob die große Grube aushob, ging der Bader auf die Suche nach einem Ersatz. Er brauchte den ganzen Tag, und er wollte nicht sparen, denn ein Pferd war für sie lebenswichtig. Schließlich kaufte er eine dreijährige, noch nicht voll erwachsene braune Stute mit weißer Blesse.
»Sollen wir sie auch Incitatus nennen?« fragte er, aber Rob schüttelte den Kopf, und sie nannten sie einfach Stute. Sie war leichtfüßig, doch gleich am ersten Morgen verlor sie ein Hufeisen, und sie kehrten nach Blyth zurück, um sie frisch beschlagen zu lassen. Der Schmied hieß Durman Moulton, und sie trafen ihn dabei an, wie er an einem Schwert arbeitete, bei dessen Anblick ihre Augen zu glänzen begannen.
»Was kostet es?« fragte Rob, allzu eifrig, nach der Meinung des Baders.
»Es ist bereits verkauft«, erklärte der Schmied, erlaubte ihnen aber, es in die Hand zu nehmen und seine Ausgewogenheit zu prüfen. Es war ein breites englisches Schwert, vollkommen glatt, scharf, zuverlässig und zudem eine schöne Schmiedearbeit. Wenn der Bader jünger und nicht so klug gewesen wäre, hätte er in Versuchung geraten können, es zu erwerben.
»Wieviel verlangt Ihr für genau das gleiche Stück und einen dazu passenden Dolch?«
Der Gesamtpreis war höher als Robs Jahreslohn. »Und Ihr müßt eine Hälfte des Preises hinterlegen, wenn Ihr es bestellt«, sagte Moulton. Rob ging zum Wagen und kam mit einem Beutel zurück, aus dem er das Geld unverzüglich bezahlte. »In einem Jahr kommen wir wieder, um die Waffen zu holen und den Rest zu bezahlen«, kündigte er an. Der Schmied nickte und versprach, dass beides fertig sein würde.
Obwohl sie Tatus verloren hatten, wurde es eine erfolgreiche Saison, doch als sich diese dem Ende zuneigte, verlangte Rob ein Sechstel vom Erlös.
»Ein Sechstel von meinem Einkommen! Für einen grünen Jungen, der kaum siebzehn Jahre alt ist?« Der Bader war richtiggehend empört, doch Rob ertrug den Ausbruch gelassen und sagte nichts mehr.
Als der Tag ihrer alljährlichen Vereinbarung herankam, war es der Bader, der unruhig wurde und sich Sorgen machte, denn ihm war klar, wie sehr sich seine Lage dank seines Gesellen gebessert hatte.
Im Dorf Sempringham hörte er, wie eine Patientin ihrer Freundin
zuflüsterte: »Stell dich beim jüngeren Bader an, Eadburga, denn man erzählt sich, dass er einen hinter dem Wandschirm berührt. Er hat angeblich heilende Hände.«
Sie sagen auch, dass er eine Unmenge von dem Scheißspezificum
verkauft, erinnerte sich der Bader schmerzlich.
Aber es störte ihn nicht, dass vor dem Wandschirm des Jüngeren für gewöhnlich längere Menschenschlangen warteten. Rob war für einen Dienstgeber ein wahres Goldstück.
»Ein Achtel«, bot er Rob am entsprechenden Tag schließlich an.
Obwohl es ihm gegen den Strich ging, wäre er auch auf ein Sechstel hinaufgegangen, aber zu seiner Erleichterung nickte sein Geselle.
»Ein Achtel, das ist gerecht«, meinte Rob.
Der »Alte« war des Baders Gehirn entsprungen. Da er den unterhaltenden Teil der Vorstellung verbessern wollte, erfand er einen alten Lüstling, der das universelle Spezificum trinkt und daraufhin jeder Schürze nachläuft, die er sieht. »Und du musst ihn spielen.« »Ich! Ich bin doch zu groß. Und auch zu jung.« »Nein, du wirst ihn spielen«, sagte der Bader eigensinnig. »Denn ich bin so dick, dass jeder auf den ersten Blick sehen würde, um wen es sich handelt.«
Sie beobachteten lange alte Männer, wie sie sich unter Schmerzen • bewegten, welche Kleidung sie trugen, und sie hörten genau zu, wenn alte Leute sprachen.
»Stell dir vor, wie es ist, wenn du spürst, dass dein Leben zu Ende geht«, sagte der Bader. »Du glaubst, dass du bei einer Frau immer einen Steifen kriegen wirst. Denk daran, dass du alt wirst und es nicht mehr tun kannst.«
Sie fertigten eine graue Perücke und einen falschen grauen Schnurrbart an. Sie konnten keine Falten m Robs Gesicht zaubern, aber der Bader bedeckte es mit Salbe und täuschte eine gealterte, im Lauf der Jahre durch Sonne und Wind trocken und rissig gewordene Haut vor. Rob beugte seinen langen Körper vor und legte sich einen hinkenden Gang zu, indem er das rechte Bein nachzog. Wenn er sprach, ließ er seine Stimme höher klingen, und er redete stockend, als hätte ihm das Leben schon ein wenig Angst eingejagt.
Der »Alte« trat in einem schäbigen Mantel zum erstenmal in Tadcaster in Erscheinung, während der Bader einen Vortrag über die bemerkenswert verjüngenden Kräfte seines Umversal-Spezificums hielt. Rob hinkte mühsam herbei und kaufte eine Flasche.
»Ich bin zweifellos ein alter Narr, weil ich mein Geld so hinauswerfe«, jammerte er mit brüchiger Stimme. Er öffnete die Flasche unter Schwierigkeiten, trank sie auf der Stelle aus und näherte sich prompt einer Kellnerin, die schon eingeweiht und entlohnt worden war. »Du bist aber hübsch«, seufzte er, und das Mädchen blickte rasch, gleichsam verlegen, weg. »Würdest du mir einen Gefallen erweisen, meine Liebe?« »Wenn ich kann.«
»Leg nur deine Hand auf mein Gesicht, nur die zarte, warme Handfläche auf die Wange eines alten Mannes!
Aaaah«, hauchte er, als sie seiner Bitte schüchtern entsprach.
Gekicher erhob sich, als er die Augen schloss und ihre Finger küßte. Einen Augenblick später riss er die Augen weit auf. »Beim gesegneten heiligen Antomus!« hauchte er. »Oh, es ist höchst ungewöhnlich.« Er hinkte so schnell wie möglich zum Podium zurück. »Gebt mir noch eine Flasche!« bat er den Bader und trank sie sofort.
Als er wieder zu der Kellnerin zurückkam, entfernte sie sich, und er folgte ihr. »Ich bin Euer ergebener Diener«, säuselte er eifrig. »Mistress...« Er beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. »Oh, Sir, so dürft Ihr nicht sprechen!« Sie ging weiter, und die Menge krümmte sich vor Lachen, als er ihr nachtrippelte.
Als der »Alte« wenige Minuten später mit der Kellnerin am Arm davonhinkte, johlten alle beifällig und entrichteten dann, noch immer lachend, dem Bader eilig ihre Pennies.
Bald mussten sie keine Frau mehr dafür bezahlen, mit dem »Alten« zu tändeln, denn Rob lernte schnell, Frauen in der Menge in sein Spiel zu verwickeln.
Er spürte es, wenn eine ehrbare Frau beleidigt war und man sie in Ruhe lassen musste oder wenn sich eine kühnere Frau durch ein derberes Kompliment oder ein rasches Kneifen herausgefordert fühlte. In Lichfield trug er eines Abends das Kostüm des »Alten« im Wirtshaus, und bald brüllten die Trinker und wischten sich die Tränen aus den Augen, als er in seinen Liebesabenteuern schwelgte. »Früher war ich ganz schön geil. Ich weiß noch genau, wie ich eine dralle Schönheit gebumst habe... Haare wie ein schwarzes Vlies, Titten, die man saugen mußte. Ein duftender Schamwald wie dunkle Schwanendaunen. Während hinter der Wand ihr grimmiger Vater, der halb so alt war wie ich, sanft und ahnungslos schlief.« »Und wie alt warst du damals, Alter?«
Langsam richtete er seinen gichtigen Rücken auf. »Drei Tage jünger als heute«, antwortete er mit seiner rauhen, jungen Stimme, und den ganzen Abend stritten die Dummköpfe darum, wer seine Zeche bezahlen durfte.
In dieser Nacht half zum erstenmal der Bader seinem Gehilfen zu ihrem Lager zurück, statt von ihm auf dem Weg dorthin gestützt zu werden.
Der Bader tröstete sich, indem er aß. Er briet Kapaune und Enten, stopfte sich buchstäblich mit Geflügel voll. In Worcester kam er dazu, als ein Paar Ochsen geschlachtet wurde, und er kaufte ihre Zungen.
Das war ein Genuß!
Er kochte die großen Zungen kurz, bevor er sie putzte und die Haut abzog, dann briet er sie mit Zwiebeln, wildem Knoblauch und Rüben, begoß sie mit Thymianhonig und ausgelassenem Speck, bis die Kruste süß und knusprig und das Fleisch innen so zart und weich war, dass man es kaum kauen mußte.
Rob kostete die feinen, üppigen Speisen kaum, weil er es so eilig hatte, ejne neue Schenke zu finden, in der er den alten Esel spielen konnte. Und in jedem Lokal versorgten ihn die Zecher ständig mit Getränken, per Bader wusste, dass Rob gern Ale oder dunkles Bier trank, doch jetzt bemerkte er beunruhigt, dass sein Geselle auch Met, Pigment oder ftlorat akzeptierte - was immer er bekam.
Per Bader wartete auf einen Hinweis Robs, dass das viele Trinken seinem Geldbeutel nicht bekomme. Doch ganz gleich, wie sehr Rob die Nacht zuvor auch getrunken und erbrochen hatte, er verrichtete seine Arbeit wie früher -
bis auf eines.
»Du nimmst nicht mehr ihre Hände, wenn sie hinter deinen Wandschirm kommen«, stellte der Bader fest. »Ihr ja auch nicht.« »Ich besitze die Gabe nicht.«
»Die Gabe? Ihr habt immer behauptet, dass es so etwas nicht gibt.« »Jetzt glaube ich, dass es sie doch gibt. Ich meine aber, dass sie durch Trinken vermindert wird und dass sie bei regelmäßigem Alkoholgenuß ganz verschwindet.«
»Wir haben sie uns nur eingebildet, habt Ihr doch gesagt!« »Hör gut zu! Ob nun die Gabe verschwunden ist oder nicht, du wirst die Hände jedes Patienten ergreifen, wenn er hinter deinen Wandschirm tritt, denn es gefällt ihnen offensichtlich. Hast du verstanden?« Rob nickte mürrisch.
In Great Berkhamstead gaben sie eine gut besuchte Vorstellung und verkauften eine Menge Spezificum. In dieser Nacht gingen der Bader und Rob zusammen ins Wirtshaus, um sich zu versöhnen. Anfangs ging alles gut, aber sie tranken starken Morat, der leicht nach bitteren Maulbeeren schmeckte. Der Bader sah, wie Robs Augen zu glänzen begannen, und er fragte sich, ob sein Gesicht beim Trinken ebenfalls so rot anlief. Bald war Rob so weit, dass er einen großen, stämmigen Holzfäller beschimpfte. Einen Augenblick später gerieten sie einander in die Haare. Sie waren gleich stark, und ihre Rauferei verlief erbittert wie eine Art Stumpfsinn. Vom Morat benebelt, standen sie dicht voreinander, schlugen immer wieder mit aller Kraft mit Fäusten, Knien sowie Füßen aufeinander ein, wobei die Schläge und Tritte wie Hämmer auf Eichen klangen.
Als sie schließlich erschöpft waren, konnten sie von einer kleinen Schar von Friedensstiftern getrennt werden, und der Bader führte Rob weg.
»Betrunkener Narr!« »Ihr habt es nötig«, sagte Rob.
Vor Zorn bebend, blitzte der Bader seinen Gehilfen an. »Vielleicht bin ich auch ein betrunkener Narr«, gab er zu,
»aber ich habe immer Verdruß vermieden. Ich habe niemals Gift verkauft. Ich habe nichts mit Magie zu tun, die jemanden verzaubert oder böse Geister beschwört. Ich kaufe nur große Mengen Alkohol und biete den Leuten Unterhaltung, die es mir ermöglicht, kleine Flaschen mit einem anständigen Gewinn zu verkaufen.
Voraussetzung für diesen Lebensunterhalt aber ist, dass wir keine Aufmerksamkeit erregen. Deshalb muss deine Dummheit ein Ende haben. Deine Hände dürfen sich nicht zu Fäusten ballen!«
Sie starrten einander an, aber Rob nickte.
Von diesem Tag an befolgte Rob des Baders Befehl gegen seinen Willen, während sie ihren Wagen nach Süden lenkten und mit den Zugvögeln um die Wette dem Herbst entgegenfuhren. Der Bader wählte einen Umweg um den Jahrmarkt in Salisbury, denn ihm war klar, dass dieser Ort bei Rob alte Wunden aufreißen würde. Doch Rob widerfuhr etwas ganz anderes. Als sie in Winchester statt in Salisbury Rast machten, kehrte er in der Nacht schwankend zum Lagerfeuer zurück. Sein Gesicht war grün und blau geschlagen, und es war klar, dass er wieder in eine Rauferei geraten war.
»Wir sind heute morgen, während du die Zügel gehalten hast, an einer Abtei vorbeigekommen, doch du hast nicht angehalten, um nach Vater Ranald Lovell und deinem Bruder zu fragen.« »Die Fragerei hat keinen Sinn.
Wo immer ich nach ihnen frage, kennt sie niemand.«
Rob sprach auch nicht mehr davon, dass er Anne Mary, William, Jonathan oder Roger finden wolle, den Bruder, den er zuletzt als Säugling gesehen hatte. Der Bader wusste freilich nicht, ob die Tatsache, dass Rob sich mit dem Verlust seiner Geschwister abgefunden hatte, gut war oder nicht.
Dieser Winter war der unangenehmste, den sie je in dem kleinen Haus in Exmouth verbracht hatten. Anfangs besuchten der Bader und Rob das Wirtshaus gemeinsam. Für gewöhnlich tranken sie und unterhielten sich mit den Einheimischen, dann fanden sie meist Frauen und
brachten sie nach Hause. Aber der Bader konnte es mit dem unermüdlichen Appetit des Jüngeren nicht aufnehmen, und zu seiner Überraschung wollte er es auch nicht. Nun war es der Bader, der in vielen Nächten die Schatten auf dem anderen Lager beobachtete und es nicht erwarten konnte, dass sie endlich zu einem Ende kamen, Ruhe gaben und schliefen.
Am dritten Tag der Weihnachtswoche kam Rob wütend nach Hause. »Der verdammte Wirt! Er hat mir das Wirtshaus von Exmouth verboten!«
»Sicher nicht grundlos, nehme ich an.« »Wegen Raufhändeln«, murmelte Rob verärgert. Rob verbrachte nun mehr Zeit zu Hause, war aber schlechter gelaunt denn je, und der Bader ebenfalls. Sie führten kein langes, unterhaltendes Gespräch mehr. Der Bader trank meistens, seine übliche Reaktion auf die kalte Jahreszeit.
Einmal am Tag verließ er das Bett, um eine ausgiebige Mahlzeit zu kochen. Er verwendete das fette Fleisch als Schutz gegen die Kälte und böse Ahnungen. Für gewöhnlich hatte er neben seinem Bett eine offene Flasche und einen Teller mit gebratenem, im eigenen Fett eingegossenem Lammfleisch. Rob machte weiterhin das Haus sauber, aber nur, wenn er Lust dazu hatte; im Februar stank es schon wie in einem Fuchsbau.
Sie sehnten sich nach dem Frühling und verließen gleich im März Exmouth, um durch die Ebene von Salisbury zu fahren. Der Bader hatte vor, an der Grenze zwischen Wales und Shrewsbury entlangzufahren, dort auf den Trent zu treffen und dem Fluss nach Nordosten zu folgen. Sie machten in allen nun schon vertrauten Dörfern und kleinen Städten halt. Die Stute tänzelte keineswegs so temperamentvoll wie einst Tatus, sie war aber ein schönes Pferd, und sie flochten unzählige Bänder in ihre Mähne. Das Geschäft ging im großen und ganzen sehr gut. In Hope-under-Dinmore fanden sie einen geschickten Handwerker, der Lederwaren herstellte, und Rob erstand zwei Scheiden aus geschmeidigem Leder für die Waffen, die ihm zugesagt worden waren. Kaum waren sie in Blyth, gingen sie sofort zu der Schmiede, wo Durman Moulton sie freudig begrüßte. Der Meister ging zu einem Regal im düsteren Hintergrund seines Ladens und kam mit zwei Bündeln zurück, die in weiche Tierhäute gewickelt waren.
Rob öffnete sie gespannt und hielt den Atem an. Das breite Schwert war womöglich noch besser als dasjenige, das sie im Vorjahr so bewundert hatten. Der Dolch war ebenso schön gearbeitet. Während Rob über das Schwert jubelte, wog der Bader das Messer in der Hand und fühlte, wie ausgezeichnet ausgewogen es war. »Das ist eine saubere Arbeit«, sagte er zu Moulton, der das Lob so hinnahm, wie es gemeint war.
Rob steckte die Klingen in die neuerworbenen Scheiden an seinem Gürtel, um das ungewohnte Gewicht zu spüren. Er legte die Hände auf die Griffe, und der Bader musterte ihn kritisch. Er war eine stattliche Erscheinung. Mit achtzehn hatte er endlich seine volle Größe erreicht und überragte den Bader um eine Doppelspanne. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften, dichtes, lockiges, braunes Haar, weit auseinanderstehende blaue Augen, deren Stimmung rascher wechselte als das Meer, ein breites Gesicht und ein kantiges Kinn, das er glattschabte. Er zog das Schwert, das ihn als Freigeborenen auswies, halb aus der Scheide und schob es wieder zurück. Während ihn der Bader betrachtete, erschauerte er vor Stolz und empfand doch eine Besorgnis, die er nicht genau ergründen konnte. Vielleicht konnte man sie als Angst bezeichnen.
Als Rob zum erstenmal ein Wirtshaus in Waffen betrat - es war in Beverly -, merkte er sogleich den Unterschied.
Nicht, dass die Männer ihm mehr Achtung entgegengebracht hätten, aber sie verhielten sich ihm gegenüber vorsichtiger und wachsamer. Der Bader ermahnte ihn immer wieder, dass auch er vorsichtiger sein müsse, denn hitziger Zorn zähle zu den acht Kapitalverbrechen der heiligen Mutter Kirche. Rob wurde es müde zu hören, was geschehen würde, wenn die Männer des Vogtes ihn vor ein Kirchengericht schleppten, aber der Bader beschrieb wiederholt Gerichtsverhandlungen mit einem Gottesurteil, bei denen die Angeklagten ihre Unschuld beweisen mussten, indem sie heiße Steine oder weißglühendes Metall anfassen oder kochendes Wasser trinken mußten.
»Eine Verurteilung wegen Mordes bedeutet den Tod durch Hängen oder Köpfen«, sagte der Bader streng.
»Wenn jemand einen Totschlag begeht, werden Riemen unter den Sehnen an seinen Fersen durchgezogen und an die Schwänze wilder Stiere gebunden. Dann werden die Tiere von Hunden zu Tode gehetzt.«
Mein Gott, dachte Rob, der Bader ist wie eine alte Dame, die ständig in Ohnmacht fällt. Glaubt er vielleicht, ich bin darauf aus, die Bevölkerung auszurotten?
In der Stadt Fulford entdeckte er, dass er die römische Münze verloren hatte, die er bei sich getragen hatte, seit der Arbeitstrupp seines Vaters sie aus der Themse gebaggert hatte. Er trank in schwärzester Laune, bis eine Kleinigkeit genügte, um mit einem pockennarbigen Schotten in Streit zu geraten, der an seinen Ellbogen stieß.
Statt sich zu entschuldigen, murmelte der Schotte böse etwas auf Gälisch. »Sprich englisch, du verdammter Zwerg!« knurrte Rob wütend, denn der Schotte war zwar kräftig, aber um zwei Köpfe kleiner als Rob. Des Baders Warnungen hatten vielleicht doch gewirkt, denn er war so vernünftig, seine Waffen abzuschnallen. Der Schotte folgte seinem Beispiel, dann wurden sie handgemein. Doch Rob erlebte eine böse Überraschung: Der Mann ersetzte die fehlende Größe durch Geschicklichkeit. Sein erster Hieb knickte Rob eine Rippe, dann brach ihm ein steinharter Faustschlag die Nase mit einem unangenehmen Geräusch und noch unangenehmeren Schmerz.
Rob knurrte. »Schafficker!« Schmerz und Wut verliehen ihm Riesenkräfte. Er konnte sich gerade noch auf den Beinen halten, bis der Schotte so erschöpft war, dass sich beide unbesiegt voneinander lösten. Rob hinkte zum Lager zurück. Er fühlte sich, als hätte ihn eine Schar von Riesen schonungslos verprügelt, und er sah auch danach aus. Der Bader ging nicht übertrieben zart mit ihm um, als er die gebrochene Nase einrichtete und der Knorpel knirschte. Er tupfte Spezificum auf die Kratzer und Quetschungen, doch seine Worte brannten stärker als der Alkohol.
»Du stehst an einem Scheideweg«, erklärte er. »Du hast unseren Beruf erlernt. Du verfügst über einen wachen Verstand und erfolgversprechende Anlagen bis auf deine Charakterschwäche. Wenn du nämlich auf deiner derzeitigen Bahn bleibst, wirst du bald ein hoffnungsloser Trinker sein.«
»Das sagt einer, der sich selber zu Tode trinkt«, sagte Rob verächtlich und knurrte, als er seine geschwollenen, blutenden Lippen berührte. »Ich bezweifle, dass du lang genug leben wirst, um am Alkohol zu sterben«, meinte der Bader.
Obwohl Rob eifrig suchte, blieb die römische Münze verschwunden. Das einzige Erinnerungsstück, das Bindeglied zu seiner Kindheit, war nun die Pfeilspitze, die ihm sein Vater geschenkt hatte. Er ließ sie durchbohren und trug sie an einem kurzen Lederriemen um den Hals. Jetzt gingen ihm die Männer lieber aus dem Weg, denn außer seiner Größe und den fachgerecht aussehenden Waffen besaß er eine bunte Nase, die schief in seinem Gesicht stand, das sich selbst in verschiedenen Stadien der Verfärbung befand. Vielleicht hatte der Bader in seinem Zorn nicht sein Bestes getan, als er die Nase eingerichtet hatte, und sie würde nie wieder gerade sein.
Die Rippe schmerzte wochenlang bei jedem Atemzug. Robs Stimmung war gedämpft, als sie aus Northumbrien nach Westmoreland und wieder nach Northumbrien zurückzogen. Er besuchte keine Wirtshäuser oder Kneipen, in denen man leicht in Raufhändel verwik-kelt werden konnte, sondern hielt sich beim Wagen und dem abendlichen Lagerfeuer auf. Wenn sie weit von einer Stadt lagerten, probierte er das Spezificum und fand Geschmack am Metheglin. Aber eines Abends, als er kräftig von ihrem Vorrat getrunken hatte, wollte er gerade eine Flasche öffnen, deren Hals eingeritzt war. Sie gehörte also zu jener Spezialabfüllung, in die der Bader gepißt hatte und mit der er sich an jenen rächte, die sich seine Feindschaft zugezogen hatten. Rob warf die Flasche schaudernd weg. Von da an kaufte er sich alkoholische Getränke, wenn sie in einer Stadt haltmachten, und bewahrte sie sorgsam in einer Ecke des Wagens auf.
In Newcastle spielte er wieder den »Alten« und versteckte sein Gesicht hinter einem falschen Bart, der seine blauen Flecken verbarg. Sie hatten zahlreiche Zuschauer und verkauften eine Menge Spezificum. Nach der Vorstellung ging Rob hinter den Wagen, um seine Verkleidung abzulegen, seinen Wandschirm aufzustellen und mit seinen Untersuchungen zu beginnen. Der Bader war schon anwesend und verhandelte gerade mit einem hochgewachsenen, knochigen Mann. »Ich bin euch seit Durham gefolgt, wo ich euch beobachtet habe«, sagte der Mann. »Wohin ihr auch kommt, zieht ihr eine Menschenmenge an. Was ich brauche, ist eine Menschenmenge, und ich schlage vor, dass w'r zusammen reisen und alle Einnahmen teilen.« »Das kann man nicht als Einnahmen bezeichnen«, widersprach der Bader.
Der Mann lächelte. »Doch, ich erwerbe mein Geld durch harte Arbeit.« »Du bist ein Taschendieb und ein Beutelschneider, wirst eines Tages mit der Hand in einer fremden Tasche ertappt werden, und das wird dein Ende sein. Mit Dieben arbeite ich nicht.« »Vielleicht hast du keine Wahl.« »Er hat die Wahl«, mischte Rob sich ein.
Der Mann schenkte ihm kaum einen Blick. »Du hältst besser den Mund, Alter, sonst ziehst du die Aufmerksamkeit von Leuten auf dich, die dir Schaden zufügen können.«
Rob trat auf ihn zu. Der Taschendieb riss erstaunt die Augen auf, zog ein langes, schmales Messer aus seiner Kleidung und kam mit einer raschen Bewegung auf die beiden zu.
Robs schöner Dolch schien wie von selbst aus der Scheide zu springen und sich in den Arm des Mannes zu bohren. Ihm war der Kraftaufwand nicht bewußt, aber der Stich musste kräftig gewesen sein, denn er spürte, dass die Dolchspitze auf einen Knochen stieß. Als er die Klinge aus dem Fleisch zog, sprudelte aus der Wunde sofort Blut hervor. Rob wunderte sich, dass so viel Blut so rasch aus einem so spindeldürren Menschen austreten konnte.
Der Taschendieb trat zurück und hielt sich den verwundeten Arm. »Komm!« rief ihm der Bader zu. »Wir werden dich verbinden. Es passiert dir nichts mehr.«
Aber der Mann lief schon um die Ecke des Wagens und war gleich darauf verschwunden.
»So viel vergossenes Blut muss auffallen. Wenn sich Leute des Vogts in der Stadt aufhalten, werden sie ihn festnehmen, und er könnte sie zu uns führen. Wir müssen so rasch wie möglich von hier fort«, bestimmte der Bader.
Sie flüchteten wie damals, als sie den Tod eines Kranken befürchtet hatten, und hielten erst an, als sie sicher waren, dass ihnen niemand folgte.
Rob entfachte ein Feuer, setzte sich, noch als alter Mann verkleidet und zu müde, um sich umzuziehen, davor, und sie aßen kalte Rüben, die von der Mahlzeit des Vortags übriggeblieben waren. »Wir waren zu zweit«, stellte der Bader angewidert fest. »Wir hatten ihn leicht loswerden können.« »Er hat eine Lehre verdient.«
Der Bader sah ihn an. »Hör mal zu!« sagte er. »Du bist zu einer Gefahr geworden.«
Rob nahm ihm die Ungerechtigkeit übel, denn er hatte nur eingegriffen, um den Bader zu beschützen. Neuer Zorn stieg in ihm auf und dazu alter Groll. »Ihr habt niemals etwas für mich aufs Spiel gesetzt. Ihr verdient nicht mehr unser Geld - das tue ich. Ich verdiene mehr für Euch, als der Dieb mit seinen langen Fingern je zusammenbekommen
hätte.«
»Eine Gefahr, der man auch noch verpflichtet ist«, antwortete der Bader müde und wandte sich ab.
Sie erreichten den nördlichsten Abschnitt ihrer Reiseroute und hielten in Grenzweilern, in denen die Einwohner nicht genau wussten, ob sie Engländer oder Schotten waren. Wenn Rob und der Bader vor dem Publikum spielten, zogen sie einander auf und arbeiteten in scheinbarer Harmonie, aber wenn sie nicht auf dem Podium standen, herrschte zwischen ihnen eisiges Schweigen. Wenn sie dennoch ein Gespräch begannen, wurde daraus bald ein Streit.
Der Bader wagte längst nicht mehr, die Hand gegen Rob zu erheben, aber wenn er betrunken war, hielt er nach wie vor seine lästerliche, scharfe Zunge, die keine Rücksicht kannte, nicht im Zaum. Eines Nachts in Lancaster schlugen sie ihr Lager bei einem Teich auf, aus dem mondheller Nebel wie blasser Rauch emporstieg. Sie wurden von einem ganzen Heer kleiner, fliegenartiger Insekten geplagt und suchten ihre Zuflucht beim Trinken.
»Warst immer ein großer, schwerfälliger Tölpel: der junge Sir Misthaufen.« Rob seufzte.
»Ich habe ein verwaistes Arschloch aufgenommen... ihn erzogen... Ohne mich läge er in der Gosse.« Er würde bald beginnen, auf eigene Faust als Baderchirurg zu arbeiten,
beschloss Rob. Er hatte lange gebraucht, um zu dem Schluß zu gelangen, dass sein Weg sich von dem des Baders trennen mußte. »Ungeschickt und dumm. Wie habe ich mich anstrengen müssen, um ihm das Jonglieren beizubringen!«
Rob kroch wieder in den Wagen, um seinen Becher von neuem zu füllen, aber die schreckliche Stimme folgte ihm. »Verdammt, bring mir auch einen Becher!«
Verdammt noch mal, holt ihn Euch doch selbst! wollte er schon antworten. Statt dessen kroch er, von einem unwiderstehlichen Drang erfaßt, zu der Stelle, wo die Spezialabfüllung aufbewahrt wurde. Er nahm eine Flasche und hielt sie sich vor die Augen, bis er die eingeritzten Zeichen fand, die auf den besonderen Inhalt hinwiesen.
Dann kroch er aus dem Wagen, entkorkte die Tonflasche und reichte sie dem dicken Mann.
Ich bin niederträchtig, dachte er voll Angst. Aber nicht niederträchtiger als der Bader, der im Laufe der Jahre so vielen Menschen seine Spezialabfüllung gegeben hat.
Gebannt sah er zu, wie der Bader die Flasche nahm, den Kopf in den Nacken legte, den Mund öffnete, sie an die Lippen führte und gierig austrank.
Warum empfand er keine Schadenfreude? Eine trübsinnige, schlaflose Nacht lang dachte er darüber nach. Wenn der Bader nüchtern war, vereinte er zwei Männer in sich, einen freundlichen, fröhlichen, herzensguten und einen gemeinen Menschen, der, ohne zu zögern, die Spezialabfüllung austeilte. Wenn er betrunken war, kam fraglos nur der gemeine Mann zum Zuge.
Rob sah mit plötzlicher Klarheit, wie einen Lichtstrahl auf dem dunklen Himmel, dass er selbst sich in diesen gemeinen Bader verwandelte. Ein Schauer überlief ihn, und Trostlosigkeit erfaßte ihn, so dass er näher ans Feuer rückte.
Am nächsten Morgen stand er beim ersten Tageslicht auf, fand die weggeworfene Flasche und versteckte sie im Wald. Dann schürte er das Feuer, und als der Bader sich zum erstenmal rührte, erwartete ihn bereits ein üppiges Frühstück.
Sie schirrten die Stute an und fuhren den halben Vormittag hindurch, ohne zu sprechen. Nur manchmal bemerkte Rob die nachdenklichen Blicke, die sein Begleiter auf ihn richtete.
»Ich habe lange darüber nachgedacht«, unterbrach der Bader endlich das Schweigen. »In der nächsten Saison musst du als Baderchirurg ohne mich losziehen.«
Rob war betroffen, weil er am Vortag zu der gleichen Schlußfolgerung gelangt war, und widersprach. »Es liegt an dem verdammten Saufen. Das Zeug verändert uns bis zur Unkenntlichkeit. Wir müssen es sein lassen, dann werden wir wieder so gut miteinander auskommen wie
zuvor.«
Der Bader wirkte gerührt, schüttelte aber den Kopf. »Zum Teil ist es das Trinken, aber zum Teil bist du auch ein junger Hirsch, der sein Geweih ausprobieren muss, und ich bin ein alter Platzhirsch. Zudem bin ich für einen Hirsch viel zu fett und kurzatmig; ich brauche meine ganze Kraft, nur um auf das Podium zu steigen, und jeden Tag fällt es mir schwerer, die Vorstellung durchzustehen. Ich würde gern für immer in Exmouth bleiben, den milden Sommer genießen und einen Gemüsegarten anlegen, ganz zu schweigen von den Freuden, die mir meine Kochkunst spenden wird. Während du unterwegs bist, kann ich einen reichlichen Vorrat vom Spezificum anlegen. Ich werde wie bisher die Instandhaltung des Wagens und das Futter für die Stute bezahlen. Du wirst die Einnahmen von allen Patienten, die du behandelst, sowie im ersten Jahr von jeder fünften Flasche Spezificum und in den Jahren danach von jeder vierten Flasche behalten.«
»Von jeder dritten Flasche im ersten Jahr«, forderte Rob automatisch, »und jeder zweiten danach.«
»Das ist zuviel Geld für einen neunzehnjährigen jungen Mann«, widersprach er Bader streng. Seine Augen glänzten. »Wir wollen gemeinsam darüber nachdenken, denn wir sind vernünftige Männer.«
Schließlich einigten sie sich auf die Einkünfte von jeder vierten Flasche im ersten Jahr und jeder dritten in den darauffolgenden Jahren. Der Kontrakt sollte für einen Zeitraum von fünf Jahren gelten, danach würden sie alles neu überdenken.
Der Bader frohlockte, und Rob konnte sein Glück nicht fassen, denn im Verhältnis zu seinem Alter würde er sehr gut verdienen. Sie fuhren in bester Laune und mit neuem gegenseitigen Wohlwollen durch Northumbrien nach Süden. In Leeds kauften sie nach ihrer Arbeit mehrere Stunden lang ein. Der Bader erwarb ungeheure Mengen und
erklärte, er müsse ein Festmahl zubereiten, das der Feier ihres neuen Kontraktes angemessen sei.
Sie verließen Leeds auf einer Straße, die neben der Aire meilenweit unter alten Bäumen verlief, zwischen denen sich grünes Dickicht, undurchdringliches Gehölz und mit Heidekraut bedeckte Lichtungen erstreckten. Früh schlugen sie ihr Lager zwischen Erlen und Weiden an einer Stelle auf, wo der Fluss breiter wurde, und Rob half dem Bader stundenlang bei der Herstellung einer großen Fleischpastete. Der Bader verarbeitete gehacktes Fleisch von einer Rehkeule und einer halben Kalbslende, einem dicken Kapaun, zwei Tauben, dazu sechs gekochte Eier und ein halbes Pfund Fett. Schließlich überzog er alles mit einer Teigkruste, die dick und blätterig war und vor Öl triefte. Sie aßen sehr lange daran, und der Bader musste Metheglin dazu trinken, weil die Pastete ihn durstig machte. Rob dachte an sein kürzlich abgelegtes Gelübde, trank Wasser und sah zu, wie des Baders Gesicht sich rötete und seine Augen verdrießlich wurden. Dann verlangte der Bader, dass Rob zwei Körbe voller Flaschen aus dem Wagen holte und sie neben ihn stellte, damit er sich nach Lust und Laune bedienen konnte.
Rob tat ihm den Gefallen und sah beunruhigt zu, wie der Bader zechte. Bald begann dieser ärgerlich über die Bedingungen ihres Kontrakts zu brummen, aber bevor sich eine unangenehme Wendung anbahnte, versank er in den Schlaf der Betrunkenen. Am nächsten Morgen, der hell, sonnig und vom Gesang der Vögel erfüllt war, sah der Bader blaß und mürrisch aus. Er erinnerte sich offenbar nicht mehr an sein anmaßendes Verhalten vom Vorabend. »Fangen wir Forellen!« schlug er vor. »Ich hätte Appetit auf ein Frühstück aus frischen Fischen, und die Aire scheint ein fischreiches Gewässer zu sein.« Doch als er aufstand, klagte er über Schmerzen in der linken Schulter. »Ich werde den Wagen beladen«, beschloss er, »denn Arbeit schmiert oft ein schmerzendes Gelenk.«
Er trug einen der Körbe mit Metheglin in den Wagen, dann kam er zurück und holte den nächsten. Auf halbem Weg zum Wagen ließ er den Korb polternd und klirrend fallen. Sein Gesicht nahm einen verwunderten Ausdruck an. Er legte die Hand auf die Brust und verzog die Miene. Dann krümmte er sich vor Schmerz zusammen.
»Robert«, sagte er formell. Es war das erste Mal, dass er den Taufnamen seines Gehilfen aussprach.
Er machte einen Schritt auf Rob zu und streckte beide Hände aus. Aber bevor Rob ihn erreichen konnte, hörte er auf zu atmen. Wie ein großer Baum — nein, wie eine Lawine, wie ein Bergsturz kippte der Bader um und stürzte zu Boden.
»Ich habe ihn nicht gekannt.«
»Er war mein Freund.«
»Ich habe auch Euch noch nie gesehen.« Der Priester war eigensinnig.
»Ihr seht mich jetzt.« Rob hatte ihre Habseligkeiten aus dem Wagen geladen und sie hinter einem Weidendickicht versteckt, um Platz für des Baders Leiche zu schaffen. Er war sechs Stunden weit gefahren, um das kleine Dorf Aire's Cross mit seiner alten Kirche zu erreichen. Jetzt stellte dieser Pfaffe mit den stechenden Augen argwöhnische Fragen, als wäre der Bader vorsätzlich gestorben, nur um ihm Ungelegenheiten zu bereiten.
Als weitere Fragen ergaben, was der Bader zu Lebzeiten gewesen war, schnaubte der Priester mißbilligend.
»Medicus, Chirurg oder Bader - sie alle mißachten die unbestreitbare Wahrheit, dass nur die heilige Dreifaltigkeit und die Heiligen wirklich die Macht besitzen zu heilen.«
Rob war gefühlsmäßig zu sehr beteiligt und nicht bereit, sich solche Töne gefallen zu lassen. Genug, knurrte er stumm. Er dachte an die Waffen an seinem Gürtel, aber es war, als riete ihm der Bader, sich zu beherrschen. Er sprach gedämpft und freundlich mit dem Priester und bot ihm eine ansehnliche Spende für die Kirche an.
Schließlich erklärte der Priester geringschätzig: »Erzbischof Wulfstan hat den Priestern untersagt, einem anderen Priester sein Pfarrkind mit seinen Zehnten und Abgaben abspenstig zu machen.«
»Er war nicht das Pfarrkind eines anderen Priesters«, stellte Rob richtig, und schließlich wurde eine Bestattung in geweihter Erde vereinbart.
Zum Glück hatte er eine volle Börse mitgenommen. Die Bestattung konnte nicht länger verschoben werden, denn der Leichengeruch war schon deutlich wahrnehmbar. Der Dorftischler erschrak, als er sah, wie groß der Sarg sein musste, den er zu schreinern hatte. Auch die Grube musste dementsprechend größer sein, und Rob hob sie selbst in einer Ecke des Friedhofs aus.
Des Baders mit Rosmarin bestreuter Sarg wurde vor dem Altar zu Füßen des riesigen Kreuzes aufgestellt.
Zufällig war an diesem Tag das Fest des heiligen Calixtus, und die Kirche zum Heiligen Kreuz war gut besucht.
Als das »Kyrie Eleison" gesungen wurde, war die kleine Kirche beinahe voll.
Sie hatte nur zwei kleine Fenster, und der Weihrauch kämpfte gegen den Leichengeruch an. Aber durch die Wände aus gespaltenen Baumstämmen und das Strohdach strömte etwas frische Luft, so dass die Binsenlichter in ihren Haltern flackerten. Sechs hohe Wachskerzen, die im Kreis um den Sarg aufgestellt waren, erhellten das Dunkel. Ein weißes Leichentuch bedeckte den Bader bis auf sein Gesicht. Rob hatte ihm die Augen zugedrückt, und er sah nun aus, als schlafe er oder als sei er vielleicht sehr betrunken.
»War er Euer Vater?« flüsterte eine alte Frau. Rob zögerte, dann erschien es ihm als das Einfachste zu nicken.
Sie seufzte und berührte mitfühlend seinen Arm.
Er hatte für eine Totenmesse bezahlt, an der die Leute nun mit rührender Feierlichkeit teilnahmen, und er sah zu seiner Zufriedenheit, dass der Bader kein schöneres Begräbnis bekommen hätte, wenn er einer Zunft angehört hätte, und dass nicht andächtiger für seine Seele gebetet worden wäre, wenn sein Sarg mit königlichem Purpur bedeckt gewesen wäre.
Als die Messe zu Ende war und die Leute sich entfernten, ging Rob zum Altar. Er kniete viermal nieder und schlug das Kreuz über seiner Brust, wie es ihn seine Mutter vor so langer Zeit gelehrt hatte, als er sich vor Gott, seinem Sohn, unserer Mutter Maria und schließlich vor den Aposteln und allen Heiligen verbeugte.
Rob dachte weder an Essen noch Trinken. Er blieb knien, und ihm war, als schwebe er zwischen dem tanzenden Kerzenlicht und der lastenden Schwärze.
Die Zeit verging, ohne dass er es merkte.
Er schreckte auf, als lautes Glockengeläut die Mitternachtsliturgie ankündigte, erhob sich und wankte auf gefühllos gewordenen Beinen den Gang hinunter.
»Erweise deine Reverenz!« befahl der Priester kalt, und Rob gehorchte.
Draußen ging er die Straße hinunter. Unter einem Baum schlug er sein Wasser ab, dann kehrte er zurück und wusch sich Gesicht und Hände in dem Eimer neben der Tür, während in der Kirche der Priester die Mitternachtsmesse beendete.
Nachdem der Priester zum zweitenmal gegangen war, brannten bald die Kerzen völlig nieder und ließen Rob in der Dunkelheit mit dem Bader allein.
Das Band zwischen ihnen konnte man nicht Liebe nennen, das wusste Rob. Doch es war ein Gefühl gewesen, das die Liebe hinreichend ersetzte, so dass Rob bitterlich weinte, als das Frühlicht das bleiche Gesicht beschien, und er weinte nicht allein um Henry Croft.
Der Bader wurde nach dem Morgengottesdienst bestattet. Der Priester hielt sich nicht übertrieben lang am Grab auf. »Ihr könnt es zuschütten«, gestattete er Rob. Während Steine und Kies auf den Sargdeckel polterten, murmelte Rob lateinische Worte über die sichere, gewisse Hoffnung auf Auferstehung.
Rob behandelte den toten Bader wie ein Familienmitglied. Er gab dem Priester Geld, um einen Stein zu bestellen, und bestimmte auch, was auf diesen eingemeißelt werden sollte.
HENRY CROFT
BADERCHIRURG
GESTORBEN AM ll.JULI IM JAHR DES HERRN 1031
»Vielleicht noch requiescat in pace oder etwas Ähnliches?« schlug der Priester vor.
Die einzige passende Grabinschrift für den Bader, die ihm einfiel, war aber carpe diem, genieße den Tag! Doch irgendwie... Dann lächelte er, weil ihm etwas einfiel.
Der Priester ärgerte sich, als er hörte, wofür sich Rob entschieden hatte. Aber der junge Fremde bezahlte den Stein und bestand auf dieser Inschrift, also schrieb sie der Pfaffe sorgfältig nieder: Fumum vendidi.
Ich habe Dunst verkauft.
»Ich werde demnächst zurückkommen, um nachzusehen, ob alles zu meiner Zufriedenheit erledigt wurde.«
pie Augen des Priesters verschleierten sich. »Geht mit Gott«, wünsch-te er ihm kurz und ging in die Kirche zurück.
j-Iundemüde und hungrig lenkte Rob die Stute zu dem Ort, an dem er alle Habseligkeiten im Weidengebüsch versteckt hatte. Nichts war gestohlen worden. Als er die Sachen wieder in den Wagen geladen hatte, setzte er sich ins Gras und aß. Der Rest der Fleischpastete war verdorben, aber er kaute und schluckte ein altes Brot, das der Bader vor vier Tagen gebacken hatte.
Ihm fiel ein, dass er der Erbe war. Es war nun sein Pferd und sein Wagen. Er hatte alles geerbt: die Instrumente und ihre Handhabung, die schäbigen Felldecken, die Jonglierbälle und die Zauberkunststük-ke, die Ablenkung, den blauen Dunst - und die Entscheidung darüber, wohin er morgen und übermorgen fahren wollte. Seine erste Maßnahme bestand darin, die Flaschen der Spezialabfül-lung gegen einen Felsen zu schleudern, so dass eine nach er anderen zerbrach.
Die Waffen des Baders wollte er verkaufen; seine eigenen waren besser. Aber das Sachsenhorn hängte er sich um den Hals. Er kletterte auf den Kutschbock und setzte sich selbstbewußt und hochaufgerichtet hin, als wäre es ein Thron.
Vielleicht, dachte er, sehe ich mich um und nehme einen Lehrjungen auf.
Er zog weiter, wie sie es zu zweit immer getan hatten, »um eine Spazierfahrt durch die einfältige Welt zu unternehmen«, wie der Bader gesagt hätte. In den ersten Tagen konnte er sich nicht dazu überwinden, den Wagen abzuladen oder eine Vorstellung zu geben. In Lincoln kaufte er sich eine warme Mahlzeit im Wirtshaus, aber selbst kochte er nicht, sondern er ernährte sich zumeist von Brot und Käse. Er trank überhaupt nicht.
Abends saß er am Lagerfeuer und wurde von einem schrecklichen Gefühl der Verlassenheit gequält. Er wartete darauf, dass sich etwas ereignete. Aber es geschah nichts,
und nach einiger Zeit begriff er, dass er sein Leben nun selbst in die Hand nehmen mußte.
In Stafford beschloss er, wieder zu arbeiten. Die Stute stellte die Ohren auf und tänzelte, als er die Trommel schlug und die Ankunft auf dem Stadtplatz bekanntmachte.
Es war, als hätte er immer allein gearbeitet. Die Leute, die herbeiströmten, wussten nicht, dass bisher ein älterer Mann das Zeichen gegeben hatte, mit dem Jonglieren zu beginnen und aufzuhören, und die besten Geschichten hatte erzählen können. Sie standen herum, hörten zu, lachten, sahen staunend, wie Rob Gesichter zeichnete, kauften sein Spezificum und warteten in der Schlange, um hinter dem Wandschirm behandelt zu werden. Als Rob die Hände seiner Patienten ergriff, entdeckte er, dass die Gabe wieder vorhanden war. Ein stämmiger Schmied, der aussah, als könne er Bäume ausreißen, trug eine Krankheit in sich, die an seinem Leben zehrte; er würde nicht mehr lang leben. Ein mageres Mädchen dagegen, dessen schwächliches Aussehen eine schwere Krankheit vermuten ließ, besaß eine Fülle an Kraft und Lebenswillen, die Rob mit Freude erfüllten. Er verließ Stafford am Nachmittag, hielt bei einem Bauernhaus, um Speck zu kaufen, und sah die Stallkatze mit einem Wurf von Kätzchen. »Sucht Euch eines aus«, forderte ihn der Bauer hoffnungsvoll auf. »Ich muss die meisten ertränken, denn sie brauchen zuviel Futter.« Rob spielte mit den Kätzchen, indem er ein Stück Schnur vor ihrer Nase hin und her baumeln ließ, und sie waren alle entzückend bis auf ein selbstbewusstes weißes Kätzchen, das sich stolz und überlegen verhielt.
»Du willst wohl nicht mit mir kommen, was?« Das Kätzchen blieb gelassen und anmutig, aber als er es hochheben wollte, zerkratzte es ihm die Hand.
»Das da nehme ich«, entschied er und bedankte sich beim Bauern. Am nächsten Morgen kochte er sich ein Frühstück, die Katze fütterte er mit in Milch getunktem Brot. Als er in ihre grünlichen Augen schaute, erkannte er darin die typische Katzenschläue, und er lächelte. »Ich werde dich Mistress Buffington nennen«, erklärte er ihr. Vielleicht hatte das Füttern den Zauberbann gebrochen. Nach wenigen Stunden lag sie schnurrend in seinem Schoß, als er auf dem Kutschbock saß.
Arn späten Vormittag setzte er die Katze neben sich auf die Bank. Sie kamen nach Tettenhall, und während er um die Straßenbiegung fuhr, sah er einen Mann sich über eine Frau beugen, die auf der Straße lag.
»Was fehlt ihr?« rief er und hielt das Pferd an. Sie atmete heftig, ihr Gesicht war vor Anstrengung gerötet, und sie hatte einen riesigen Bauch.
»Es ist soweit«, erklärte der Mann.
In dem Obstgarten hinter ihm stand ein halbes Dutzend Körbe voll Äpfel. Der Mann trug nur Lumpen am Leib und schien nicht viel zu besitzen. Rob nahm an, dass er ein Kleinbauer war, der auf einem Gut für den Grundbesitzer arbeitete und dafür ein kleines Lehen erhalten hatte, das er für seine Familie bewirtschaften konnte.
»Wir waren mitten in der Apfelernte, als die Wehen einsetzten. Sie wollte nach Hause gehen, hat es aber nicht geschafft. Es gibt keine Hebamme im Ort, denn die unsere ist im Frühjahr gestorben. Ich habe einen Jungen nach dem Medicus geschickt, als es deutlich wurde, dass es ihr schlecht geht.«
»Also dann«, sagte Rob und ergriff die Zügel. Er wollte weiterfahren, denn es handelte sich hier um genau jenen Fall, vor dem ihn der Bader gewarnt hatte und den er vermeiden sollte: Wenn er der Frau helfen konnte, würde er nur eine geringe Bezahlung erhalten, wenn er aber versagte, würde man ihm vielleicht die Schuld an den Folgen geben.
»Es dauert schon viel zu lang«, sagte der Mann verbittert, »und der Medicus kommt noch immer nicht. Es ist ein jüdischer Arzt.«
Noch während der Mann sprach, verdrehte die Frau die Augen und verfiel in Krämpfe.
Nach des Baders Erzählungen über jüdische Ärzte hielt Rob es für wahrscheinlich, dass der Geburtshelfer überhaupt nicht kam. Der stumme Jammer in den Augen des Kleinbauern rührte ihn und weckte Erinnerungen, die er gern vergessen hätte.
Seufzend kletterte er vom Wagen. Er kniete neben der schmutzigen, erschöpften Frau nieder und ergriff die Hände. »Wann hat sie zum letztenmal gespürt, dass sich das Kind in ihrem Leib regt?«
»Das ist Wochen her. Seit vierzehn Tagen fühlt sie sich unwohl, als wäre sie vergiftet.« Sie habe vorher schon vier Schwangerschaften gehabt, daheim warteten zwei Jungen, aber die letzten beiden Kinder seien Totgeburten gewesen.
Rob spürte, dass auch dieses Kind tot war. Er legte die Hand leicht auf den aufgetriebenen Bauch und wünschte sich sehnlich, weit weg zu sein. Aber er sah im Geist Mas kalkweißes Gesicht vor sich, wie sie auf dem Stallboden voller Mist gelegen hatte, und er wusste, dass die Frau sterben würde, wenn er nicht handelte.
Im Durcheinander der Instrumente des Baders fand er ein metallenes Spekulum, doch er verwendete es nicht zum Spiegeln. Als der Krampf abklang, spreizte er die Beine der Frau und erweiterte den Gebärmutterhals mit dem Instrument, wie es ihm der Bader erklärt hatte. Der Klumpen in ihr glitt leicht heraus, es war ein Stück verwesten Fleisches, kein Baby. Er merkte kaum, dass der Mann den Atem scharf einsog und wegging.
Robs Hände arbeiteten selbständig, ohne dass sein Kopf ihm Anweisungen gab. Er brachte die Nachgeburt heraus, säuberte die Frau und wusch sie. Als er aufblickte, sah er zu seiner Überraschung, dass der Medicus inzwischen angelangt war.
»Ihr werdet übernehmen wollen«, sagte er und war sehr erleichtert, denn die Blutung kam nicht zum Stillstand.
»Es hat keine Eile«, winkte der Medicus ab. Aber er horchte endlos lang die Atmung der Frau ab und untersuchte sie so langsam und gründlich, dass sein mangelndes Vertrauen in Robs Künste deutlich zu erkennen war.
Schließlich schien der Jude zufrieden zu sein. »Legt Eure Handfläche auf ihren Bauch und reibt kräftig, so.«
Rob massierte verwundert den leeren Bauch. Endlich spürte er durch die Bauchdecke, wie der große, gedehnte Uterus sich zu einer kleinen harten Kugel zusammenzog, und die Blutung hörte auf. »Ein Zauber, der eines Merlin würdig ist, und ein Kunstgriff, den ich mir merken werde«, sagte er.
»Es gibt keinen Zauber bei unserer Arbeit«, stellte der Medicus fest. »Ihr kennt meinen Namen?«
»Wir haben einander vor ein paar Jahren getroffen. In Leicester.« Benjamin Merlin betrachtete den bunten Wagen, dann lächelte er. »Ihr wart damals noch ein Junge, der Lehrling. Der Bader war ein dicker Mann, der farbige Bänder aus seinem Mund hervorzauberte.«
»Ja.«
Rob erzählte nicht, dass der Bader tot war, und Merlin fragte nicht nach ihm. Sie blickten einander abwägend an. Das scharf geschnittene Gesicht des Juden war noch immer von dichtem, weißem Haar und einem weißen Bart umrahmt, aber er war nicht mehr so mager wie früher.
»Der Schreiber, mit dem Ihr damals in Leicester gesprochen habt. Habt Ihr ihm den Star gestochen?«
»Schreiber?« Merlin schien verwundert, dann erinnerte er sich. »Ja! Es war Edgar Thorpe aus dem Dorf Lucteburne in Leicestershire. Ich habe ihn operiert und den grauen Star aus beiden Augen entfernt.« »Und heute?
Ist er gesund?«
Merlin lächelte bedauernd. »Man kann Master Thorpe leider nicht als gesund bezeichnen, denn er wird alt und hat daher verschiedene Leiden und Beschwerden. Aber er sieht auf beiden Augen.« Rob hatte den verwesten Fötus in ein Tuch gewickelt. Merlin wickelte ihn aus und betrachtete ihn, dann besprengte er ihn mit Wasser aus einer Flasche. »Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, sagte der Jude rasch, dann schlug er den kleinen Körper wieder in das Tuch und trug ihn zu dem Kleinbauern. »Das Kind wurde getauft, wie es sich gehört«, erklärte er, »und sicher wird sich ihm das Tor zum himmlischen Königreich öffnen.
Ihr müßt es Vater Stigand oder dem anderen Priester in der Kirche melden.« Der Ehemann zog eine schmutzige Börse heraus, in den stummen Jammer auf seinem Gesicht mischte sich Besorgnis. »Was habe ich zu bezahlen, Master Medicus?«
»Was Ihr könnt«, antwortete Merlin, und der Mann entnahm seiner Börse einen Penny und reichte ihn ihm.
»War es ein Knabe?«
»Das weiß man nicht genau«, antwortete der Medicus freundlich. Er steckte die Münze in die große Tasche seines Kittels und suchte, bis er einen halben Penny fand, den er Rob gab. Sie mussten dem Kleinbauern helfen, die Frau heimzutragen, eine harte Arbeit für einen halben Penny.
Als sie endlich fertig waren, gingen sie zu einem nahen Bach, um sich das Blut abzuwaschen.
»Habt Ihr schon ähnliche Entbindungen durchgeführt?« »Nein.« »Wieso wußtet Ihr dann, wie Ihr vorzugehen habt?«
Rob zuckte die Schultern. »Man hat es mir beschrieben.« »Angeblich werden manche Menschen als Heiler geboren. Die Auserwählten.« Der Jude lächelte ihn an. »Natürlich haben manche einfach Glück.«
Der prüfende Blick des Mannes beunruhigte Rob. »Wenn die Mutter
tot und das Kind am Leben gewesen wäre...«, wagte er zu fragen.
»Kaiserschnitt.«
Rob starrte ihn an.
»Ihr wißt nicht, wovon ich spreche?«
»Nein.«
»Man muss den Bauch und die Gebärmutter aufschneiden und das
Kind herausnehmen.« »Den Leib der Mutter öffnen?« »Ja.«
»Das habt Ihr getan?«
»Mehrmals. Als ich zum Arzt ausgebildet wurde, sah ich einen meiner Lehrer den Bauch einer lebenden Frau öffnen, um ihr Kind herauszuholen.«
Lügner! dachte Rob und schämte sich, weil er so aufmerksam zugehört hatte. Ihm fiel ein, was der Bader über diesen Mann und seinesgleichen gesagt hatte. »Und was geschah?«
»Sie starb, aber sie hätte auf keinen Fall überlebt. Ich bin dagegen, lebende Frauen aufzuschneiden, aber ich habe von Männern gehört, die es getan haben, und Mutter und Kind haben überlebt.« Rob wandte sich ab, bevor dieser mit französischem Akzent sprechende Mann ihn auslachen konnte, weil er so gutgläubig war. Doch er hatte keine zwei Schritte getan, als er kehrtmachte. »Wo schneidet man?«
Der Jude zeichnete einen Körperrumpf in den Straßenstaub und markierte zwei Schnitte, einen langen, geraden auf der linken Körperhälfte und einen quer auf der Leibesmitte. »So und so«, antwortete er und warf den Stock weg. Rob nickte und ging fort; er war unfähig, ihm zu danken.
Er verließ Tettenhall sofort, aber irgend etwas passierte mit ihm. Sein Vorrat an Universal-Spezificum ging zur Neige, und am nächsten Tag kaufte er bei einem Bauern ein Fässchen Metheglin und unterbrach seine Fahrt, um einen neuen Vorrat an Flaschen zu mischen, die er noch am selben Nachmittag in Ludlow zu verkaufen begann.
Das Spezificum verkaufte sich so gut wie immer, abererwarm Gedanken versunken und hatte ein wenig Angst.
Ein menschliches Leben in der hohlen Hand zu halten wie einen Kieselstein. Zu fühlen, wie es entglitt, es aber dank eigener Kenntnis zurückzubringen! Nicht einmal ein König besaß solche Macht. Auserwählt! Konnte er mehr lernen? Wieviel konnte man überhaupt lernen? Wie muss es sein, fragte er sich, wenn man sich das gesamte Wissen aneignet, das gelehrt werden konnte? Zum erstenmal empfand er den Wunsch, Arzt zu werden.
Wirklich fähig zu sein, dem Tod entgegenzutreten. In ihm gärten neue, beunruhigende Gedanken, die ihn manchmal in Begeisterung versetzten und dann wieder Seelenängste auslösten. Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg nach Worcester, der nächsten Stadt im Süden entlang dem Severn. Er erinnerte sich später nicht an den Fluss oder die Straße, er wusste auch nicht, dass er die Stute gelenkt hatte. Als er in Worcester ankam, staunten die Städter über den roten Wagen. Er fuhr auf den Hauptplatz, umkreiste ihn einmal, ohne anzuhalten, und fuhr dann zur Stadt hinaus und zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
Das Dorf Lucteburne in Leicestershire war zu klein für ein eigenes Wirtshaus, aber als er bei einer Wiese anhielt, auf der vier Männer mit Sensen mähten, unterbrach der Schnitter in dem Streifen neben der Straße seine regelmäßigen Schwünge und erklärte ihm, wie er zu Edgar Thorpes Haus gelangen konnte.
Rob traf den alten Mann in seinem kleinen Garten an, wo er auf Händen und Knien Lauch erntete. Er erkannte sofort mit einem seltsam erregenden Gefühl, dass Thorpe sehen konnte. Aber er litt an schwerem Rheuma, und obwohl Rob ihm half, sich unter Stöhnen und Schmer-zenslauten zu erheben, dauerte es doch einige Zeit, bis sie in Ruhe miteinander sprechen konnten.
Rob brachte mehrere Flaschen Spezificum vom Wagen und öffnete eine, was seinem Gastgeber sehr gefiel.
»Ich bin gekommen, um Euch über die Operation zu befragen, die Euch das Augenlicht wiedergegeben hat, Master Thorpe.« »Wirklich? Und wieso interessiert Euch das?«
Rob zögerte. »Ich habe einen Verwandten, der den gleichen Eingriff braucht, und ich erkundige mich für ihn.«
Thorpe nahm einen Schluck Spezificum und seufzte. »Ich hoffe, dass er ein starker und sehr mutiger Mann ist«, schickte er voraus. »Ich wurde an Händen und Füßen auf einen Stuhl gefesselt. Straffe Riemen schnitten mir in den Kopf und hielten ihn an der hohen Rückenlehne fest. Man hatte mir viel zu trinken gegeben, und ich war halb bewußtlos, doch dann wurden kleine Haken an der Innenseite meiner Augenlider befestigt und hochgezogen, so dass ich nicht blinzeln konnte.« Er schloss schaudernd die Augen. Er musste die Operation offensichtlich schon oft schildern, denn er hatte sich die Einzelheiten fest eingeprägt und erzählte sie fließend, aber Rob fand sie deshalb nicht weniger faszinierend.
»Mein Leiden war solcher Art, dass ich nur verschwommen sehen konnte, was sich unmittelbar vor meinen Augen befand. Da kam Master Merlins Hand in mein Gesichtsfeld. Sie hielt eine Klinge, die größer wurde, je näher sie mir kam, bis sie in mein Auge schnitt. Oh, der Schmerz machte mich sofort nüchtern! Ich war davon überzeugt, dass er mein ganzes Auge herausgeschnitten hatte, statt nur die Trübung zu entfernen, und ich schrie ihn an, beschwor ihn, mir nicht mehr Schaden zuzufügen. Als er unbeirrt'weiterarbeitete, schleuderte ich ihm Flüche an den Kopf und schrie, dass ich nun endlich verstehe, wie sein verfluchtes Volk unseren gütigen Herrn hat töten können. Als er in das zweite Auge schnitt, war der Schmerz so groß, dass ich das Bewusstsein verlor.
Ich erwachte im Dunkel mit verbundenen Augen und litt fast zwei Wochen lang schrecklich. Aber schließlich konnte ich sehen, was mir ja seit langer Zeit nicht mehr möglich gewesen war. Die Besserung meiner Sehkraft war so groß, dass ich zwei volle Jahre als Schreiber arbeitete, bevor mein Rheuma es angebracht erscheinen ließ, meine Tätigkeit einzuschränken.«
Es ist also wahr! dachte Rob verwirrt. Dann entsprachen wohl auch die anderen Dinge, die Benjamin Merlin ihm erzählt hatte, der Wahrheit.
»Master Merlin ist der tüchtigste Medicus, den ich je gesehen habe«, sagte Edgar Thorpe. »Allerdings«, fügte er ärgerlich hinzu, »scheint auch ein so ausgezeichneter Medicus auf unüberwindbare Schwierigkeiten zu stoßen, wenn er meine Knochen und Gelenke von diesen großen Beschwerden befreien will.«
Er kehrte nach Tettenhall zurück, schlug sein Lager in einem kleinen Tal auf und hielt sich drei Tage lang in der Nähe der Stadt auf wie ein liebeskranker Bauerntölpel, dem es an Mut fehlt, eine Frau aufzusuchen, der sich aber auch nicht dazu entschließen kann, sie in Frieden zu lassen. Der erste Bauer, bei dem er Vorräte kaufte, beschrieb ihm, wo Benjamin Merlin wohnte, und er lenkte die Stute mehrmals langsam an der Stelle vorbei, einem niedrigen Bauernhaus mit gut instand gehaltenem Schuppen und Nebengebäuden, einem Feld, einem Obstgarten und einem Weinberg. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein Arzt lebte. Am Nachmittg des dritten Tages begegnete er, meilenweit von Merlins Haus entfernt, dem Medicus auf der Straße. »Wie geht's Euch, junger Bader?«
Rob antwortete, es gehe ihm gut, und erkundigte sich nach der Gesundheit des Arztes. Sie sprachen vorerst einmal vom Wetter, dann nickte Merlin verabschiedend. »Ich kann mich nicht länger aufhalten, denn ich muss noch einige Kranke besuchen, bevor mein Tagewerk beendet ist.«
»Darf ich Euch begleiten und zusehen?« quetschte Rob hervor. Der Medicus zögerte. Er schien über das Ansinnen nicht erfreut zu sein. Aber er nickte, wenn auch etwas widerwillig. »Achtet aber darauf, mich dabei nicht zu stören!«
Der erste Patient wohnte nicht weit von der Stelle, an der sie einander kennengelernt hatten, in einem kleinen Haus bei einem Gänseteich. Es war Edwin Griffith, ein alter Mann mit einem hohlen Husten, und Rob erkannte sofort, dass er an einer fortgeschrittenen Brustkrankheit litt und bald sterben würde.
»Wie geht es Euch heute, Master Griffith?« fragte Merlin. Ein Hustenanfall erschütterte den alten Mann, dann keuchte er und seufzte. »Mein Zustand hat sich nicht verändert, und ich will mich nicht beklagen, nur dass ich heute nicht imstande war, meine Gänse zu füttern.«
Merlin lächelte. »Unser junger Freund könnte sich vielleicht darum kümmern«, schlug er vor, und Rob blieb nichts übrig, als zuzustimmen. Der alte Griffith erklärte ihm, wo das Futter aufbewahrt wurde, und bald eilte Rob mit einem Sack zum Teich. Er ärgerte sich, denn dieser Krankenbesuch brachte ihn nicht weiter, da Merlin bei einem Sterbenden sicherlich nicht allzu viel Zeit verbringen würde. Er näherte sich den Gänsen vorsichtig, denn er wusste, wie bösartig sie sein konnten, aber sie waren hungrig und liefen zielstrebig mit lautem Geschnatter auf das Futter zu, so dass er sich rasch zurückziehen konnte.
Als Rob das Häuschen wieder betrat, sprach Merlin zu seiner Überraschung noch immer mit Edwin Griffith. Rob hatte noch nie einen Medicus gesehen, der so bedächtig arbeitete. Merlin stellte endlos Fragen über die Lebensgewohnheiten und die Ernährung des Mannes, über seine Kindheit, über seine Eltern und seine Großeltern, und woran sie gestorben waren. Er fühlte ihm den Puls am Handgelenk und auch an der Halsschlagader, und er legte ihm das Ohr an die Brust und horchte. Rob hielt sich im Hintergrund und beobachtete ihn aufmerksam. Als sie fortgingen, dankte der alte Mann Rob, weil er die Gänse gefüttert hatte.
Der Tag war offenbar der Pflege der Todkranken gewidmet, denn Merlin führte ihn zwei Meilen weiter zu einem Haus neben dem Hauptplatz, in dem die Frau des Vogtes unter großen Schmerzen dahinsiechte.
»Wie geht es Euch, Mary Sweyn?«
Sie antwortete nicht, sondern blickte ihn ruhig an. Das war Antwort genug, und Merlin nickte. Er setzte sich, ergriff ihre Hand und sprach leise auf sie ein. Wie er es schon bei dem alten Mann getan hatte, widmete er auch ihr sehr viel Zeit.
»Ihr könnt mir helfen, Mistress Sweyn umzudrehen«, forderte er Rob auf. »Vorsichtig. Vorsichtig jetzt.« Als Merlin ihr Nachthemd hochschob, um ihren skelettartigen Körper zu waschen, bemerkten sie an ihrer ausgemergelten linken Seite ein eiterndes Geschwür. Der Arzt öffnete es sofort mit einer Lanzette, um ihr Erleichterung zu verschaffen, und Rob sah zu seiner Befriedigung, dass er dabei genauso vorging, wie er es selbst getan hätte. Als sie gingen, ließ Merlin eine Flasche mit einem schmerzstillenden Absud zurück.
»Ich habe noch einen Besuch abzustatten«, sagte Merlin, als sie Mary Jweyns Haus verließen. »Der Kranke heißt Tancred Osbern, und sein Sohn hat mir heute morgen die Nachricht überbracht, dass er sich verletzt hat.«
Merlin band sein Pferd mit den Zügeln am Wagen fest und setzte sich neben Rob auf den Kutschbock, um ihm Gesellschaft zu leisten. »Wie geht es den Augen Eures Verwandten?« erkundigte sich der Arzt freundlich.
Ich hätte mir denken können, dass Edgar Thorpe meine Erkundigungen erwähnen wird, überlegte Rob, der spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. »Ich wollte Thorpe nicht hinters Licht führen. Ich wollte mich nur selbst von dem Ergebnis Eurer Operation überzeugen«, sagte er. »Und ich hielt dies für die einfachste Erklärung.« Merlin nickte lächelnd. Während sie weiterfuhren, erklärte er Rob den chirurgischen Eingriff, den er vorgenommen hatte, um Thorpes grauen Star zu stechen. »Ich würde niemandem raten, diese Operation auf eigene Faust durchzuführen«, sagte er scharf, und Rob nickte, denn er hatte bestimmt nicht die Absicht, die Augen eines Menschen zu operieren.
Wenn sie an eine Kreuzung kamen, gab Merlin den Weg an, bis sie endlich bei einem wohlbestallten Bauernhof anlangten. Er bot ein Bild der Ordnung, das nur durch ständige Pflege erreicht wird. Im Haus fanden sie den kräftigen, muskulösen Bauern vor, der auf einem Strohsack, der ihm als Bett diente, lag und stöhnte. »Ach, Tancred, was ist Euch diesmal geschehen?« fragte Merlin. »Hab' mir das verdammte Bein verletzt.«
Merlin schlug die Decke zurück und zog die Stirn in Falten, denn das rechte Bein war am Oberschenkel verdreht und geschwollen. »Ihr müßt schreckliche Schmerzen leiden. Dennoch habt Ihr dem Jungen aufgetragen zu sagen, ich solle kommen, >wann immer ich Zeit finde<. Das nächste Mal dürft Ihr nicht so blödsinnig tapfer sein, damit ich sofort komme.«
Der Mann schloss die Augen und nickte. »Wie ist es geschehen und wann?«
»Gestern mittag. Ich stürzte von dem verdammten Dach, während ich das Schilf ausbesserte.« »Ihr werdet jetzt eine Zeitlang das Schilf nicht ausbessern können.«
Merlin blickte Rob an. »Ich werde Hilfe brauchen. Sucht eine Schiene, die etwas länger ist als sein Bein.«
»Er soll dabei keine Häuser oder Zäune einreißen«, knurrte Osbern. Rob machte sich auf die Suche. In der Scheune lagen ein Dutzend Buchen- und Eichenstämme sowie ein Stück Kiefer, das zu einer Latte geschnitten worden war. Sie war zu breit, aber das Holz war weich, und Rob brauchte nicht lange, um es mit dem Werkzeug des Bauern der Länge nach zu spalten.
Osbern blickte finster, als er die Schiene erkannte, sagte aber nichts. Merlin seufzte. »Er hat Schenkel wie ein Bulle. Uns steht Arbeit bevor, Cole.« Er ergriff das verletzte Bein am Knöchel und an der Wade und versuchte einen gleichmäßigen Druck auszuüben, während er gleichzeitig das verdrehte Glied wendete und gerade bog. Es knackte leise, als würden getrocknete Blätter zerdrückt, und Osbern stieß ein lautes Gebrüll aus.
»Es hat keinen Sinn«, stellte Merlin fest. »Seine Muskeln sind gewaltig. Sie haben sich verkrampft, um das Bein zu schützen, und ich besitze nicht genug Kraft, um ihrer Herr zu werden und den Bruch einzurichten.«
»Laßt mich es versuchen!« bat Rob.
Merlin nickte, doch zuerst gab er dem Bauern, der zitternd und infolge des qualvollen Schmerzes schluchzte, einen vollen Becher Schnaps.
»Gib mir noch einen!« keuchte Osbern.
Als er den zweiten Becher geleert hatte, ergriff Rob das Bein, wie es Merlin getan hatte. Er vermied sorgfältig einen plötzlichen Ruck, übte gleichmäßigen Druck aus, und Osberns tiefe Stimme stieg zu einem schrillen, langen Schrei an.
Merlin hatte den großen Mann unter den Armen gepackt und zog in die andere Richtung, sein Gesicht war verzerrt, und seine Augen quollen vor Anstrengung hervor.
»Wir kriegen es hin«, rief Rob, damit Merlin ihn trotz der Schmer-zensschreie hören konnte. »Es bewegt sich!«
Noch während er sprach, kratzten die Enden des gebrochenen Knochens übereinander und rasteten ein.
Der Mann im Bett war plötzlich still. Rob sah nach, ob er ohnmächtig geworden war, aber Osbern lag mit tränenüberströmtern Gesicht schlaff, doch bei vollem Bewusstsein vor ihm.
»Behaltet den Zug auf das Bein bei!« drängte Merlin. Er fertigte aus Stoffetzen eine Schlinge an und befestigte sie um Osberns Fuß und Knöchel. Nun knüpfte er das Ende eines weiteren Fetzens an die Schlinge und das andere Ende straff an den Türgriff. An dem gestreckten Bein brachte er dann die Schiene an. »Jetzt könnt Ihr ihn loslassen«, sagte er zu Rob.
Zur Sicherheit banden sie das gesunde Bein an das geschiente. Innerhalb von Minuten hatten sie den eingeschnürten, erschöpften Patienten beruhigt. Sie hinterließen seiner blassen Frau Anweisungen und verabschiedeten sich von seinem Bruder, der sich um den Hof kümmern wollte.
Draußen blieben sie stehen und sahen einander an. Ihre Hemden waren vollkommen durchgeschwitzt, und ihre Gesichter waren genauso naß wie Osberns tränenüberströmte Wangen. Der Arzt lächelte und schlug Rob auf die Schulter. »Ihr müßt jetzt mit mir nach Hause kommen und mit uns zu Abend essen«, sagte er.
»Meine Deborah«, stellte Benjamin Merlin seine Frau vor. Sie war rundlich, hatte eine Figur wie eine Taube, eine spitze, kleine Nase und sehr rote Wangen. Die Frau des Medicus war blaß geworden, als sie Rob sah, und verbeugte sich bei der Vorstellung steif. Merlin trug eine Schüssel Brunnenwasser in den Hof, damit Rob sich erfrischen konnte. Während er sich wusch, hörte er, wie die Frau im Haus ihren Mann in einer Sprache zur Rede stellte, die er noch nie gehört hatte.
Der Arzt verzog das Gesicht, als er herauskam, um sich zu waschen. »Ihr müßt ihr verzeihen. Sie hat Angst. Das Gesetz besagt, dass wir während der heiligen Feste keine Christen im Haus haben dürfen. Es handelt sich aber kaum um ein heiliges Fest. Es ist ein einfaches Abendessen.« Er blickte Rob ruhig an, während er sich abtrocknete. »Aber ich kann Euch, wenn Ihr nicht am Tisch sitzen wollt, das Essen herausbringen.«
»Ich bin dankbar, wenn ich mich zu Euch setzen darf, Meister Medicus.«
Merlin nickte.
Ein merkwürdiges Abendessen. Die Eltern und vier kleine Kinder, drei davon Söhne, saßen am Tisch. Das kleine Mädchen hieß Lea, und ihre Brüder waren Jonathan, Ruel und Zacharias. Die Jungen und ihr Vater trugen bei Tisch Käppchen. Als die Frau einen heißen Laib Brot hereinbrachte, nickte Merlin Zacharias zu, der ein Stück abbrach und in jener gutturalen Sprache zu reden begann, die Rob zuvor gehört hatte.
Sein Vater unterbrach ihn. »Heute wird die brache aus Höflichkeit unserem Gast gegenüber auf englisch gesprochen.«
»Sei gesegnet, o Herr, unser Gott, König der Welt«, begann der Junge sanft, »der das Brot aus der Erde hervorbringt.« Er reichte den Laib Rob, dem das Brot schmeckte und der ihn den anderen weitergab.
Merlin schenkte aus einer Karaffe roten Wein ein. Rob hob wie die anderen seinen Becher, als der Vater Ruel zunickte.
»Sei gesegnet, o Herr, unser Gott, König der Welt. Der Du die Frucht des Weines erschaffst.«
Die Mahlzeit bestand aus einer mit Milch gekochten Fischsuppe; sie schmeckte nicht so wie beim Bader, war aber heiß und schmackhaft.
Danach aßen sie Äpfel aus dem Obstgarten des Juden. Der jüngste Sohn, Jonathan, erzählte seinem Vater sehr empört, dass Kaninchen ihren Kohl fraßen.
»Dann müßt eben ihr die Kaninchen essen«, meinte Rob. »Ihr müsst ihnen Fallen stellen, damit eure Mutter ein wohlschmeckendes Stew bereiten kann.«
Eine merkwürdige, kurze Stille folgte, dann lächelte Merlin. »Wir essen weder Kaninchen noch Hasen, denn sie sind nicht koscher.«
Merlins Frau wirkte besorgt, als befürchte sie, dass er ihre Bräuche nicht verstehen oder nicht billigen würde.
»Es handelt sich um uralte Speisegesetze.« Merlin erklärte, dass Juden Tiere, die ihr Futter nicht wiederkäuen und nicht gespaltene Hufe haben, nicht essen dürfen. Sie können auch Fleisch nicht zusammen mit Milch essen, denn die Bibel lehrt, dass ein Lamm nicht in der Milch seiner Mutter gekocht werden darf. Und sie dürfen kein Blut trinken und kein Fleisch essen, das nicht gründlich ausgeblutet und gesalzen worden ist.
Rob erschauerte, und er sagte sich, dass Mistress Merlin recht gehabt hatte: Er konnte die Juden nicht verstehen.
Juden waren wirklich
Heiden! Sein Magen verkrampfte sich, während der Medicus Gott für das blut- und fleischlose Essen der Familie dankte.
Trotzdem fragte Rob, ob er diese Nacht in ihrem Obstgarten lagern dürfe. Benjamin Merlin bestand jedoch darauf, dass er in einem gedeckten Raum schlief: in der an das Haus angebauten Scheune. Nun lag Rob auf duftendem Stroh und lauschte durch die dünne Wand der scharfen Stimme der Frau. Er lächelte in der Dunkelheit, denn er wusste trotz der unverständlichen Sprache, worum es ging. Du kennst den jungen Rohling nicht und bringst ihn dennoch hierher. Siehst du nicht die verbogene Nase, das zerschlagene Gesicht und die teuren Waffen eines Verbrechers? Er wird uns im Bett ermorden! Dann kam Merlin mit einer großen Flasche und zwei Holzbechern in die Scheune. Er reichte Rob einen Becher und seufzte. »Sie ist sonst eine wunderbare Frau.« Er schenkte ein. »Das Leben hier ist schwer für sie, denn sie fühlt sich von vielen, die ihr teuer sind, abgeschnitten.«
Es war ein gutes, starkes Getränk. »Aus welchem Teil von Frankreich stammt Ihr?«
»Wie dieser Wein, den wir trinken, kommen meine Frau und ich aus dem Dorf Falaise, wo unsere Familien unter dem gütigen Schutz von Robert aus der Normandie leben. Mein Vater und zwei Brüder sind Weinhändler und liefern nach England.« Vor sieben Jahren, erzählte Merlin, sei er nach Falaise zurückgekehrt, nachdem er in Persien auf einer Akademie für Ärzte studiert hatte.
»In Persien?« Rob hatte keine Ahnung, wo sich Persien befand, aber er wusste, dass es weit weg war. »In welcher Richtung liegt Persien?« Merlin lächelte. »Es liegt im Osten. Weit im Osten.« »Und wie kamt Ihr nach England?«
Nachdem er als frischgebackener Arzt in die Normandie zurückgekehrt war, stellte Merlin fest, dass es innerhalb der Schutzherrschaft von Herzog Robert zu viele Ärzte gab. Außerhalb der Normandie gab es unaufhörlich Kämpfe, und die wechselnden Gefahren von Krieg und Politik, Herzog gegen Graf, Adelige gegen den König.
»In meiner Jugend war ich mit meinem Vater, dem Weinhändler, zweimal in London gewesen. Ich erinnerte mich an die Schönheiten der englischen Landschaft, und in ganz Europa war König Knuts Beständigkeit bekannt. Also beschloss ich, diese grüne, friedliche Insel aufzusuchen.«
»Und hat sich Tettenhall als gute Wahl erwiesen?« Merlin nickte. »Aber es gibt Schwierigkeiten. Ohne die Menschen unseres Glaubens können wir nicht ordentlich zu Gott beten, und es ist schwierig, die Speisegesetze einzuhalten. Wir sprechen zwar mit unseren Kindern in unserer Sprache, aber sie denken in der Sprache Englands, und trotz unserer Bemühungen kennen sie viele Bräuche ihres Volkes nicht. Ich versuche ständig, andere Juden aus Frankreich hierher zu locken.«
Er wollte wieder einschenken, doch Rob bedeckte seinen Becher mit der Hand. »Ich vertrage nicht viel und brauche einen klaren Kopf.« »Warum habt Ihr mich aufgesucht, junger Bader?« »Erzählt mir von der Schule in Persien!«
»Sie befindet sich in der Stadt Isfahan, im westlichen Teil des Landes.« »Warum seid Ihr so weit gereist?«
»Wohin denn sollte ich reisen? Meine Familie wollte mich nicht zu einem Medicus in die Lehre geben, denn es arbeiten - auch wenn mich das Eingeständnis schmerzt - in ganz Europa beinahe nur jämmerliche Schmarotzer und Spitzbuben in meinem Beruf. Es gibt ein großes Krankenhaus in Paris, das Hotel Dieu, doch dies ist nur ein Pesthaus für die Armen, in das schreiende Menschen geschleppt werden, um dort zu sterben. Dann gibt es eine medizinische Schule in Salerno; eine traurige Stätte! Durch andere jüdische Kaufleute wusste mein Vater, dass in den Ländern des Ostens die Araber aus der Wissenschaft der Medizin eine Kunst gemacht haben. Die Mohammedaner besitzen in Isfahan ein Krankenhaus, das wirklich ein Heilzentrum ist. In diesem Krankenhaus und in einer kleinen Akademie bildet Avicenna Ärzte aus.« »Wer?«
»Avicenna, der hervorragendste Arzt der Welt, dessen arabischer Name Abu Ali al-Hussein Ihn Abdullah Ibn Sina lautet.« Rob ließ Merlin den fremden, wohlklingenden Namen wiederholen, bis er ihn sich gemerkt hatte.
»Ist es schwer, nach Persien zu kommen?«
»Eine gefährliche, mehrere Jahre währende Reise. Zuerst zur See, dann zu Land über schreckliche Berge und durch ausgedehnte Wüsten.«
Merlin blickte seinen Gast scharf an. »Ihr müßt Euch die persischen Akademien aus dem Kopf schlagen. Wieviel wißt Ihr von Eurem eigenen Glauben, junger Bader? Seid Ihr mit den Problemen Eures gesalbten Papstes vertraut?«
Rob zuckte mit den Achseln. »Johannes XIX.?« Eigentlich wusste Rob außer dem Namen des Papstes und der Tatsache, dass er das Oberhaupt der heiligen Kirche war, nichts.
»Johannes XIX. Er ist ein Papst, der mit gespreizten Beinen auf zwei riesigen Kirchen steht, statt auf einer; ein Mann, der versucht, auf zwei Pferden gleichzeitig zu reiten. Die westliche Kirche ist ihm immer unverbrüchlich treu, aber in der Kirche des Ostens herrscht ständig unzufriedenes Murren. Vor zweihundert Jahren rebellierte Photius, der Patriarch der Ostkatholiken in Konstantinopel, und seither hat die Tendenz zu einem Schisma in der Kirche zugenommen. Ihr habt vielleicht im Umgang mit Priestern beobachtet, dass sie Ärzten, Chirurgen und Badern mißtrauisch und ablehnend gegenüberstehen, weil sie glauben, dass sie durch das Gebet die rechtmäßigen Hüter des Körpers und der Seele der Menschen sind.« Rob brummte.
»Die Abneigung der englischen Priester gegenüber Heilkundigen ist jedoch nichts im Vergleich zu dem Haß, den ostkatholische Priester auf die arabischen Ärzteschulen und andere mohammedanische Akademien haben.
Die Ostkirche, die mit den Mohammedanern Grenze an Grenze lebt, führt einen unaufhörlichen erbitterten Krieg gegen den Islam, um Menschen für die Gnade des einzigen wahren Glaubens zu gewinnen. Sie empfindet die arabischen Zentren der Gelehrsamkeit als Verführung zum Heidentum und als ernste Bedrohung. Vor fünfzehn Jahren erklärte Sergius II., der damalige Patriarch der Ostkirche, dass jeder Christ, der eine mohammedanische Schule östlich von seinem Patriarchat besucht, ein Frevler und Glaubensbrüchiger sei und heidnische Praktiken befolge. Er setzte den Heiligen Vater in Rom unter Druck, damit sich dieser seiner Erklärung anschloß. Benedikt VIII. hatte erst kurz zuvor den Stuhl des heiligen Petrus eingenommen und befürchtete, der Papst zu werden, unter dem die Spaltung der Kirche erfolgen würde. Um die unzufriedenen Elemente im Osten zu beruhigen, gewährte er Sergius bereitwillig seinen Wunsch. Die Strafe für heidnische Praktiken ist die Exkommunikation.«
Rob schob die Lippen vor. »Das ist eine strenge Strafe.« Der Medicus nickte. »Noch strenger, da sie schreckliche Strafen unter weltlichem Recht nach sich zieht. Die unter König Aethelred und auch unter König Knut erlassenen Gesetze bezeichneten das Heidentum als Kapitalverbrechen. Die deswegen Verurteilten sind schwer bestraft worden. Manche wurden in schwere Ketten geschmiedet und mussten jahrelang als Pilger herumwandern, bis die Fesseln verrosteten und ihnen vom Körper fielen. Etliche wurden verbrannt. Einige wurden gehängt und andere ins Gefängnis geworfen, wo sie bis heute vermodern. Die Mohammedaner ihrerseits haben keinen Grund, Mitglieder einer feindlichen, sie bedrohenden Religion auszubilden, und christliche Studenten werden seit Jahren nicht mehr an den Akademien im östlichen Kalifat zugelassen.« »Ich verstehe.«
»Vielleicht ist Spanien eine Möglichkeit für Euch. Es liegt in Europa, am äußersten weltlichen Rand des westlichen Kalifats. Dort sind beide Religionen nicht so erbittert. Es gibt in diesem Land ein paar christliche Studenten aus Frankreich. Die Mohammedaner haben in Städten wie Cordoba, Toledo und Sevilla große Universitäten errichtet. Wenn Ihr eine von diesen absolviert, werdet Ihr als Gelehrter anerkannt. Und obwohl Spanien nicht leicht zu erreichen ist, ist die Reise bei weitem nicht so schwierig wie die nach Persien.« »Warum seid Ihr nicht nach Spanien gegangen?« »Weil Juden in Persien studieren dürfen.« Merlin lächelte. »Und ich wollte den Saum von Ibn Sinas Gewand berühren.« Rob runzelte die Stirn. »Ich möchte nicht quer durch die Welt reisen, um ein Gelehrter zu werden. Ich will nur ein guter Medicus werden.« Merlin schenkte sich Wein nach. »Es erstaunt mich - Ihr seid ein junger Rehbock und tragt dennoch Kleidung aus feinem Stoff und Waffen, die ich mir nicht leisten kann. Das Leben eines Baders hat seine Annehmlichkeiten. Warum wollt Ihr dann Medicus werden, was die schwerere Arbeit und Ungewissen Gewinn bringt?«
»Ich habe gelernt, verschiedene Leiden zu behandeln. Ich kann einen zerquetschten Finger abtrennen und den Stumpf ordentlich versorgen. Aber zu mir kommen so viele Menschen, bezahlen mich, und ich weiß nicht, wie ich ihnen helfen soll. Ich bin unwissend. Ich sage mir, dass manche bestimmt gerettet werden könnten, wenn ich mehr wüßte.«
»Selbst wenn Ihr mehrere Leben lang Medizin studiert, würden Menschen zu Euch kommen, deren Krankheit ein Rätsel ist, denn die Qual, von der Ihr sprecht, gehört zu dem Beruf des Heilens, und man muss mit ihr leben.
Dennoch ist es wahr: Je besser die Ausbildung, um so rnehr Gutes kann der Arzt tun. Ihr gebt den bestmöglichen Grund für Euren Ehrgeiz an.« Merlin leerte seinen Becher nachdenklich. »Wenn die arabischen Schulen nicht für Euch zugänglich sind, müßt Ihr die Arzte Englands sichten, bis Ihr den besten Medicus unter all den gewiß nicht guten findet, und vielleicht könnt Ihr einen dazu überreden, Euch als Lehrling anzunehmen.« »Kennt Ihr einen solchen Medicus?«
Falls Merlin die Andeutung bemerkt hatte, reagierte er nicht darauf. Er schüttelte den Kopf und stand auf. »Wir haben unsere Ruhe verdient, und morgen werden wir erholt die Frage ins Auge fassen. Ich wünsche Euch eine gute Nacht, junger Bader!« »Eine gute Nacht, Meister Medicus!«
Am Morgen aßen sie m der Küche heißen Erbsenbrei, und Rob hörte weitere Segenssprüche auf hebräisch. Die Familie frühstückte gemeinsam und beobachtete ihn heimlich, während er sie offen musterte. Mistress Merlin wirkte noch immer mürrisch, und in dem unbarmherzigen Morgenhcht sah man den schwachen, dunklen Flaum auf ihrer Oberlippe. Unter Benjamin Merlins Kittel und dem seines Sohnes Ruel schauten Fransen hervor. Der Brei aber war gut. Merlin fragte höflich, ob Rob eine gute Nacht verbracht habe. »Ich dachte noch lang über unser Gespräch nach. Leider fiel mir kein Medicus ein, den ich als Lehrer und Beispiel empfehlen könnte.«
Seine Frau brachte einen Korb mit großen Brombeeren auf den Tisch, und Merlin strahlte. »Ah, Ihr müßt diese Beeren zu Eurem Brei essen, denn sie sind sehr schmackhaft.«
Da sagte Rob: »Ich möchte, dass Ihr mich als Lehrling annehmt.« Zu seiner Enttäuschung schüttelte Merlin den Kopf. Rob erwähnte schnell, dass der Bader ihm viel beigebracht habe. »Ich konnte Euch gestern helfen. Bald könnte ich Eure Patienten bei schlechtem Wetter allein besuchen und Euch die Arbeit erleichtern.« »Nein.« "Ihr habt doch bemerkt, dass ich die Fähigkeit besitze zu heilen«, fuhr er hartnäckig fort. »Ich bin stark und könnte auch schwere Arbeit leisten, was immer notwendig ist. Eine siebenjährige Lehrzeit. Oder länger. So lange Ihr wollt.« In seiner Aufregung sprang er auf, stieß an den Tisch, und der Brei schwappte über.
»Es ist unmöglich«, wiederholte Merlin.
Rob war verblüfft. Er war so sicher gewesen, dass Merlin ihn mochte.
»Fehlt es mir an den notwendigen Eigenschaften?«
»Ihr habt ausgezeichnete Eigenschaften. Nach dem, was ich gesehen habe, würdet Ihr einen ausgezeichneten Arzt abgeben.«
»Was ist es dann?«
»In dieser christlichsten aller Nationen würde ich nicht als Euer Lehrer geduldet werden.« »Wen würde es kümmern?«
»Die Priester würde es kümmern. Sie nehmen mir schon übel, dass ich von französischen Juden abstamme und an einer mohammedanischen Akademie ausgebildet wurde, denn sie betrachten es als Zusammentreffen gefährlicher heidnischer Elemente. Sie lassen mich nicht aus den Augen. Ich fürchte den Tag, an dem meine Worte als Zauberei gedeutet werden oder an dem ich vergesse, ein Neugeborenes zu taufen.«
»Wenn Ihr mich nicht haben wollt, dann nennt mir wenigstens einen anderen Medicus, an den ich mich wenden kann.«
»Ich habe Euch gesagt, dass ich Euch niemandem empfehlen kann. Aber England ist groß, und es gibt viele Ärzte, die ich nicht kenne.«
Rob preßte die Lippen zusammen und legte die Hand auf den Griff seines Schwertes. »Gestern abend sagtet Ihr mir, ich solle den besten Medicus unter den gewiß nicht guten suchen. Wer ist der beste unter den Euch bekannten Ärzten?«
Merlin seufzte und gab nach. »Arthur Giles in St. Ives«, sagte er kalt und befaßte sich wieder mit seinem Frühstück.
Rob hatte nicht vorgehabt, das Schwert zu ziehen, aber die Augen der Frau waren auf seine Hand am Griff gerichtet. Sie zitterte und konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, weil sie sicher war, dass nun ihre Prophezeiung in Erfüllung ging. Ruel und Jonathan blickten ihn finster an, und Zacharias begann zu weinen.
Rob schämte sich zutiefst darüber, wie er ihre Gastfreundschaft vergolten hatte. Er suchte nach einer Entschuldigung, fand aber keine, wandte sich schließlich von den französischen Hebräern ab, die ihren Brei löffelten, und verließ das Haus.
Arthur Giles in St. Ives erwies sich als schwere Enttäuschung, obwohl Rob sich keine allzu großen Hoffnungen gemacht hatte, denn Benja-min Merlin hatte die Empfehlung nur unter Druck abgegeben. Der Medicus war ein dicker, schmutziger alter Mann, der zumindest leicht verrückt war. Er hielt Ziegen und musste sie zeitweise in seinem Haus untergebracht haben, denn dort stank es schauderhaft. »Die Aderlässe heilen, junger Fremder. Das dürft Ihr nie vergessen! Wenn sonst nichts hilft, ein guter, reinigender Aderlaß, dann noch einer und wieder einer. Das heilt die Schweinehunde«, schrie Giles. Er beantwortete alle Fragen bereitwillig, aber wenn sie über andere Behandlungsmethoden als den Aderlaß sprachen, wurde es deutlich, dass Rob eher den Alten nutzbringend unterrichten konnte als dieser ihn. Giles besaß keinerlei medizinisches Wissen, keine Kenntnisse, die er an einen Schüler weitergeben konnte. Der Medicus bot ihm eine Lehrstelle an und wurde wütend, als Rob ablehnte. Er war froh, als er St. Ives verließ, denn es war besser, Bader zu bleiben und kein solcher Mediziner zu werden wie dieser Mann.
Einige Wochen lang glaubte er, den unmöglichen Traum, Arzt zu werden, aufgeben zu müssen. Er arbeitete bei seinen Vorstellungen schwer, verkaufte eine Menge Umversal-Spezificum und wurde durch den Umfang seiner Börse belohnt. Mistress Buffington gedieh infolge seines Wohlstands, ganz wie zuvor er aus des Baders Wohlstand Nutzen gezogen hatte. Die Katze fraß leckere Überbleibsel und entwickelte sich zusehends zu ihrer vollen Größe: zu einer großen weißen Katze mit hochmütigen grünen Augen. Sie hielt sich für eine Löwin und geriet oft in Raufereien. Als sie in Rochester lagerten, verschwand sie während der Vorstellung und kam erst bei Dämmerung in Robs Lager zurück; die rechte Vorderpfote zerbissen, der größte Teil des linken Ohres fehlte, und ihr weißes Fell war blutbefleckt. Er wusch ihre Wunden und sorgte für sie wie ein Liebhaber. »Mistress, du musst lernen, Raufereien zu vermeiden, wie ich es getan habe, denn sie bringen dir nichts.« Er fütterte sie mit Milch und hielt sie vor dem Feuer auf dem Schoß.
»Wenn ich die Möglichkeit hätte, die mohammedanische Schule zu besuchen«, erklärte er der Katze, »würde ich dich in den Wagen setzen, unsere Stute nach Persien lenken, und nichts könnte uns daran hindern, schließlich diesen heidnischen Ort zu erreichen.« AbuAlial-Hussein IbnAbdullah Ihn Sina wiederholte er sehnsüchtig in Gedanken. »Zur Hölle mit dir, du Araber!« sagte er und ging zu Bett. In dieser Nacht träumte er, dass er gegen einen widerlichen alten Ritter kämpfte und sie mit Dolchen aufeinander einstachen. Der alte Ritter furzte und verhöhnte ihn. Er sah Rost und Flechten auf der schwarzen Rüstung des anderen. Ihre Köpfe waren so nahe, dass er Fäulnis und Rotz von der knochigen Nase hängen sah, in schreckliche Augen blickte und den ekelerregenden, stinkenden Atem des Ritters roch. Sie kämpften verzweifelt. Trotz seiner Jugend und Stärke wusste Rob, dass der Dolch des Gespenstes unbarmherzig und seine Rüstung undurchdringlich war. Hinter dem Ritter erblickte er dessen Opfer: Ma, Pa, den lieben Samuel, den Bader, sogar Tatus und Bartram den Bären. Sein Zorn verlieh ihm Kraft, obwohl er schon spürte, dass die unbarmherzige Klinge des Gegners in seinen Körper eindrang. Er erwachte, die Außenseite seines Gewandes war feucht vom Tau und die Innenseite naß vom Angstschweiß. Er lag in der Morgensonne, fünf Fuß von ihm sang selig ein Rotkehlchen, und er wusste, dass der Traum zwar vorbei, er aber noch nicht mit ihm fertig war. Er war außerstande, den Kampf aufzugeben.
Die dahingegangen waren, würden nicht zurückkommen, so war es eben. Aber gab es etwas Besseres, als ein Leben lang gegen den alten Ritter zu kämpfen? Das Studium der Medizin war auf seine Weise etwas, dem man sich anstelle der fehlenden Familie liebend widmen konnte. Als die Katze zu ihm kam und sich mit ihrem gesunden Ohr an ihm rieb, beschloss er, seinen Traum zu verwirklichen. Das Vorhaben war entmutigend. Er veranstaltete in Northampton, Bedford und Herford Vorstellungen, und in jeder Stadt suchte er Ärzte auf, sprach mit ihnen und stellte fest, dass ihre medizinischen Kenntnisse insgesamt geringer waren als die des Baders. In der Stadt Maldon war der Ruf des Arztes als Stümper so verheerend, dass die Leute, als Rob sich nach dem Haus des Medicus erkundigte, erblaßten und sich bekreuzigten.
£s hatte keinen Sinn, bei solchen Leuten in die Lehre zu gehen. £r kam auf den Gedanken, dass ein jüdischer Arzt wie Merlin vielleicht eher bereit sein würde, ihn als Lehrling aufzunehmen. Auf dem Hauptplatz von Maldon, wo Arbeiter gerade eine Ziegelmauer errichteten, hielt er an.
»Kennt Ihr Juden in dieser Stadt?« fragte er den Maurermeister. Der Mann starrte ihn an, spuckte aus und wandte sich ab. Er fragte andere Männer auf dem Platz, mit dem gleichen Ergebnis. Endlich sah ihn jemand neugierig an. »Warum sucht Ihr Juden?« »Ich suche einen jüdischen Medicus.«
Der Mann nickte verständnisvoll. »Möge Christus Euch gnädig sein. Es gibt Juden in Malmesbury, und sie haben dort einen Medicus namens Adolescentoli.«
Die Fahrt von Maldon nach Malmesbury dauerte fünf Tage, und er unterbrach sie in Oxford und Alveston, um Vorstellungen zu geben und Arzneien zu verkaufen. Rob fiel ein, dass der Bader Isaak Adolescentoli als berühmten Medicus bezeichnet hatte, und er fuhr hoffnungsvoll in Malmesbury ein, als die Schatten des Abends sich auf den kleinen, bescheidenen Ort senkten. Im Wirtshaus erhielt er eine einfache, aber kräftige Mahlzeit.
Der Bader hätte das Hammelstew als ungewürzt bezeichnet, aber es enthielt viel Fleisch, und nachher konnte er gegen Bezahlung erreichen, dass man für ihn in der Ecke des Schlafraums frisches Stroh aufschüttete.
Am nächsten Morgen beim Frühstück ersuchte er den Wirt, ihm von dem Juden von Malmesbury zu erzählen.
Der Mann hob die Schultern, als wolle er sagen: Was gibt es da zu erzählen?
»Ich bin neugierig, weil ich bis vor kurzem keine Juden kannte.« »Das kommt daher, dass sie in unserem Land selten sind«, antwortete der Wirt. »Der Mann meiner Schwester, ein weitgereister Schiffskapitän, behauptet, dass es in Frankreich viele gibt. Man findet sie in allen Ländern, und sie sind um so zahlreicher, je weiter man nach Osten reist.« »Lebt Isaak Adolescentoli hier unter ihnen? Der Medicus?«
Der Wirt grinste. »Nein, sie leben um Isaak Adolescentoli und sonnen sich in seinem Ruhm.« »Er ist also berühmt?«
»Er ist ein großer Medicus. Die Leute kommen von weit her, um ihn um Rat zu fragen, und wohnen dann in dieser Herberge«, berichtete der Wirt stolz. »Die Pfaffen sind natürlich gegen ihn, aber« — er legte den Finger an die Nase und beugte sich vor- »ich weiß von mindestens zwei Fällen, bei denen er im Dunkel der Nacht geholt und nach Canterbury gebracht wurde, um Erzbischof Aethelnoth zu behandeln, von dem man im vergangenen Jahr befürchtete, dass er sterben
würde.«
Er erklärte Rob, wie er die jüdische Siedlung erreichen könne, und bald fuhr dieser an den grauen Steinmauern der Abtei von Malmesbury vorbei, durch Wälder, Felder und einen steilen Weingarten, in dem Mönche Trauben pflückten. Ein niedriges Wäldchen trennte das Gebiet der Abtei von den Unterkünften der Juden, einer Ansammlung von etwa einem Dutzend Häusern. Das mussten Juden sein: häßliche Männer in losen, schwarzen Kaftanen und glockenförmigen Lederhüten sägten und hämmerten und bauten einen Schuppen. Rob fuhr zu einem Gebäude, das größer war als die anderen und auf dessen großem Hof Pferde angebunden waren und Wagen standen. »Isaak Adolescentoli?« erkundigte sich Rob bei einem der Jungen, die sich um die Tiere kümmerten.
»Er ist im Behandlungsraum«, antwortete der Junge und fing geschickt die Münze auf, die ihm Rob zuwarf, um sicher zu sein, dass die Stute gut behandelt wurde.
Die Haustür führte in einen großen Warteraum mit Holzbänken, auf denen sich leidende Menschen drängten. Es ging zu wie in den Reihen, die vor Robs Wandschirm warteten, aber hier waren viel mehr Menschen. Es gab keinen freien Sitzplatz, und so lehnte er sich an die Wand.
Von Zeit zu Zeit kam ein Mann durch die kleine Tür, die ins Innere des Hauses führte, und holte den Patienten, der jeweils am Ende der ersten Bank saß. Dann rückte jeder um einen Platz vor. Es schien fünf Ärzte zu geben.
Vier waren jung, der fünfte war ein kleiner Mann mittleren Alters, der sich schnell bewegte. Rob nahm an, dass das Adolescentoli war.
Als Rob endlich auf dem ersten Platz der vordersten Bank saß, war der halbe Nachmittag vergangen. Einer der jungen Männer kam heraus. »Ihr könnt mit mir kommen.« Er sprach mit französischem Akzent. »Ich möchte Isaak Adolescentoli sprechen.«
»Ich bin Moses ben Abraham, ein Schüler von Meister Adolescentoli. Ich bin imstande, Euch zu behandeln.«
»Ich bin sicher, dass Ihr mich gut behandeln würdet, wenn ich krank wäre. Ich muss Euren Meister in einer anderen Angelegenheit sprechen.«
Der Schüler nickte und wandte sich an die nächste Person auf der Bank. Nach einer Weile kam Adolescentoli heraus und führte Rob durch die Tür und einen kurzen Korridor entlang; durch eine offenstehende Tür an der linken Seite sah Rob in ein Sprechzimmer mit einem Operationstisch, mit Eimern und Instrumenten. Sie kamen in einen kleinen unmöblierten Raum, der nur einen Tisch und zwei Stühle enthielt. »Was für Beschwerden habt Ihr?« fragte Adolescentoli und hörte etwas überrascht zu, als Rob, statt Symptome zu beschreiben, nervös von seinem Wunsch sprach, Medizin zu studieren.
Auf dem dunklen, gutaussehenden Gesicht des Arztes zeigte sich kein Lächeln. Zweifellos hätte das Gespräch anders geendet, wenn Rob klüger gewesen wäre, doch er konnte nicht anders, er musste eine Frage stellen: »Lebt Ihr schon lange in England, Meister Medicus?« »Warum fragt Ihr danach?« »Ihr sprecht unsere Sprache so gut.«
»Ich bin in diesem Hause zur Welt gekommen«, antwortete Adolescentoli ruhig. »Im Jahre 70 wurden nach der Zerstörung des großen Tempels fünf junge jüdische Gefangene von Titus aus Jerusalem nach Rom gebracht.
Man nannte sie adolescentoli, das lateinische Wort für >die Jungen<. Ich stamme von einem dieser Jungen ab, von Joseph Adolescentoli. Er erlangte die Freiheit, indem er in die Zweite Römische Legion eintrat, mit der er auf diese Insel kam, als deren Einwohner dunkle, kleine Bootsleute waren, die schwarzen Silurer, die ersten, die sich Briten nannten. Lebt Eure Familie auch schon so lange in England?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ihr sprecht die Sprache recht gut«, meinte Adolescentoli seidenweich. Rob erzählte ihm von seiner Begegnung mit Merlin und erwähnte nur,
dass sie über die medizinische Ausbildung gesprochen hatten. »Habt Ihr auch bei dem großen persischen Arzt in Isfahan studiert?« Adolescentoli schüttelte den Kopf. »Ich habe die Universität von Bagdad besucht, eine größere medizinische Schule mit einer umfangreichen Bibliothek und Fakultät. Nur hatten wir natürlich nicht Avicenna, den sie Ibn Sina nennen.«
Sie sprachen über Adolescentolis Schüler. Drei waren Juden aus Frankreich und der vierte ein Jude aus Salerno.
»Meine Schüler haben mich Avicenna oder einem anderen Araber vorgezogen«, stellte Adolescentoli stolz fest.
»Ihnen steht natürlich keine solche Bibliothek zur Verfügung wie den Studenten in Bagdad, aber ich besitze das
>Heilkundebuch< des Baldus, das die Heilmittel nach der Methode des Alexander von Tralles aufzählt und angibt, wie man Salben, Packungen und Pflaster herstellt. Meine Schüler müssen das Buch sehr aufmerksam studieren, auch gewisse lateinische Schriften des Paul von Aegina und einige Werke des Plinms. Und noch ehe ihre Lehrzeit zu Ende ist, weiß jeder, wie man zur Ader läßt, ausbrennt, Einschnitte in Adern legt und den grauen Star sticht.« Rob empfand ein überwältigendes Verlangen wie ein Mann, der eine Frau zu Gesicht bekommt, die er sofort besitzen möchte. »Ich wollte Euch bitten, mich als Lehrling aufzunehmen.«
Adolescentoli neigte den Kopf. »Ich habe mir gedacht, dass Ihr deshalb hier seid, aber ich werde Euch nicht nehmen.« »Kann ich Euch nicht dazu überreden?«
»Nein. Ihr müßt einen christlichen Lehrer finden oder Bader bleiben«, erwiderte Adolescentoli nicht hart, aber entschieden. Vielleicht handelte er aus den gleichen Gründen wie Merlin, aber Rob erfuhr es nicht, denn der Medicus wollte nicht mehr sagen. Er erhob sich, ging zur Tür und nickte gleichgültig, als Rob den Behandlungsraum verließ.
Zwei Städte weiter, in Devizes, gab er eine Vorstellung und ließ zum erstenmal, seit er die Technik beherrschte, einen Ball beim Jonglieren fallen. Die Leute lachten über seine Scherze und kauften die Arznei. An diesem Abend überraschte ihn ein heftiges Gewitter mit starkem Wind und prasselndem Regen. Man zählte den zweiten Tag im September, eigentlich zu früh für einen Herbstregen, aber es war schon sehr feucht und kalt. Er fuhr zu dem einzigen Zufluchtsort, dem Gasthof in Devizes, und band die Zügel der Stute an den Ast einer großen Eiche im Hof. Als er eintrat, stellte er fest, dass schon zu viele Leute vor ihm angekommen waren. Der gesamte Fußboden war besetzt. Der Gemeinschaftsraum des Wirtshauses stank nach feuchter, wollener Kleidung und ungewaschenen Körpern, und Rob wurde bald übel. Er verließ das Gasthaus, noch bevor der Regen aufgehört hatte, und ging zu seinem Wagen und seinen Tieren hinaus. Er fuhr zu einer nahen Lichtung und spannte die Stute aus. Im Wagen hatte er trockenes Brennholz, und es gelang ihm, ein Feuer anzuzünden. Mistress Buffington rieb sich an ihm. »Wir sind ein feines, einsames Paar«, stellte er fest. Und wenn es sein ganzes Leben dauern sollte, er würde weiter suchen, bis er einen würdigen Medicus fand, dessen Schüler er werden konnte. Bisher hatte er nur mit zwei jüdischen Ärzten gesprochen. Zweifellos gab es noch andere. »Vielleicht würde mich einer als Lehrling aufnehmen, wenn ich behaupte, dass ich Jude bin«, erklärte er der Katze.
So begann es: nicht einmal als Traum, sondern als ein dahingesagtes Hirngespinst. Er wusste, dass er nicht überzeugend genug einen Juden spielen konnte, um den prüfenden Blicken eines jüdischen Lehrherrn täglich standzuhalten. So saß er vor dem Feuer, starrte in die Flammen, und die Vorstellung nahm Gestalt an.
Die Katze bot ihm ihren seidigen Bauch. »Könnte ich den Juden wenigstens so gut spielen, dass ich Mohammedaner täusche?« fragte Rob sie, sich und Gott. So gut, um bei dem größten Arzt der Welt zu studieren?
Die Ungeheuerlichkeit des Gedankens betäubte ihn, er ließ die Katze fallen, und sie sprang in den Wagen. Einen Augenblick später kam sie mit etwas zurück, das wie ein kleines Pelztier aussah. Es war der falsche Bart, den er als der »Alte« getragen hatte. Rob hob ihn auf. Wenn ich für den Bader einen alten Mann spielen konnte, fragte er sich, warum kann ich nicht einen Hebräer spielen? »Ich werde ein falscher Jude!« rief er laut.
Es ist ein Glück, dass niemand vorbeiging und hörte, wie er eindringlich und lange mit seiner Katze sprach, denn es hätte sonst geheißen, dass er ein Hexer war, der mit seinem Sukkubus sprach.
Er hatte keine Angst vor der Kirche. »Auf diese Kinder stehlenden Pfaffen scheiße ich«, sagte er zur Katze.
Er konnte sich einen vollen Judenbart wachsen lassen und ein jüdisches Glied hatte er ja schon. Er würde den Leuten erzählen, dass er wie Merlins Söhne getrennt von seinem Volk aufgewachsen sei, ohne dessen Sprache und Gebräuche zu erlernen. Und er würde nach Persien gelangen. Er würde den Saum von Ibn Sinas Gewand berühren! Er war aufgeregt und entsetzt, schämte sich, ein erwachsener Mann zu sein und so zu zittern. Es war wie der Augenblick, als er zum erstenmal über Southwark hinausgelangt war.
Angeblich gab es sie überall, Gott verdamme ihre Seelen. Auf der Reise würde er freundschaftlichen Verkehr mit ihnen suchen und ihr Verhalten erforschen. Wenn er Isfahan erreichte, würde er fähig sein, den Juden zu spielen, und Ibn Sina würde ihn aufnehmen und ihm die kostbaren Geheimnisse der arabischen Schule verraten müssen.