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Von London segelten mehr Schiffe nach Frankreich als von jedem anderen englischen Hafen. Deshalb begab sich Rob in seine Geburtsstadt. Unterwegs hielt er immer wieder an, um zu arbeiten, denn er wollte zu einem solchen Abenteuer mit möglichst viel Gold aufbrechen. Als er in London ankam, war die Jahreszeit für Schiffsreisen vorbei. Die Themse strotzte von den Masten der vor Anker liegenden Schiffe. König Knut hatte sich an seine dänische Herkunft erinnert und eine große Flotte von Wikingerschiffen gebaut, die wie angebundene Ungeheuer auf dem Wasser dümpelten. Auf keinem Schiff sah man Güter oder Passagiere, denn die kalten Winterstürme hatten bereits eingesetzt. Während der kommenden schlimmen sechs Monate würde morgens oft die Salzgischt im Kanal frieren, und die Seeleute wussten, dass sie den nassen Tod herausforderten, wenn sie sich dorthin wagten, wo die Nordsee mit dem Atlantik zusammentraf. Im »Herring«, einer Kneipe für Seeleute im Hafengebiet, trommelte Rob mit dem Krug, in dem heißer Apfelwein war, auf die Tischplatte. »Ich suche eine gemütliche, saubere Wohnung, bis man im Frühjahr wieder in See stechen kann«, rief er. »Ist jemand hier, der so etwas kennt?«
Ein kleiner kräftiger Mann, der wie eine Bulldogge gebaut war, betrachtete ihn, während er seinen Becher leerte, und nickte dann. »Ja. Mein Bruder Tom ist auf seiner letzten Reise gestorben. Seine Witwe Binnie ROSS ist mit zwei Kindern zurückgeblieben, die sie ernähren muß. Wenn du bereit bist, anständig zu zahlen, wird sie dich gern aufnehmen.«
Rob lud den Mann zu einem Drink ein, dann folgte er ihm ein kurzes Stück zu einem kleinen Haus am Marktplatz von Hast Chepe. Binnie ROSS war eine kleine Maus, eine junge Frau mit kummervollen blauen Augen in einem blassen Gesichtchen. Das Haus war sauber, aber sehr klein.
»Ich habe eine Katze und eine Stute«, sagte Rob. »Ach, die Katze macht mir nichts aus«, antwortete sie ängstlich. £s war klar, dass sie verzweifelt Geld brauchte.
»Ihr könntet das Pferd für den Winter einstellen«, meinte ihr Schwager, »in Egglestans Stall an der Thames Street.« Rob nickte. »Den kenne ich.«
»Sie ist trächtig«, stellte Binnie ROSS fest, als sie die Katze hochhob und streichelte.
Rob fand, dass der glatte Bauch keinerlei Rundung aufwies. »Wieso wißt Ihr das?« fragte er und war überzeugt, dass sie sich irrte. »Sie ist noch jung, sie ist erst letzten Sommer zur Welt gekommen.« Die junge Frau zuckte mit den Achseln.
Aber sie hatte recht, denn innerhalb weniger Wochen blühte Mistress Buffington förmlich auf. Rob fütterte sie mit Leckerbissen und besorgte gutes Essen für Binnie und ihren Sohn. Die kleine Tochter wurde noch von ihrer Mutter gestillt. Rob ging gern auf den Markt und kaufte für sie ein, denn er wusste noch genau, wie herrlich es ist, nach einer langen Zeit, in der der leere Magen geknurrt hat, gut zu essen.
Die Kleine hieß Aldyth und der noch nicht zwei Jahre alte Junge Edwin. Jede Nacht hörte Rob Binnie weinen. Er war noch keine vierzehn Tage im Haus, als sie im Dunkeln in sein Bett kam. Sie sagte kein Wort, sondern legte sich hin, umschlang ihn mit ihren schlanken Armen und schwieg auch während des Aktes.
Als sie fertig waren, schlüpfte sie in ihr Bett zurück, und am nächsten Tag machte sie keine Anspielung auf die Ereignisse der Nacht. »Wie ist dein Mann gestorben?« fragte er sie, als sie den Frühstücksbrei austeilte.
»Ein Sturm. Wulf - das ist sein Bruder, der dich hierher gebracht hat, hat mir erzählt, dass mein Tom weggerissen wurde. Er konnte nicht schwimmen.«
Sie benützte ihn noch einmal und drückte sich verzweifelt an ihn. Dann kam der Bruder ihres toten Mannes, der zweifellos seinen ganzen Mut zusammengerafft hatte, um sich mit ihr auszusprechen, eines Nachmittags ins Haus. Wulf kam danach jeden Tag mit kleinen Geschenken; er spielte mit seiner Nichte und seinem Neffen, aber es
war klar, dass er ihrer Mutter den Hof machte. Und eines Tages erzählte Binnie Rob, dass sie und Wulf heiraten würden. Dadurch wurde es für Rob leichter, es in dem Haus auszuhalten. Während eines Schneesturms brachte Mistress Buffington einen schönen Wurf zur Welt: eine weiße Miniaturausgabe von ihr, einen weißen Kater und zwei schwarzweiße Kater, die vermutlich ihrem Vater ähnlich sahen. Binnie machte sich erbötig, die vier Kätzchen zu ertränken, doch sobald sie entwöhnt waren, polsterte Rob einen Korb mit Lappen aus und brachte die jungen Tiere in Kneipen, wo er die Leute zu Drinks einlud, um Abnehmer für sie zu finden. Im März kehrten die Unfreien, die die schwere Arbeit im Hafen besorgten, in den Hafenbezirk zurück, und wieder konnte man auf der Thames Street eine Menge von Männern und Rollwagen sehen, die Exportgüter in die Lagerhäuser und auf die Schiffe brachten. Rob erkundigte sich bei Reisenden mit unzähligen Fragen und kam zu dem Schluß, dass seine Reise am besten in Calais begann. »Dorthin geht mein Schiff«, sagte Wulf und nahm ihn zum Kai mit, damit er sich die »Queen Emma" ansah. Sie war nicht so großartig wie ihr Name: ein großer, alter Holzkahn mit einem sehr hohen Mast. Die Schauerleute beluden ihn mit Zinnplatten aus Cornwall. Wulf brachte Rob zum Kapitän, einem ernsten Waliser, der nickte, als er gefragt wurde, ob er einen Passagier mitnehmen würde, und einen annehmbaren Preis nannte.
»Ich habe ein Pferd und einen Wagen«, teilte ihm Rob mit. Der Kapitän runzelte die Stirn. »Es wird Euch teuer kommen, sie über das Meer zu schaffen. Die meisten Reisenden verkaufen ihre Tiere und Gefährte diesseits des Kanals und kaufen drüben neue.« Rob überlegte, entschloß sich aber, die Fracht zu bezahlen, so teuer sie auch war. Er hatte vor, während seiner Reise als Baderchirurg zu arbeiten. Die Stute und der rote Wagen waren ein gutes Gespann, und er glaubte nicht, dass er noch einmal etwas finden würde, das ihm so zusagte.
Der April brachte milderes Wetter, und schließlich liefen die ersten Schiffe aus. Die »Queen Emma« wand am elften Tag des Monats ihren Anker aus dem Schlamm der Themse, und Binnie weinte ihr viele Tränen nach. Das große Boot lag infolge seiner Metallfracht tief; es verließ die Themse, glitt langsam durch die Enge zwischen der Insel
Thanet und dem Festland, kroch die Küste von Kent entlang und überquerte dann den Kanal.
Die grüne Küste wurde dunkler, während sie zurückblieb, bis England zu blauem Dunst wurde und dann zu einem purpurnen Streifen, den das Meer verschluckte. Rob hatte keine Gelegenheit, elegische Gedanken zu wälzen, denn er war seekrank und musste sich übergeben. Wulf kam auf Deck an ihm vorbei, blieb stehen und spuckte verächtlich über die Seitenwand. »Gütiger Gott! Wir liegen zu tief im Wasser, um zu schlingern oder zu stampfen, es herrscht das freundlichste Wetter, und die See ist ruhig. Was fehlt Euch?« Aber Rob konnte nicht antworten, denn er lehnte über der Reling, um das Deck nicht zu beschmutzen. Ein Teil seines Problems war Angst, denn er war noch nie auf See gewesen, und jetzt verfolgten ihn alle Geschichten über Ertrunkene, die er je gehört hatte, vom Ehemann und den Söhnen von Editha Lipton bis zu dem unglückseligen Tom ROSS, der Binnie als Witwe zurückgelassen hatte. Das ölige Wasser unter ihm wirkte unergründlich und bodenlos. Als wolle er Robs Zustand verschlimmern, nahm der Wind zu, und tiefe Wellen durchfurchten das Meer.
Die Reise hatte sieben endlose Stunden gedauert, als ein anderer Dunst am schwankenden Horizont auftauchte und langsam zu Calais wurde. Rob führte das Pferd und den Wagen die Laufplanke hinunter auf festes Land, das sich jedoch wie das Meer zu heben und zu senken schien. Nachdem er ein paar Minuten gegangen war, wurde der Boden ruhiger. Aber die Sprache, die er hier hörte, war wie ein Schlag ins Gesicht. Die Leute um ihn redeten in einer singend-rasselnden Sprache, und er verstand kein einziges Wort. Schließlich hielt er an, stieg auf seinen Wagen und klatschte in die Hände.
»Ich will jemanden anstellen, der meine Sprache spricht«, rief er laut. Ein alter Mann mit verknittertem Gesicht trat vor. Er hatte dünne Beine und einen ausgemergelten Körper, der darauf schließen ließ, dass der Kandidat zum Heben und Tragen kaum verwendbar war. Er bemerkte Robs blasses Gesicht, und seine Augen glitzerten.
»Können wir nicht bei einem besänftigenden Trunk darüber sprechen? Apfelschnaps wirkt Wunder und beruhigt den Magen.« Das vertraute Englisch war Balsam für Robs Ohren.
Sie hielten beim ersten Wirtshaus und setzten sich an einen groben Fichtenholztisch im Freien.
»Ich heiße Charbonneau«, schrie der Franzose, um den Lärm des Hafens zu übertönen. »Louis Charbonneau.«
»Rob Jeremy Cole.«
Als der Apfelschnaps kam, prosteten sie sich zu, und Charbonneau hatte recht, der Alkohol wärmte Robs Magen und brachte ihn ins Leben zurück. »Ich glaube, ich kann sogar essen«, meinte er verwundert.
Erfreut bestellte Charbonneau, und bald brachte die Kellnerin ein knuspriges Brot, einen Teller mit kleinen grünen Oliven und einen Ziegenkäse an ihren Tisch, der sogar beim Bader Anklang gefunden hätte.
»Du kannst sehen, warum ich Hilfe brauche«, sagte Rob kläglich, »ich kann ja nicht einmal etwas zu essen verlangen.« Charbonneau lächelte. »Ich war mein Leben lang ein Seemann. Als mein erstes Schiff in London anlegte, war ich noch ein Junge, und ich weiß noch genau, wie ich mich nach meiner Muttersprache sehnte.« Er hatte die Hälfte seiner Zeit an Land auf der anderen Seite des Kanals verbracht, wo man Englisch sprach.
»Ich bin ein Baderchirurg und reise nach Persien, um seltene Medizinen und Heilpflanzen zu kaufen und sie nach England zu schicken.« Er hatte beschlossen, den Leuten diese Geschichte aufzutischen, um Diskussionen darüber zu vermeiden, dass in den Augen der Kirche der wirkliche Grund für die Reise nach Isfahan als ein Verbrechen galt. Charbonneau zog die Brauen hoch. »Ein weiter Weg.« Rob nickte. »Ich brauche einen Führer, jemanden, der auch übersetzen kann, so dass ich Vorstellungen geben, Arznei verkaufen und die Kranken behandeln kann, während wir reisen. Ich werde einen guten Lohn zahlen.«
Charbonneau nahm eine Olive vom Teller und legte sie auf den sonnenwarmen Tisch. »Frankreich«, sagte er. Er nahm noch eine. »Die von den sächsischen Kaisern beherrschten Herzogtümer Deutschlands.« Dann noch eine und wieder eine, bis es sieben Oliven in einer Reihe waren. »Böhmen«, sagte er, auf die dritte Olive zeigend,
»wo die Slawen und die Tschechen leben. Als nächstes kommt das Gebiet der Magyaren, ein christliches Land, aber voller wilder, barbarischer Reiter. Dann der Balkan, ein Land mit hohen, wilden Bergen und großen, wilden Menschen. Dann Thrazien, von dem ich wenig weiß, außer dass es die äußerste Grenze von Europa ist und dort Konstantinopel liegt. Und schließlich Persien, dein Ziel.« Er betrachtete Rob nachdenklich. »Meine Geburtsstadt liegt an der Grenze zwischen Frankreich und dem Land der Deutschen, deren Sprache ich seit meiner Kindheit spreche.
Wenn du mich anheuern willst, werde ich dich begleiten, bis hierher.« Er ergriff die beiden ersten Oliven und steckte sie in den Mund. »Ich muss dich aber rechtzeitig verlassen, um vor dem nächsten Winter in Straßburg zu sein.«
»Abgemacht«, stimmte Rob erleichtert zu.
Dann bestellte Charbonneau grinsend noch einen Apfelschnaps, während Rob mit ernsthafter Miene die anderen Oliven der Reihe nach verzehrte und sich so durch die restlichen fünf Länder durchaß.
Frankreich leuchtete nicht so grün wie England, aber hier gab es mehr Sonnenschein. Der Himmel wirkte höher.
Frankreichs Farbe war Tiefblau. Ein großer Teil des Landes war von Wäldern bedeckt wie daheim. Es war ein Land mit peinlich ordentlichen Bauernhöfen, über denen sich gelegentlich eine dunkle Burg aus Stein erhob, wie sie Rob aus den ländlichen Gegenden Englands kannte. Manche Adelige lebten aber in großen Herrenhäusern aus Holz, die es in England nicht gab. Auf den Weiden gab es viel Vieh, und die Bauern säten Weizen. Rob wunderte sich. »Viele Gebäude auf euren Bauernhöfen haben gar kein Dach«, bemerkte er.
»Es gibt hier weniger Regen als in England«, erklärte ihm Charbonneau. »Einige Bauern dreschen das Getreide in offenen Scheunen.« Charbonneau ritt ein großes, friedliches Pferd, das hellgrau, fast weiß war. Seine Waffen waren abgenutzt, aber gut instand gehalten. Jeden Abend versorgte er das Pferd sorgfältig, dann säuberte und polierte er das Schwert und den Dolch. Er war am Lagerfeuer und auf der Straße ein guter Gesellschafter.
Alle Bauernhöfe waren von Obstgärten umgeben, die in voller Blüte standen. Rob hielt bei einigen an, um Alkohol zu kaufen. Er fand zwar kein Metheglin, kaufte statt dessen aber ein Fässchen Apfelschnaps, ungefähr das Getränk, das ihm in Calais so geschmeckt hatte, und er stellte fest, dass es ein noch besseres Universal-Spezifi-kutn ergab.
Wie überall waren auch hier die besten Straßen seinerzeit von den Römern für die marschierenden Heere angelegt worden: breite Landstraßen, die miteinander verbunden und so gerade waren wie Speer-schäfte.
Charbonneau meinte liebevoll: »Sie sind überall, ein Netz, das die Welt bedeckt. Wenn du wolltest, könntest du auf diesen Straßen bis nach Rom fahren.«
Dennoch lenkte Rob die Stute bei einem Wegweiser, der zu einem Dorf namens Caudry zeigte, von der römischen Straße weg. Charbonneau war dagegen. »Diese Waldwege sind gefährlich.«
»Ich muss sie benützen, wenn ich meinem Geschäft nachgehen will. Sie stellen den einzigen Zugang zu den kleineren Dörfern dar. Ich blase mein Hörn, das habe ich immer getan.« Charbonneau zuckte mit den Achseln.
Die Häuser von Caudry hatten kegelförmige Dächer aus Reisig oder Stroh. Die Frauen kochten im Freien, und neben den meisten Häusern standen in der Nähe des Feuers ein Holztisch und Bänke unter einem einfachen Sonnendach, das auf vier kräftigen, aus jungen Bäumen geschnittenen Pfosten ruhte. Man konnte Caudry nicht mit einem englischen Dorf vergleichen, aber Rob drehte bei seiner Vorstellung auf, als wäre er daheim.
Er reichte Charbonneau die Trommel und befahl ihm, sie zu schlagen. Der Franzose wirkte zunächst erheitert, doch sein Interesse erwachte, als die Stute beim Klang der Trommel zu tänzeln begann. »Heute Vorstellung!
Vorstellung!« rief Rob.
Charbonneau begriff sofort und übersetzte von nun an alles, sobald Rob es aussprach.
Die Vorstellung in Frankreich war für Rob ein komisches Erlebnis. Die Zuschauer lachten bei den gleichen Geschichten, aber an anderen Stellen, vielleicht, weil sie auf Übersetzung warten mußten. Während Rob jonglierte, sah ihm Charbonneau gebannt zu, und seine begeistert hervorgesprudelten Bemerkungen steckten die Menge an, die heftig Beifall klatschte.
Sie verkauften eine große Menge vom universellen Spezificum.
An diesem Abend bat Charbonneau am Lagerfeuer Rob immer wieder zu jonglieren, aber dieser weigerte sich.
»Du wirst noch genug davon bekommen, mir zuzusehen, keine Angst!«
»Es ist erstaunlich. Machst du es seit deiner Kindheit?«
»Ja.« Er erzählte Charbonneau, wie der Bader ihn aufgenommen hatte, nachdem seine Eltern gestorben waren.
Charbonneau nickte. »Du hast Glück gehabt. Als ich zwölf war, starb mein Vater, und mein Bruder Etienne und ich wurden auf einem Seeräuberschiff als Schiffsjungen untergebracht.«
»Hast du nicht gesagt, dass dich deine erste Reise nach London geführt hat?«
»Meine erste Reise auf einem Handeisschiff, als ich siebzehn war.
Vorher bin ich fünf Jahre lang mit Seeräubern gesegelt.«
»Mein Vater hat sich bei drei Invasionen an der Verteidigung Englands beteiligt. Zweimal, als die Dänen London besetzten, und einmal, als Seeräuber Rochester überfielen.«
»Meine Seeräuber haben London nicht angegriffen. Einmal sind wir bei Romney gelandet, haben zwei Häuser angezündet und eine Kuh mitgehen lassen, die wir geschlachtet haben, um sie zu essen.«
Sie schauten einander an.
»Es waren böse Männer. Ich tat es, um am Leben zu bleiben.«
Rob nickte. »Und Etienne? Was wurde aus Etienne?«
»Als er alt genug war, lief er ihnen davon und ging zurück in unsere Stadt, wo er Bäckerlehrling wurde. Heute ist auch er ein alter Mann, aber er bäckt ausgezeichnetes Brot.«
Rob lächelte und wünschte ihm gute Nacht.
Alle paar Tage fuhren sie auf einen anderen Dorfplatz, wo das Weitere wie gewohnt ablief: die unanständigen Lieder, die schmeichelnden Porträts, die alkoholischen Behandlungen. Zuerst übersetzte Charbonneau Robs baderchirurgische Reklamesprüche, doch bald kannte sie der Franzose so gut, dass er selbständig eine Menge anlocken konnte. Rob arbeitete hart, um seine Geldkassette zu füllen, denn er wusste, dass das Geld an fremden Orten Schutz bedeutete.
Per Juni war warm und trocken. Sie bissen kleine Stückchen von der Olive ab, die Frankreich hieß, durchquerten den Norden und fanden sich im Frühsommer beinahe an der deutschen Grenze. »Wir nähern uns Straßburg«, stellte Charbonneau eines Morgens fest. »Fahren wir hin, damit du deine Verwandten besuchen kannst.« »Wenn wir das tun, verlieren wir zwei Tage«, bemerkte der gewissenhafte Charbonneau, aber Rob hob lächelnd die Schultern, denn er konnte inzwischen den älteren Franzosen gut leiden. Die Stadt war schön, es wimmelte m ihr von Handwerkern, die eine große Kathedrale bauten, der man bereits jetzt ansah, dass sie Straß-burgs breite Straßen und stattliche Häuser an Schönheit weit übertreffen würde. Sie fuhren geradewegs zur Bäckerei, wo der redselige Etienne Charbonneau seinen Bruder in die mehligen Arme schloß. Sie verbrachten einen fröhlichen Abend mit Etiennes Kindern und deren Familien, bei dem Louis und Etienne zur allgemeinen Belustigung für Rob übersetzten. Die Kinder tanzten, die Frauen sangen, Rob jonglierte zum Dank für das Abendessen, und Etienne spielte die Rohrpfeife ebenso gut, wie er Brot buk. Als die Verwandten schließlich nach Hause gingen, küßten alle die Reisenden zum Abschied. Am Morgen zeigte der Bäcker Rob seine großen, runden Öfen, und er schenkte den beiden einen Sack voll »Hundebrot«, das zweimal gebak-ken war, so dass es hart und unverderblich war wie Schiffszwieback. Die Straßburger mussten an diesem Tag auf ihre Brotlaibe warten, denn Etienne schloss die Bäckerei und begleitete sie ein Stück. Die römische Straße führte nicht weit von Etiennes Haus zum Rhein und dann stromabwärts zu einer ein paar Meilen entfernten Furt. Die Brüder beugten sich aus ihren Sätteln und küßten einander. »Geh mit Gott!« sagte Etienne zu Rob und lenkte sein Roß nach Hause, während der Troß durch den Fluss planschte. Das wirbelnde Wasser war kalt und noch hellbraun von der Erde, die durch die Frühjahrsüberschwemmung in den Oberlauf geschwemmt worden war. Der Weg das gegenüberliegende Ufer hinauf war steil, und die Stute musste sich anstrengen, um den Wagen ins Land der Deutschen zu ziehen.
Sie befanden sich sehr bald in den Bergen und fuhren durch hohe Fichten- und Tannenwälder. Charbonneau wurde immer stiller, was Rob zuerst darauf zurückführte, dass er seine Familie und seine Heimat hatte verlassen müssen. Doch schließlich sprudelte der Franzose hervor: »Ich mag die Deutschen nicht, und ich bin auch nicht gern in ihrem Land.«
»Du bist doch aber so nahe von ihnen zur Welt gekommen.« Charbonneau runzelte die Stirn. »Ein Mensch kann am Meer leben und doch die Haie nicht lieben.«
Rob fühlte sich wohl in diesem Land. Die Luft war kalt und gut. Sie fuhren eine lange Bergstraße hinunter und sahen unten Männer und Frauen, die im Tal mähten, das Heu wendeten und das Futter heimfuhren genauso wie die Bauern in England. Sie fuhren die nächste Steigung hinauf zu kleinen Bergweiden, wo Kinder Kühe und Ziegen hüteten, die den Sommer über von den Bauernhöfen im Tal hinaufgetrieben worden waren, um dort zu grasen. Der Weg führte hoch hinauf, und sie erblickten weiter unten eine große Burg aus dunkelgrauem Stein.
Reiter übten mit stumpfen Lanzen auf dem Turnierplatz. Charbonneau spuckte aus. »Es ist die Burg eines schrecklichen Mannes, des Landgrafen dieser Gegend: Graf Sigdorff der Gerechte.« »Der Gerechte? Das klingt nicht nach einem schrecklichen Mann.« »Er ist jetzt alt. Er erhielt den Namen, als er jung war. Er ritt damals gegen Bamberg und nahm zweihundert Mann gefangen. Er befahl, hundert von ihnen die rechte Hand und den anderen hundert die linke Hand abzuschlagen.«
Sie ließen ihre Pferde galoppieren, bis die Burg ihren Blicken entschwunden war.
Kurz vor Mittag kamen sie zu einem Wegweiser, der von der Römerstraße zum Dorf Entburg zeigte, und sie beschlossen, dorthin zu fahren und eine Vorstellung zu geben. Wenige Minuten nach der Abzweigung kamen sie um eine Biegung und sahen einen Mann auf einem mageren braunen Pferd, der mitten auf dem Weg hielt und die Straße versperrte. Er war kahlköpfig und hatte einen Stiernacken. Seine Kleidung war aus grobem Wollstoff, und sein Körper wirkte feist und zugleich fest, wie der des Baders, als Rob ihn kennengelernt hatte. Der Platz reichte nicht aus, um an ihm vorbeizufahren, aber seine Waffen steckten in der Scheide. Rob zugehe die Stute, während sie einander prüfend betrachteten. Der Glatzköpfige sagte etwas. »Er will wissen, ob du Alkohol hast«, übersetzte Charbonneau.
»Sag 'hm, nein.«
»Der Hurensohn ist nicht allein«, sagte Charbonneau im gleichen Tonfall, und Rob sah, dass zwei weitere Männer auf Reittieren hinter den Bäumen hervorkamen.
Der eine war ein junger Mann auf einem Maultier. Als er zu dem Dicken ritt, bemerkte Rob, dass sie einander ähnlich sahen, und er erriet, dass sie Vater und Sohn waren.
Der dritte Mann saß auf einem riesigen, schwerfälligen Tier, das wie ein Arbeitspferd aussah. Er nahm dicht hinter dem Wagen Aufstellung und schnitt ihnen die Flucht nach hinten ab. Er war vielleicht dreißig Jahre alt, klein, sah bösartig aus, und sein linkes Ohr fehlte wie bei Mistress Buffington.
Beide Neuankömmlinge hielten Schwerter in den Händen. Der Glatzkopf sprach laut zu Charbonneau.
»Du sollst vom Wagen steigen und dich ausziehen. Wenn du das tust, werden sie dich töten«, übersetzte Charbonneau. »Kleidung ist teuer, und sie wollen nicht, dass sie durch Blut wertlos wird.« Rob bemerkte nicht, wie Charbonneau das Messer zog. Der alte Mann warf es, vor Anstrengung stöhnend, mit einer geübten Bewegung, so dass es hart und schnell dem jungen Mann auf dem Maultier in die Brust drang.
Rob trat mit einem Schritt auf den breiten Rücken der Stute, warf sich auf den Kahlkopf und riss ihn aus dem Sattel. Sie schlugen rollend und kratzend auf dem Boden auf, jeder suchte verzweifelt, einen Griff anzubringen, der den anderen kampfunfähig machte. Schließlich konnte Rob seinen linken Arm von hinten unter das Kinn seines Gegners klemmen. Eine fleischige Faust schlug auf seine Leiste ein, aber er drehte sich, so dass die Schläge seinen Oberschenkel trafen. Es waren schreckliche Schläge, die sein Bein betäubten. Bis jetzt war er immer betrunken und halb wahnsinnig vor Wut gewesen, wenn er gekämpft hatte. Jetzt war er nüchtern, und er konzentrierte sich auf einen kalten, klaren Gedanken: Töte ihn! Wütend packte er mit seiner freien Hand das linke Handgelenk des Mannes, zog es zurück und versuchte, ihn zu erwürgen oder seine Luftröhre einzudrücken.
Dann packte er die Stirn des anderen und versuchte, den Kopf so weit zurückzureißen, dass der Halswirbel brach.
Brich! flehte er.
Aber es war ein kurzer, dicker Hals, gut mit Fett gepolstert und mit Muskeln bepackt.
Eine Hand mit langen schwarzen Fingernägeln zwängte sich zu seinem Gesicht hinauf. Er bog den Kopf weg, aber die Hand kratzte über seine Wange, die zu bluten begann.
Die Hand kam wieder. Diesmal konnte der Mann etwas höher reichen, suchte die Augen. Seine scharfen Nägel stachen, und Rob schrie. Dann stand plötzlich Charbonneau über ihnen. Er setzte die Spitze seines Schwertes überlegt an, fand die Stelle zwischen den Rippen und stieß das Schwert tief hinein.
Der Glatzkopf seufzte, als wäre er zufrieden. Er hörte auf zu knurren und sich zu bewegen und blieb schwer liegen. Rob roch ihn zum erstenmal. Einen Augenblick später konnte er sich von dem Körper wegwälzen. Er setzte sich auf und strich sich über das verletzte Gesicht.
Der Junge hing über dem Rumpf des Maultiers, seine schmutzigen nackten Füße hatten sich grausam verfangen.
Charbonneau holte sich sein Messer zurück und wischte es ab. Er zog die toten Füße aus den Steigbügeln und ließ die Leiche auf den Boden fallen. »Wo ist der dritte Schweinehund?« keuchte Rob. Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme zitterte.
Charbonneau spuckte aus. »Er ist beim ersten Anzeichen, dass wir uns nicht höflich umbringen lassen, abgehauen.« »Vielleicht zum Gerechten um Verstärkung?«
Charbonneau schüttelte den Kopf. »Das sind dreckige Halsabschneider, nicht die Männer des Landgrafen.« Er durchsuchte die Leichen so geübt, als wäre es nicht das erste Mal. Um den Hals des Mannes hing ein kleiner Beutel mit Münzen. Der Junge trug kein Geld bei sich, aber ein fleckiges Kruzifix. Ihre Waffen waren armselig, aber Charbonneau warf sie in den Wagen.
Sie ließen die Straßenräuber im Schmutz liegen, den Kahlkopf mit dem Gesicht nach unten in seinem eigenen Blut.
Charbonneau band das Maultier hinten an den Wagen und führte das knochige erbeutete Pferd am Zügel, während sie auf die Römerstraße zurückkehrten.
Als Rob Charbonneau fragte, wo er das Messerwerfen gelernt habe, erzählte der alte Franzose, dass es ihm die Seeräuber in seiner Jugend beigebracht hatten. »Es war eine nützliche Sache, wenn man mit den verdammten Dänen kämpfte und sich ihrer Schiffe bemächtigte.« Er zögerte. »Und wenn man mit den verdammten Engländern kämpfte und sich ihrer Schiffe bemächtigte«, fügte er verschmitzt hinzu. Inzwischen störten sie die alten nationalen Rivalitäten nicht mehr, und jeder kannte den Wert seines Gefährten. Sie grinsten einander an.
»Zeigst du es mir?«
»Wenn du mir das Jonglieren beibringst«, erwiderte Charbonneau, und Rob stimmte begeistert zu. Das Abkommen war einseitig, denn Charbonneau war zu alt, um eine neue, schwierige Fertigkeit zu meistern, und in der kurzen Zeit, die sie noch beisammenblieben, lernte er nur, zwei Bälle hochzuschnellen. Aber das Werfen und Fangen machte ihm viel Freude.
»Man braucht ein besonderes Messer. Bei einem Wurfmesser ist die Klinge beschwert, so dass eine rasche Bewegung des Handgelenks es mühelos mit der Spitze voran auf den Weg schickt.« Rob lernte schnell, wie er Charbonneaus Messer werfen musste, damit es mit der scharfen Klinge voran flog. Es war schwieriger, dorthin zu treffen, wohin er wollte, aber er war an die Disziplin des Übens gewöhnt und warf das Messer nach einer Kerbe an einem dicken Baum, wann immer er eine Möglichkeit dazu hatte.
Sie blieben auf den Römerstraßen, auf denen ein vielsprachiges Gemisch von Menschen unterwegs war. Pilger bewegten sich allein, in kleinen oder großen Gruppen in die ungefähre Richtung, in der Jerusalem lag; manchmal wurden sie von Palmenträgern geführt oder unterwiesen, christlichen Jüngern, die zwei gekreuzte, im Heiligen Land gepflückte Palmzweige trugen und dadurch anzeigten, dass sie die heilige Reise bereits unternommen hatten. Gruppen von gepanzerten Rittern galoppierten mit Kampfgeschrei vorbei, sie waren oft betrunken, für gewöhnlich angriffslustig und immer auf Ruhm, Beute und Schurkereien aus. Manche der religiösen Eiferer trugen härene Hemden und krochen auf blutigen Händen und Knien nach Palästina, um Gelübde zu erfüllen, die sie vor Gott oder einem Heiligen abgelegt
hatten. Sie waren erschöpft und wehrlos und daher eine leichte Beute. Auf den Straßen wimmelte es von Verbrechern, und die Durchsetzung der Gesetze seitens von Amtspersonen erfolgte bestenfalls flüchtig. Wurde ein Dieb oder Straßenräuber auf frischer Tat ertappt, richteten ihn die Reisenden ohne Gerichtsverfahren auf der Stelle hin. Rob trug seine Waffen locker und einsatzbereit, denn er erwartete immer noch, dass sich der Mann mit dem fehlenden Ohr mit einer Bande von Reitern auf sie stürzen würde, um die Toten zu rächen. Erheitert erkannte Rob, dass der gebrechlich aussehende alte Mann, den er nur angestellt hatte, weil er Englisch konnte, sein bester Schutz war.
Sie kauften Vorräte in Augsburg, einem geschäftigen Handelszentrum, das von dem römischen Kaiser Claudius um 45 nach Christus als Freistadt gegründet worden war. Der Ort hatte sich zum Zentrum für Geschäftsabschlüsse zwischen Deutschland und Italien entwickelt, war mit Menschen vollgestopft, die alle der Hauptbeschäftigung, dem Handel, nachgingen. Bereits seit einiger Zeit hatte Rob immer mehr Juden gesehen, aber auf den Märkten von Augsburg waren sie zahlreicher vertreten denn je; man erkannte sie sofort an ihren schwarzen Kaftanen und den glockenförmigen Lederhüten mit schmalen Krempen.
Rob veranstaltete in Augsburg eine Vorführung, verkaufte aber nicht so viel Spezificum wie vorher, vielleicht weil Charbonneau nicht so eifrig übersetzte, weil er sich im Dialekt der Einheimischen ausdrük-ken mußte. Doch spielte das keine besondere Rolle, denn Robs Börse war fett. Jedenfalls eröffnete ihm Charbonneau zehn Tage später, als sie Salzburg erreichten, dass sie in dieser Stadt ihre letzte gemeinsame Vorstellung geben würden.
»In drei Tagen kommen wir an die Donau, dort verlasse ich dich und kehre nach Straßburg zurück.« Rob nickte.
»Du kannst mich nicht mehr brauchen. Jenseits der Donau liegt Böhmen, wo die Leute eine mir fremde Sprache sprechen.« »Du kannst trotzdem gern mitkommen, ob du übersetzt oder nicht.« Doch Charbonneau schüttelte lächelnd den Kopf. »Für mich ist es an der Zeit heimzukehren, und diesmal für immer.« Am Abend bestellten sie in einem Gasthaus ein Abschiedsessen, das aus den Speisen des Landes bestand: geräuchertem Schweinefleisch, saurem Kraut und Mehlbrühe. Es schmeckte ihnen nicht, und sie betranken sich ein wenig mit schwerem Rotwein. Rob bezahlte den alten Mann großzügig.
Charbonneau gab ihm einen letzten, ernüchternden Rat. »Vor dir liegt ein gefährliches Land. Angeblich kann man in Böhmen die wilden Banditen und Söldner der einheimischen Adeligen nicht voneinander unterscheiden.
Um ein solches Land unversehrt zu durchqueren, darfst du nur in Gesellschaft von anderen reisen.«
Rob versprach, dass er darauf achten würde, sich einer wehrhaften Gruppe anzuschließen.
Die Donau war hier ein mächtigerer Strom, als er erwartet hatte, der tiefes, gefährliches Wasser führte.
Charbonneau blieb einen Tag länger als versprochen und bestand darauf, mit Rob stromabwärts zu der aus dem römischen Kastell Lentia hervorgegangenen Marktstelle Linz zu fahren, wo ein großes Floß aus Baumstämmen Passagiere und Fracht über eine ruhige Stelle des breiten Wasserlaufes beförderte.
»Also«, sagte der Franzose.
»Vielleicht werden wir uns eines Tages wiedersehen.«
»Das glaube ich nicht.«
Sie umarmten einander.
»Mögest du ewig leben, Robert Jeremy Cole.«
»Mögest du ewig leben, Louis Charbonneau.«
Rob stieg vom Wagen, um die Überfahrt auszuhandeln, und der alte Mann ritt davon und führte das knochige braune Pferd mit. Die Frage des Fährgeldes war schwierig, denn Rob verstand nicht Böhmisch und hatte schließlich das Gefühl, dass man ihn übervorteilt hatte.
Die Stute zog ihn über die Berge in eine große, schüsseiförmige, von grünen Hügeln umgebene Hochebene. Auf den Feldern plagten sich Männer und Frauen mit Weizen, Gerste, Roggen und Rüben ab, aber der Mischwald herrschte hier vor. Nachts hörte Rob, nicht weit entfernt, das Geheul von Wölfen. Er ließ das Feuer nicht ausgehen, obwohl es im Freien warm war, und Mistress Buffington miaute über die Laute der wilden Tiere und drückte sich im Schlaf mit gesträubtem Fell dicht an ihn. Er war in vieler Hinsicht auf Charbonneau angewiesen gewesen, stellte
nun jedoch fest, dass wohl dessen Gesellschaft das wichtigste gewesen war. Jetzt fuhr er die Römerstraße entlang und erkannte die Bedeutung des Wortes »allein«, denn er konnte mit den Leuten, denen er begegnete, nicht sprechen.
Eine Woche nach seiner Trennung von Charbonneau stieß er eines Morgens auf die nackte verstümmelte Leiche eines Mannes, die an einem Baum neben der Straße hing. Der Gehängte war schmächtig, hatte ein bösartiges Gesicht, und sein linkes Ohr fehlte. Es tat Rob leid, dass er Charbonneau nicht mitteilen konnte, dass andere den dritten Straßenräuber erwischt hatten.
Rob überquerte die weite Hochebene und gelangte wieder in die Berge. Sie waren nicht so hoch wie die, die hinter ihm lagen, aber sie waren so unwegsam, dass sie seine Reise verzögerten. Zweimal wandte er sich auf der Straße an größere Gruppen von Reisenden, um sich ihnen anzuschließen, aber jedes Mal wurde er abgewiesen.
Er kam in eine große Stadt, suchte die Taverne auf und stellte außer sich vor Freude fest, dass der Wirt ein paar Worte Englisch konnte. Von diesem Mann erfuhr er, dass die Stadt Brunn hieß. Die Menschen, durch deren Gebiet er reiste, gehörten zumeist dem Stamm der Tschechen an. Er konnte nicht mehr erfahren, nicht einmal, wo der Mann seinen kleinen englischen Wortschatz erworben hatte, weil bereits das einfache Gespräch die sprachlichen Fähigkeiten des Wirtes erschöpft hatte. Als Rob die Taverne verließ, ertappte er in seinem Wagen einen Mann, der seine Habseligkeiten durchsuchte.
»Hinaus«, sagte er leise und zog sein Schwert, aber der Bursche sprang vom Wagen und verschwand, bevor Rob ihn aufhalten konnte. Robs Geldbörse war noch sicher an die Unterseite des Wagens genagelt, und das einzige, was fehlte, war ein Stoffsack mit den Utensilien, die er bei den Zauberkunststücken verwendete. Er tröstete sich mit dem Gedanken an das Gesicht des Diebes, wenn er den Sack öffnete. Danach polierte er seine Waffen jeden Tag und ließ eine dünne Fettschicht auf den Klingen, damit sie beim leichtesten Zug aus den Scheiden glitten. Nachts schlief er unruhig oder gar nicht, und er lauschte auf jedes Geräusch, ob sich nicht jemand an ihn heranschlich. £r wusste, dass er wenig Chancen hatte, wenn er von einer Bande wie den zerlumpten Reitern angegriffen würde. So blieb er noch neun lange Tage allein und ungeschützt, bis er eines Morgens auf der Straße den Wald verließ und zu seiner Verwunderung und Freude mit aufkeimender Hoffnung einen winzigen Ort vor sich sah, der von einer großen Karawane überschwemmt worden war.
Die sechzehn Häuser des Dorfes waren von mehreren hundert Tieren eingeschlossen. Rob sah Pferde und Maultiere jeglicher Größe und Art, gesattelt oder an Wagen, Karren und die verschiedensten Planwagen gespannt. Er band die Stute an einen Baum. Überall wimmelte es von Menschen, und während er sich durch die Menge drängte, vernahmen seine Ohren ein Durcheinander unverständlicher Sprachen. »Bitte«, sagte er zu einem Mann, der sich abmühte, ein Rad zu wechseln, »wo ist der Leiter der Karawane?« Er half dem Mann, das Rad auf die Nabe zu heben, erhielt aber nur ein dankbares Lächeln und ein verständnisloses Kopfschütteln als Antwort. »Der Meister der Karawane?« fragte er den nächsten Reisenden, der zwei Gespanne großer Ochsen fütterte, auf deren lange, spitze Hörner hölzerne Kugeln gesteckt waren.
»Ah, der Meister? Karl Fntta«, sagte der Mann und zeigte in eine bestimmte Richtung.
Danach war es leicht, denn den Namen Karl Fritta kannten alle. Wann immer Rob ihn aussprach, war die Antwort ein Nicken und ein weisender Finger, bis er schließlich zu einem Tisch kam, der auf einem Feld neben einem großen Wagen stand. Die sechs größten, zusammenpassenden schweren Füchse waren vor das Gefährt gespannt, die Rob je gesehen hatte. Auf dem Tisch lag ein blankes Schwert, und dahinter saß ein Mann, der sein langes braunes Haar zu zwei dicken Zöpfen geflochten hatte und in ein Gespräch mit dem ersten Mann in einer langen Reihe von Wartenden vertieft war, die mit ihm sprechen wollten.
Rob stand am Ende der Reihe. »Ist das Karl Fritta?« fragte er. »Ja, das ist er«, antwortete ein Mann vor ihm. Sie schauten einander erstaunt an.
»Ihr seid Engländer?«
»Schotte«, antwortete der Mann. »Freut mich! Freut mich!« murmelte er und ergriff Robs Hände. Er war groß und hager, hatte langes graues Haar und war nach englischer Art glattrasiert. Er trug ein Reisegewand aus grobem, schwarzem Stoff, aber das Material war solid und gut geschnitten.
»James Geikie Cullen«, stellte er sich vor. »Schafzüchter und Wollhändler. Ich reise mit meiner Tochter nach Anatolien, um bessere Widder und Mutterschafe zu finden.«
»Robert Jeremy Cole, Baderchirurg. Ich bin nach Persien unterwegs, um wertvolle Medikamente zu kaufen.«
Cullen blickte ihn freundlich an. Die Reihe schob sich weiter, aber sie hatten genügend Zeit, um sich über das Wichtigste zu unterhalten, und englische Worte hatten in Robs Ohren noch nie schöner geklungen.
Cullen befand sich in Begleitung eines Mannes, der eine fleckige braune Hose und einen abgerissenen grauen Kittel trug; er hieß Seredy, und Cullen hatte ihn als Diener und Dolmetscher angestellt. Rob erfuhr zu seiner Überraschung, dass er sich nicht mehr in Böhmen befand, sondern, ohne es zu wissen, vor zwei Tagen die Grenze nach Ungarn überschritten hatte. Das Dorf, das die Karawane so verändert hatte, hieß Vac. Man konnte zwar von den Einwohnern Brot und Käse bekommen, aber die Lebensmittel und andere Vorräte waren teuer. Die Karawane kam aus dem Ort Ulm an der Donau. »Fritta ist Deutscher«, vertraute ihm Cullen an. »Er bemüht sich nicht gerade, freundlich zu sein, aber es ist ratsam, gut mit ihm auszukommen, denn es gibt verläßliche Hinweise, dass magyarische Räuber Einzelreisende und kleine Gruppen überfallen, und es gibt keine andere große Karawane im Umkreis.«
Unmittelbar hinter Rob stellten sich nun drei Juden an, was ihn interessierte.
»In einer solchen Karawane muss man eben mit Adeligen und mit Gesindel zusammen reisen«, stellte Cullen laut fest. Rob beobachtete die drei Männer in den schwarzen Kaftanen und Lederhüten. Sie redeten in einer fremden Sprache miteinander, aber die Augen des Mannes, der Rob am nächsten stand, blitzten, wenn Cullen sprach, als verstehe er jedes Wort. Rob schaute weg.
Als sie Frittas Tisch erreichten, besprach Cullen seine Angelegenheiten und bot dann Rob freundlicherweise Seredy als Dolmetscher an. Der Anführer der Karawane, der solche Gespräche erfahren und rasch führte, erfuhr Robs Namen, Beruf und Reiseziel. »Die Karawane zieht nicht nach Persien«, übersetzte Seredy Frittas Worte.
»Von Konstantinopel ab müßt Ihr andere Verabredungen treffen.«
Rob nickte, dann sprach der Deutsche länger.
»Der Betrag, den Ihr Master Fritta bezahlen müßt, entspricht zwei-undzwanzig englischen Silberpennies, aber er will kein englisches Geld mehr, denn Master Cullen wird mit solchem bezahlen, und Master Fritta sagt, dass er so viel Pennies nicht leicht wechseln kann. Er fragt, ob Ihr in französischen Deniers bezahlen könnt.« »Ja.«
»Er will siebenundzwanzig Deniers«, antwortete Seredy zu rasch. Rob zögerte. Er besaß Deniers, weil er das Spezificum in Frankreich verkauft hatte, wusste aber nicht, wie hoch der Wechselkurs war. »Dreiundzwanzig«, sagte eine Stimme, unmittelbar hinter ihm so leise, dass er glaubte, er habe es sich eingebildet. »Dreiundzwanzig Deniers«, erklärte er entschieden. Der Anführer der Karawane nahm das Angebot eisig an und sah ihm gerade in die Augen.
»Ihr müßt selbst für Eure Verpflegung und Vorräte sorgen. Solltet Ihr zurückbleiben oder gezwungen sein, die Reihe zu verlassen, wird keine Rücksicht genommen. Die Karawane besteht, wenn sie diesen Ort wieder verläßt, aus etwa neunzig Reisegruppen, in denen insgesamt über hundertzwanzig Männer sind. Der Master verlangt eine Wache für je zehn Gruppen, Ihr werdet also alle zwölf Tage die ganze Nacht Wache halten müssen.«
»Abgemacht.«
»Neuankömmlinge müssen sich ans Ende der Marschlinie begeben, wo der Staub am ärgsten und der Reisende am gefährdetsten ist. Ihr kommt unmittelbar hinter Master Cullen und seine Tochter. Sobald jemand vor Euch ausfällt, könnt Ihr um einen Platz vorrücken. Jede neue Gruppe, die sich der Karawane anschließt, wird hinter Euch reisen.« »Abgemacht.«
»Und solltet Ihr Euren Beruf als Baderchirurg ausüben, müßt Ihr alle Einkünfte zu gleichen Teilen mit Master Fritta teilen.« »Nein«, antwortete Rob sofort, denn er fand es ungerecht, dass er diesem Deutschen die Hälfte seines Verdienstes geben sollte. Cullen räusperte sich. Rob warf ihm einen Blick zu, sah Besorgnis auf dem Gesicht des Schotten und erinnerte sich daran, was er von den magyarischen Räubern erzählt hatte.
»Biete zehn an, akzeptiere dreißig!« flüsterte die Stimme hinter ihm. »Ich bin bereit, zehn Prozent meiner Einkünfte abzugeben«, sagte Rob.
Fritta sprach ein einziges kurzes Wort, das Rob für das deutsche Äquivalent von »Blödsinn« hielt, dann folgte ein weiteres kurzes Wort.
»Vierzig, sagt er«, übersetzte Seredy. »Ich biete zwanzig.«
Sie einigten sich auf dreißig Prozent. Als Rob sich bei Cullen für den Dolmetscher bedankte und wegging, schaute er schnell zu den drei Juden hin. Sie waren mittelgroß und hatten so sonnenverbrannte Gesichter, dass sie beinahe schwarz wirkten. Der Mann, der unmittelbar hinter ihm gestanden hatte, hatte eine fleischige Nase und dicke Lippen über einem graugesprenkelten Vollbart. Er sah Rob nicht an, sondern trat mit der Konzentration eines Mannes, der einen Gegner bereits getestet hat, an den Tisch.
Den Neuankömmlingen wurde befohlen, im Lauf des Nachmittags ihren Standort in der Marschlinie einzunehmen und über Nacht auch dort zu lagern, denn die Karawane würde sofort nach Tagesanbruch aufbrechen. Rob suchte sich seinen Platz zwischen Cullen und den Juden, spannte die Stute aus und ließ sie einige Wagenlängen entfernt grasen. Die Einwohner von Vac nahmen die letzte Gelegenheit wahr, den unerwarteten Glücksfall auszunützen und Vorräte zu verkaufen. Ein Bauer kam vorbei und hielt Eier und gelben Käse hoch, für den er vier Deniers verlangte, einen unerhörten Preis. Statt zu bezahlen tauschte Rob den Käse gegen drei Flaschen Universal-Spezificum ein und hatte sich so sein Abendessen verdient.
Während er aß, beobachtete er seine Nachbarn, die ihn ebenfalls beobachteten. Vor ihm holte Seredy Wasser, aber das Kochen besorgte
Cullens Tochter. Sie war hochgewachsen und hatte rotes Haar. Hinter ihm lagerten fünf Männer. Sie besaßen gute Pferde, die sie gerade striegelten, sowie zwei Maulesel für ihr Gepäck, von denen einer vermutlich das Zelt trug, das sie aufgestellt hatten. Die anderen vier sahen schweigend zu, als Rob zu dem Mann ging, der m der Reihe direkt hinter ihm gestanden hatte.
»Ich bin Robert Jeremy Cole. Ich möchte Euch danken.« »Keine Ursache.« Er ließ die Bürste sinken. »Ich bin Meier ben Ascher.« Er stellte seine Gefährten vor, von denen zwei dabei gewesen waren, als Rob mit Fritta verhandelt hatte: Gerson ben Schemuel, der eine Geschwulst auf der Nase hatte, klein war und so zäh aussah wie ein Stück Leder, und Juda Kohn, der eine schmale Nase, einen kleinen Mund, glänzendes schwarzes Haar wie ein Bär und einen entsprechenden Bart besaß. Die beiden anderen waren jünger: Simon ben Levi war mager und ernst, fast schon ein Mann, eine Bohnenstange mit einem schütteren Bart, und Tuveh ben Meier, ein zwölfjähriger Junge, der wie einst Rob für sein Alter sehr groß war. »Mein Sohn«, erklärte Meier.
Von den anderen sagte keiner etwas. Sie betrachteten ihn genau. »Ihr seid Kaufleute?«
Meier nickte. »Früher hat unsere Familie in Deutschland, im Marktflecken Hameln gelebt. Vor zehn Jahren sind wir alle nach Angora im Byzantinischen Reich übersiedelt, von wo wir sowohl nach Osten wie nach Westen reisen, um zu kaufen und zu verkaufen.« »Was kauft und verkauft Ihr?«
Meier zuckte die Schultern. »Ein wenig von dem, ein bißchen von |enem.«
Rob gefiel die Antwort sehr. Er hatte sich stundenlang erfundene Einzelheiten ausgedacht, die er von sich erzählen wollte, und sah nun, dass es unnötig war: Geschäftsleute verrieten nicht zu viel. »Wohin reist Ihr?«
fragte der junge Mann namens Simon und überraschte damit Rob, der angenommen hatte, dass nur Meier Englisch konnte.
»Nach Persien.«
»Persien? Ausgezeichnet. Habt Ihr dort Verwandte?« »Nein. Ich will einkaufen. Verschiedene Krauter, vielleicht ein paar Medikamente.«
»Aha«, sagte Meier. Die Juden sahen einander an und akzeptierten es sofort. Dies war der richtige Moment, um sich zu verabschieden, und Rob wünschte ihnen eine gute Nacht.
Cullen hatte ständig hinübergeschaut, während Rob mit den Juden sprach, und als dieser zu seinem Lagerplatz zurückkehrte, war ein Großteil der ursprünglichen Freundlichkeit des Schotten verschwunden.
Nicht gerade begeistert stellte er seine Tochter Margaret vor, aber das Mädchen begrüßte Rob höflich. Von der Nähe sah ihr rotes Haar aus, als sei es angenehm, es zu berühren. Ihr Blick war kühl und traurig. Ihre hohen, runden Backenknochen wirkten so groß wie eine Männerfaust, Nase und Kinn waren anmutig, aber nicht zart.
Gesicht und Arme hatte sie voller Sommersprossen, und Rob war nicht daran gewöhnt, dass eine Frau so groß war.
Während er zu entscheiden versuchte, ob sie schön war, kam Fritta vorbei und sprach kurz zu Seredy.
»Er möchte, dass Master Cole heute nacht die Wache übernimmt«, sagte der Dolmetscher.
In der Dämmerung begann Rob daher, seine Runde zu machen, die bei Cullens Lager begann und acht Lager nach dem seinen aufhörte. Während er seine Runden drehte, sah er, aus was für einer merkwürdigen Mischung die Karawane bestand. Neben einem gedeckten Planenwagen stillte eine Frau mit olivenfarbiger Haut und blondem Haar ein Baby, während ihr Mann beim Feuer hockte und die Geschirre einfettete. Zwei Männer reinigten ihre Waffen. Ein Junge fütterte drei fette Hühner in einem primitiven Holzkäfig. Ein leichenblasser Mann und seine dicke Frau starrten einander an und stritten in einer Sprache, die Rob für Französisch hielt.
Beim dritten Rundgang um sein Gebiet sah er, als er beim Lager der Juden vorbeikam, dass sie beisammen standen, hin und her schwankten und etwas sangen, was offenbar ihr Abendgebet war. Der Mond stieg groß und weiß aus dem Wald hinter dem Dorf. Rob fühlte sich gut aufgehoben und selbstsicher, denn er gehörte plötzlich einer Gemeinschaft von über hundertzwanzig Männern an, und das war etwas anderes, als allein durch ein fremdes, feindseliges Land zu reisen.
Im Lauf der Nacht rief er viermal jemanden an, stellte aber jedes Mal fest, dass es nur ein Mann war, der das Lager verließ, um sein Bedürfnis zu erledigen.
Gegen Morgen, als er unerträglich schläfrig wurde, kam Cullens Tochter aus dem Zelt ihres Vaters. Sie ging nahe an ihm vorbei, ohne seine Anwesenheit zu bemerken. Er sah sie deutlich in dem weißen Mondlicht. Ihre Kleidung wirkte sehr schwarz, und ihre großen, taunassen Füße sahen besonders weiß aus.
Er ging möglichst geräuschvoll in die entgegengesetzte Richtung, doch gab er von ferne acht, bis sie unversehrt zurückkehrte, dann setzte er seine Runde fort.
Beim ersten Licht verließ er seinen Posten und verzehrte rasch zum Frühstück etwas Brot und Käse. Während er aß, versammelten sich die Juden vor ihrem Zelt zum Gebet bei Sonnenaufgang. Vielleicht würde die Nachbarschaft noch anstrengend werden, denn sie schienen außerordentlich religiöse Leute zu sein. Sie schnallten sich kleine schwarze Büchsen an die Stirn und wanden dünne Lederriemen um ihre Unterarme, bis diese den Baderpfosten auf Robs Wagen ähnelten, dann versanken sie beängstigend in Tagträume und bedeckten ihre Köpfe mit Bettüchern. Er war erleichtert, als sie fertig waren. Da er die Stute zu früh eingespannt hatte, musste er warten. Obwohl die Gruppen an der Spitze der Karawane kurz nach Tagesbeginn aufbrachen, stand die Sonne schon ziemlich hoch, als schließlich er an die Reihe kam. Cullen ritt auf einem grobknochigen Schimmel voran, gefolgt von seinem Diener Seredy auf einer schmuddeligen grauen Stute, die drei Packpferde anführte.
Warum brauchten die beiden Leute drei Packpferde? Die Tochter saß auf einem stolzen Rappen. Rob fand, dass nicht nur die Hinterbacken des Pferdes, sondern auch die der Frau großartig waren, und folgte ihnen gern.
Alle lebten sich schnell in die Routine der Reise ein. Während der ersten drei Tage betrachteten ihn die Schotten und die Juden höflich, ließen ihn aber in Ruhe. Vielleicht beunruhigten sie sein zerschlagenes Gesicht und die merkwürdigen Bilder auf seinem Wagen. Es hatte ihn nie gestört, allein zu sein, und so gab er sich zufrieden seinen Gedanken hin.
Das Mädchen ritt ständig vor ihm, und er beobachtete sie unvermeidlich auch dann, wenn sie das Lager aufgeschlagen hatten. Sie schien zwei schwarze Kleider zu besitzen, von denen sie eines wusch, wann immer es möglich war. Sie war sichtlich ans Reisen gewöhnt und ließ sich von Unbequemlichkeiten nicht stören, aber ihrem Vater und sie umgab eine Aura von kaum unterdrückter Melancholie. Aufgrund ihrer Kleidung nahm Rob an, dass sie in Trauer waren. Manchmal sang Margaret leise. Am vierten Morgen, als die Karawane nur langsam vorankam, stieg sie ab und führte das Pferd, um sich die Füße zu vertreten. Rob sah auf sie hinunter, als sie neben seinem Wagen ging, und lächelte ihr zu. Ihre Augen schienen riesig, die Iris war tiefblau. Ihr flächiges Gesicht mit den hohen Backenknochen ließ auf Empfindsamkeit schließen. Der Mund war groß und blühend, wie alles an ihr, doch merkwürdig bewegt und ausdrucksvoll. »In welcher Sprache singt Ihr?« »In Gälisch, was wir Erse nennen.« »Das habe ich mir gedacht.« »Ach. Wie erkennt ein Sachse das Erse?« »Was ist ein Sachse?«
»Es ist unser Name für alle, die südlich von Schottland leben.« »Ich habe das Gefühl, dass das Wort kein Kompliment ist.« »Allerdings nicht«, gab sie zu, und diesmal lächelte sie. »Mary Margaret!« rief ihr Vater scharf. Sie ging sofort zu ihm, eine gehorsame Tochter. Mary Margaret!
Sie musste ungefähr in dem gleichen Alter sein wie Anne Mary, wurde ihm beklemmend klar. Doch dieses Mädchen ist nicht Anne Mary, rief er sich ins Gedächtnis. Er musste aufhören, in jeder jungen Frau seine Schwester zu sehen, denn aus dieser Marotte konnte eine Art von Wahn werden.
Ihr Vater war offenbar entschlossen, ihm in einem Gespräch noch einmal eine Chance zu geben, vielleicht weil Rob nicht wieder mit den Juden gesprochen hatte. Am fünften Abend, den sie unterwegs waren, kam James Cullen mit einem Krug Gerstenbranntwein zu Besuch, und
Rob begrüßte ihn und nahm einen freundschaftlichen Schluck aus der Flasche.
»Kennt Ihr Euch mit Schafen aus, Master Cole?« Cullen strahlte, als Rob verneinte, und war bereit, ihn aufzuklären. »Es gibt solche Schafe und solche Schafe. In Kilmarnock, dem Ort, an dem sich der Besitz der Cullens befindet, sind Mutterschafe oft nicht schwerer als zwölf Stone. Ich habe gehört, dass wir im Osten Schafe finden werden, die doppelt so schwer sind und langes Haar statt des kurzen haben - ein dichteres Vlies als die Tiere in Schottland, das so voll Fett ist, dass die Wolle, wenn sie gesponnen und zu Kleidung verarbeitet ist, den Regen abstößt.«
Cullen wollte Zuchttiere kaufen, sobald er die besten fand, und sie nach Kilmarnock bringen.
Das erforderte Geld, ein stattliches Betriebskapital, begriff Rob, und ihm wurde klar, warum Cullen drei Packpferde brauchte. »Ihr befindet Euch auf einer weiten Reise. Ihr werdet lange Zeit Eurem Besitz und Euren Schafen fernbleiben.«
»Ich habe alles in der Obhut verläßlicher Verwandter zurückgelassen. Es war ein schwerer Entschluß, aber...
Sechs Monate bevor ich Schottland verließ, habe ich meine Frau begraben, mit der ich zwei-undzwanzig Jahre verheiratet gewesen war.« Cullen verzog das Gesicht und hob den Krug zu einem langen Zug an den Mund. Das erklärt ihren Gram, dachte Rob. Der Baderchirurg in ihm stellte die Frage, woran sie gestorben sei.
Cullen hustete. »Sie hatte in beiden Brüsten Gewächse, harte Klumpen. Sie wurde blaß und schwach, verlor den Appetit und den Lebenswillen. Schließlich litt sie schreckliche Schmerzen. Es dauerte lange, bis sie starb, aber sie verschied doch, bevor ich mich darauf eingestellt hatte. Sie hieß Jura... Ich war sechs Wochen lang betrunken, doch das half mir nicht weiter. Jahrelang hatte ich davon geredet, dass ich in Anatolien erstklassige Zuchttiere kaufen wollte, aber nie gedacht, dass es dazu kommen würde. Nun beschloss ich einfach, mich auf den Weg zu machen.«
Er bot Rob den Krug an und war nicht beleidigt, als dieser den Kopf schüttelte. »Zeit zu pissen.« Er lächelte freundlich. Da er bereits einen großen Teil vom Inhalt des Kruges getrunken hatte, musste Rob ihm beistehen, als er mühsam versuchte, auf die Füße zu kommen.
»Eine gute Nacht, Master Cullen! Bitte, kommt wieder!«
»Eine gute Nacht, Master Cole!«
Während Rob ihm nachsah, fiel ihm ein, dass Cullen kein einziges Mal seine Tochter erwähnt hatte.
Am folgenden Nachmittag wurde ein französischer Kommissionär namens Felix Roux, der achtunddreißigste in der Marschlinie, abgeworfen, als sein Pferd vor einem Dachs scheute. Er stürzte ungeschickt mit seinem vollen Gewicht auf den linken Unterarm und brach sich die Elle, so dass sie schief wegstand. Karl Fritta ließ den Baderchirurgen holen, der den Knochen einrichtete und den Arm ruhigstellte, was ein schmerzhafter Vorgang war. Rob versuchte, Roux klarzumachen, dass ihm der Arm beim Reiten zwar höllische Schmerzen bereiten, er aber dennoch imstande sein würde, mit der Karawane zu reisen. Schließlich musste er Seredy holen lassen, um dem Patienten zu erklären, wie er mit der Schlinge umgehen solle.
Als Rob zu seinem Wagen zurückkehrte, war er nachdenklich. Er hatte sich bereit erklärt, mehrmals wöchentlich kranke Reisende zu behandeln. Obwohl er Seredy ein großzügiges Trinkgeld gegeben hatte, wusste er, dass er James Cullens Diener nicht weiterhin als Dolmetscher verwenden konnte.
Als er zu seinem Wagen kam, saß Simon ben Levi in der Nähe auf dem Boden und besserte einen Sattelgurt aus.
Rob ging zu dem jungen Juden.
»Verstehst du auch Französisch und Deutsch?« Der Junge nickte, während er einen Sattelriemen an den Mund hielt und den gewachsten Faden abbiß.
Rob sprach, und Simon hörte zu. Da die Bedingungen günstig waren und die Arbeit nicht viel Zeit beanspruchte, erklärte der Jude sich bereit, für den Baderchirurgen zu dolmetschen. Rob war froh. »Wieso kannst du so viele Sprachen?« »Wir kamen als Händler mit vielen Völkern in Berührung. Wir reisen ständig und haben Verwandte auf den Märkten, in aller Welt. Sprachen zu können gehört zu unserem Geschäft. Der junge Tuveh zum Beispiel studiert die Sprache der Mandarine, denn er wird in drei Jahren die Seidenstraße bereisen und in der Firma meines Onkels arbeiten.« Sein Onkel Issachar ben Nachum leitete eine große Filiale ihrer Familie in Kai Feng Fu, von wo er alle drei Jahre eine Karawane mit Seidenstoffen, Pfeffer und anderen exotischen Waren aus dem Orient nach Mesched in Persien schickte. Und seit Simons Kinderzeit waren er und andere männliche Familienmitglieder alle drei Jahre von Angora nach Mesched gereist, um eine Karawane mit den kostbaren Waren ins Ostfränkische Königreich zu begleiten. Robs Puls ging schneller. »Du kannst die persische Sprache?« »Selbstverständlich. Parsi.« Rob sah ihn verständnislos an. »Sie heißt Parsi.« »Willst du sie mich lehren?«
Simon ben Levi zögerte. Das war etwas anderes, das konnte einen großen Teil seiner Zeit in Anspruch nehmen.
»Ich werde dich gut bezahlen.« »Warum wollt Ihr Parsi lernen?«
»Ich brauche die Sprache, wenn ich nach Persien komme.« »Ihr wollt dort regelmäßig Geschäfte machen?
Immer wieder dorthin zurückkehren, um Krauter und Arzneimittel zu kaufen, wie wir es mit Seide und Gewürzen tun?«
»Vielleicht.« Rob zuckte mit den Achseln, eine Geste, die Meier ben Aschers würdig gewesen wäre. »Ein wenig von dem, ein bißchen von jenem.«
Simon grinste. Er begann die erste Lektion, indem er mit einem Stock in den Staub kratzte, aber das war unbefriedigend, und Rob ging zum Wagen, holte sein Zeichenmaterial und eine saubere Scheibe Buchenholz.
Simon lehrte ihn das Parsi genauso, wie Ma ihm vor vielen Jahren beigebracht hatte, das Englische zu lesen, nämlich mit dem Alphabet. Die Parsibuchstaben bestanden aus Punkten und verschnörkelten Linien. Die Schrift sah aus wie Taubendreck, Vogelspuren, gekräuselte Hobelspäne, Würmer, die versuchten, miteinander zu kopulieren. »Das werde ich nie lernen.« Rob hatte schnell den Mut verloren. »O doch«, widersprach Simon ruhig.
Rob kehrte mit der Holzscheibe zum Wagen zurück. Er verzehrte sein Abendessen bedächtig, ließ sich Zeit, um seine Aufregung unter Kontrolle zu bekommen. Dann setzte er sich auf den Kutschbock und machte sich sofort ans Üben.
Sie kamen aus den Bergen in flaches Land, das von der römischen Straße, so weit das Auge reichte, vollkommen gerade durchschnitten wurde. Sie zogen an einem riesigen See entlang, folgten drei Tage lang seinen Ufern und hielten über Nacht an, um in einem Ort Vorräte zu kaufen. Es war ein besonderes Dorf, schiefe Häuser und verschlagene, betrügerische Bauern, aber der See - er hieß Balaton - war ein überirdischer Traum aus dunklem Wasser, das aussah wie ein Edelstein. Weißer Nebel stieg von der Oberfläche auf, während Rob am frühen Morgen darauf wartete, dass die Juden ihre Gebete sprachen. Es war komisch, den Juden zuzusehen.
Merkwürdige Geschöpfe, die sich beim Beten vor- und zurückneigten. Gott schien mit ihren Köpfen zu jonglieren, die sich abwechselnd hoben und senkten, aber einem geheimnisvollen Rhythmus zu gehorchen schienen. Nach dem Gebet schwammen die Juden im See, und Rob folgte ihrem Beispiel. Sie genossen alle die Erfrischung nach dem Staub der Reise. Als sie ans Ufer zurückkehrten, bemerkte Meier Robs beschnittenen Penis und sah ihn fragend an.
»Ein Pferd hat die Spitze abgebissen«, erklärte dieser. »Zweifellos eine Stute«, stellte Meier fest, murmelte dann den anderen etwas zu, woraufhin alle Rob grinsend betrachteten.
Nachdem sie den See hinter sich gelassen hatten, wurde die Gegend öde. Sie fuhren die gerade, endlose Straße entlang, kamen Meile um Meile an immer gleichen Wäldern und Feldern vorbei, die sich kaum voneinander unterschieden, so dass die Eintönigkeit bald unerträglich wurde. Rob suchte Zuflucht bei seiner Phantasie, stellte sich die römische Straße vor, wie sie zu Beginn gewesen war: eine via in einem umfassenden Netz von Tausenden Straßen, die es Rom ermöglicht hatten, die Welt zu erobern. Zuerst kamen Kundschafter, eine berittene Vorhut. Dann folgte der Heerführer in seinem von einem Sklaven gelenkten Streitwagen, umgeben von Trompetern, die als feierliche Umrahmung und zur Nachrichtenübermittlung dienten. Dann die tri-buni und die legati zu Pferd, die Stabsoffiziere. Ihnen folgte die Legion, ein dichter Wald aus Speeren - zehn Kohorten der am besten ausgebildeten Kämpfer und Killer der Geschichte, sechshundert Mann je Kohorte, jeweils hundert Legionäre, von einem centuno geführt. Und schließlich Tausende Sklaven, die die Rolle von Arbeitstieren übernahmen, die tormenta zogen, die riesigen Kriegsmaschinen, die der wahre Grund für den Straßenbau waren: große Sturmböcke, die JVlauern und Befestigungen dem Erdboden gleichmachten, bösartige catapulta, die aus dem Himmel Pfeile auf den Feind regnen ließen, riesige ballista, die Schlingen der Götter, die Steinblöcke durch die Luft wirbelten oder große Balken schleuderten, als wären sie Pfeile.
Schließlich die impedimenta, der Troß aus Packpferden, Frauen und Kindern, Huren, Händlern, Kurieren und Regierungsbeamten, jenen Ameisen der Geschichte, die von den Überresten der römischen Feste lebten.
Die Cullen-Tochter ging wieder neben seinem Wagen und hatte ihr Pferd an eines der Packtiere gebunden.
»Wollt Ihr mit mir fahren, Mistress ? Der Wagen wird eine Abwechslung für Euch sein.«
Sie zögerte, doch als er die Hand ausstreckte, ergriff sie sie und ließ sich hochziehen.
»Eure Wange ist gut geheilt«, bemerkte sie. Sie errötete, sprach aber trotzdem weiter. »Von dem letzten Kratzer ist nur eine zarte silberne Linie übriggeblieben. Wenn Ihr Glück habt, wird sie verschwinden, und es bleibt keine Narbe zurück.«
Auch er errötete, und es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie seine Züge nicht gemustert hätte.
»Wie seid Ihr zu der Verletzung gekommen?« »Eine Begegnung mit Wegelagerern.«
Margaret Mary Cullen holte tief Luft. »Ich bete zu Gott, er möge uns davor bewahren.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Einige behaupten, dass Karl Fritta die Gerüchte von den magyarischen Banditen selbst in Umlauf setzt, um den Reisenden Angst einzujagen.« Rob hob die Schultern. »Ich traue es Master Fritta zu. Die Magyaren wirkten eigentlich nicht gefährlich.« Zu beiden Seiten der Straße ernteten Männer und Frauen Kohl.
Sie verstummten. Jede Unebenheit der Straße rüttelte die beiden durcheinander, und Rob hoffte, eine weiche Hüfte und einen festen Oberschenkel zu spüren. Der Geruch ihres Körpers glich dem schwachen, warmen Duft, den die Sonne den Beerenbüschen entlockt.
Er, der landauf, landab in England Frauen in den Armen gehalten hatte, konnte nur stockend sprechen. »Hat Euer erster Vorname immer schon Margaret gelautet, Mistress Cullen?« Sie sah ihn erstaunt an. »Immer.« »Könnt Ihr Euch an keinen anderen Namen erinnern?« »Als ich klein war, nannte mich mein Vater Schildkröte, weil ich manchmal so guckte.« Sie schloss und öffnete beide Augen langsam. Er sehnte sich danach, ihr Haar zu berühren, und wurde unruhig. Unterhalb des breiten Backenknochens befand sich auf ihrer linken Wange eine kleine Narbe, die er erst jetzt entdeckte, aber sie beeinträchtigte ihr Aussehen nicht. Er blickte rasch weg. Vorne wandte Cullen sich im Sattel um und erblickte seine Tochter auf dem Wagen. Cullen hatte Rob inzwischen mehrmals in Gesellschaft der Juden gesehen, und als er Mary Margarets Namen rief, erkannte man an seiner Stimme seine Mißbilligung. Sie stand auf. »Wie lautet Euer voller Name, Master Cole?« »Robert Jeremy.«
Sie nickte ernst, aber ihre Augen neckten ihn. »Hat er immer so gelautet? Könnt Ihr Euch an keinen anderen Namen erinnern?« Sie raffte ihre Röcke mit einer Hand zusammen und sprang leichtfüßig wie ein Tier hinunter.
Kurz sah er weiße Beine aufleuchten. Rob schlug die Stute mit den Zügeln auf den Rücken und ärgerte sich darüber, dass sich die Cullen-Tochter über ihn lustig gemacht hatte.
An diesem Abend suchte er nach dem Essen Simon wegen der zweiten Lektion auf, und er stellte fest, dass die Juden Bücher besaßen. An der St.-Botolph-Schule, die er als Junge besucht hatte, hatte es drei Bücher gegeben: ein Altes und ein Neues Testament, beide lateinisch, und ein englisches Monatsregister, die Liste der heiligen Festtage, deren Einhaltung der König von England vorgeschrieben hatte. Die Seiten bestanden aus Pergament, das aus den Häuten von Lämmern, Kälbern oder Zicklein gewonnen wurde. Jeder Buchstabe war handschriftlich übertragen worden, eine gewaltige Arbeit, die Bücher teuer und selten machte.
Die Juden bewahrten mehrere Bücher - später erfuhr er, dass es sieben waren - in einer kleinen Truhe aus besonders bearbeitetem Leder auf. Simon nahm eines, das in Parsi geschrieben war, und die Lektion bestand darin, dass Rob jene Buchstaben in dem Text suchte, die Simon nannte. Rob hatte das Parsi-Alphabet schnell und gut gelernt. Simon lobte ihn und las einen Abschnitt des Buches, damit Rob den Wohlklang der Sprache hören konnte. Nach jedem Wort hielt er inne und ließ es von Rob wiederholen. »Wie heißt dieses Buch?« »Es ist der Koran, ihre Bibel«, antwortete Simon und übersetzte: Ehre sei Gott, dem Allerhöchsten, voller Gnade und Barmherzigkeit; Er schuf alles, einschließlich des Menschen.
Dem Menschen gab Er einen besonderen Platz in Seiner Schöpfung. Er erwies dem Menschen die Ehre, Sein Bevollmächtigter zu sein, Und zu diesem Zweck schenkte Er ihm Verständnis, Läuterte seine Neigungen und verlieh ihm geistige Einsicht.
»Ich werde Euch jeden Tag eine Liste von zehn persischen Wörtern und Ausdrücken geben«, sagte Simon. »Ihr müßt sie dann für die Lektion des nächsten Tages auswendig lernen.« »Gib mir jeden Tag fünfundzwanzig Wörter«, verlangte Rob, denn er wusste, dass er seinen Lehrer nur bis Konstantinopel behalten würde. Simon lächelte. »Dann also fünfundzwanzig.«
Am nächsten Tag lernte Rob die Wörter mühelos, denn die Straße war noch immer gerade und eben, und die Stute trottete mit verhängten Zügeln dahin, während ihr Herr auf dem Kutschbock saß und übte. Rob fand jedoch, dass er jede Gelegenheit nutzen musste, und so bat er nach der Lektion dieses Tages Meier ben Ascher um die Erlaubnis, das persische Buch in seinen Wagen mitnehmen zu dürfen, damit er es während der langen, eintönigen Reisetage studieren könne. Meier lehnte entschieden ab. »Wir dürfen das Buch nie aus den Augen lassen. Ihr könnt es nur lesen, wenn wir dabei sind.« »Darf dann Simon in meinem Wagen mitfahren?« Er war davon überzeugt, dass Meier wieder nein sagen würde, aber Simon setzte sich für ihn ein: »Ich könnte in dieser Zeit die Kontobücher prüfen.« Meier überlegte.
»Er wird lernen wie ein Verrückter«, meinte Simon ruhig. »Er hungert nach Wissen.«
Die Juden schauten Rob irgendwie anders an als bisher. Schließlich nickte Meier. »Ihr könnt das Buch in Euren Wagen mitnehmen.«
An diesem Abend schlief Rob mit dem Wunsch ein, es wäre schon morgen, und am Morgen erwachte er früh und beinahe schmerzhaft gespannt vor Erwartung. Das Warten wurde ihm lang, als er zusah, wie die Juden langsam Anstalten trafen, den Tag zu beginnen. Simon ging in den Wald, um Blase und Darm zu entleeren, Meier und Tuveh schlurften zur Quelle, um sich zu waschen, dann beugten sich alle vor und zurück und murmelten das Morgengebet. Schließlich trugen Gerson und Juda Brot und Schleimsuppe auf.
Kein Liebender hatte jemals sein Mädchen sehnsüchtiger erwartet.
»Komm, komm, du Schleicher, du hebräischer Tagedieb«, murmelte Rob und ging noch ein letztes Mal seine Tageslektion persischer Wörter durch.
Als Simon endlich kam, brachte er das persische Buch, ein schweres Hauptbuch und einen eigentümlichen Holzrahmen mit, in dem auf dünnen Stangen Glasperlen aufgereiht waren.
»Was ist das?«
»Ein Abakus. Ein Rechengerät, das beim Addieren gute Dienste leistet.«
Nachdem sich die Karawane in Bewegung gesetzt hatte, stellte sich heraus, dass die neue Regelung günstig war.
Obwohl die Straße relativ eben war, rollten die Wagenräder doch über viele Steine, und man konnte kaum schreiben; doch man konnte ohne Schwierigkeiten lesen, und sie machten sich an die Arbeit, während sie Meile um Meile durch das Land zogen.
Rob verstand das persische Buch noch nicht, aber Simon hatte ihm gesagt, er solle die Parsi-Buchstaben und -
Wörter lesen, bis ihm die Aussprache keine Mühe mehr mache. Einmal stieß er auf einen Ausdruck, der auf Simons Liste stand, koc-homedi; — Du kommst mit guter Absicht —, und er triumphierte, als hätte er einen kleinen Sieg errungen.
Manchmal blickte er auf, um Margaret Mary Cullens Rücken zu beobachten. Sie ritt dicht neben ihrem Vater, zweifellos auf seinen Wunsch, denn er hatte Simon seltsam angestarrt, als dieser auf den Wagen geklettert war.
Sie hielt sich sehr gerade und hatte den Kopf hoch erhoben, als hätte sie ihr Leben lang im Sattel gesessen.
Schon mittags hatte Rob seine Liste von Wörtern und Sätzen gelernt. »Fünfundzwanzig sind nicht genug. Du musst mir mehr aufgeben.« Simon lächelte und gab ihm weitere fünfzehn Wörter auf. Der Jude sprach wenig, und Rob gewöhnte sich an das Klick-klick-klick der Abakus-Perlen, die unter Simons Fingern hin und her sausten. Irgendwann am Nachmittag knurrte Simon, und Rob wusste, dass er in einer Rechnung einen Fehler entdeckt hatte. Das Hauptbuch enthielt offenbar Aufzeichnungen über sehr viele Transaktionen; Rob dämmerte, dass diese Männer ihrer Familie die Gewinne jener Handelskarawane brachten, die sie von Persien nach Deutschland geführt hatten; deshalb ließen sie auch ihr Lager nie unbewacht. Vor ihm in der Marschlinie befand sich Cullen, der einen beträchtlichen Betrag nach Anatolien brachte, um Schafe zu kaufen. Hinter ihm befanden sich die Juden, die bestimmt einen noch größeren Betrag bei sich hatten. Wenn Räuber eine solch reiche Beute witterten, würden sie ein Heer von Verbrechern aufstellen, und selbst eine so große Karawane wäre dann vor ihrem Angriff nicht sicher. Aber er kam nicht auf den Gedanken, die Karawane zu verlassen, denn allein zu reisen hätte bedeutet, den Tod herauszufordern. Also schlug er sich alle Bedenken aus dem Kopf, saß Tag um Tag mit verhängten Zügeln auf dem Kutschbock und hielt den Blick gleichsam für immer auf das Heilige Buch des Islam gerichtet.
Eine besondere Zeit folgte. Das Wetter hielt, der Himmel war so herbstlich, dass sein tiefes Blau Rob an Mary Cullens Augen erinnerte, die er jedoch nur selten zu sehen bekam, weil sie sich von ihm fernhielt - zweifellos auf Geheiß ihres Vaters.
Simon unterrichtete ihn eifrig, als müsse er ein Großkaufmann werden.
»Wie heißt die persische Gewichtseinheit?«
»Das man, Simon, ungefähr die Hälfte von einem englischen Stone.« »Nennt mir die anderen Gewichte!«
»Ein ratel, der sechste Teil eines man. Das äirham, der fünfte Teil eines ratel. Das mescal, ein halbes dirham.
Das düng, der sechste Teil eines ntescal. Und das Gerstenkorn, ein Viertel eines düng.« »Sehr gut. Wirklich gut!« Wenn Rob nicht geprüft wurde, stellte er ununterbrochen Fragen.
»Bitte, Simon, wie heißt das Wort für Geld?« »Ras."
»Simon, würdest du so freundlich sein... was heißt dieser Ausdruck in dem Buch, sonab a cartet?«
»Verdienst für das nächste Leben, das heißt im Paradies.« »Simon...«
Simon stöhnte, und Rob wusste, dass er ihm lästig wurde, worauf er sich die Fragen verkniff, bis ihm eine äußerst dringende einfiel. Zweimal in der Woche besuchten sie Patienten. Simon übersetzte für ihn, schaute und hörte zu. Wenn Rob untersuchte und behandelte, war er der Fachmann, und Simon stellte die Fragen. Ein dümmlich grinsender fränkischer Treiber suchte den Baderchirurgen auf und klagte über Schwäche und Schmerzen in den Kniekehlen, in denen sich harte Knoten befanden. Rob gab ihm eine Salbe aus schmerzstillenden Krautern und Schafsfett und sagte ihm, er solle in zwei Wochen wiederkommen. Aber der Treiber stand schon nach einer Woche wieder vor ihnen. Diesmal berichtete er, dass er die gleichen Knoten in beiden Achselhöhlen habe. Rob gab ihm zwei Flaschen Umversal-Spezificum und schickte ihn weg. Als alle fort waren, wandte sich Simon an Rob. »Was ist mit dem großen Franken los?«
»Vielleicht werden die Knoten vergehen. Aber ich glaube es nicht. Er wird weitere Knoten bekommen, wenn er die Beulenpest hat. In diesem Fall muss er bald sterben.« Simon blinzelte. »Könnt Ihr nichts dagegen tun?« Rob schüttelte den Kopf. »Ich bin ein unwissender Baderchirurg. Vielleicht gibt es irgendwo einen großen Arzt, der ihm helfen könnte.« »Ich könnte Eure Arbeit erst dann verrichten«, meinte Simon langsam, »wenn ich alles gelernt hätte, was es zu wissen gibt.« Rob sah ihn an, schwieg aber. Es erschreckte ihn, dass der junge Jude sofort und so klar erkannt hatte, wozu er so lange gebraucht hatte.
In dieser Nacht wurde er von Cullen rauh geweckt. »Beeilt Euch, Mann, um Christi willen«, sagte der Schotte.
Eine Frau schrie.
»Mary?«
»Nein, nein. Kommt mit!«
Es war eine dunkle, mondlose Nacht. Nur hinter dem Lager der Juden hatte jemand Pechfackeln angezündet, und im flackernden Licht sah Rob, dass ein Mann im Sterben lag.
£s war Raybeau, ein leichenblasser Franzose, der drei Plätze hinter Rob in der Marschlinie reiste. In seiner Kehle klaffte ein offener Riß, und neben ihm auf dem Boden glänzte eine dunkle Lache. »Er war heute nacht der Wächter unseres Abschnitts«, erklärte Simon. Mary Cullen nahm sich des schreienden Weibes an, Raybeaus gewichtiger Frau, mit der er fortwährend gestritten hatte. Unter Robs feuchten Fingern fühlte sich die aufgeschlitzte Kehle des Mannes glitschig an. Raybeaus Atem ging rasselnd, einen Moment wandte er sich dem verzweifelten Geschrei seiner Frau zu, dann krümmte er sich zusammen und starb.
Einen Augenblick später schraken sie vom Geräusch galoppierender Pferde zusammen. »Es sind nur berittene Wachen, die Fritta ausschickt«, beruhigte sie Meier aus dem Dunkeln. Die gesamte Karawane war auf den Beinen und bewaffnet, doch bald kehrten Frittas Reiter mit der Meldung zurück, dass sie keine Räuberbande gefunden hätten. Vielleicht war der Mörder ein einzelner Dieb oder der Kundschafter von Banditen gewesen; auf jeden Fall war er verschwunden.
Den Rest der Nacht schliefen sie wenig. Am Morgen wurde Caspar Raybeau dicht neben der Römerstraße begraben. Karl Fritta sprach eilig die Begräbnisformeln auf deutsch, dann verließen die Leute die Grabesstelle und trafen nervös Vorbereitungen für die Weiterreise. Die Juden beluden ihre Packmaultiere so, dass die Lasten sich nicht lockerten, wenn die Tiere galoppieren mußten. Jedes Maultier war unter anderem mit einem schmalen, offenbar sehr schweren Sack aus Leder beladen. Rob konnte sich denken, was sich darin befand. Simon kam nicht zum Wagen, sondern ritt neben Meier, bereit zu kämpfen oder zu fliehen, falls es notwendig wurde.
Am nächsten Tag erreichten sie Novi Sad, eine geschäftige Stadt am linken Ufer der Donau. Hier erfuhren sie, dass eine Gruppe von sieben fränkischen Mönchen, die ins Heilige Land pilgerten, vor drei Tagen von Banditen überfallen, beraubt, geschändet und getötet worden war.
Während der nächsten drei Tage reisten sie, als stünde ständig ein Angriff bevor, doch sie gelangten am breiten, glitzernden Strom
entlang ohne Zwischenfall nach Belgrad und kauften dort auf dem Bauernmarkt Vorräte, darunter kleine, säuerliche Pflaumen, die köstlich schmeckten, und kleine grüne Oliven, die Rob zusagten. Er nahm sein Abendessen in einer Taverne ein, doch es entsprach nicht seinem Geschmack, denn es bestand aus mehreren fetten Fleischsorten, die gehackt und vermischt worden waren und nach ranzigem Fett schmeckten.
Schon in Novi Sad hatten etliche Leute die Karawane verlassen, und weitere verließen sie in Belgrad. Dafür stießen andere zu ihr, so dass Cullen, Rob und die jüdische Gruppe in der Marschlinie vorrückten und nicht mehr der gefährdeten Nachhut angehörten. Bald nachdem sie Belgrad verlassen hatten, kamen sie durch ein Vorgebirge, das bald in hohe Berge überging, die unwegsamer waren als alle, die sie bisher überquert hatten. Die steilen Hänge waren mit Steinblöcken übersät, die wie gefletschte Zähne aussahen. Auf den höheren Wegstrecken wehte ein scharfer Wind, und sie mussten plötzlich an den Winter denken: Diese Berge mussten bei Schnee die Hölle sein.
Jetzt konnte Rob nicht mehr mit verhängten Zügeln fahren. Bergauf musste er die Stute oft mit sanften Schlägen antreiben, und beim Bergabfahren half er, indem er sie zurückhielt. Als seine Arme schon schmerzten und seine Stimmung am Nullpunkt war, fiel ihm ein, dass schon die Römer ihre tormenta über dieses düstere Gebirge befördert hatten. Aber die Römer hatten Horden von Sklaven besessen, er dagegen besaß eine einzige, ermüdete Stute, die er überaus gewandt lenken mußte. Abends schleppte er sich ermattet ins Lager der Juden, wo er gelegentlich eine Lektion erhielt. Doch Simon fuhr nun nicht mehr in seinem Wagen mit, und an manchen Tagen lernte Rob nicht einmal zehn Wörter.
Jetzt kam Karl Fritta zum Zug, und Rob bewunderte ihn zum erstenmal, denn der Anführer der Karawane war überall, half, wenn ein Wagen beschädigt wurde, drängte und trieb die Leute an wie ein guter Treiber seine Tiere. Der Weg war steinig. Am ersten Oktober verloren sie einen halben Tag, weil die Männer Gesteinsbrocken wegräumen mussten, die auf die Straße gestürzt waren. Es kam jetzt häufig zu Unfällen, und Rob richtete in einer Woche zwei gebrochene Arme ein. Als das Pferd eines normannischen Händlers scheute, stürzte der Wagen um und zerschmetterte dem Mann das Bein. Sie transportierten ihn auf einer Bahre, die zwischen zwei Pferden hing, bis sie zu einem Bauernhaus kamen, dessen Bewohner sich bereit erklärten, ihn zu pflegen. Sie ließen den Verletzten dort, und Rob hoffte inbrünstig, dass die Leute ihn nicht ermordeten und seinen Besitz an sich nahmen, sobald die Karawane außer Sicht war.
»Wir haben das Land der Magyaren verlassen und befinden uns in Bulgarien, das vom byzantinischen Kaiser beherrscht wird«, erzählte ihm Meier eines Morgens.
Es spielte keine Rolle, denn die Felsen wirkten nach wie vor feindselig, und an den hochgelegenen Stellen plagte sie weiterhin der Wind. Es wurde immer kälter, und die Teilnehmer der Karawane trugen die unterschiedlichste Oberbekleidung, die meist eher wärmend als elegant war, bis sie als seltsamer Haufen von zerlumpten und ausgepolsterten Geschöpfen daherkamen.
An einem trüben Morgen stolperte das Packmaultier, das Gerson ben Schemuel hinter seinem Pferd führte, und stürzte, wobei seine Vorderbeine sich schmerzhaft spreizten, bis das linke unter dem beträchtlichen Gewicht der Traglast des Tieres hörbar brach. Das verletzte Tier schrie vor Schmerz wie ein menschliches Wesen. »Helft ihm!« rief Rob, und Meier ben Ascher zog ein langes Messer und half ihm auf die einzig mögliche Art, indem er die bebende Kehle durchschnitt.
Sie begannen sofort, das Gepäck von dem toten Maultier abzuladen. Den schmalen Ledersack mussten Gerson und Juda gemeinsam herunterheben, dabei begannen sie in ihrer Sprache zu streiten. Das noch vorhandene Maultier trug bereits einen solchen schweren Sack, und Gerson wies zu Recht darauf hin, dass der zweite Ledersack das Tier zu sehr beanspruchen würde.
Aus dem Teil der Karawane hinter ihnen kamen empörte Rufe von solchen, die nicht hinter der Hauptgruppe zurückbleiben wollten. Rob lief zu den Juden. »Werft den Sack auf meinen Wagen!«
Meier zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein.« »Dann geht zum Teufel!« Rob war über das mangelnde Vertrauen empört.
Meier sagte etwas zu Simon, der Rob nachlief. »Sie werden den Sack auf mein Pferd binden. Darf ich im Wagen mitfahren? Nur, bis wir ein anderes Maultier kaufen können.«
Rob deutete auf den Kutschbock und kletterte hinauf. Er fuhr lange Zeit, ohne zu sprechen, denn er hatte keine Lust auf eine Lektion in Persisch.
»Ihr versteht das nicht«, sagte Simon. »Meier muss die Säcke bei sich behalten. Es ist nicht sein Geld, ein Teil gehört der Familie, und das meiste gehört Geldgebern. Er ist für das Geld verantwortlich.« Diese Worte versöhnten Rob etwas. Aber es blieb weiterhin ein schlechter Tag. Der Weg war schwierig, und eine zweite Person im Wagen war eine zusätzliche Last für die Stute, so dass sie sichtlich erschöpft war, als die Dämmerung der Karawane auf dem Gipfel des Berges überraschte und das Lager aufgeschlagen werden mußte. Bevor Rob oder Simon zu Abend essen konnten, mussten sie für Kranke zur Verfügung stehen. Der Wind war so stark, dass sie dieser Pflicht nur hinter Karl Frittas Wagen nachkommen konnten. Zu Robs und Simons Überraschung befand sich Gerson ben Schemuel unter den Wartenden. Der zähe, stämmige Jude hob seinen Kaftan, ließ seine Hose herunter, und Rob erblickte ein häßliches, dunkelrotes Furunkel auf seiner rechten Hinterbacke. »Sag ihm, er soll sich vorbeugen.«
Gerson knurrte, als die Spitze von Robs Skalpell das Furunkel aufstach und der gelbe Eiter herausquoll, und er stöhnte und fluchte in seiner Sprache, während Rob das Furunkel ausdrückte, bis kein Eiter, sondern nur mehr helles Blut herauskam. »Er wird die nächsten Tage nicht im Sattel sitzen können. »Er muss«, widersprach Simon. »Wir können Gerson nicht zurücklassen.«
Rob seufzte. Die Juden machten ihm heute wirklich das Leben schwer. »Du kannst sein Pferd nehmen, dann kann er hinten in meinem Wagen mitfahren.« Simon nickte. Der dümmlich grinsende fränkische Treiber war der nächste. Diesmal
hatte er kleine Beulen in der Leistengegend. Die Knoten in seinen Achselhöhlen und Kniekehlen waren größer und weicher als vorher, und auf Robs Frage gab der hochgewachsene Franke zu, dass sie begonnen hatten zu schmerzen. Rob ergriff die Hände des Treibers. »Sag ihm, dass er sterben wird.« Simon starrte ihn an. »Ist das Euer Ernst?« »Ich lasse ihm sagen, dass er sterben wird.«
Simon schluckte und begann leise deutsch zu sprechen. Rob sah, wie das Lächeln aus dem großen, dummen Gesicht wich, dann riss der Franke seine Hände aus Robs Griff, hob die Rechte und ballte sie zur Faust. Er knurrte etwas.
»Er sagt, Ihr seiet ein verdammter Lügner«, erklärte Simon. Rob wartete ab und blickte dem Treiber dabei in die Augen. Schließlich spuckte ihm der Mann vor die Füße und trottete davon. Rob verkaufte zwei Männern, die rasselnd husteten, Spezificum, dann behandelte er einen wimmernden Magyaren mit einem ausgerenkten Daumen, der sich im Sattelgurt verfangen hatte, während sein Pferd sich bewegte.
Nach diesem Patienten verließ er Simon, er wollte von diesem Ort und diesen Leuten wegkommen. Die Teilnehmer der Karawane hatten sich verteilt; jeder hatte sich als Schutz gegen den Wind einen großen Felsblock gesucht, hinter dem er lagerte. Rob ging am letzten Wagen vorbei und erblickte Mary Cullen auf einem Felsen oberhalb der Straße.
Sie war wie losgelöst von der Erde. Sie hielt ihren schweren Schaffellmantel mit beiden Armen weit ausgebreitet, hatte den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen, als würde sie durch die Gewalt des Windes gereinigt, der sie wie strömendes Wasser heftig umtobte. Der Mantel blähte sich und flatterte. Ihr schwarzes Kleid klebte an ihrem langen Körper, betonte die vollen Brüste und festen Brustwarzen, den sanft gerundeten Bauch, den großen Nabel und die süße Spalte zwischen den starken Schenkeln. Eine seltsame, warme Zärtlichkeit erfüllte ihn, die bestimmt der Teil eines Zaubers war, denn sie sah wirklich aus wie eine Hexe. Ihr langes Haar flatterte hinter ihr wie rot züngelndes Feuer.
Er wollte nicht, dass sie sah, wie er sie beobachtete. Deshalb drehte er sich um, ehe sie die Augen öffnete, und ging fort.
An seinem Wagen angelangt, wurde Rob zu seinem Mißvergnügen klar, dass das Gefährt zu voll beladen war, als dass Gerson darin auf dem Bauch liegen konnte. Es ließ sich nur dadurch Platz für Gerson schaffen, dass er auf das Podium verzichtete. Er lud die drei Bänke aus, schaute sie lange an und dachte daran, wie oft der Bader und er auf dieser kleinen Bühne gestanden und ihr Publikum unterhalten hatten. Dann zuckte er mit den Achseln, ergriff einen großen Stein und zerschlug die Bänke zu Brennholz. Im Feuertopf lagen Kohlen, und er entfachte im Windschatten des Wagens ein Feuer. Während es immer dunkler wurde, schürte er mit den Trümmern des Podiums die Flammen.
Am zweiundzwanzigsten Oktober trieb der Wind harte, weiße Eiskristalle durch die Luft, die brannten, wenn sie auf die nackte Haut trafen. »Es ist zu früh für diese Kälte«, sagte Rob mürrisch zu Simon, der wieder auf dem Kutschbock saß, da Gersons Hinterbacke verheilt und dieser auf sein Pferd zurückgekehrt war.
»Nicht auf dem Balkan«, widersprach ihm Simon. Sie befanden sich in einem hoch gelegenen, zerklüfteten, mit Buchen, Eichen und Kiefern bestandenen Tal, dessen Hänge teilweise so nackt und felsig waren, als hätte eine zornige Gottheit einen Teil des Berges weggewischt. Tosende Wasserfälle, die in tiefe Schluchten stürzten, bildeten kleine Seen. Vater und Tochter Cullen vor ihm sahen in ihren langen Schaffellmänteln und Mützen wie Zwillinge aus, und er konnte sie nur deshalb unterscheiden, weil er wusste, dass die unförmige Gestalt auf dem Rappen Mary war.
Der Schnee blieb nicht liegen, und die Reisenden kämpften sich durch und kamen voran, aber Karl Fritta ging es nicht rasch genug. Er galoppierte die Marschlinie entlang und trieb zu größerer Eile an. »Irgend etwas hat Fritta eine Heidenangst eingejagt«, meinte Rob. Simon warf ihm rasch einen vorsichtigen Blick zu. »Er muss uns in die Stadt Gabrovo bringen, bevor die Schneefälle einsetzen. Über diese Berge hier führt der große Paß, der das
>Tor zum Balkan« genannt wird, aber er ist schon geschlossen. Die Karawane wird in der Nähe des Zugangs in Gabrovo überwintern. In dieser Stadt gibt es Gast- und Privathäuser, die Reisende aufnehmen. Kein anderer Ort in der Nähe des Passes ist groß genug, um eine Karawane wie die unsere zu beherbergen.«
Rob nickte und erkannte seinen Vorteil. »Dann kann ich den ganzen Winter über Persisch studieren.«
»Ihr könnt das Buch nicht behalten«, stellte Simon richtig. »Wir bleiben nicht bei der Karawane in Gabrovo. Wir reiten in die nahegelegene Stadt Tryavna, weil es dort Juden gibt.« »Aber ich muss das Buch haben. Und ich brauche deine Lektionen.« Simon hob die Schultern.
Nachdem Rob an diesem Abend das Pferd versorgt hatte, suchte er das Lager der Juden auf, die gerade einige besonders geschmiedete Hufeisen begutachteten. Meier reichte Rob eines. »Ihr solltet Euch für Eure Stute einen Satz machen lassen. Sie bewahren das Tier davor, auf Schnee und Eis auszugleiten.« »Kann ich nicht nach Tryavna mitkommen?«
Meier und Simon wechselten einen Blick; offenbar hatten sie bereits darüber gesprochen. »Es liegt nicht in meiner Macht, Euch die Gastfreundschaft von Tryavna zu gewähren.« »Wer kann das?«
»Der Anführer der dortigen Juden ist ein großer Weiser, der rabbenu Sch'lomo ben Elijahu.« »Was ist ein rabbenu?«
»Ein Gelehrter. In unserer Sprache bedeutet rabbenu >unser Lehren und ist ein Ausdruck höchster Ehrerbietung.«
»Dieser Sch'lomo, dieser Weise, ist er ein hochmütiger Mann, der Fremden gegenüber kalt, hart und unnahbar ist?« Meier schüttelte lächelnd den Kopf.
»Kann ich nicht vor ihn treten und um die Erlaubnis bitten, bei Eurem Buch und Simons Lektionen zu bleiben?«
Meier sah Rob an, und man erkannte, dass er über die Frage nicht glücklich war. Er schwieg lange, doch als er begriff, dass Rob eigensinnig auf eine Antwort wartete, seufzte er und schüttelte den Kopf. »Wir werden Euch zu dem rabbenu bringen.«
Gabrovo war eine trostlose Stadt mit schäbigen Holzhäusern. Seit langem sehnte sich Rob nach einer Mahlzeit, die er nicht selbst gekocht hatte, einer guten Mahlzeit, die ihm auf dem Tisch eines Gasthauses vorgesetzt wurde.
Die Juden blieben kurz in Gabrovo, um einen Kaufmann aufzusuchen, und diese Zeit nützte Rob, um in einem der drei Wirtshäuser einzukehren. Das Essen war eine schreckliche Enttäuschung: Das Fleisch war zu stark gesalzen, um zu verheimlichen, dass es einen Stich hatte, und das Brot hart und altbacken. Es wies Löcher auf, aus denen man zweifellos Getreidekäfer herausgeholt hatte. Die Räume waren ebenso unbefriedigend wie das Essen. Wenn die anderen beiden Herbergen nicht besser waren, stand den Mitgliedern der Karawane ein harter Winter bevor, denn )ede verfügbare Handbreit war mit Strohsäcken vollgestopft, und sie würden Wange an Wange schlafen müssen.
Meiers Gruppe brauchte nicht einmal eine Stunde, um nach Tryavna zu kommen, das viel kleiner war als Gabrovo. Das Judenviertel - ein paar von der Witterung gebleichte Holzgebäude mit Strohdächern -war von der üppigen Ortschaft durch Weingärten, die im Winterschlaf lagen, und braune Felder getrennt, auf denen Kühe die Stoppeln des erfrorenen Grases fraßen. Sie kehrten in einem Hof ein, wo Jungen sich ihrer Tiere annahmen. »Ihr wartet am besten hier«, sagte Meier zu
Rob.
Es dauerte nicht lang, da holte ihn Simon und führte ihn in eines der Häuser, durch einen dunklen Korridor, der nach Äpfeln roch, bis zu einem Raum, dessen Einrichtung nur aus einem Stuhl und einem Tisch bestand. Auf dem Tisch häuften sich Bücher und Manuskripte. Dahinter saß ein alter, beleibter Mann mit schneeweißem Haar und Bart. Er war gebeugt, hatte ein Doppelkinn und große braune Augen, die tränten, aber bis in Robs Seele drangen. Namen wurden nicht genannt; es war, als träte Rob vor einen Lehensherrn.
»Wir haben dem rabbenu mitgeteilt, dass Ihr nach Persien reist und für Eure Geschäfte die Sprache des Landes lernen müßt«, sagte Simon. »Er fragte darauf, ob die Freude an der Gelehrsamkeit nicht Grund genug sei zu studieren.« »Manchmal bereitet das Studium Freude«, wandte sich Rob direkt an den alten Mann. »Für mich ist es zumeist harte Arbeit. Ich lerne die Sprache der Perser, weil ich hoffe, dass sie mir zu dem verhelfen wird, was ich möchte.«
Simon und der rabbenu sprachen leise miteinander.
»Er fragt, ob Ihr immer so ehrlich seid. Ich habe ihm erzählt, dass Ihr einem vom Tode Gezeichneten geradeheraus erklärt habt, dass er sterben wird, und er hat geantwortet: >Er ist wirklich ehrlich.<«
»Sag ihm, dass ich Geld habe und für Verpflegung und Unterkunft bezahlen werde.«
Der Weise schüttelte den Kopf.
»Das ist kein Gasthaus. Wer hier wohnt, muss arbeiten«, übersetzte Simon. »Wenn der Erhabene barmherzig ist, werden wir in diesem Winter keinen Baderchirurgen brauchen.«
»Ich brauche nicht als Baderchirurg zu arbeiten. Ich bin bereit, alles zu tun, was Euch nützt.«
Die langen Finger des rabbenu wühlten und kratzten in seinem Bart, während er überlegte. Schließlich gab er seine Entscheidung bekannt.
»Wann immer geschlachtetes Rindfleisch für nicht koscher erklärt wird«, übersetzte Simon, »werdet Ihr das Fleisch dem christlichen Fleischer in Gabrovo verkaufen. Und am Sabbat, wenn die Juden nicht arbeiten dürfen, werdet Ihr Euch um das Feuer in den Häusern kümmern.«
Rob zögerte. Der alte Jude sah ihn interessiert an, weil Robs Augen aufgeleuchtet hatten.
»Noch etwas?« murmelte Simon.
»Wenn die Juden am Sabbat nicht arbeiten dürfen, überantwortet er dann nicht meine Seele der Verdammnis, wenn er dafür sorgt, dass ich es tue?«
Der rabbenu lächelte, als Simon übersetzte.
»Er vertraut darauf, dass Ihr nicht danach strebt, ein Jude zu werden, Master Cole?«
Rob schüttelte den Kopf.
»Dann ist er sicher, dass Ihr ohne Bedenken am Sabbat arbeiten könnt, und er heißt Euch in Tryavna willkommen.«
Der rabbenu führte sie in den hinteren Teil eines großen Kuhstalls, wo Rob schlafen sollte. »Im Studierhaus gibt es Kerzen, aber hier im Stall dürfen wegen des trockenen Heus keine Kerzen angezündet werden«, teilte der rabbenu Rob streng durch Simon mit und hieß ihn auch gleich die Ställe ausmisten.
In dieser Nacht lag er auf dem Stroh, und seine Katze lag zu seinen Füßen wie eine Löwin, die ihn bewachte.
Mistress Buffington verließ ihn gelegentlich, um eine Maus zu jagen, kam aber immer wieder zurück. Der Stall war ein dunkler, feuchter Palast, den die großen Körper der Rinder angenehm erwärmten, und sobald Rob sich an das ewige Muhen und den süßlichen Gestank des Kuhmistes gewöhnt hatte, schlief er beruhigt ein.
Der Winter kam in Tryavna drei Tage nach Rob an. In der Nacht begann es zu schneien, und während der nächsten beiden Tage fielen abwechselnd windgepeitschte, harte Graupel und dicke Flocken, die so groß herabschwebten, dass sie aussahen wie Zuckerkonfekt. Als es aufhörte zu schneien, gab man Rob eine große hölzerne Schneeschaufel. Er schaffte die Schneewehen vor den Türen weg und trug dabei einen ledernen Judenhut, den er an einem Pflock im Stall gefunden hatte. Über ihm glitzerten die hohen Berge weiß in der Sonne, und die Arbeit in der kalten Luft machte ihn zuversichtlich. Als er mit dem Schaufeln fertig war, gab es keine andere Arbeit, und er konnte das Studierhaus aufsuchen. In das Holzhaus drang die Kälte ein, gegen die das Herdfeuer so unzureichend ankämpfte, dass die Leute oft vergaßen, es zu unterhalten. Die Juden saßen an rohen Tischen, studierten Stunde um Stunde und debattierten laut und manchmal erbittert. Sie nannten ihr Kauderwelsch loschen. Simon erklärte ihm, dass es sich um eine Mischung aus Hebräisch und Latein und ein paar Redewendungen aus den Ländern handelte, in denen sie reisten oder lebten. Es war eine für Disputanten geschaffene Sprache, und wenn sie gemeinsam studierten, warfen sie einander die Wörter an den Kopf.
»Worüber streiten sie denn?« fragte Rob verwundert. »Über die Gesetze.« »Wo sind ihre Bücher?«
»Sie verwenden keine Bücher. Wer die Gesetze kennt, hat sie auswendig gelernt, wie er sie von seinen Lehrern gehört hat. Wer sie noch nicht auswendig kann, lernt sie, indem er zuhört. So war es immer. Es gibt natürlich auch das geschriebene Gesetz, aber es ist nur da, um zu Rate gezogen zu werden. Jeder Mann, der das mündliche Gesetz
kennt, lehrt die Auslegung der Gesetze, die ihn sein Lehrer gelehrt hat, und es gibt eine Menge Auslegungen, weil es so viele verschiedene Lehrer gibt. Deshalb streiten sie. Jedes Mal, wenn sie debattieren, lernen sie ein bißchen mehr über das Gesetz.«
In Tryavna nannten sie ihn von Anfang an Mär Reuven, die hebräische Übersetzung von Master Robert. Mär Reuven, der Baderchirurg. Daß er Mär genannt wurde, unterschied ihn von ihnen, denn sie nannten einander Reh, ein Titel, der auf lobenswerte Gelehrsamkeit hinwies, aber unter dem eines rabbenu stand. In Tryavna gab es nur einen rabbenu.
Sie waren seltsame Leute und unterschieden sich von ihm durch ihr Aussehen wie durch ihre Bräuche. »Was ist mit seinem Haar los?« wurde Meier von Reb Joel Levski, dem Hirten, gefragt. Rob war der einzige im Studierhaus, der keine peot besaß, die rituellen Haarlocken, die sich neben jedem Ohr ringelten.
»Er weiß es nicht besser. Er ist ein go/, ein anderer«, erklärte ihm Meier »Aber Simon hat mir erzählt, dass dieser andere beschnitten ist. Wie kann das sein?« fragte Reb Pinhas ben Simeon, der Milchmann. Meier zuckte mit den Achseln. »Ein Zufall«, sagte er. »Ich habe mit ihm darüber gesprochen. Es hat nichts mit Abrahams Bund zu tun.« Einige Tage lang wurde Mär Reuven angestarrt, doch auch er starrte die Juden an, denn mit ihren Hüten, Ohrlocken, buschigen Barten, mit ihrer dunklen Kleidung und ihren fremdartigen Bräuchen wirkten sie überaus seltsam. Ihre Gewohnheiten beim Gebet faszinierten ihn, sie waren so persönlich: Meier legte seinen Gebetsschal bescheiden und unauffällig an. Reb Pinhas entfaltete seinen talht, schüttelte ihn beinahe arrogant aus, hielt ihn an zwei Ecken vor sich, warf ihn sich mit einer Armbewegung und einer Drehung seiner Handgelenke über den Kopf, so dass der Schal sich bauschte und sanft wie ein Segen auf seine Schultern fiel.
Wenn Reb Pinhas betete, beugte er sich ruckartig vor und zurück, weil er dem Allmächtigen seine Bitte dringend unterbreiten wollte. Meier schwankte sanft, wenn er seine Gebete aufsagte. Simons Tempo lag irgendwo dazwischen, und er beendete jede Vorwärtsbewegung mit einem leichten Erschauern und Kopfschütteln.
Rob las und studierte sein Buch und die Juden; er benahm sich so sehr wie die übrigen, dass er bald kein Aufsehen mehr erregte. Das Studierhaus war brechend voll - täglich sechs Stunden lang, drei Stunden nach dem Morgengebet, das sie schacharit nannten, und drei Stunden nach dem Abendgebet, ma'ariw —, denn die meisten Männer studierten vor und nach ihrer täglichen Arbeit, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienten. Zwischen diesen beiden Perioden war es jedoch verhältnismäßig ruhig, da nur ein oder zwei Tische von hauptberuflichen Gelehrten besetzt waren. Bald saß Rob ungezwungen und unbemerkt zwischen ihnen, überhörte ihr Gebrabbel, arbeitete am persischen Qu'ran, dem Koran, und begann schließlich, wirkliche Fortschritte zu machen.
Wenn der Sabbat kam, kümmerte er sich um das Feuer. Es war der schwerste Arbeitstag der Woche, aber dennoch nicht so zeitraubend, dass er nicht einen Teil des Nachmittags studieren konnte. Zwei Tage später half er Reb Elia, dem Tischler, neue Querleisten an Holzstühlen anzubringen. Sonst hatte er nichts zu tun, außer Persisch zu studieren, bis ihm Rahel, die Enkelin des rabbenu, das Melken beibrachte. Sie hatte eine weiße Haut und langes, schwarzes Haar, das sie um ihr herzförmiges Gesicht flocht; die Unterlippe ihres zierlichen Mundes war voll wie die einer Frau, und auf ihrem Hals befand sich ein winziges Muttermal. Ihre großen, braunen Augen ließen ihn nicht los.
Rob stand mit einer Decke in der Hand allein im dunklen Kuhstall. Die Decke roch intensiv nach der Stute und war nur wenig größer als ein Gebetsschal. Mit einer schnellen Bewegung schwang er sie über den Kopf, und sie legte sich so ordentlich um seine Schultern, als wäre sie Reb Pinhas tallit. Rob übte so oft, bis er sich den Gebetsschal selbstsicher umlegen konnte. Die Rinder muhten, während er ruhig, aber zielstrebig die schwankende Bewegung beim Beten übte. Beim Gebet ahmte er lieber Meier nach und nicht energischere Andächtige wie Reb Pinhas.
Das war jedoch der leichtere Teil. Es würde viel Zeit erfordern, ihre fremd klingende, komplizierte Sprache zu erlernen, vor allem, da er sich hauptsächlich darum bemühte, Persisch zu lernen. Sie waren ein Volk, das an Amulette glaubte. Im oberen Drittel des rechten Türpfostens jeder Tür in jedem Haus war ein hölzernes Röhrchen angenagelt, das mesusa hieß. Simon erklärte ihm, dass jede mesusa ein winziges, gerolltes Stückchen Pergament enthielt; auf der
Vorderseite waren in rechtwinkeligen assyrischen Buchstaben zwei-undzwanzig Zeilen aus dem 5. Buch Mose 6.4—9 un^ 11.13 — 21 aufgezeichnet, und auf der Rückseite stand das Wort Schaddai -Allmächtiger.
Wie Rob schon während der Reise bemerkt hatte, band sich jeder Erwachsene jeden Morgen außer am Sabbat Riemen mit einer kleinen Lederschachtel an den linken Arm und an den Kopf. Diese hießen tefillin und enthielten Teile von ihrem Heiligen Buch, der Thora; die Schachtel auf der Stirn befand sich in der Nähe des Geistes, die am Arm in der Nähe des Herzens.
»Wir tun es, um den Anweisungen im j. Buch Mose zu gehorchen«, sagte Simon. »>Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen... Und sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sollen dir ein Denkmal vor deinen Augen sein.«« Das Dumme war, dass Rob nur, indem er zuschaute, nicht herausbekam, wie die Juden die tefillin anlegten. Er konnte auch Simon nicht ersuchen, es ihm zu zeigen, denn es wäre merkwürdig gewesen, wenn ein Christ einen Ritus des jüdischen Gottesdiensts lernen wollte. Simon erzählte zwar, dass sie sich den Riemen zehnmal um den Arm schlagen, aber was sie mit der Hand taten, war kompliziert, denn sie verflochten den Lederriemen auf eine besondere Art, mit den Fingern, die er nicht herausfinden konnte.
Er stand in dem kräftig riechenden Stall und wand sich statt der ledernen tefillin eine alte Schnur um den linken Arm, aber so, wie er die Schnur um Hand und Finger wand, ergab es keinen Sinn. Die Juden waren jedoch die geborenen Lehrer, und er lernte jeden Tag etwas Neues. In der Klosterschule von St. Botolph hatten ihm die Priester beigebracht, dass der Gott des Alten Testaments Jehova war. Aber als er Jehova erwähnte, schüttelte Meier den Kopf. »Ihr müßt wissen, dass für uns der Herr unser Gott, gelobt sei Er, sieben Namen besitzt. Das ist der heiligste.« Mit einem Stück Kohle aus dem Kamin schrieb er das Wort sowohl in Persisch als auch in seiner Sprache auf den Holzboden: Jahwe. »Es wird nie ausgesprochen, denn die Identität des Allerhöchsten ist unaussprechlich. Das Wort wird von den Christen falsch ausgesprochen, wie Ihr es getan habt. Aber der Name ist nicht Jehova, versteht Ihr?« Rob nickte. ,?.yv
Am Abend ließ er sich auf dem Strohsack die neuen Worte und Sitten durch den Kopf gehen, und bevor ihn der Schlaf überwältigte, kam ihm ein Satz ins Gedächtnis, ein Bruchstück eines Segens, eine Gebärde, eine besondere Aussprache, der ekstatische Ausdruck auf einem Gesicht während des Gebetes, und er speicherte diese Dinge in seinem Gedächtnis für den Tag, an dem er sie brauchen würde.
»Ihr müßt Euch von der Enkelin des rabbenu fernhalten«, riet ihm Meier stirnrunzelnd.
»Ich bin nicht an ihr interessiert.« Seit sie beim Melken miteinander gesprochen hatten, waren Tage vergangen, und er war ihr seither nicht in die Nähe gekommen.
Vergangene Nacht hatte er sogar von Mary Cullen geträumt.
Meier nickte. »Gut. Eine der Frauen hat gesehen, wie sie Euch sehr interessiert beobachtete, und es dem rabbenu erzählt. Er hat mich ersucht, mit Euch zu sprechen.« Meier legte den Zeigefinger an seine Nase. »Ein ruhiges Wort zu einem klugen Mann ist besser, als ein Jahr lang einem Narren zuzureden.«
Rob war erschrocken und beunruhigt, denn er musste in Tryavna bleiben, um die Verhaltensweisen der Juden zu studieren und Persisch zu lernen. »Ich will keine Schwierigkeiten wegen einer Frau.«
»Natürlich nicht«, seufzte Meier. »Probleme macht das Mädchen, das heiraten sollte. Sie ist seit ihrer Kindheit mit Reb Meschullum ben Moses, dem Enkel von Reb Baruch ben David, verlobt. Ihr kennt Reb Baruch? Ein großer, hagerer Mann, langes Gesicht, schmale, spitze Nase. Er sitzt im Studierhaus auf der anderen Seite des Feuers.«
»Ach der! Ein alter Mann mit fanatischen Augen.«
»Er hat fanatische Augen, weil er ein fanatischer Gelehrter ist. Wäre der rabbenu nicht der rabbenu, würde Reb Baruch der rabbenu sein. Sie waren schon immer als Gelehrte Rivalen und enge Freunde. Als ihre Enkelkinder noch klein waren, vereinbarten sie mit großer Freude eine Heirat, um ihre Familien zu vereinigen. Dann kam es zu einem schrecklichen Zwist, der ihrer Freundschaft ein Ende machte.«
»Warum haben sie gestritten?« fragte Rob, der sich allmählich in Tryavna so sehr zu Hause fühlte, dass er auch den Klatsch ein wenig genoß.
»Sie haben gemeinsam einen jungen Stier geschlachtet. Nun müßt Ihr verstehen, dass unsere Gesetze von kaschrut alt und kompliziert sind und Vorschriften und Auslegungen darüber enthalten, wie das Fleisch sein muss und wie es nicht sein darf. In der Lunge des Tieres wurde ein geringfügiger Makel entdeckt. Der rabbenu zitierte Präzedenzfälle, laut denen der Makel unerheblich war und das Fleisch keineswegs unbrauchbar machte.
Reb Baruch zitierte andere Präzedenzfälle, laut denen das Fleisch durch den Makel unbrauchbar war und nicht gegessen werden durfte. Er bestand darauf, dass er recht hatte, und nahm es dem rabbenu übel, dass er seine Gelehrsamkeit in Frage stellte. Sie stritten, bis der rabbenu schließlich die Geduld verlor. >Schneidet das Tier in zwei Halftern, befahl er. >Ich werde meinen Teil nehmen, und Baruch kann mit seinem Teil tun, was ihm gefällt.< Als er seine Hälfte des Stieres nach Hause brachte, wollte er ihn essen. Aber nachdem er überlegt hatte, klagte er: >Wie kann ich das Fleisch dieses Tieres essen? Eine Hälfte liegt auf Baruchs Abfallhaufen, und ich soll die andere Hälfte essen?« Also warf er auch seine Hälfte des Stieres weg. Seither stehen sie einander feindlich gegenüber. Wenn Reb Baruch weiß sagt, sagt der rabbenu schwarz, wenn der rabbenu Fleisch sagt, sagt Reb Baruch Milch. Als Rahel zwölfeinhalb Jahre alt war, und ihre Eltern eigentlich allmählich ernsthaft über die Hochzeit sprechen hätten sollen, unternahmen die Familien nichts, weil sie wussten, dass jedes Zusammentreffen mit einem Streit zwischen den beiden alten Männern enden würde. Dann ging Reb Meschullum, der Bräutigam, mit seinem Vater und anderen jungen Männern seiner Familie zum erstenmal auf Geschäftsreise ins Ausland. Sie fuhren mit Kupferkesseln nach Marseiile, blieben fast ein Jahr dort, handelten und erzielten einen schönen Gewinn. Wenn man die Reisezeit mitrechnet, waren sie beinahe zwei Jahre fort, bis sie vergangenen Sommer zurückkehrten und eine Karawanenladung guter französischer Kleidung mitbrachten. Aber noch immer sorgen die beiden durch die Großväter auseinandergerissenen Familien nicht dafür, dass die Heirat stattfindet.
Inzwischen wissen alle, dass die unglückselige Rahel als aguna, als verlassene Frau, angesehen werden kann. Sie hat Brüste, aber sie stillt keine Kinder, sie ist eine erwachsene Frau, hat aber keinen Ehemann, und das Ganze ist Zu einem Riesenskandal geworden.«
Rob und Meier waren sich darüber einig, dass es für Rob am besten war, wenn er während des Melkens die Meierei mied.
Es war gut, dass Meier mit Rob gesprochen hatte, denn es hätte alles mögliche geschehen können, wenn ihm nicht klargemacht worden wäre, dass die Gastfreundschaft während des Winters nicht den Gebrauch der Frauen einschloß.
Es war hart. Überall um ihn herrschte strotzende Sexualität, die von der Religion gefördert wurde. So hielten sie es zum Beispiel für einen besonderen Segen, sich am Vorabend des Sabbat zu lieben, was vielleicht erklärte, warum sie das Wochenende so gern hatten. Die jungen Männer sprachen offen über diese Dinge und stöhnten, wenn eine Frau unberührbar war: Jüdische Ehepaare durften zwölf Tage nach dem Beginn der Menstruation oder sieben Tage nach ihrem Ende — je nachdem, was länger war - keinen Beischlaf haben. Ihre Enthaltsamkeit war erst zu Ende, wenn die Frau es anzeigte, indem sie sich in dem rituellen Bad, der sogenannten mikwe, reinigte.
Hierzu diente ein mit Ziegeln ausgekleidetes Becken in einem über einer Quelle errichteten Badehaus. Simon erzählte Rob, dass das Wasser der mikwe, um für das Ritual geeignet zu sein, aus einer natürlichen Quelle oder einem Fluss stammen mußte. Die mikwe diente der symbolischen Läuterung, nicht der Reinigung. Die Juden badeten zu Hause, doch jede Woche gesellte sich Rob kurz vor dem Sabbat zu den Männern im Badehaus, das nur das Becken und einen runden Herd mit einem großen lodernden Feuer enthielt, über dem Kessel mit kochendem Wasser hingen. Sie badeten splitternackt in der dampfenden Wärme und wetteiferten um das Vorrecht, Wasser über den rabbenu zu gießen, während sie ihm ständig Fragen stellten. »Schi-aila, Rabbenu, schi-aila\« Eine Frage, eine Frage! Sch'lomo ben Ehjahus Antwort auf jedes Problem war überlegt und nachdenklich, voll gelehrter Präzedenzfälle und Zitate, die Simon oder Meier Rob manchmal sehr eingehend übersetzten. Die meisten Fragen, die für den andersgläubigen Gast übersetzt wurden, bereiteten ihm weder Herzklopfen noch erregten sie seine dauernde Aufmerksamkeit. Dennoch genoß Rob die Freitagnachmittagc im Badehaus; er hatte sich in der Gesellschaft unbekleideter Männer noch nie so wohl gefühlt. Vielleicht hatte es etwas mit seinem beschnittenen Penis zu tun. Wenn er sich unter seinesgleichen befunden hätte, wäre sein Glied längst Gegenstand von neugierigen Blicken, Gekicher, Fragen oder obszönen Vermutungen gewesen. Eine isoliert wachsende
exotische Blume ist etwas Besonderes, aber es sieht völlig anders aus, wenn sie in einem Feld von Blumen gleicher Art steht. Rob betrat nie die mikwe, da er wusste, dass dies verboten war. Er begnügte sich damit, sich in dem dampferfüllten Badehaus zu rekeln und zuzuschauen, wie die Juden sich darauf vorbereiteten, ins Becken zu steigen. Sie murmelten den zum Ritus gehörenden Segen, manche sangen ihn sogar laut, und stiegen die sechs feuchten Steinstufen hinunter ins tiefe Wasser. Sobald es ihr Gesicht bedeckte, bliesen sie kräftig oder hielten die Luft an, denn der Akt der Läuterung erforderte, dass sie vollkommen untertauchten, so dass jedes Haar des Körpers naß wurde.
Selbst wenn man Rob dazu eingeladen hätte, hätte ihn nichts dazu bewegen können, in die Kälte dieses dunklen Mysteriums des Wassers einzutauchen. Wenn der Jabwe genannte Gott wahrlich existierte, dann wusste Er vielleicht, dass Rob Colt zwar die Absicht hatte, sich als eines Seiner Kinder auszugeben, doch hatte er das Gefühl, dass ihn in dem unergründlichen Wasser etwas in die jenseitige Welt ziehen würde, wo alle Sünden seines schändlichen Planes bekannt waren; hebräische Schlangen würden an seinem Fleisch nagen, und vielleicht würde ihn Jesus persönlich bestrafen.
Diese Weihnachten waren die seltsamsten, die Rob in seinen einundzwanzig Lebensjahren mitgemacht hatte.
Der Bader hatte ihn nicht zu einem wahren Gläubigen erzogen, aber die Gänse und der Pudding, die Sülze aus dem Schweinskopf, das Singen, die Trinksprüche, der feiertägliche Klaps auf den Hintern waren ein Teil des Festes. In diesem Jahr überfiel ihn gähnende Einsamkeit. Die Juden übersahen diesen Tag nicht aus Niedertracht; in ihrer Welt gab es einfach Jesus nicht. Zweifellos hätte Rob eine Kirche aufsuchen können, er tat es aber nicht.
Merkwürdig: Die Tatsache, dass ihm niemand fröhliche Weihnachten wünschte, machte ihn innerlich mehr zum Christen, als irgend etwas zuvor. Eine Woche später, als das Jahr des Herrn 1033 dämmerte, lag er auf seinem Strohsack und dachte darüber nach, was
aus ihm geworden war und wohin ihn dies alles führen würde. Als er quer durch die britische Insel gewandert war, hielt er sich für einen erfahrenen Reisenden, doch er hatte inzwischen eine Entfernung zurückgelegt, die den Umfang seiner heimatlichen Insel weit überschritt, und noch immer lag ein endloser unbekannter Weg vor ihm.
Die Juden feierten die Jahreswende aber nicht, weil es Neujahr war, sondern weil Neumond war. Er erfuhr zu seiner Verwirrung, dass sie sich nach ihrem Kalender mitten im Jahr 4793 befanden. Das Land war für den Schnee wie geschaffen. Rob freute sich jedes Mal, wenn es schneite, und bald war es für alle selbstverständlich, dass nach jedem Schneesturm der große go; mit seiner Holzschaufel die Arbeit von etlichen gewöhnlichen Schneeschauflern besorgte. Es war seine einzige körperliche Betätigung; wenn er nicht Schnee schaufelte, lernte er Parsi. Er war inzwischen so weit fortgeschritten, dass er allmählich in der persischen Sprache denken konnte.
Einige Juden aus Tryavna hatten Persien besucht, und er sprach mit jedem Menschen Persisch, der dazu bereit war. »Die Aussprache, Simon. Wie ist meine Aussprache?« fragte er seinen Lehrer, der sich darüber ärgerte.
»Jeder Perser wird darüber lachen« entgegnete Simon. »Denn für die Perser werdet Ihr ein Ausländer sein.
Erwartet Ihr Wunder?« Die Juden im Studierhaus lächelten über die Unbeholfenheit des jungen, riesigen go;'.
Sollen sie nur lächeln, dachte der; für ihn waren sie ein ergiebigeres Studienobjekt als er für sie. Zum Beispiel bekam er bald heraus, dass Meier und seine Gruppe nicht die einzigen Fremden in Tryavna waren. Viele Männer im Studierhaus waren ebenfalls Reisende, die auf das Ende des strengen Balkanwinters warteten. Zu Robs Überraschung erzählte ihm Meier, dass keiner von ihnen auch nur eine einzige Münze für über drei Monate Unterkunft und Verpflegung bezahlte. Meier klärte ihn auf: »Dieses System ermöglicht es meinem Volk, zwischen den Nationen Handel zu treiben. Ihr habt gesehen, wie schwierig und gefährlich es ist, die Welt zu bereisen, doch jede jüdische Gemeinde schickt Kaufleute ins Ausland. Und in jedem jüdischen Dorf in jedem Land, ob christlich oder mohammedanisch, wird ein jüdischer Reisender von den Juden aufgenommen, erhält Essen und Wein, einen Platz in der Synagoge, einen Stall für sein Pferd. Jede Gemeinde entsendet Männer in fremde Länder, die dort von jemand
anderem unterstützt werden. Und im nächsten Jahr wird der Wirt der Gast sein.«
Die Fremden fügten sich schnell in das Leben der Gemeinde ein und fanden sogar am lokalen Klatsch Gefallen.
So erfuhr Rob eines Nachmittags, als er im Studierhaus mit einem anatolischen Juden, einem Hufschmied namens Ezra, auf Persisch plauderte - Klatsch auf Parsi! -, dass am nächsten Tag eine aufregende Konfrontation stattfinden werde: Der rabbenu füngierte als schocket, als Gemeindeschlächter von Fleischtieren. Am nächsten Morgen würde er zwei seiner eigenen Tiere, junge Rinder, schlachten. Eine kleine Gruppe der angesehensten Weisen der Gemeinde amtiere als maschgiot, rituelle Prüfer, die dafür sorgten, dass während des Schlachtens das komplizierte Gesetz bis zur letzten Einzelheit eingehalten wurde. Und während der rabbenu schlachtete, war als Vorsitzender der maschgiot sein einstiger Freund und derzeitig erbitterter Widersacher Reb Baruch ben David vorgesehen.
An diesem Abend unterrichtete Meier Rob aus dem Buch Leviticus, dem 3. Buch Mose. Den Juden war erlaubt, von den Tieren der Erde die folgenden zu essen: jedes Tier, das wiederkäute und einen gespaltenen Huf besaß, also auch Schafe, Rinder, Ziegen und Hirsche. Zu den Tieren, die treife, also nicht koscher, waren, gehörten Pferde, Esel, Kamele und Schweine.
Von den Vögeln durften sie Wildtauben, Hühner, Haustauben, Hausenten und Hausgänse essen. Zu den geflügelten Tieren, vor denen sie Abscheu hegten, gehörten Adler, Strauße, Geier, Falken, Kuckucke, Schwäne, Störche, Eulen, Pelikane, Kiebitze und Fledermäuse. »Ich habe nie in meinem Leben etwas so Gutes gegessen wie einen liebevoll zubereiteten jungen Schwan, der mit gepökeltem Schweinespeck gespickt und dann langsam über dem Feuer gebraten wird.« Meier sah ihn leicht angewidert an. »Das werdet Ihr hier nicht bekommen.«
Der nächste Morgen dämmerte klar und kalt. Das Studierhaus war nach dem schacharit, dem Morgengebet, beinahe leer, denn viele wanderten zum Scheunenhof des rabbenu, um dem rituellen Schlachten beizuwohnen.
Ihr Atem bildete kleine Wölkchen, die in der ruhigen, frostigen Luft schwebten.
Rob stand neben Simon. Leichte Unruhe entstand, als Reb Baruch ben David mit dem zweiten Prüfer, einem gebeugten alten Mann namens Reb Samson ben Zanvil, eintraf, dessen Gesicht ernst und streng war.
»Er ist älter als Reb Baruch oder der rabbenu, aber nicht so gelehrt«, flüsterte Simon. »Und jetzt befürchtet er, zwischen die beiden zu geraten, wenn es zu einem Streit kommen sollte.« Die vier Söhne des rabbenu brachten das erste Tier aus dem Stall, einen schwarzen Stier mit kräftigem Rücken und schweren Hintervierteln. Der Stier brüllte, warf den Kopf hoch, stampfte, und sie mussten die Hilfe der Zuschauer in Anspruch nehmen, um ihn mit Stricken im Zaum zu halten, während die mascbgiot jeden Zoll seines Körpers untersuchten.
»Die kleinste Wunde oder der winzigste Riß in der Haut macht das Tier zum Essen ungeeignet«, erklärte Simon.
»Warum?«
Simon sah Rob verärgert an. »Weil das Gesetz so lautet.« Als sie endlich zufrieden waren, führten sie den Stier zu einem mit duftendem Heu gefüllten Futtertrog. Der rabbenu ergriff ein langes Messer. »Siehst du das stumpfe, viereckige Ende des Messers?« fragte Simon. »Es hat keine Spitze, damit es keinen Kratzer in der Haut des Tieres hinterlassen kann. Aber es ist scharf wie ein Rasiermesser.« Sie warteten in der Kälte, aber nichts geschah. »Worauf warten sie?« flüsterte Rob.
»Auf den genau richtigen Moment«, antwortete Simon, »denn das Tier darf sich im Augenblick des Todesschnittes nicht bewegen, sonst ist es nicht koscher.«
Noch während er sprach, blitzte das Messer auf. Mit einem einzigen, geschickten Schnitt wurden der Schlund, die Luftröhre und die Halsschlagader durchtrennt. Im nächsten Augenblick schoß ein roter Strom heraus, und der Stier verlor das Bewusstsein, da die Blutzufuhr zum Gehirn schlagartig abgeschnitten war. Die Augen des Rindes wurden matt, der Stier sank auf die Knie und war einen Augenblick später tot.
Von den Zuschauern kam zufriedenes Murmeln, das jedoch rasch
verstummte, denn Reb Baruch hatte das Messer ergriffen, um es zu prüfen.
Auf seinen feinen alten Gesichtszügen spiegelte sich ein innerer Kampf. Baruch wandte sich an seinen älteren Rivalen. »Ist etwas?« fragte der rabbenu kalt.
»Ich befürchte es«, antwortete Reb Baruch. Er zeigte auf einen Fehler in der Mitte der Schneide, eine winzige Kerbe in dem scharf geschliffenen Stahl.
Der alte, knorrige Reb Samson ben Zanvil trat unglücklich zurück, denn man würde von ihm als dem zweiten Prüfer ein Urteil erwarten, das er nicht fällen wollte.
Reb Daniel, Rahels Vater und ältester Sohn des rabbenu, brauste auf. »Was ist das für ein Unsinn? Jeder weiß, wie sorgfältig die rituellen Messer des rabbenu geschliffen werden...« Aber sein Vater hob die Hand, und er verstummte.
Der rabbenu hielt das Messer ins Licht und fuhr geübt mit dem Finger dicht unter der rasiermesserscharfen Schneide entlang. Es seufzte, denn die Kerbe war vorhanden, ein menschlicher Fehler, durch den das Fleisch für den Verzehr des Gläubigen ungeeignet wurde. »Es ist ein Segen, dass deine Augen schärfer sind als diese Klinge und uns weiterhin beschützen, mein alter Freund«, sagte er ruhig, und die Zuschauer entspannten sich, als atmeten sie tief auf. Reb Baruch lächelte. Er strich über die Hand des rabbenu, und die beiden Männer blickten einander lange an.
Dann drehte sich der rabbenu um und rief nach Mär Reuven, dem Baderchirurgen.
Rob und Simon traten vor und hörten aufmerksam zu. »Der rabbenu ersucht Euch, den treifen Stierkadaver dem christlichen Fleischer von Gabrovo zu bringen«, übersetzte Simon.
Rob spannte die Stute, die dringend Bewegung brauchte, an einen flachen Schlitten, auf den hilfsbereite Hände den geschlachteten Stier legten. Der rabbenu hatte für das zweite Tier ein gebilligtes Messer verwendet, das Tier wurde als koscher beurteilt, und die Juden zerteilten es bereits, als Rob die Zügel schüttelte und die Stute aus Tryavna hinauslenkte.
Er fuhr langsam nach Gabrovo. Der Fleischerladen befand sich genau dort, wo man es ihm beschrieben hatte.
Die Sprache war kein Hindernis. »Tryavna.« Rob zeigte auf den toten Stier.
»Ah, rabbenu.« Der Fleischer nickte heftig. Er ging zu einem Wirtshaus, kam mit zwei Helfern zurück, und der Stier wurde mit Hilfe eines Seils mit einiger Mühe abgeladen. Als der Fleischer Rob die wenigen Münzen überreichte, wurde diesem klar, warum der Mann selig lächelte, denn er hatte praktisch ein ganzes, ausgezeichnetes Rind geschenkt bekommen, einfach weil das Schlachtmesser eine Kerbe auf gewiesen hatte.
Rob konnte nur im Namen der Hebräer die Münzen übernehmen und sie in sicheren Gewahrsam in seine Geldtasche stecken. Nachdem er seinen Auftrag erledigt hatte, suchte er direkt das nahe Wirtshaus auf. Die niedrige Decke war durch das rußende Feuer geschwärzt, um das neun oder zehn Männer saßen und tranken.
Drei Frauen warteten aufmerksam an einem kleinen Tisch in der Nähe. Rob musterte sie, während er trank - es war ein brauner, scharfer Gerstenschnaps, der keineswegs nach seinem Geschmack war. Die Frauen waren eindeutig Kneipenhuren. Zwei hatten ihre beste Zeit bereits hinter sich, aber die dritte war eine junge Blondine mit einem sündhaft unschuldigen Gesicht. Sie erkannte, warum er sie betrachtete, und lächelte ihm zu.
Rob trank aus und ging zu ihrem Tisch. »Ich nehme nicht an, dass du Englisch verstehst«, murmelte er und hatte richtig geraten. Eine der älteren Frauen sagte etwas, und die anderen beiden lachten. Aber er zog eine Münze heraus und gab sie der jüngeren. Das genügte zur Verständigung. Sie steckte die Münze m die Tasche, verließ den Tisch, ohne ein weiteres Wort zu ihren Gefährtinnen zu sagen, und holte ihren Mantel, der an einem Haken hin.
Er folgt ihr hinaus und begegnete auf der Straße Mary Cullen. »Hallo! Verbringt Ihr und Euer Vater einen angenehmen Winter?« »Wir verbringen einen erbärmlichen Winter«, antwortete sie, und man sah es ihr an. Ihre Nase war gerötet, und auf ihrer Oberlippe prangte eine Fieberblase. »Im Gasthaus ist es immer eisig, und das Essen ist sehr schlecht. Lebt Ihr wirklich bei den Juden?« »Ja.«
»Wie könnt Ihr nur?« protestierte sie schwach.
Er hatte die Farbe ihrer Augen vergessen, ihre Wirkung auf ihn war nun entwaffnend, als wäre er im Schnee plötzlich auf Eisvögel gestoßen. »Ich schlafe in einem warmen Stall, und das Essen ist ausgezeichnet«, erzählte er ihr mit großer Befriedigung.
»Mein Vater behauptet, dass es einen besonderen Judengestank gibt, den foetor judaicus, weil sie die Leiche Christi nach seinem Tod mit Knoblauch eingerieben haben.«
»Manchmal riechen wir alle. Aber es ist bei den Juden Brauch, jeden Freitag von Kopf bis Fuß ins Wasser zu tauchen. Sie baden öfter als die meisten Menschen.«
Sie errötete, denn es war schwierig und gelang nur selten, in einem der Gasthäuser von Gabrovo Badewasser zu bekommen. Sie sah die Frau an, die geduldig in der Nähe auf Rob wartete. »Mein Vater sagt, dass jemand, der bei den Juden lebt, nie ein ordentlicher Mensch sein kann.«
»Ich hielt Euren Vater für einen netten Mann«, erwiderte er nachdenklich, »aber er ist wohl ein Arschloch.«
Nach verschiedenen Richtungen liefen sie gleichzeitig davon.
Er folgte der blonden Frau in ein nahegelegenes Zimmer. Es war unordentlich, schmutzige Frauenkleider lagen herum, und er hatte den Eindruck, dass sie das Zimmer mit den beiden anderen teilte. Er sah ihr zu, während sie sich auszog. »Es ist grausam, dich zu betrachten, nachdem man die andere gesehen hat«, stellte er laut fest, denn er wusste, dass sie kein Wort davon verstand. »Sie hat zwar vielleicht eine recht spitze Zunge, aber... es ist nicht eigentlich ihre Schönheit, doch es können sich nur wenige Frauen mit Mary Cullen vergleichen.« Die Frau lächelte ihn an.
»Du bist eine junge Hure, siehst aber schon alt aus.« Die Luft im Zimmer war kalt. Die blonde Frau legte ihre Kleidung ab und glitt rasch zwischen die schmutzigen Pelzdecken, um der Kälte zu entkommen, doch Rob hatte bereits mehr mitbekommen, als ihm lieb war. Er war ein Mann, der zwar den Moschusduft der Frauen schätzte, aber von dieser ging ein säuerlicher Gestank aus, und ihre Schamhaare sahen so hart und klebrig aus, als wären unzählige Male Körpersäfte auf ihnen eingetrocknet, ohne mit Wasser in Berührung gekommen zu sein. Die Enthaltsamkeit hatte in ihm einen solchen Hunger erzeugt, dass er gern über sie hergefallen wäre, doch der kurze Blick auf ihren bläulichen Leib hatte ihm verbrauchtes, schmutzstarrendes Fleisch offenbart, das er nicht anrühren wollte.
»Gott verdamme jene rothaarige Hexe«, murmelte er verdrießlich. Die Frau blickte verdutzt zu ihm empor.
»Es ist nicht deine Schuld, Kleine.« Er griff in seine Börse und gab ihr mehr, als sie wert gewesen wäre, wenn sie eine Leistung erbracht hätte. Sie zog die Hand mit den Münzen unter den Pelz und drückte sie fest an sich.
Da er noch gar nicht begonnen hatte, sich auszuziehen, glättete er nur seine Kleidung, nickte ihr zu und ging hinaus m die frische Luft.
Als sich der Februar dem Ende zuneigte, verbrachte er mehr Zeit denn je im Studierhaus, um sich in den persischen Qu'ran zu vertiefen. Immer wieder wunderte er sich über die unerbittliche Feindseligkeit des Qu'ran gegenüber Christen und über den tiefen Abscheu gegenüber Juden.
Simon erklärte es ihm: »Mohammeds erste Lehrer waren Juden und christliche Mönche aus Syrien. Als er verkündete, dass der Engel Gabriel ihn heimgesucht und dass Gott ihn zum Propheten ernannt und ihm aufgetragen habe, eine neue, vollkommene Religion zu gründen, erwartete er, dass sich ihm diese alten Freunde freudig anschließen würden. Aber die Christen zogen ihre eigene Religion vor, und die verstörten, bedrohten Juden unterstützten jene, die Mohammeds Lehre ablehnten. Solange er lebte, vergab er ihnen nicht, sondern schmähte sie in Wort und Schrift.«
Simons Erklärungen machten den Qu'ran für Rob lebendig. Er war beinahe bis zur Hälfte des Buches durchgedrungen und studierte es eifrig, weil ihm klar war, dass sie bald wieder reisen würden. Sobald sie Konstantinopel erreichten, würden er und Meiers Gruppe verschiedene Wege einschlagen, und das hieß, dass er sich nicht nur von seinem Lehrer Simon trennen musste, sondern auch, was schlimmer war, von dem Buch. Der Qu'ran veranschaulichte ihm eine Kultur, die sich von der seinen völlig unterschied, und die Juden von Tryavna gewährten ihm außerdem Einblick in eine dritte Lebensweise. Als Junge hatte er geglaubt, dass England die Welt darstellte, doch nun erkannte er, dass es noch ganz andere Völker gab; manche Züge waren allen gemeinsam, doch sie unterschieden sich voneinander in vieler Hinsicht. Die Begegnung beim Schächten hatte den rabbenu und Reb Baruch ben David versöhnt, und ihre Familien begannen sofort, die Hochzeit von Rahel mit dem jungen Reb Meschullum ben Nathan vorzubereiten. Im Judenviertel setzte lebhafte Geschäftigkeit ein, und die beiden alten Männer wurden oft in bester Stimmung gemeinsam gesehen.
per rabbenu schenkte Rob den alten Lederhut und lieh ihm zum Studium einen winzigen Teil des Talmuds. Das hebräische Gesetzbuch war ins Persische übersetzt, und obwohl Rob die Gelegenheit willkommen war, die persische Sprache in einem anderen Dokument kennenzulernen, begriff er den Abschnitt nicht. Das Fragment befaßte sich mit einem Gesetz, das schaatnes hieß: Obwohl die Juden Leinen oder Wolle tragen durften, war ihnen verboten, ein Gemisch aus Leinen und Wolle zu tragen, und Rob verstand nicht, weshalb. Wen immer er fragte, der wusste es entweder nicht oder zuckte mit den Achseln und sagte, so laute eben das Gesetz.
Als Rob an diesem Freitag nackt im dampferfüllten Badehaus badete, nahm er seinen Mut zusammen, während sich die Männer um ihren Weisen drängten.
»Schi-aila, Rabbenu, schi-aila«, rief er. Eine Frage, eine Frage! Der rabbenu hörte auf, seinen großen schwabbeligen Bauch einzuseifen, lächelte dem jungen Fremden zu und sagte dann etwas. »Er sagt: >Stell deine Frage, mein Sohn!<« übersetzte Simon. »Es ist euch verboten, Fleisch mit Milch zu essen. Es ist euch verboten, Leinen mit Wolle zu tragen. Die Hälfte des Jahres ist es euch verboten, eure Frauen anzurühren. Warum ist so vieles verboten?« »Um den Glauben zu erzwingen«, erwiderte der rabbenu. »Warum stellt Gott so merkwürdige Anforderungen an die Juden?« »Um uns von euch zu unterscheiden«, sagte der rabbenu, aber seine Augen glitzerten freundlich, und seine Worte klangen nicht boshaft. Rob schnappte nach Luft, als Simon ihm Wasser über den Kopf goß.
Alle nahmen an der Feier teil, als am zweiten Freitag des Monats Adar Rahel, die Enkelin des rabbenu, mit Reb Baruchs Enkel Meschullum vermählt wurde.
Am frühen Morgen versammelte sich die Hochzeitsgesellschaft vor dem Hause von Daniel ben Sch'lomo, dem Vater der Braut. Drinnen bezahlte Meschullum den stattlichen Brautpreis von fünfzehn Goldstücken. Die ketubba, der Heiratsvertrag, wurde unterschrieben, und Reb Daniel überreichte eine ansehnliche Mitgift, gab dem Paar den Brautpreis zurück und fügte noch fünfzehn Goldstücke, einen Wagen und ein Pferdegespann hinzu. Nathan, der Vater des Bräutigams, schenkte dem glücklichen Paar zwei Milchkühe. Als sie das Haus verließen, ging die strahlende Rahel an Rob vorüber, als wäre er unsichtbar.
Die gesamte Gemeinde begleitete das Paar zur Synagoge, wo die beiden unter einem Baldachin sieben Segenssprüche aufsagten. Me-schullum zertrat ein dünnes Glas, um zu veranschaulichen, dass Glück vergänglich ist und dass die Juden die Zerstörung des Tempels nicht vergessen dürfen. Dann waren sie Mann und Frau. Die Feier dauerte den ganzen Tag. Ein Flötist, ein Pfeifer und ein Trommler sorgten für Musik, und die Juden sangen fröhlich. Die beiden Großväter breiteten freudig die Arme aus, schnalzten mit den Fingern, schlössen die Augen, warfen die Köpfe zurück und tanzten. Die Hochzeitsfeier endete erst in den frühen Morgenstunden. Rob hatte viel zuviel Fleisch und schwere Süßspeisen gegessen und zuviel getrunken. Als er endlich in der Wärme mit der Katze zu seinen Füßen auf dem Stroh lag, musste er grübeln. Er erinnerte sich mit immer weniger Abscheu an die blonde Frau in Gabrovo und zwang sich, nicht an Mary Cullen zu denken. Er dachte neidisch an den mageren jungen Meschullum, der in diesem Augenblick bei Rahel lag, und hoffte, dass die großartige Gelehrsamkeit des Jungen diesen befähigen würde, sein Glück zu schätzen.
Er erwachte noch vor Sonnenaufgang und spürte die Veränderung in seiner Umwelt mehr, als er sie hörte.
Nachdem er wieder eingeschlafen, noch einmal aufgewacht und dann aufgestanden war, konnte er die Geräusche deutlich hören: ein Tropfen, ein Geklingel, ein Rauschen, ein Dröhnen, das immer stärker wurde, weil immer mehr Eis und Schnee schmolzen. Das Schmelzwasser vereinigte sich mit den Gewässern der befreiten Erde, stürzte die Berghänge hinunter und verkündete das Kommen des Frühlings.
Als Mary Cullens Mutter starb, hatte ihr ihr Vater versprochen, dass er den Rest seines Lebens um seine Frau Jura trauern würde. Sie hatte bereitwillig wie er Schwarz getragen und öffentliche Vergnügungen gemieden, doch als am 18. März ein volles Trauerjahr zu Ende war,
sagte sie ihrem Vater, es sei Zeit für sie beide, wieder den Gang des normalen Lebens aufzunehmen.
»Ich trage weiterhin Schwarz«, stellte James Cullen fest. »Ich nicht«, meinte sie, und er nickte.
Sie hatte aus Schottland einen Ballen leichten Stoffs mitgebracht, der aus Wolle von ihren eigenen Schafen gewebt war, und sie erkundigte sich genau, bis sie eine gute Schneiderin in Gabrovo fand. Die Frau nickte, als sie ihr erklärte, was sie wollte, wies aber darauf hin, dass man den Stoff, der eine unbestimmte Naturfarbe aufwies, färben solle, bevor man ihn zuschnitt. Die Krappwurzeln ergäben rote Töne, doch bei ihrer Haarfarbe würde sie dann zu auffallend sein. Eichenholz aus dem Kern des Stammes ergäbe Grau, aber nach dem ewigen Schwarz sei Grau zu gedämpft. Ahorn oder Sumachrinde führte zu Gelb oder Orange, doch das seien leichtfertige Farben. Braun bot sich an. »Ich habe mein Leben lang nußschalenbraune Kleider getragen«, murrte sie vor ihrem Vater.
Am nächsten Tag brachte er ihr einen Topf mit einer gelblichen Paste, die wie leicht ranzige Butter aussah. »Das ist ein Farbstoff, ein sehr teurer.«
»Diese .Farbe ist aber nicht gerade bewundernswert«, meinte sie vorsichtig.
James Cullen lächelte. »Sie heißt Indigoblau. Die Paste löst sich im Wasser auf, und du musst darauf achten, dass du sie nicht auf die Hände bekommst. Wenn der feuchte Stoff aus dem gelben Wasser herausgenommen wird, wechselt er an der Luft die Farbe, die dann waschecht ist.«
Der Wollstoff erhielt einen satten, tiefblauen Ton, wie sie ihn noch nie gesehen hatte, und die Schneiderin schnitt ein Kleid und einen Mantel zu. Die fertigen Kleidungsstücke gefielen Mary, aber sie faltete sie zusammen und bewahrte sie bis zum Morgen des 10. April auf, an dem Jäger die Nachricht nach Gabrovo brachten, dass der Weg durch die Berge endlich offen sei.
Am frühen Nachmittag trafen alle Leute in Gabrovo ein, die überall in der Umgebung auf das Tauwetter gewartet hatten, denn die Stadt war der Ausgangspunkt für den großen Paß, dem Tor zum Balkan.
Lebensmittelhändler boten ihre Waren an, und die Massen drängten sich um sie und kämpften darum, Vorräte zu kaufen.
Mary musste der Frau des Wirtes Geld geben, damit sie während dieser turbulenten Stunden Wasser über dem Feuer erhitzte und es in die Schlaf räume der Frauen hinauftrug. Zuerst kniete Mary vor dem hölzernen Bottich, um sich die Haare zu waschen, die jetzt lang und dicht waren wie ein Winterpelz. Dann kauerte sie sich in den Bottich und schrubbte sich, bis sie glühte.
Sie zog die neuen Kleidungsstücke an und setzte sich vors Haus. Während ihr Haar an der Sonne trocknete, kämmte sie es mit einem Holzkamm. Sie sah, dass die Hauptstraße von Gabrovo voller Pferde und Wagen war.
Dann galoppierte eine Horde betrunkener Männer auf Pferden durch die Stadt, ohne sich um die Verwüstungen zu kümmern, welche die stampfenden Hufe der Reittiere anrichteten. Ein Wagen wurde umgeworfen, die Pferde verdrehten ängstlich die Augen und bockten und scheuten. Während die Männer fluchten und sich bemühten, die Zügel festzuhalten, und die Pferde wieherten, lief Mary ins Haus, obwohl ihr Haar noch nicht ganz trocken war.
Als ihr Vater mit seinem Diener Seredy erschien, hatte sie ihre Habseligkeiten schon gepackt.
»Wer waren diese Männer, die durch die Stadt gestürmt sind?« fragte sie.
»Sie nennen sich christliche Ritter«, antwortete ihr Vater kalt. »Es sind beinahe achtzig Franzosen aus der Normandie hier, die nach Palästina pilgern.«
»Sie sind sehr gefährlich, Lady«, ergänzte Seredy. »Sie tragen zwar nur leichte Kettenhemden, aber sie reisen mit Wagen, die mit schweren Rüstungen beladen sind. Sie sind ständig betrunken...« Er wandte den Blick ab:
»Keine Frau ist vor ihnen sicher. Ihr müßt in unserer Nähe bleiben, Lady.«
Sie dankte ihm ernst; doch die Vorstellung, dass Seredy und ihr Vater sie vor achtzig betrunkenen, brutalen Rittern schützen sollten, wäre, wenn sie nicht so schrecklich gewesen wäre, sehr belustigend gewesen. Der wichtigste Grund, weshalb man in einer großen Karawane reiste, war der, sich gegenseitig zu schützen. Sie beluden unverzüglich ihre Packtiere und führten sie auf ein großes Feld am Ostrand der Stadt, wo sich die Karawane sammelte. Als sie an Karl Frittas Wagen vorbeiritten, sah Mary, dass er bereits seinen Tisch aufgestellt hatte und eifrig neue Mitreisende warb.
Es war wie eine Heimkehr, denn sie wurden von etlichen Leuten begrüßt, die sie auf dem ersten Teil der Reise kennengelernt hatten. Die Cullens bekamen ihren Platz diesmal ungefähr in der Mitte der Marschfolge zugewiesen, weil sich so viele neue Mitreisende hinter ihnen angeschlossen hatten.
Mary gab genau acht, obwohl es beinahe dunkel war, bis sie die Gruppe erblickte, auf die sie gewartet hatte. Die fünf Juden, mit denen er die Karawane verlassen hatte, kamen zu Pferd zurück. Hinter ihnen sah sie endlich die kleine braune Stute: Rob Jeremy Cole lenkte den bunten Wagen auf sie zu, und plötzlich begann ihr Herz heftig zu klopfen.
Er sah genauso gut aus wie vor der Trennung und war offenbar froh darüber, zurück zu sein. Er begrüßte die Cullens so herzlich, als hätten er und Mary sich bei ihrer letzten Begegnung nicht im Streit getrennt. Als er sein Pferd versorgt hatte und zu ihrem Lagerplatz kam, erwähnte sie als gute Nachbarin, dass die hiesigen Geschäftsleute kaum noch etwas zu verkaufen hätten, falls er knapp an Vorräten sei. Er dankte ihr freundlich, sagte aber, dass er in Tryavna bereits Proviant gekauft habe. »Habt Ihr schon genug?«
»Ja, mein Vater hat früh gekauft.« Sie ärgerte sich, weil er ihr neues Kleid und den Mantel nicht erwähnte, obwohl er sie längere Zeit genau gemustert hatte.
»Das paßt genau zum Farbton Eurer Augen«, meinte er endlich. Sie war nicht sicher, faßte den Hinweis aber als Kompliment auf. »Danke«, antwortete sie ernst, und als ihr Vater zu ihnen trat, zwang sie sich, sich abzuwenden und zuzusehen, wie Seredy das Zelt aufstellte.
Ein weiterer Tag verging, ohne dass die Karawane aufbrach, und überall wurde bereits gemurrt. Vater Cullen suchte Fritta auf und berichtete Mary, als er zurückkam, dass der Anführer der Karawane darauf warte, dass die normannischen Ritter aufbrechen. »Sie haben viel Unheil angerichtet, und Meister Fritta zieht es vernünftigerweise vor, sie vor uns zu wissen, statt sie als Nachhut zu haben.« Aber am nächsten Morgen waren die Ritter immer noch nicht abgezogen, und Fritta fand, dass er lang genug gewartet habe. Er gab das Signal, die Karawane brach zu ihrer letzten, langen Etappe nach
Konstantinopel auf, und schließlich erreichte die Bewegung auch die Cullens. Im vergangenen Herbst waren sie einem jungen Franken mit Frau und zwei kleinen Kindern gefolgt. Die fränkische Familie hatte außerhalb der Stadt Gabrovo überwintert, aber ausdrücklich erklärt, dass sie die Reise mit der Karawane fortsetzen wollten. Als sie nicht erschienen, wusste Mary, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste, und sie betete für sie. Die Cullens ritten jetzt hinter zwei französischen Brüdern, die erzählt hatten, sie wollten ein Vermögen machen, indem sie türkische Teppiche und andere Schätze kauften. Sie kauten um ihrer Gesundheit willen Knoblauch und drehten sich oft im Sattel um, um Marys Körper stumpfsinnig anzustarren. Ihr fiel ein, dass der junge Baderchirurg hinter ihr sie vielleicht auch beobachtete, und zeitweise bewegte sie boshafterweise ihre Hüften stärker als notwendig. Die riesige Schlange der Reisenden wand sich bald zu dem Paß empor, der zwischen den hohen Bergen hindurchführte. Auf der anderen Seite des Gebirgszugs lagen Hügel, die allmählich m welliges Land übergingen. Sie schliefen die folgende Nacht in einer großen, mit Büschen bestandenen Ebene. Am nächsten Tag zogen sie genau Richtung Süden, und es wurde klar, dass das Tor zum Balkan zwei verschiedene Klimazonen voneinander trennte, denn die Luft war auf dieser Seite des Gebirges milder, und sie wurde mit jeder Stunde, die sie reisten, wärmer.
In dieser Nacht machten sie vor dem Dorf Gornia halt. Mit Erlaubnis der Besitzer lagerten sie in großen Pflaumengärten. Die Bauern verkauften einigen Männern scharfen Pflaumenschnaps sowie grüne Zwiebeln und ein Getränk aus gegorener Milch, das so dick war, dass man es mit dem Löffel essen mußte. Früh am nächsten Morgen, als sie noch lagerten, hörte Mary fernen Donner. Aber das Donnern wurde rasch lauter, und bald gesellte sich wildes Männergeschrei zu dem Lärm. Als sie aus dem Zelt trat, sah sie, dass die weiße Katze den Wagen des Baderchirurgen verlassen hatte und wie versteinert auf der Straße stand. Die normannischen Ritter galoppierten vorbei wie Dämonen in einem Alptraum, und die Katze verschwand in einer Staubwolke. Doch Mary hatte noch gesehen, was die ersten Hufe dem Tier angetan hatten. Sie merkte nicht, dass sie schrie, und lief auf die Straße, bevor sich der Staub gesetzt hatte. Mistress Buffington war nicht mehr weiß. Sie war in den Staub getrampelt worden, und Mary hob den armen, zerschundenen kleinen Körper hoch. Jetzt erst bemerkte sie, dass Rob seinen Wagen verlassen hatte und sich über sie beugte.
»Ihr werdet Euer neues Kleid mit dem Blut beflecken«, sagte er rauh, aber sein blasses Gesicht spiegelte Verzweiflung.
Er nahm die Katze, holte einen Spaten und verließ das Lager. Als er wiederkam, ging sie nicht zu ihm, bemerkte aber von fern, dass seine Augen gerötet waren. Es war ein Unterschied, ob man ein totes Tier oder einen Menschen begrub, doch sie fand es nicht seltsam, dass Rob wegen einer Katze weinte. Abgesehen von seiner Größe und seiner Kraft war es diese verletzliche Sanftheit, die sie anzog. Während der nächsten Tage ließ sie ihn in Ruhe. Die Karawane zog jetzt nicht mehr Richtung Süden, sondern wandte sich wieder nach Osten, aber die Sonne brannte trotzdem jeden Tag heißer. Mary hatte bereits eingesehen, dass die neue Kleidung, die sie in Gabrovo hatte machen lassen, unnütz war, denn das Wetter war viel zu warm für Wolle. Sie durchstöberte die Sommerkleider in ihrem Gepäck und fand ein paar leichte Gewänder, aber die waren zu fein für die Reise und würden bald fadenscheinig aussehen. So entschied sie sich für ein Unterkleid aus Baumwolle und ein grobes, sackartiges Arbeitskleid, dem sie etwas Form gab, indem sie eine Kordel um die Taille band. Dazu setzte sie einen breitkrempigen Lederhut auf, obwohl ihre Wangen und die Nase bereits voller Sommersprossen waren.
Als sie an diesem Vormittag von ihrem Pferd stieg, um wie gewohnt ein Stück zu gehen, lächelte Rob sie an.
»Fahrt mit mir in meinem Wagen!«
Sie machte keine Umstände. Diesmal war sie nicht verlegen, sondern empfand nur tiefe Freude darüber, dass sie neben ihm saß.
Er griff hinter den Sitz und zog einen Lederhut hervor, doch es war die Kopfbedeckung der Juden.
»Wo habt Ihr den her?«
»Ihr heiliger Mann in Tryavna hat in mir geschenkt.«
Marys Vater warf ihm in diesem Augenblick einen so mürrischen Blick zu, dass sie zu lachen begannen.
»Es wundert mich, dass er Euch gestattet, mich zu besuchen«, meinte Rob.
»Ich habe ihn davon überzeugt, dass Ihr arglos seid.«
Sie blickten einander unbefangen an. Sein Gesicht war schön, trotz der entstellenden gebrochenen Nase. Wie gelassen seine Züge auch bleiben mochten, der Schlüssel zu seinen Gefühlen waren seine Augen, die tiefblickend, ruhig und irgendwie älter wirkten, als er war. Sie ahnte in ihnen eine große Einsamkeit, die zu der ihren paßte. Wie alt er wohl war? Einundzwanzig? Zweiundzwanzig? Erschrocken merkte sie, dass er von dem Ackerland sprach, durch das
sie zogen.
»...zumeist Obst und Weizen. Hier muss der Winter kurz und mild sein, denn das Getreide steht schon hoch«, sagte er gerade, aber sie wollte sich die Vertrautheit, die in den letzten Augenblicken zwischen ihnen entstanden war, nicht rauben lassen. »An jenem Tag in Gabrovo, da habe ich Euch gehaßt.« Ein anderer Mann hätte vielleicht protestiert oder zumindest gelächelt, er aber reagierte nicht.
»Wegen der blonden Frau. Wie konntet Ihr mit ihr gehen! Ich habe auch sie gehaßt.«
»Vergeudet Euren Haß nicht auf uns beide, denn sie war bedauernswert, und ich habe nicht mit ihr geschlafen.
Als ich Euch gesehen hatte, konnte ich sie nicht mehr anrühren.«
Sie zweifelte nicht daran, dass er die Wahrheit gesprochen hatte, und ein warmes, triumphierendes Gefühl begann in ihr zu wachsen wie
eine Blume.
Jetzt konnten sie über Unwesentliches sprechen, über ihre Route, über die Art, wie die Tiere angetrieben werden mussten, damit sie durchhielten, darüber, wie schwer es war, Brennholz zum Kochen zu finden. Sie saßen auch den ganzen Nachmittag nebeneinander und sprachen ruhig über alles, nur nicht über die weiße Katze und sie beide, doch seine Augen sagten ihr wortlos ganz andere Dinge.
Sie wusste es. Sie hatte aus mehreren Gründen Angst, aber es gab auf der ganzen Erde keinen Platz, der ihr lieber gewesen wäre als der neben ihm auf dem unbequemen, schwankenden Wagen unter der glühenden Sonne, und sie verließ Rob erst gehorsam, wenn auch zögernd, als der entschiedene Ruf ihres Vaters sie schließlich dazu zwang.
Dann und wann kamen sie an kleinen Herden von schmuddeligen Schafen vorbei, doch ihr Vater hielt immer an, um sie zu prüfen, und er
befragte mit Seredys Hilfe die Besitzer. Die Hirten wiesen jedes Mal darauf hin, dass er für wirklich gute Schafe nach Anatolien Weiterreisen müsse.
Anfang Mai waren sie nur noch eine Wochenreise von der Türkei entfernt, und James Cullen konnte seine Erregung nicht mehr verbergen. Seine Tochter war zwar ebenfalls erregt, aber sie gab sich alle Mühe, dies vor ihm zu verheimlichen. Obwohl sie immer wieder die Möglichkeit fand, dem Baderchirurgen einen Blick zuzuwerfen oder ihn anzulächeln, zwang sie sich, ihn zwei Tage hintereinander zu meiden, denn wenn ihr Vater ihre Gefühle erriet, würde er ihr vermutlich befehlen, sich von Rob Cole fernzuhalten. Eines Abends, als sie nach dem Essen aufräumte, erschien Rob in ihrem Lager. Er nickte Mary höflich zu, ging geradewegs auf ihren Vater zu und hielt ihm eine Flasche Brandy als Versöhnungsgabe hin. »Setzt Euch«, sagte ihr Vater zögernd. Aber nachdem die beiden Männer gemeinsam getrunken hatten, wurde ihr Vater freundlicher, zweifellos weil es angenehm war, kameradschaftlich zusammenzusit-zen und auf englisch zu plaudern, und auch weil es schwer war, Rob Cole gegenüber reserviert zu bleiben. Es dauerte nicht lang, bis James Cullen dem Besucher erzählte, was er vorhatte. »Ich habe von einer Schafrasse im Osten gehört, deren Tiere mager sind und einen schmalen Rücken haben, deren Schwänze und Hinterbeine jedoch so fett sind, dass das Schaf, wenn die Nahrung knapp wird, von den aufgespeicherten Reserven leben kann. Die Lämmer haben ein seidiges Vlies von seltenem, ungewöhnlichem Glanz. Wartet einen Moment, ich zeige es Euch!« Er verschwand im Zelt und kam mit einem Hut aus Lammfell heraus. Das Vlies war grau und dicht gelockt.
»Feinste Qualität«, erklärte er eifrig. »Das Vlies bleibt nur bis zum fünften Lebenstag des Lammes so gelockt, dann ist das Fell nur noch gewellt, bis das Tier zwei Monate alt ist.«
Rob begutachtete den Hut und versicherte James Cullen, dass dies ein feines Fell sei.
»Und ob es das ist«, sagte Cullen und setzte den Hut auf, worauf sie alle drei lachten, weil es eine warme Nacht und so ein Pelzhut doch für den Schnee gedacht war. Cullen trug ihn wieder ins Zelt, dann saßen sie zu dritt vor dem Feuer, und Marys Vater ließ die Tochter
ein- oder zweimal aus seinem Glas trinken. Es fiel ihr schwer, den Brandy hinunterzuschlucken, doch hinterher kam ihr die Welt sicherer vor.
Donner grollte und erschütterte den rötlichen Himmel, Wetterleuchten brachte sekundenlang Helligkeit, so dass sie Robs männliche Gesichtszüge sehen konnte, doch die empfindsamen Augen, die es so schön machten, waren ihren Blicken entzogen.
»Ein merkwürdiges Land, in dem es donnert und blitzt wie bei uns und doch nie ein Tropfen Regen fällt«, meinte ihr Vater. »Ich erinnere mich gut an den Morgen, an dem du zur Welt kamst, Mary Margaret. Auch damals blitzte und donnerte es, aber dazu fiel dichter schottischer Regen, als hätten die Himmel sich geöffnet und würden sich nimmer schließen.«
Rob beugte sich vor. »War das in Kilmarnock, wo Eure Familie ihre Besitzungen hat?«
»Nein, es war in Saltcoats. Ihre Mutter war eine Tedder aus Saltcoats. Ich hatte Jura in das alte Haus der Tedders gebracht, weil sie sich während der Schwangerschaft sehr nach ihrer Mutter sehnte. Sie feierten und umsorgten uns wochenlang, so dass wir zu lange blieben. Jura wurde von den Wehen überrascht, und daher kam Mary dort zur Welt statt in Kilmarnock wie eine richtige Cullen. Sie wurde im Haus ihres Großvaters geboren, von dem aus man einen Blick auf den Firth of Clyde hat.«
»Vater«, unterbrach Mary ihn sanft. »Master Cole interessiert sich nicht für den Tag meiner Geburt.«
»Im Gegenteil«, widersprach Rob. Er stellte Fragen über Fragen an ihren Vater und hörte ihm geduldig zu.
Sie betete, dass es nicht wieder blitzte, denn ihr Vater sollte nicht sehen, dass die Hand des Baderchirurgen auf ihrem nackten Arm lag. Seine Berührung war leicht wie ein Flaum, aber ihr Körper bestand nur noch aus erwachten Gefühlen und Gänsehaut, als hätte sich die Zukunft angekündigt, oder als wäre die Nacht kühl.
Am u. Mai erreichte die Karawane das Westufer der Arda, und Karl Fritta beschloss, dort einen Tag zu lagern, damit die Wagen instandgesetzt und damit bei den Bauern der Umgebung Vorräte gekauft werden konnten.
Cullen nahm Seredy mit und bezahlte einen Führer, der sie
über den Fluss in die Türkei bringen sollte, denn ungeduldig wie ein Junge konnte er es nicht erwarten, die Suche nach den Schafen mit den breiten Schwänzen zu beginnen.
Eine Stunde später bestiegen Mary und Rob den ungesattelten Rappen und entfernten sich vom Lärm und dem Durcheinander. Als sie am Lager der Juden vorbeikamen, beobachtete sie der magere Junge. Es war Simon, der als Robs Lehrer füngierte. Er versetzte einem der anderen grinsend einen leichten Rippenstoß, um ihn auf die Vorbeireitenden aufmerksam zu machen.
Mary war das gleichgültig. Ihr war schwindlig, vielleicht infolge der Hitze, denn die Morgensonne glich einem Feuerball. Mary schlang die Arme um Robs Brust, um nicht vom Pferd zu fallen, schloss die Augen und lehnte den Kopf an seinen breiten Rücken. In einiger Entfernung von der Karawane kamen sie an zwei mürrischen Bauern vorbei, die einen mit Brennholz beladenen Esel führten. Die Männer starrten sie an, erwiderten aber ihren Gruß nicht. Vielleicht waren sie von weit hergekommen, denn es gab in dieser Gegend keine Bäume, nur weite Felder. Niemand arbeitete auf ihnen, weil die Aussaat längst vorüber, das Getreide jedoch noch nicht reif war. Als sie zu einem Bach kamen, band Rob das Pferd an einen niederen Busch. Sie zogen die Schuhe aus und wateten durch die blendende Helle. Zu beiden Seiten des spiegelnden Wassers befanden sich Weizenfelder, und er zeigte ihr, dass die hohen Halme den Boden beschatteten, so dass er einladend dunkel und kühl war.
»Komm!« forderte er sie auf. »Es ist wie in einer Höhle«, und er kroch hinein, als wäre er ein großes Kind.
Sie folgte ihm zögernd. In ihrer Nähe raschelte ein kleines Lebewesen durch das hohe, reifende Getreide, und sie erschrak. »Nur eine winzige Maus, die schon davongelaufen ist«, beruhigte er sie. Als er sich ihr auf dem kühlen, lichtgesprenkelten Grund näherte, sahen sie einander an. »Ich will nicht, Rob.«
»Dann eben nicht, Mary«, antwortete er, obwohl sie an seinen Augen ablas, wie enttäuscht er war.
»Bitte, willst du mich küssen?« fragte sie demütig. So wurde also aus ihrer ersten vertrauten Berührung ein ungeschickter, trauriger Kuß, den ihre Angst erstickte.
»Das andere mag ich nicht. Ich habe es schon getan, weißt du«, sprudelte sie heraus, und der Moment, den sie gefürchtet hatte, war vorbei.
»Dann hast du also Erfahrung?«
»Nur einmal, mit meinem Vetter in Kilmarnock. Er hat mir schrecklich wehgetan.«
Er küßte zart ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund, während sie gegen ihren Zweifel ankämpfte. Wer war dieser Rob? Stephen Tedder war jemand gewesen, den sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatte, ihr Vetter und ihr Freund, und er hatte ihr dennoch Schmerzen zugefügt. Und hinterher hatte er über ihr Unbehagen schallend gelacht, als wäre es ungeschickt und komisch gewesen, dass sie es zugelassen hatte, als hätte sie ihm erlaubt, sie mit dem Rücken voran in den Morast zu stoßen.
Doch während sie diese peinlichen Gedanken wälzte, veränderten sich die Küsse des Engländers: Seine Zunge liebkoste die Innenseite ihrer Lippen. Es war nicht unangenehm, und als sie versuchte, ihn nachzuahmen, saugte er an ihrer Zunge. Sie begann jedoch wieder zu zittern, als er ihr Mieder aufknöpfte.
»Ich will sie nur küssen«, drängte er, und Mary machte die merkwürdige Erfahrung, auf ein Gesicht hinunterzublicken, das sich über ihre Brustwarzen beugte, die, wie sie sich widerwillig, aber doch stolz eingestand, bereits fest und rötlich angehaucht waren. Seine Zunge fuhr sanft über den rosigen Hof, bis Mary erschauerte. Er bewegte die Zunge in immer enger werdenden Kreisen, bis sie ihre hart gewordene, rote Brustwarze traf, die er zwischen die Lippen nahm, um an ihr zu saugen, als wäre er ein Säugling; die ganze Zeit über streichelte er sie dabei in den Kniekehlen und an der Innenseite der Schenkel. Doch als seine Hand zum Venushügel kam, erstarrte Mary. Sie spürte, wie die Muskeln in ihren Schenkeln und im Bauch sich anspannten.
Sie war verkrampft und ängstlich, bis er seine Hand wegzog.
Er nestelte an seiner Hose herum, dann suchte er ihre Hand, um ihr ein Geschenk zu machen. Sie hatte schon früher zufällig Männer gesehen -ihren Vater oder einen Arbeiter -, die hinter einem Busch urinierten. Und sie hatte bei diesen Gelegenheiten mehr wahrgenommen als damals bei Stephen Tedder. Genau hingesehen hatte sie aber noch nie,
und nun konnte sie nicht anders: Sie musste Robs Glied betrachten. Ich habe nicht gedacht, dass es so... groß ist, dachte sie vorwurfsvoll, als wäre es seine Schuld. Doch wurde sie mutiger, streichelte seine Hoden und lachte leise, als er zusammenzuckte. Sie waren so prall. Nun war sie beruhigt, als sie einander liebkosten, bis sie auf eigene Faust versuchte, sich mit seinem Mund zu befassen. Bald glichen ihre Körper warmen Früchten, und es war überhaupt nicht mehr schrecklich, als seine Hand ihre festen runden Hinterbacken verließ, zwischen ihre Beine zurückkehrte und sich hier eingehend beschäftigte. Sie wusste nicht, was sie mit ihren Händen tun sollte.
So steckte sie einen Finger zwischen seine Lippen und spürte seinen Speichel, die Zähne und die Zunge, aber er zog den Kopf zurück, saugte wieder an ihren Brüsten, küßte ihren Bauch und die Schenkel. Er drang zuerst mit einem Finger in sie ein, dann mit zweien, um die kleine Erbse in immer rascher werdenden Kreisen zu liebkosen.
»Ah«, flüsterte sie und zog die Knie an. Doch statt des Martyriums, auf das sie gefaßt war, spürte sie zu ihrer Verwunderung die Wärme seines Atems. Und seine Zunge schlüpfte wie ein Fisch in die Nässe zwischen den haarigen Falten, die sie aus Scham nie berührt hatte. Wie werde ich diesem Mann je wieder in die Augen sehen können? fragte sie sich, doch die Frage war schnell vergessen, auf seltsame Weise und wunderbar verschwunden, denn sie bebte schon, zuckte wild und lautlos mit geschlossenen Augen, schweigend und mit halboffenem Mund.
Bevor sie wieder zu sich kam, war er in sie eingedrungen. Sie waren nun wirklich verbunden, er stellte eine angenehme, seidige Wärme in ihrem tiefsten Inneren dar. Sie spürte keinen Schmerz, nur eine Art Spannung, die nachließ, als er sich langsam bewegte. Einmal hielt er inne. »Ist es gut so?« »Ja«, antwortete sie, und er machte weiter.
Sie stellte fest, dass ihr Körper sich im Einklang mit ihm bewegte. Bald war es ihm nicht mehr möglich, sich zurückzuhalten. Er bewegte sich schneller und heftiger mit immer größeren Entfernungen. Sie wollte ihn beruhigen, doch als sie ihn durch die halbgeschlossenen Augen betrachtete, sah sie, dass er den Kopf zurückgeworfen hatte und sich aufbäumte. Wie einzigartig, sein starkes Zittern zu fühlen und das Knurren überwältigender Erleichterung zu hören, als er sich in sie ergoss! In der Geborgenheit des hohen Getreides bewegten sie sich lange Zeit fast nicht. Ruhig lagen sie nebeneinander, ein Bein Marys lag quer über ihm, und der Schweiß und die Flüssigkeit trockneten. »Mit der Zeit wirst du auf den Geschmack kommen«, meinte er endlich. »Wie bei Malzbier.«
Sie kniff ihn, so fest sie konnte, in den Arm. Doch sie war nachdenklich. »Warum gefällt uns das?« fragte sie.
»Ich habe Pferde beobachtet. Warum gefällt das Tieren?«
Er wirkte erschrocken. Jahre später begriff sie, dass diese Frage sie von allen Frauen unterschied, die er kannte, aber jetzt war ihr nur klar, dass er sie prüfend ansah.
Sie konnte es nicht ausdrücken, aber im Geist unterschied sie ihn schon von anderen Männern. Sie spürte, dass er in einer Weise, die sie nicht ganz verstand, überaus gut zu ihr gewesen war, besaß aber nur den Vergleich mit dem ungeschliffenen Vetter.
»Du hast mehr an mich gedacht als an dich«, meinte sie schließlich. »Ich habe nicht darunter gelitten.«
Sie streichelte sein Gesicht und zog die Hand nicht zurück, als er die Innenfläche küßte. »Die meisten Männer...
die meisten sind nicht so. Das weiß ich.« »Du musst den blöden Vetter in Kilmarnock vergessen.«
Unter den Neuankömmlingen befanden sich einige Patienten für Rob, und er musste lachen, als er erfuhr, dass Karl Fritta, als er sie angeworben hatte, damit geprahlt hatte, dass seine Karawane von einem hervorragenden Baderchirurgen betreut werde.
Die Leute erzählten von ihm, dass der große, grinsende fränkische Treiber, den er wegen seiner Drüsenschwellung behandelt hatte, im Winter in Gabrovo an der Krankheit gestorben sei. Rob hatte gewußt, dass es so kommen würde, und hatte dem Mann gesagt, was ihm bevorstand, dennoch stimmte ihn die Nachricht traurig. »Mich befriedigt es, wenn ich eine Verletzung heilen kann«, erklärte er Mary. »Einen gebrochenen Knochen, eine klaffende Wunde, wenn der Patient verletzt ist und ich genau weiß, was ich tun muss, um ihm zu helfen. Was ich hasse, sind die Rätsel. Krankheiten, über die ich überhaupt nichts weiß, vielleicht noch weniger als der Betroffene. Leiden, die aus heiterem Himmel kommen und weder vernunftgemäß erklärt noch behandelt werden können. Ach Mary, ich weiß so wenig. Ich weiß überhaupt nichts, und dennoch verlassen sich alle auf mich.« Ohne ganz zu begreifen, was er sagte, tröstete sie ihn; ihr bedeutete er einen großen Beistand. Eines Abends, als ihre monatliche Blutung einsetzte, kam sie von Krämpfen gequält zu ihm und erzählte ihm von ihrer Mutter. Bei Jura Cullen hatte eine solche Blutung an einem schönen Sommertag begonnen, hatte sich in einen Strom und dann in einen Blutsturz verwandelt, und als sie bald darauf starb, war Marys Kummer so groß gewesen, dass sie nicht weinen konnte. Nun fürchtete sie jeden Monat, wenn ihre Regel einsetzte, dass sie sterben könne. »Aber, aber! Das war doch keine gewöhnliche Monatsblutung, das muss etwas anderes gewesen sein. Du weißt, dass es so war.« Er legte ihr die warme, beruhigende Hand auf den Bauch und tröstete sie mit Küssen.
Einige Tage später, als er mit ihr auf dem Wagen fuhr, begann er von Dingen zu sprechen, die er noch nie jemandem erzählt hatte: vom Tod seiner Eltern, der Trennung der Geschwister und deren Verlust. Sie weinte, als könne sie nie aufhören, und wandte sich ab, damit ihr Vater es nicht sah.
»Wie ich dich liebe«, flüsterte sie.
»Ich liebe dich«, antwortete er langsam und staunend. Er hatte noch nie diese Worte zu jemandem gesagt. »Ich will dich nie verlassen«, sagte sie.
Von da an drehte sie sich oft, wenn sie unterwegs waren, auf ihrem schwarzen Wallach um und sah ihn an. Ihr Geheimzeichen war, mit den Fingern der rechten Hand die Lippen zu berühren, als wollten sie ein Insekt oder ein Staubkörnchen wegwischen. James Cullen suchte häufig Vergessen im Alkohol, und sie suchte manchmal Rob auf, wenn ihr Vater getrunken hatte und tief schlief. Er versuchte, sie davon abzubringen, nachts allein im Lager herumzugehen. Aber sie war eine eigensinnige Frau und kam dennoch, und er freute sich jedesmal.
Mary lernte schnell. Sehr bald kannten die beiden die Eigenheiten und Fehler des anderen, als wären sie alte Freunde. Ihre Körpergröße gehörte zu dem Zauber, und manchmal, wenn sie sich im Einklang bewegten, musste Rob an riesige Tiere denken, die sich donnernd paarten. Es war in gewissem Sinn für ihn ebenso neu wie für sie; er hatte viele Frauen gehabt, aber vorher nie geliebt. Jetzt wollte er ihr nur Freude schenken.
Er war beunruhigt und schweigsam, und er begriff nicht, was ihm innerhalb von so kurzer Zeit widerfahren war.
Sie kamen immer tiefer in die europäische Türkei, in einen Teil des Landes, der Thrazien hieß. Die Weizenfelder verwandelten sich in wellige, mit dichtem Gras bestandene Ebenen, und sie sahen immer mehr Schafherden.
»Mein Vater erwacht zum Leben«, erzählte ihm Mary. Wann immer sie an Schafherden vorbeikamen, galoppierten James Cullen und der unentbehrliche Seredy fort, um mit den Hirten zu sprechen. Die braunhäutigen Männer hielten lange Hirtenstäbe in den Händen und trugen langärrnelige Hemden und weite Hosen, die an den Knien zusammengebunden wurden.
Eines Abends kam Cullen allein zu Rob. Er setzte sich ans Feuer und räusperte sich unbehaglich.
»Ich möchte nicht, dass Ihr mich für blind haltet.« »Ich hatte auch nicht angenommen, dass Ihr es seid«, erwiderte Rob nicht ohne Respekt.
»Ich möchte mit Euch über meine Tochter reden. Sie ist nicht ungebildet. Sie kann Latein.«
»Meine Mutter konnte auch Latein. Sie hat es mir ein wenig beigebracht.«
»Mary beherrscht das Latein recht gut. In fremden Ländern leistet das gute Dienste, weil man dann mit Schreibern und Priestern sprechen kann. Ich habe sie zu den Nonnen in Walkirk in die Schule geschickt. Sie nahmen sie, weil sie sie in den Orden locken wollten, aber ich war unbesorgt, sie hat kein großes Talent für Sprachen. Doch nachdem ich ihr erklärt hatte, dass sie Latein können müsse, strengte sie sich an. Schon damals träumte ich davon, nach dem Osten zu reisen, um gute Schafe zu erwerben.«
»Könnt Ihr die Schafe denn lebend heimbringen?« Rob bezweifelte es. »Und ob. Ich verstehe etwas von Schafen. Es war zunächst nur ein Traum gewesen, aber als meine Frau starb, beschloss ich aufzubrechen. Meine Verwandten behaupteten, ich würde fliehen, weil ich vor Kummer verrückt sei, doch es steckte mehr dahinter.«
Die Stille war beinahe greifbar.
»Wart Ihr schon einmal in Schottland?« fragte Cullen schließlich. Rob schüttelte den Kopf. »Ich bin nie weiter gekommen als bis an die Nordgrenze Englands und zu den Cheviot Hills.« Cullen schnaubte. »Ihr habt Euch vielleicht in der Nähe Schottlands befunden, habt jedoch vom Land selbst keine Ahnung. Schottland liegt höher, versteht Ihr, und die Felsen sind schroffer. In den Bergen gibt es gute Flüsse voller Fische, und es bleibt noch reichlich Wasser für das Weideland. Unser Besitz liegt zwischen zerklüfteten Bergen, ein sehr großes Gut.
Riesige Herden.«
Er machte eine Pause, als wollte er seine Worte sorgfältig wählen. »Der Mann, der Mary heiratet, wird den Besitz übernehmen; er muss von der rechten Art sein.«
Er beugte sich zu Rob. »In vier Tagen werden wir die Stadt Babaeski erreichen. Dort verlassen meine Tochter und ich die Karawane. Wir werden genau nach Süden zu der Stadt Malkara abschwenken, wo es einen großen Viehmarkt gibt, auf dem ich hoffentlich Schafe kaufen kann. Und dann reisen wir zu der anatolischen Hochebene, auf die ich die größten Hoffnungen setze. Ich würde mich freuen, wenn Ihr uns begleitet.« Er schwieg und blickte Rob ruhig an. »Ihr seid stark und gesund. Ihr habt Mut, sonst würdet Ihr Euch nicht so weit in die Welt hinauswagen, um Geschäfte zu machen und eine bessere Stellung in der Welt zu erreichen. Ihr seid nicht der Mann, den ich für sie ausgesucht hätte, aber sie will Euch. Ich liebe sie und möchte sie glücklich sehen.
Sie ist alles, was ich habe.«
»Master Cullen...« begann Rob, doch der Schafzüchter unterbrach ihn.
»Es handelt sich hier um keine Ware, die angeboten wird, oder um ein Geschäft, das leichtfertig abgeschlossen wird. Ihr müßt darüber nachdenken, Mann, wie ich es getan habe.«
Rob dankte ihm höflich, als hätte man ihm einen Apfel oder Konfekt angeboten, und Cullen kehrte zu seinem Lagerplatz zurück.
Rob verbrachte eine schlaflose Nacht, in der er zum Himmel starrte. Er war nicht dumm und wusste genau, dass Mary etwas Besonderes war. Und wunderbarerweise liebte sie ihn. Einer solchen Frau würde er niemals wieder begegnen.
Und Land. Gütiger Gott, Land!
Ihm wurde ein Leben in Aussicht gestellt, wie es weder sein Vater noch einer seiner Vorfahren sich je erträumt hätten. Er würde über gesicherte Arbeit und ein gutes Einkommen, über Ansehen und Verantwortung verfügen.
Über Besitz, den er seinen Söhnen vererben konnte. Ein Dasein, das er noch nie kennengelernt hatte, wurde ihm zu Füßen gelegt: eine liebende Frau, von der er berauscht war, und eine gesicherte Zukunft als einer der wenigen Menschen, die Land besaßen.
Er warf und wälzte sich hin und her.
Am nächsten Tag kam sie mit dem Rasiermesser ihres Vaters, um ihm die Haare zu schneiden. »Nicht über den Ohren.«
»Dort sind sie aber besonders struppig. Und warum rasierst du dich nicht? Die Stoppeln lassen dich ganz wild aussehen.« »Ich werde den Bart stutzen, wenn er länger ist.« Er zog das Tuch von seinen Schultern. »Weißt du, dass dein Vater mit mir gesprochen hat?«
»Er hat natürlich zuerst mit mir gesprochen.« »Ich werde nicht mit euch nach Malkara reisen, Mary.« Nur ihr Mund und ihre Hände verrieten, was sie empfand. Ihre Hände schienen ruhig auf ihrem Rock zu liegen, hielten aber das Rasiermesser so fest, dass die Knöchel weiß durch die Haut schimmerten.
»Schließt du dich uns an einem anderen Ort an?« »Nein.« Es war schwierig. Er war nicht gewohnt, so ehrlich mit Frauen zu sprechen. »Ich fahre nach Persien, Mary.« »Du willst mich nicht.«
Die bestürzte Trauer in ihrer Stimme machte ihm klar, wie unvorbereitet sie auf eine solche Möglichkeit gewesen war. »Ich will dich, aber ich habe es mir immer wieder überlegt, und es ist unmöglich.«
»Warum unmöglich? Hast du schon eine Frau?« »Nein, nein. Aber ich reise nach Isfahan in Persien. Nicht, um erfolgreich Handel zu treiben, wie ich euch erzählt habe, sondern um Medizin zu studieren.«
Ihr Gesichtsausdruck verriet ihre Verwirrung. Sie fragte sich, was die Medizin im Vergleich zum Besitz der Cullen-Tochter war. »Ich muss Arzt werden.« Es hörte sich wie eine unmögliche Ausrede an. Er empfand ein seltsames Schamgefühl, als gestehe er ein Laster oder eine andere Schwäche ein. Er versuchte nicht, ihr das alles zu erklären, denn es war kompliziert, und er verstand es selbst nicht. »Deine Arbeit macht dich elend. Du weißt, dass es so ist. Du hast es mir erzählt und dich darüber beklagt, dass sie dich quält.« »Was mich quält, ist meine Unwissenheit und Unfähigkeit. In Isfahan werde ich lernen, jenen zu helfen, für die ich jetzt nichts tun kann.«
»Kann ich nicht bei dir bleiben? Mein Vater könnte uns doch begleiten und dort Schafe kaufen.« Das Flehen in ihrer Stimme und die Hoffnung in ihren Augen warnten ihn davor, sie zu trösten. Er erklärte ihr, dass die Kirche den Besuch islamischer Akademien mit dem Bann belegt habe, und gestand ihr, was er vorhatte. Sie wurde blaß, als sie allmählich begriff. »Du riskierst die ewige Verdammnis.«
»Ich kann nicht glauben, dass ich meine Seele verwirken werde.« »Ein Jude!« Sie wischte das Rasiermesser gedankenverloren mit dem Tuch ab und tat es wieder in das kleine Ledersäckchen. »Ja. Du siehst also, dass ich es allein tun muß.«
»Ich sehe einen Mann, der verrückt ist. Ich habe meine Augen davor verschlossen, dass ich nichts von dir weiß.
Ich glaube, dass du schon vielen Frauen Lebewohl gesagt hast. Das stimmt doch?« »Das war nicht das gleiche.«
Er wollte ihr den Unterschied erklären, doch sie ließ es nicht zu. Sie hatte gut zugehört, und nun erkannte er, welch eine tiefe Wunde er ihr geschlagen hatte.
»Hast du nicht Angst, dass ich meinem Vater erzähle, dass du mich nur benutzt hast, und dass er jemanden dafür bezahlen könnte, dass du getötet wirst? Oder dass ich dem ersten Priester, den ich treffe, erzähle, dass ein Christ vorhat, die heilige Mutter Kirche zu verspotten?« »Ich habe dir die Wahrheit gesagt. Ich möchte weder an deinem Tod
schuld sein noch dich verraten, und ich bin sicher, dass du es mit mir ebenso hältst.«
»Ich werde nicht auf einen Arzt warten.«
Er nickte und machte sich Vorwürfe wegen des bitteren Ausdrucks in ihren Augen, als sie sich abwandte.
Den ganzen Tag beobachtete er sie, wie sie hoch aufgerichtet ritt. Sie drehte sich nicht um, um ihn anzusehen.
An diesem Abend sprachen Mary und James Cullen lange ernst miteinander. Offensichtlich erzählte sie ihrem Vater nur, dass sie sich entschlossen hatte, nicht zu heiraten, denn kurze Zeit später lagen in dem Lächeln, mit dem Cullen Rob ansah, sowohl Erleichterung als auch Triumph. Cullen sprach mit Seredy, und kurz vor Einbruch der Dunkelheit brachte der Diener zwei Männer ins Lager, die Rob aufgrund ihrer Kleidung und ihres Aussehens für Türken hielt.
Später erriet er, dass es Führer gewesen waren, denn als er am nächsten Morgen erwachte, waren die Cullens fort.
Wie es in der Karawane üblich war, rückte nun jeder, der hinter ihnen gereist war, einen Platz vor. Nun folgte Rob nicht mehr Marys schwarzem Wallach, sondern den beiden französischen Brüdern. Er fühlte sich schuldbewußt und traurig, empfand aber auch Erleichterung, denn er hatte nie ans Heiraten gedacht und war schlecht auf diese Möglichkeit vorbereitet gewesen. Er dachte darüber nach, ob er diese Entscheidung getroffen hatte, weil er sich der Medizin verschworen hatte, oder ob er nur in panischer Angst vor einer Ehe geflüchtet war wie seinerzeit der Bader.
Vielleicht war es beides, dachte er. Du armer, dummer Träumer, sagte er angewidert zu sich, eines Tages wirst du müde, älter und noch liebebedürftiger sein, und doch wirst du dich zweifellos mit einer scharfzüngigen Schlampe zufriedengeben.
Als die Karawane Babaeski erreichte, wurden sein Schuldbewußtsein und sein Kummer noch größer, denn hier wären sie gemeinsam ausgeschieden, um ihren Vater zu begleiten und ein neues Leben zu beginnen. Doch wenn er an James Cullen dachte, war es ihm lieber, allein zu sein, denn er wusste, dass der Schotte ein unangenehmer Schwiegervater gewesen wäre. Doch er hörte nicht auf, an Mary zu denken.
Nach zwei Tagen legte sich seine Niedergeschlagenheit allmählich. Als sie wieder einmal zwischen grasbestandenen Hügeln dahinzogen, hörte er ein völlig neues Geräusch, das von fern zu der Karawane drang. Es war ein Klingen, das von Engeln stammen mochte. Als er näher kam, erblickte er zum ersten Mal eine Kamelkarawane. Alle Kamele waren mit Glöckchen behängt, die bei jedem eigenartig schlingernden Schritt der Tiere klingelten.
Die Kamele waren größer, als er erwartet hatte, höher als ein Mann und länger als ein Pferd. Ihre komisch anmutenden Gesichter wirkten ruhig und zugleich unheimlich. Die Tiere hatten große, offene Nüstern, herabhängende Lippen und klare Augen, die halb hinter den Lidern mit langen Wimpern verborgen waren und ihnen ein merkwürdig weibliches Aussehen verliehen. Sie waren aneinandergebun-den und mit riesigen Bündeln Gerstenstroh beladen, das zwischen ihren beiden Höckern aufgeschichtet war.
Auf dem Strohbündel jedes siebenten oder achten Kamels saß ein magerer, dunkelhäutiger Treiber, der nur mit einem Turban und einem zerlumpten Lendenschurz bekleidet war. Gelegentlich feuerte einer der Männer die Tiere mit einem »Hat! Hat! Hat!« an, um das sich seine schwankenden Schutzbefohlenen kaum kümmerten. Die Kamele ergriffen Besitz von der welligen Landschaft. Rob zählte beinahe dreihundert Tiere, bis die letzten in der Ferne verschwammen und das wunderbare, klingelnde Flüstern ihrer Glocken verklang.
Obwohl Rob kein Wasser sehen konnte, sagte ihm Simon, dass sich südlich von ihnen das Marmarameer und nördlich das große Schwarze Meer befänden. In der Luft lag ein erfrischender Salzgeschmack, der Rob an die Heimat erinnerte und ihn beflügelte. Am nächsten Vormittag erklomm die Karawane einen Hügel, und vor ihnen lag Konstantinopel wie eine Traumstadt ausgebreitet.
Der Stadtgraben war breit, und als sie die Zugbrücke überquerten, erblickte Rob in der grünen Tiefe Karpfen, die so groß wie junge
Schweine waren. Die innere Böschung war als Brustwehr aufgeschüttet, und fünfundzwanzig Fuß dahinter erhob sich eine massive Mauer aus dunklen Steinen, die vielleicht hundert Fuß hoch war. Wachtposten gingen oben von einer Zinne zur anderen.
Zwanzig Schritt weiter ragte eine zweite Mauer empor, die der ersten genau glich. Konstantinopel war eine Festung mit vier Verteidigungslinien.
Sie kamen durch zwei große Tore. Die riesige Pforte der Innenmauer war dreifach überwölbt und mit der stolzen Bronzestatue eines Mannes, zweifellos eines frühen Herrschers, und fremdartigen Tieren geschmückt. Die Tiere waren massiv und kräftig, hatten große Ohren, kurze, dünne Schwänze und etwas, das wie ein längerer Schwanz aussah und drohend aus ihren Gesichtern herauswuchs. Rob ließ die Stute anhalten, um die Tiere betrachten zu können. Hinter ihm schrie Gerson, und Tuveh ben Meier stöhnte. »Kommt, setzt Euren Arsch in Bewegung, Inghihz!« rief er. »Was sind das?«
»Elefanten. Habt Ihr noch nie Elefanten gesehen, bedauernswerter Fremder?«
Rob schüttelte den Kopf und drehte sich um, als er weiterfuhr, um sich die Geschöpfe anzusehen. Die ersten Elefanten, die er sah, waren nur so groß wie Hunde und aus Metall gegossen, dessen Patina fünf Jahrhunderte alt war.
Karl Fritta führte sie zur Karawanserei, einem riesigen Verkehrshof, durch den Reisende und Frachten in die Stadt gelangten und durch den sie sie verließen. Es war ein riesiger, ebener Platz, den Lagerhäuser zur Aufbewahrung der verschiedenen Güter, Pferche für die Tiere und Rasthäuser für die Reisenden säumten. Fritta war ein erfahrener Anführer, wich den lärmenden Haufen im Hof der Karawanserei aus und brachte seine Schutzbefohlenen zu einer Reihe von Herbergen, die als künstliche Höhlen in die angrenzenden Hügel gegraben waren und den Karawanen Kühle und Unterkunft boten. Die meisten Reisenden verbrachten nur einen oder zwei Tage in der Karawanserei, um sich zu erholen, Wagen instandzusetzen oder Pferde gegen Kamele einzutauschen, dann folgten sie einer römischen Straße nach Süden Richtung Jerusalem. »Wir werden in ein paar Stunden aufbrechen«, sagte Meier zu Rob,
»denn wir sind nur noch zehn Tagereisen von unserem Zuhause in Angora entfernt und möchten unsere Verantwortung loswerden.« »Ich möchte eine Weile hierbleiben.«
»Wenn Ihr beschließt abzureisen, sucht den kervanbashi, den Obersten der Karawanen, auf. Er heißt Zevi. Als junger Mann war er Treiber, dann Karawanenführer, der Kamelkarawanen über alle Routen leitete. Er kennt die Reisenden, ist Jude und ein anständiger Mann. Er wird dafür sorgen, dass Ihr sicher reist.«
Rob gab jedem einzeln die Hand. Er verabschiedete sich mit Bedauern von ihnen, denn sie waren freundlich zu ihm gewesen. Der Abschied fiel ihm außerdem schwer, weil er sich von dem Buch trennen musste, das ihn in die persische Sprache eingeführt hatte. Nun fuhr er allein durch Konstantinopel, eine riesige Stadt, die wohl größer als London war. Von ferne hatte der Ort in der warmen, klaren Luft scheinbar zwischen dem Blau des Himmels und dem ebenfalls blauen Marmarameer im Süden geschwebt. War man im Inneren, offenbarte sich Konstantinopel als eine Stadt voll steinerner Kirchen, die sich über engen Straßen erhoben, auf denen es von Reitern auf Eseln, Pferden und Kamelen, von Sänften, Karren und Wagen aller Art wimmelte. Kräftige Träger in einer einheitlichen Tracht aus grobem braunem Stoff schleppten unglaubliche Lasten auf dem Rücken oder auf Gestellen, die sie wie Hüte auf dem Kopf trugen. Auf einem Platz machte Rob kurz halt und betrachtete eine Statue, die auf einer hohen Porphyrsäule stand und die Stadt überblickte. Die lateinische Inschrift verriet ihm, dass es Konstantin der Große war. Die Priester waren von Konstantin sehr eingenommen, denn er war der erste römische Kaiser, der sich hatte zum Christentum bekehren lassen. Seine Bekehrung bedeutete die Rettung für die christliche Kirche, und als er mit Waffengewalt die alte Griechenstadt Byzanz erobert und sie zu der seinen gemacht hatte - Konstantinopel, die Stadt Konstantins -, wurde sie zum Juwel der Christenheit im Osten, zu einem Ort der großen Kirchen.
Es war eine an Volksgruppen reiche Stadt, wie es sich für einen Ort ziemte, der am Ende des einen Kontinents und am Anfang des zweiten lag. Rob fuhr durch ein griechisches Viertel, über einen armenischen Markt, durch einen jüdischen Sektor, und plötzlich hörte er Worte auf Parsi.
Sofort erkundigte er sich, und er fand einen Stall, der einem Mann namens Ghiz gehörte. Es war ein guter Stall, und Rob sorgte für die Stute, bevor er sie verließ, denn sie hatte ihm gute Dienste geleistet und verdiente nun Ruhe und viel Hafer. Ghiz führte Rob zu seinem Haus auf der Höhe des Pfades der dreihundertneunundzwanzig Stufen, wo Rob ein Zimmer mietete. Der Raum erwies sich als hell und sauber, und durch das Fenster kam eine salzige Brise.
Von dort blickte Rob auf den violetten Bosporus hinunter, auf dem die Segel wie Blüten dahinglitten. Auf dem vielleicht eine halbe Meile entfernten jenseitigen Ufer ragten hohe Kuppeln und lanzenartige Minarette empor, und Rob begriff, dass sie der Grund für den Stadtgraben, die Erdwälle und die beiden Mauern waren, die Konstantinopel umgaben. Wenige Fuß von seinem Fenster entfernt endete das Reich des Kreuzes. Die Grenzlinie war bemannt, um das Christentum gegen den Islam zu verteidigen. Jenseits der Meerenge begann das Einflußgebiet des Halbmondes.
Er stand am Fenster und starrte hinüber nach Asien, dem Kontinent, den er bald tief ergründen wollte.
In dieser Nacht träumte Rob von Mary. Er erwachte niedergedrückt und verließ das Zimmer. An einem Platz, der Forum des Augustus hieß, fand er ein öffentliches Bad, wo er kurz ins kalte Wasser stieg, um sich dann wie Caesar im warmen Wasser des tepidarium zu räkeln, einzuseifen und Dampf einzuatmen.
Als er herauskam, sich abtrocknete und vom letzten kalten Bad glühte, war er unglaublich hungrig und wieder wesentlich optimistischer. Er kaufte auf dem jüdischen Markt kleine, braun gebratene Fische und eine Portion dunkler Trauben, die er aß, während er suchte, was er brauchte.
Er sah in vielen Buden die kurze leinene Unterwäsche, die jeder Jude in Tryavna getragen hatte. Die kurzen Westen trugen die geflochtenen Verzierungen, die tsitsit genannt wurden und, wie Simon erklärt hatte, den Juden ermöglichten, den biblischen Hinweis zu befolgen, ihr Leben lang an den Rändern ihrer Kleidung Fransen zu tragen. Er fand einen jüdischen Händler, der Persisch sprach. »Es ist ein Geschenk für einen Freund, er hat meine Größe«, murmelte Rob. Endlich fand der Alte Unterwäsche mit Fransen, die groß genug war.
Rob wagte nicht, alles auf einmal zu kaufen. Statt dessen kehrte er in den Stall zurück und stellte fest, dass es der Stute gutging. »Ihr habt da einen ordentlichen Wagen«, meinte Ghiz. »Ja.«
»Vielleicht würde ich ihn kaufen.« »Er ist unverkäuflich.«
Ghiz hob die Schultern. »Ein brauchbarer Wagen, obwohl ich ihn neu streichen müßte. Aber leider ein armseliges Tier. Ohne Feuer. Ohne einen stolzen Ausdruck in den Augen. Ihr könnt froh sein, wenn Ihr die Stute loswerdet.«
Rob merkte sofort, dass Ghiz' Interesse für den Wagen ein Ablenkungsmanöver war, um zu verbergen, dass ihm die Stute gefiel. »Weder Stute noch Wagen sind verkäuflich.«
Der Wagen stand in der Nähe, und während der Stallbesitzer beschäftigt war, traf Rob belustigt und unauffällig seine Vorbereitungen. Dann zog er eine Silbermünze aus dem linken Auge. »O Allah!«
Er ließ einen Holzball verschwinden, während er mit einem Tuch zugedeckt war, dann ließ er das Tuch die Farbe wechseln und nochmals wechseln, von grün zu braun. »Im Namen des Propheten...«
Ghiz war.entzückt, und so verbrachten sie einen Teil des Tages mit Magie und Jonglieren, und bevor Rob fertig war, hätte er Ghiz alles verkaufen können, was er wollte.
Zum Abendessen wurde eine Flasche eines starken, braunen Getränks aufgetragen, das sehr dick war und widerlich schmeckte. Am Tisch neben Rob saß ein Priester, und Rob bot ihm etwas von dem Getränk an. Der Mann sprach kein Englisch, aber nach vergeblichen Versuchen mit Normannisch und Fränkisch verständigte sich der Priester mürrisch auf Persisch. Er hieß Vater Tamas und war ein Grieche. Seine Laune besserte sich infolge des alkoholischen Getränks, das er in großen Zügen schlürfte.
»Werdet Ihr Euch in Konstantinopel niederlassen, Meister Cole?« »Nein, in ein paar Tagen reise ich weiter nach Osten mit der Hoffnung, Heilkräuter kaufen zu können, die ich nach England mitnehmen will.« Der Priester nickte. »Habt Ihr unsere Kathedrale der heiligen Sophia
besucht?« fragte er und war entsetzt, als Rob lächelnd den Kopf schüttelte. »Aber das müßt Ihr tun, mein neuer Freund, bevor Ihr weiterreist! Ihr müßt! Denn sie ist das größte Kirchenwunder der Welt. Sie wurde auf Konstantins Befehl errichtet, und als dieser ehrwürdige Kaiser zum erstenmal die Kathedrale betrat, fiel er auf die Knie und rief: >Ich habe besser gebaut als Salomon!««
Der Alkohol und die Meeresluft verhalfen Rob zu einem tiefen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen genoß er noch einmal den Luxus der Augustinischen Bäder, kaufte auf der Straße ein Frühstück aus Fladen und frischen Pflaumen und ging dann zum jüdischen Basar. Auf dem Markt wählte er sorgfältig, denn er hatte sich jedes Stück genau überlegt. Er hatte in Tryavna ein paar leinene Gebetsschals gesehen, aber die Männer, die er dort am meisten geachtet hatte, hatten Wolle getragen; also kaufte er jetzt für sich einen viereckigen Wollschal, der wie die Unterwäsche, die er am vorhergehenden Tag gefunden hatte, mit Fransen versehen war.
Er kam sich komisch vor, als er einen Satz der ledernen Gebetsriemen kaufte, die die Juden während ihres Morgengebetes auf der Stirn befestigten und um den Arm wickelten.
Er hatte jeden Einkauf bei einem anderen Händler getätigt. Einer verfügte über eine besonders große Auswahl an Kaftanen. Der Mann konnte nicht Persisch, aber mit Gebärden verständigten sie sich dennoch. Zwar war kein Kaftan groß genug, aber der Verkäufer bedeutete Rob, dass er warten solle, und dann lief er zu der Bude des alten Mannes, der Rob den tsitsit verkauft hatte. Der hatte größere Kaftane, und bald darauf hatte Rob zwei erstanden.
Er packte seine Habseligkeiten in einen Kleidersack, verließ den Basar auf einer Straße, die er noch nicht kannte, und erblickte bald eine so herrliche Kirche, dass es nur die Kathedrale der heiligen Sophia sein konnte. Er trat durch das riesige Bronzeportal ein und befand sich in einem gewaltigen Raum von hinreißenden Proportionen, in dem Pfeiler in Bogen, Bogen in Gewölbe und Gewölbe in eine so hohe Kuppel übergingen, dass Rob sich ganz klein vorkam. Der schier endlose Raum des Mittelschiffs wurde von lausenden Dochten beleuchtet, die sanft und hell in Ölschalen brannten und sich glitzernd viel stärker widerspiegelten, als Rob es in einer Kirche gewohnt war.
Er erkannte, dass dies an den goldgerahmten Ikonen und Wänden aus kostbarem Marmor lag, auch wenn das Gold und der Prunk für seinen englischen Geschmack zuviel waren.
Der größte Teil des Schiffs war leer, und er setzte sich hinten in eine leere, geschnitzte Bank unter die gekrümmte Gestalt, die am Kreuz hing. Er hatte das Gefühl, dass ihm die starren Augen in die Seele blickten und dass sie den Inhalt des Kleidersacks kannten. Er war nicht fromm erzogen worden, doch trotz des Unterfangens, das er plante, überkamen ihn seltsamerweise religiöse Gefühle. Er wusste, dass er die Kathedrale nicht umsonst betreten hatte. So stand er auf und blieb eine Zeitlang schweigend stehen, um sich der Herausforderung dieser Augen zu stellen. Schließlich sagte er laut: »Es muss getan werden. Aber ich verlasse dich nicht.«
Kurze Zeit später, nachdem er den Hügel mit den steinernen Stufen emporgestiegen war und sich wieder in seinem Zimmer befand, war er weniger sicher.
Er stellte den kleinen Stahlwürfel auf den Tisch, in dessen polierten Stahlflächen er sich für gewöhnlich beim Rasieren spiegelte, und schnitt mit einem Messer die Haare, die ihm jetzt lang und wirr über die Ohren fielen. Er hörte erst auf, als nur noch die rituellen Ohrlok-ken übrig waren, die die Juden peot nannten. Dann entkleidete er sich und legte befangen den tsitsit an, denn er erwartete beinahe, dass er heimgesucht werde. Die Fransen schienen über sein Fleisch zu kriechen.
Sein Bart war unleugbar noch spärlich. Er ordnete die Ohrlocken so, dass sie lose unter dem glockenförmigen Judenhut hingen. Der Lederhut erwies sich als ein besonders günstiges Geschenk, weil er so offensichtlich alt und gebraucht war.
Dennoch fürchtete er, als er das Zimmer wieder verließ und auf die Straße ging, dass dieser Wahnsinn nicht klappen würde; er wartete darauf, dass jeder, der ihn sah, vor Lachen brüllte. Ich werde einen Namen brauchen, dachte er. Es wäre falsch gewesen, sich Mär Reuven zu nennen wie in Tryavna. Um sich erfolgreich zu verwandeln, brauchte er mehr als diese schwache hebräische Version seiner gojischen Identität. Jesse... Das war ein Name, an den er sich von der Bibel her erinnerte.
Ein starker Name, mit dem man leben konnte, der Name von König Davids Vater. Als Familiennamen wählte er Benjamin zu Ehren von Benjamin Merlin, der ihm, wenn auch widerwillig, gezeigt hatte, was ein Medicus sein konnte.
Er würde behaupten, aus Leeds zu stammen, denn er erinnerte sich an die Häuser, die dort den Juden gehörten, und er konnte, wenn es nötig sein sollte, auf Einzelheiten des Ortes eingehen.
Er widerstand dem Impuls, umzukehren und zu fliehen, als ihm drei Priester entgegenkamen und er voll Panik erkennen musste, dass einer von ihnen Vater Tamas war, sein Tischgefährte vom Vorabend. Die drei schlenderten gemächlich dahin und schienen in ein Gespräch vertieft. Er zwang sich, auf sie zuzugehen. »Friede sei mit Euch«, sagte er, als sie sich auf gleicher Höhe mit ihm befanden. Der griechische Priester ließ den Blick verächtlich über den Juden gleiten, dann wandte er sich, ohne zu antworten oder zu grüßen, wieder seinen Gefährten zu.
Als sie an ihm vorbei waren, lächelte Jesse ben Benjamin aus Leeds. Er setzte seinen Weg jetzt ruhig und mit mehr Selbstvertrauen fort und drückte die Handfläche an die rechte Wange, wie es der rabbenu von Tryavna getan hatte, wenn er tief in Gedanken versunken war.