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Sechster Teil. Der Hakim 

Die Bestallung

Am Morgen nach seiner Rückkehr besah Rob sich seinen Sohn im Tageslicht, und er erkannte, daß das Kind schön war, tiefblaue Augen und große Hände und Füße besaß.

Er und Mary stritten wegen der Beschneidung. »Er wird leichter anerkannt werden«, argumentierte Rob.

»Ich will nicht, daß er in Persien anerkannt wird«, entgegnete sie müde. »Ich will, daß er zu Hause anerkannt wird, wo Männer nicht gestutzt und verbeult, sondern in ihrem natürlichen Zustand belassen werden.« Er lachte, und sie begann zu weinen. Er tröstete sie und verschwand dann, um sich mit Ibn Sina zu beraten.

Der Arzt aller Ärzte begrüßte ihn herzlich, dankte Allah für Robs Überleben und sprach ergriffen über Mirdins Tod. Ibn Sina lauschte aufmerksam Robs Bericht über die bei den Schlachten durchgeführten Behandlungen und Amputationen, besonders interessierte ihn der Vergleich zwischen der Wirksamkeit von heißem Öl gegenüber Weinbädern zur Reinigung offener Wunden. Ibn Sina war mehr an wissenschaftlicher Erkenntnis als an seiner Unfehlbarkeit gelegen. Obgleich Robs Beobachtungen seinen Lehren widersprachen, die er mündlich und schriftlich verbreitet hatte, bestand er darauf, daß Rob seine Entdeckung niederschrieb. »Außerdem soll die Behandlung der Wunden mit Wein Thema Eurer Antrittsvorlesung als hakim sein«, schlug er vor, und Rob stimmte seinem Mentor zu.

Dann sah ihn der Alte an. »Ich möchte, daß Ihr mit mir arbeitet, Jesse ben Benjamin: als Assistent.«

Das hatte sich Rob nie erträumt. Er wollte dem Arzt aller Ärzte erzählen, daß er nach Isfahan gekommen war, nur um den Saum von Ibn Sinas Kleidung zu berühren. Statt dessen nickte er. »Das würde ich gern werden, Hakim-bashi.«

Mary machte keine Einwände, als er es ihr mitteilte. Nachdem er merkte, wie sie sich für ihn freute, schloß er sie in die Arme. »Ich

verspreche dir, daß ich dich nach Hause bringen werde, Mary. Aber nicht in der nächsten Zeit. Bitte habe Vertrauen zu mir.« Sie versprach es. Doch sie sah auch ein, daß sie sich bei einem längeren Aufenthalt ändern mußte. Sie beschloß zu versuchen, sich dem Land anzupassen. Widerwillig gab sie bezüglich der Beschneidung des Kindes nach.

Rob ging zu der Hebamme Nitka, um ihren Rat einzuholen. »Kommt«, sagte sie und führte ihn zwei Straßen weit zu Reb Asher Jakobi, dem mohel.

»So«, sagte der mohel, »eine Beschneidung. Die Mutter...« Nachdenklich sah er Nitka aus zusammengekniffenen Augen an, und seine Finger wühlten in seinem Bart, »...ist eine Andersgläubige.« »Es muß ja keine bent mit allen Gebeten sein«, sagte Nitka ungeduldig. Da sie den ersten Schritt getan hatte, den Sohn einer Andersgläubigen zu entbinden, schlüpfte sie mühelos in die Rolle der Beschützerin. »Wenn der Vater das Siegel Abrahams auf dem Kind verlangt, ist es ein Segen, es zu beschneiden, nicht?«

»Ja«, gab Reb Asher zu. »Und Euer Vater. Wird er das Kind halten?« fragte er Rob. »Mein Vater ist tot.«

Reb Asher seufzte. »Werden andere Familienmitglieder anwesend sein?«

»Nur meine Frau. Hier leben keine anderen Familienmitglieder. Ich werde das Kind selbst halten.«

»Eine Gelegenheit zum Feiern«, meinte Nitka freundlich. »Macht es Euch etwas aus? Meine Söhne Shemuel und Chofni, ein paar Nachbarn...« Rob nickte.

»Ich werde mich darum kümmern«, versprach Nitka. Am nächsten Morgen trafen sie und ihre beiden stämmigen Söhne, die Steinmetzen waren, als erste vor Robs Haus ein. Hinda, die Händlerin vom jüdischen Markt, kam mit ihrem Großen Isak, einem graubärtigen Gelehrten, der nachdenklich dreinblickte. Hinda lächelte noch immer nicht, aber sie brachte als Geschenk eine Windel. Jakob der Schuhmacher und seine Frau Naoma brachten einen Krug Wein. Micha Halevi, der Bäcker, kam in Begleitung seiner Frau Judith, die zwei große Laibe gezuckertes Brot brachte.

Während Rob den süßen kleinen Körper auf seinem Schoß hielt, kamen ihm Bedenken, als Reb Asher die Vorhaut von dem kleinen Penis schnitt. »Möge der Knabe an Geist und Körperkraft zunehmen und ein Leben guter Werke führen«, erklärte der mohel, und der Kleine schrie. Die Nachbarn hoben die Becher mit Wein und spendeten Beifall, und Rob gab dem Knaben den jüdischen Namen Mirdin ben Jesse.

Für Mary war jeder Augenblick der Feier eine Qual. Eine Stunde später, als alle nach Hause gegangen waren und sie und Rob mit ihrem Kind allein waren, befeuchtete sie ihre Finger mit Gerstenschleim und berührte ihren schreienden Sohn leicht an der Stirn, dem Kinn und den beiden Ohrläppchen.

»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes taufe ich dich auf den Namen Robert James Cole«, sagte sie deutlich, indem sie ihn nach seinem Vater und seinem Großvater taufte. Von da an rief sie, sobald sie allein waren, ihren Mann Rob, und das Kind Rob James.

An den Hochgeehrten Reb Mulka Askari, Perlenhändler in Masqat, mit den besten Grüßen.

Euer verstorbener Sohn Mirdin war mein Freund. Möge er in Frieden ruhen!

Wir waren zusammen Feldschere in Indien, von wo ich die Habseligkeiten mitgebracht habe, die ich Euch jetzt durch das freundliche Entgegenkommen von Reb Moise ben Zavil, Kaufmann aus Qum, übersende, dessen Karawane heute mit einer Ladung Olivenöl nach Eurer Stadt aufbricht.

Reb Moise wird Euch eine Karte aus Pergament übergeben, die die genaue Lage von Mirdins Grab beim Dorf Kausambi anzeigt, damit seine Gebeine eines Tages, wenn es Euer Wunsch ist, heimgeführt werden können. Ich schicke euch auch die tefillin, die er täglich um seinen Arm gewunden hat und die Ihr ihm, wie er mir erzählt hat, geschenkt habt, als er sein vierzehntes Lebensjahr erreichte. Außerdem sende ich die Figuren und das Brett des Schachspiels, bei dem Mirdin und ich viele glückliche Stunden verbracht haben. Er hatte in Indien keine anderen Habseligkeiten bei sich. Er wurde selbstverständlich in seinem tallit bestattet. Ich bete, der Herr möge Eurem und unserem schweren Verlust Verständnis entgegenbrin-gen. Mit Mirdins Hinscheiden ist ein Licht aus meinem Leben verschwunden. Er war der beste Mensch, den ich jemals zu meinen Freunden zählen durfte. Ich weiß, daß Mirdin bei Adashem ist, und hoffe, daß ich eines Tages würdig sein werde, mit ihm zusammenzusein.

Bitte übermittelt seiner Witwe, die inzwischen bei Euch weilt, und seinen tapferen jungen Söhnen meine Zuneigung und Hochachtung und teilt ihnen mit, daß meine Frau einen gesunden Sohn, Mirdin ben Jesse, geboren hat und ihnen ihre liebevollen Wünsche für ein gutes Leben sendet.

Jivorechachachah Adonai VJishmorechah, möge der Herr Euch beschützen! Ich bin Jesse ben Benjamin, hakim.

Abu Ubaid al-Juzjani war jahrelang Ibn Sinas Assistent gewesen. Er hatte selbst einen guten Ruf als Chirurg erlangt und war der reichste von den ehemaligen Assistenten, die alle Erfolg gehabt hatten. Der hakim-bashi ließ seine Assistenten hart arbeiten, und die Stellung war wie eine verlängerte Ausbildung, also eine Gelegenheit, weiter zu lernen. Rob assistierte Ibn Sina nicht nur und brachte ihm Dinge, die er benötigte, sondern sein Meister erwartete, daß man ihn beizog, wenn es ein Problem gab oder seine Ansicht erforderlich war. Der junge hakim genoß sein Vertrauen, und Ibn Sina erwartete von ihm, daß er selbständig handelte.

Für Rob war es eine glückliche Welt. Er hielt an der madrassa einen Vortrag über Weinbäder für offene Wunden, doch hatte er nur wenige Zuhörer, weil ein zu Besuch weilender Medicus an diesem Vormittag einen Vortrag über das Thema der körperlichen Liebe hielt. Die persischen Ärzte drängten sich immer zu Vorlesungen, die mit dem Geschlechtsleben zu tun hatten, was Rob merkwürdig erschien, denn in Europa waren die Ärzte für dieses Thema nicht zuständig. Also besuchte auch er viele solche Vorträge, und dank oder trotz dem, was er lernte, gestaltete sich seine Ehe glücklich.

Mary erholte sich rasch von der Geburt. Sie befolgten die Vorschriften Ibn Sinas, der darauf hinwies, daß nach der Niederkunft sechs Wochen lang Enthaltsamkeit geübt werden solle. Er riet auch, die Scham der jungen Mutter vorsichtig mit Olivenöl zu behandeln und mit einem Gemisch aus Honig und Gerstenschleim einzureiben. Die Behandlung

hatte ausgezeichneten Erfolg, nur das sechswöchige Warten wollte jvlary wie eine Ewigkeit erscheinen, und als es vorüber war, wandte sie sich Rob ebenso begierig zu, wie er sie umarmte. Einige Wochen später begann die Milch in ihren Brüsten zu versiegen. Sie brauchten also eine Amme, und Rob sprach mit mehreren Hebammen, durch deren Vermittlung er eine kräftige, einfache Armenierin namens Prisca fand, die genug Milch für ihre neugeborene Tochter und den Sohn des hakim hatte. Viermal am Tag trug Mary das Kind zum Ledergeschäft von Priscas Ehemann Dikran und wartete, während der kleine Rob die Brust bekam. Abends kam Prisca zum Haus in der Jehuddijeh und übernachtete mit den beiden Kindern im anderen Zimmer, während Mary und Rob sich bemühten, beim Liebesakt keinen Lärm zu machen, und dann den ungestörten Schlaf genossen. Mary war zufrieden, und ihr Glück ließ sie aufblühen, ja sie schien dank einer neuen Selbstsicherheit richtig aufzuleuchten.

In der ersten Woche des Monats Schaban kam die Karawane von Reb Moise ben Zavil wieder auf dem Weg nach Qum durch Isfahan, und der Kaufmann brachte Geschenke von Reb Mulka Askari und seiner Schwiegertochter Fara mit. Fara schickte dem Kind Mirdin ben Jesse sechs Leinenkleidchen, die sie mit Liebe und Sorgfalt selbst genäht hatte. Der Perlenhändler schickte Rob das Schachspiel zurück, das seinem toten Sohn gehört hatte.

Es war das letztemal, daß Mary aus Sehnsucht nach Fara weinte. Als sie sich die Augen getrocknet hatte, stellte Rob Mirdins Figuren auf dem Brett auf und lehrte sie das Spiel des Schahs. Danach grübelten sie oft über dem Schachbrett. Er erwartete zunächst nicht viel von ihr, denn es war doch ein Spiel für Krieger, und sie, dachte er, war ja nur eine Frau. Aber sie lernte schnell und schlug bald seine Figuren jubelnd mit einem Schlachtruf, der zu einem seldschukischen Plünderer gepaßt hätte. Die Geschicklichkeit und Schnelligkeit, mit der die Armee ihres Königs angriff, überraschte Rob, war aber dennoch kein großer Schreck, denn er hatte längst erkannt, daß Mary Cullen ein außergewöhnliches Geschöpf war.

In diesem Jahr beteiligte sich Karim nicht an dem chatir. Er hatte nicht mehr geübt und war auch für einen Läufer viel zu schwer geworden. Er wohnte dem Rennen mit Alä Shahansha als Zuschauer bei.

Der erste Tag des Monats Shawwa dämmerte noch heißer herauf als der Tag, an dem Karim gesiegt hatte, und die Läufer waren diesmal sehr langsam. Der Herrscher hatte wieder jedem einen calaat versprochen, der Karims Spitzenleistung wiederholen und alle zwölf Runden vor dem letzten Gebet beenden konnte. Aber es war klar ersichtlich, daß an diesem Tag niemand einhundertsechsundzwanzig Meilen laufen würde.

Es kam erst ab der fünften Runde zu einem Wettkampf und schließlich zu einem Duell zwischen al-Harät aus Hamadhän und einem jungen Soldaten namens Nafis Jurjis. Aber nachdem Nafis sich seinen achten Pfeil geholt hatte, gab er auf, so daß nur noch al-Harät im Rennen war. Da es schon spät am Nachmittag und die Hitze unmenschlich war, gab al-Harät vernünftigerweise durch Zeichen zu verstehen, daß er die Runde beenden und seinen Sieg anmelden würde. Karim und der Schah ritten die letzte Runde ein Stück vor dem Läufer her, um ihn am Ziel zu begrüßen, Alä auf seinem wilden weißen Hengst und Karim auf seinem unruhigen grauen Araber.

Karims schlechte Stimmung hatte sich im Lauf des Rennens gebessert, weil es lange dauern würde - wenn es überhaupt dazu kam —, bis ein anderer Läufer den chatir so gut schaffen würde wie er. Als sie an der madrassa vorbeikamen, erblickte er den Eunuchen Wasif auf dem Dach des Krankenhauses und neben ihm die verschleierte Despina. Bei ihrem Anblick vollführte Karims Herz einen Sprung, und er lächelte. War es nicht besser, auf einem herrlichen Pferd und in Seide und Leinen gekleidet vor ihr vorbeizureiten, als nach Schweiß stinkend und blind vor Erschöpfung vorbeizuwanken? Nicht weit von Despina wurde einer Frau ohne Schleier die Hitze zuviel. Sie nahm ihren schwarzen Schal ab und schüttelte den Kopf, als wolle sie Karims stolzes Pferd nachahmen. Ihr Haar fiel herab und breitete sich, lang und wogend, fächerförmig aus. Die Sonne schimmerte herrlich in den Flechten und zauberte verschiedene Farbabstufungen von Gold und Rot auf sie.

Der Schah fragte den neben ihm reitenden Karim: »Ist das die Frau des Dhimmi, die Europäerin?«

»Ja, Majestät. Die Frau unseres Freundes Jesse ben Benjamin.« »Das dachte ich mir«, sagte Alä. Der Schah beobachtete die unverschleierte Frau, bis sie an ihr vorbei

waren. Er stellte keine Fragen mehr, und bald konnte ihn Karim in ein Gespräch über den indischen Schmied Dhan Vangalil und die Schwerter verwickeln, die dieser mit seinem neuen Ofen in der Schmiede hinter den Ställen des Hauses des Paradieses herstellte.

Die verschmähte Belohnung

Der Meister hatte über viele Themen geschrieben. Noch als Student hatte Rob Gelegenheit gehabt, seine Werke über Medizin zu lesen, doch jetzt studierte er andere Schriften Ihn Sinas, und er empfand noch mehr Ehrfurcht vor ihm. Er hatte über Musik und Poesie, über Astronomie und Metaphysik, über die östliche Denkweise, die Sprachen und den schöpferischen Geist geschrieben und außerdem Kommentare zu allen Büchern von Aristoteles. Während er in der Festung Fardajän gefangengehalten wurde, hatte er ein Buch mit dem Titel

»Anleitung« geschrieben, das alle Sparten der Philosophie zusammenfaßte. Es lag sogar ein militärisches Handbuch vor, »Die Führung und Versorgung von Soldaten, Sklaventruppen und Armeen«, das Rob nützlich gewesen wäre, wenn er es gelesen hätte, bevor er als Feldscher nach Indien zog. Ibn hatte über Mathematik, die menschliche Seele und über das Wesen des Kummers geschrieben. Und immer wieder hatte er über den Islam geschrieben, die Religion, in der ihn sein Vater erzogen hatte und die er, trotz der Wissenschaft, die sein ganzes Sein erfüllte, voll Vertrauen akzeptieren konnte.

Deshalb liebten ihn auch die Menschen so. Sie sahen, daß Ibn Sina trotz des luxuriösen Besitzes und aller Einkünfte aus dem königlichen calaat, trotz der Tatsache, daß Gelehrte aus aller Welt ihn aufsuchten und Könige um die Ehre wetteiferten, als Gönner des Meisters zu gelten - trotz all dieses Glanzes wie der niedrigste Bettler unter ihnen die Augen zum Himmel erhob und rief:

La ilah illallah;

Muhammadun rasulallah.

Es gibt keinen Gott außer Gott;

Mohammed ist der Prophet Gottes.

Jeden Morgen vor dem ersten Gebet versammelten sich mehrere hundert Menschen vor seinem Haus. Es waren Bettler, mullahs, Hirten, Kaufleute, Arme und Reiche. Der Arzt aller Ärzte trug seinen Gebetsteppich hinaus und verrichtete seine Andacht gemeinsam mit seinen Verehrern; wenn er dann zum maristan ritt, gingen sie neben seinem Pferd her, sangen vom Propheten und rezitierten Verse aus dem Koran.

Jede Woche versammelten sich an mehreren Abenden Schüler in seinem Haus. Für gewöhnlich wurden medizinische Texte gelesen. Ein Vierteljahrhundert lang hatte al-Juzjani jede Woche laut aus Ibn Sinas Werken vorgelesen, am häufigsten aus dem berühmten »Kanon der Medizin«. Manchmal wurde auch Rob ersucht, aus Ibn Sinas Buch »Heilen« vorzulesen. Dann entwickelte sich eine lebhafte Diskussion, eine Mischung aus Trinkgelage und klinischer Debatte, oft hitzig und manchmal auch heiter, aber immer lehrreich.

»Wie gelangt das Blut in die Finger?« rief zum Beispiel al-Juzjani, indem er die verzweifelte Frage eines Studenten wiederholte. »Habt ihr vergessen, daß Galen gelehrt hat, das Herz arbeite wie eine Pumpe und setze so das Blut in Bewegung?«

»Ah!« warf dann Ibn Sina ein. »Und der Wind setzt ein Segelschiff in Bewegung. Aber wie findet es den Weg nach Bahrain?« Wenn Rob fortging, sah er häufig den Eunuchen Wasif im Dunkeln vor der Tür zum Südturm.

Eines Abends schlich Rob zu dem Feld hinter der Mauer von Ibn Sinas Besitz. Er war nicht überrascht, daß Karims grauer Araberhengst dort angebunden war.

Während Rob zu seinem Pferd, das er nicht versteckt hatte, zurückging, beobachtete er das Zimmer im Südturm.

Durch die Fensterschlitze in der runden Steinmauer flackerte das gelbe Licht, und er erinnerte sich ohne Neid oder Bedauern daran, daß Despina gern beim Licht von Kerzen liebte.

Ibn Sina führte Rob in Geheimnisse ein, von denen er bisher kaum eine Ahnung hatte. »Es gibt in uns ein seltsames Wesen - manche nennen es den Geist, andere die Seele -, das große Auswirkungen auf unseren Körper und unsere Gesundheit hat. Zum erstenmal stieß ich bei einem jungen Mann in Buchara darauf, als ich mich für das Thema zu interessieren begann, das mich veranlaßte, >Der Puls< zu schreiben. Ich hatte einen Patienten in meinem Alter namens Achmed; sein Appetit hatte nachgelassen, und er hatte abgenommen. Sein Vater, ein reicher Kaufmann, war verzweifelt und bat mich um Hilfe. Als ich Achmed untersuchte, konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen. Aber als ich bei ihm verweilte, geschah etwas Merkwürdiges: Meine Finger lagen auf seiner Arterie am Handgelenk, während wir freundschaftlich über verschiedene Orte von Buchara plauderten. Der Puls war langsam und regelmäßig, bis ich das Dorf Efsene erwähnte, in dem ich geboren bin. Da war in seinem Handgelenk ein solches Tremolo zu spüren, daß ich Angst bekam. Ich kannte das Dorf gut und begann, verschiedene Straßen zu erwähnen. Dies blieb ohne große Wirkung, bis ich zur Straße des elften Imam kam, wobei der Puls sich wieder beschleunigte und unregelmäßig wurde. Ich kannte nicht mehr alle Familien in der Straße, aber weitere Fragen und Gedächtnishilfen führten mich darauf, daß in dieser Straße der Kupferschmied Ibn Razi wohnte. Er besaß drei Töchter, von denen die älteste, Ripka, sehr schön war. Wenn Achmed von diesem Mädchen sprach, erinnerte mich das Flattern in seinem Handgelenk an einen verwundeten Vogel.

Ich erklärte dem Vater, daß Achmeds Heilung in der Heirat mit dieser Ripka zu finden sei. Die Hochzeit wurde festgesetzt und fand bald statt. Nicht lange darauf kehrte Achmeds Appetit zurück. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er ein dicker, zufriedener Mann.

Galen lehrte, daß das Herz und alle Arterien im gleichen Rhythmus pulsieren, so daß man anhand einer Stelle alle anderen beurteilen kann, und daß ein langsamer, regelmäßiger Puls auf gute Gesundheit schließen läßt. Aber seit dem Erlebnis mit Achmed habe ich herausgefunden, daß der Puls auch die Erregung eines Patienten oder seine Seelenruhe anzeigen kann. Ich habe es oft bestätigt gesehen, und der Puls hat sich als >der Bote, der nie lügt«, erwiesen.« So lernte Rob, daß er neben seiner Gabe, die Lebenskraft eines Menschen abzuschätzen, den Puls dazu benutzen konnte, um Aufschluß über die Gesundheit und die Stimmung des Patienten zu erhalten. Und er hatte reichlich Gelegenheit zu üben. Verzweifelte Menschen strömten in Scharen zum Arzt aller Ärzte, und viele suchten Wunderheilung. Reiche und Arme wurden zwar gleich behandelt, aber Ibn Sina und Rob konnten nur wenige Patienten annehmen und mußten die meisten an andere Ärzte verweisen. Ein großer Teil von Ibn Sinas medizinischem Wirken galt dem Schah und geachteten Mitgliedern von dessen Gefolge. So schickte eines Morgens der hakim-bashi Rob ins Haus des Paradieses, weil Siddha, die Frau des indischen Waffenschmiedes Dhan Vangalil, an einer Kolik litt.

Als Übersetzer wählte Rob Aläs persönlichen mahout, den Inder Harsha. Siddha erwies sich als freundliche Frau mit rundem Gesicht und ergrauendem Haar. Die Familie Vangalil verehrte Buddha, somit galten hier die mohammedanischen Verbote nicht, und Rob konnte den Bauch der Frau abtasten, ohne bei den mullahs angezeigt zu werden. Nachdem er Siddha eingehend untersucht hatte, kam er zu dem Schluß, daß sie an Ernährungsstörungen litt, denn Harsha erzählte ihm, daß weder die Familie des Schmieds noch die mahouts genügend Kümmel, Gelbwurzel oder Pfeffer erhielten, Gewürze, an die sie ihr Leben lang gewöhnt waren und die sie für ihre Verdauung brauchten. Rob brachte die Angelegenheit in Ordnung, indem er dafür sorgte, daß die Inder diese Gewürze erhielten. Er hatte schon die Achtung einiger mahouts erworben, als er die Kampfwunden ihrer Elefanten behandelt hatte, und nun gewann er auch die Dankbarkeit der übrigen und der Vangalils. Er besuchte sie öfter, denn es faszinierte ihn, was Dhan Vangalil alles mit Stahl anfangen konnte. Dhan hatte über einer seichten Mulde im Boden einen Schmelzofen errichtet: Lehmwände, umgeben von einer dickeren, äußeren Mauer aus Steinen und Schlamm, mit Bändern aus Schößlingen zusammengehalten. Der Ofen war schulterhoch, einen Schritt breit und verjüngte sich oben etwas, um die Hitze zu konzentrieren und die Wände gegen Risse zu schützen.

In diesem Ofen stellte Dhan Schmiedeeisen her, indem er abwechselnd Lagen von erbsen- bis nußgroßer Holzkohle und persischem Erz schichtete. Um den Ofen war ein Graben ausgehoben worden. Dhan saß mit den Füßen in diesem Graben am Rand und betätigte Blasebälge aus ganzen Ziegenhäuten, um genau berechnete Mengen Luft in die glühende Masse zu leiten. Im heißen Feuer wurde das Erz zu Tropfen einer Art metallischen Regens reduziert. Diese Teilchen setzten sich im Ofen und sammelten sich auf dem Boden zu einem tropfsteinartigen

Gemisch von Holzkohle, Schlacke und Eisen, das Vorblock genannt wurde.

phan hatte das Spundloch mit Lehm verschlossen, den er jetzt aufbrach, um den Vorblock herauszuziehen. Durch kräftiges Hämmern, das ein wiederholtes Erhitzen im Schmiedefeuer erforderte, wurde er geläutert. Das reduzierte Schmiedeeisen war von sehr guter Beschaffenheit.

Es sei jedoch noch weich, ließ Dhan Harsha übersetzen. Die quadratischen Barren des indischen Stahls, den die Elefanten von Kausambi hierher befördert hatten, waren dagegen sehr hart. Dhan schmolz mehrere von ihnen und löschte dann das Feuer. Nach dem Auskühlen war der Stahl äußerst spröde, er zerschlug ihn und häufte ihn auf Stücke des Schmiedeeisens.

Nun ließ der zwischen seinen Ambossen, Zangen und Hämmern schwitzende drahtige Inder seinen Bizeps wie eine Schlange spielen, während er das weiche und harte Metall verband. Er schweißte mit Hilfe des Feuers mehrere Lagen von Eisen und Stahl zusammen, hämmerte wie besessen, drehte und schnitt, überlappte, klappte das Blech zusammen und hämmerte immer wieder. Er mischte das Metall, wie ein Töpfer den Ton oder eine Frau das Brot knetet. Während Rob ihm zusah, wußte er, daß er die Vielfalt, die Varianten, die ein subtiles Können erforderten, das seit Generationen weitergegeben worden war, nie erlernen konnte; aber er begriff den Vorgang zum Teil, zumal er unzählige Fragen stellte.

Dhan schmiedete einen scimitar, einen Krummsäbel, und härtete die Waffe in mit Zitronenessig befeuchtetem Ruß, was eine säuregeätzte Klinge mit Wirbelmuster und bläulicher, rauchgrauer Farbe ergab. Aus Eisen allein wäre sie weich und stumpf gewesen, allein aus dem harten indischen Stahl dagegen zu spröde. Dieses Schwert hatte eine scharfe Schneide, die einen herabfallenden Faden in der Luft zerschneiden konnte, und es war eine geschmeidige Waffe. Die Schwerter, die Alä bei Dhan bestellt hatte, waren nicht für den Herrscher bestimmt. Es waren unverzierte Waffen für Soldaten, die bei einem künftigen Krieg eingesetzt werden sollten. Diese überlegenen Krummschwerter sollten den Persern den erforderlichen Vorteil sichern. »Der indische Stahl wird ihm innerhalb weniger Wochen ausgehen«,

bemerkte Harsha. Dennoch bot Dhan Rob an, ihm einen Dolch zu schmieden aus Dankbarkeit für alles, was der hakim für seine Familie und die mahouts getan hatte. Rob lehnte bedauernd ab, die Waffen seien zwar sehr schön, aber er wolle nicht mehr töten. Doch dann öffnete er seine Tasche und zeigte Dhan ein Skalpell, ein Paar Operationsmesser und zwei andere Messer, die für Amputationen verwendet wurden, eines mit einer gebogenen, dünnen und das andere mit einer breiten, gezahnten Klinge zum Durchsägen von Knochen. Dhan lächelte breit, so daß man seine vielen Zahnlücken sah, und nickte.

Eine Woche später überreichte er Rob Instrumente aus gemustertem Stahl, die die schärfste Schneide besaßen und sie behalten sollten wie kein anderes chirurgisches Instrument, das Rob je in der Hand gehalten hatte.

Diese Instrumente würden sein Leben überdauern. Sie waren ein fürstliches Geschenk, das ein großzügiges Gegengeschenk verlangte, aber Rob war zu überwältigt, um im Augenblick daran zu denken. Dhan sah die ungeheure Freude des hakim und war stolz auf sie. Da sie sich nicht mit Worten verständigen konnten, umarmten sie einander. Gemeinsam ölten sie die Stahlinstrumente ein und wickelten sie einzeln in Lappen. Dann steckte sie Rob in einen Lederbeutel. Er wollte gerade begeistert vom Haus des Paradieses wegreiten, als er auf eine zurückkehrende Jagdgesellschaft unter Führung des Schahs traf. In semer groben Jagdkleidung sah Alä

genauso aus wie damals, als Rob ihn vor Jahren zum erstenmal erblickt hatte. Rob zügelte sein Pferrd, verbeugte sich und hoffte, daß die Gesellschaft an ihm vorbeireiten würde, doch einen Augenblick später galoppierte Farhad heran. »Er wünscht, daß Ihr Euch ihm nähert.«

Der Stadthauptmann machte kehrt, und Rob folgte ihm zum Schah. »Ah, Dhimmi. Du mußt ein wenig mit mir reiten.« Alä winkte die ihn begleitenden Soldaten beiseite, und er und Rob ritten im Schritt zum Palast.

»Ich habe den Dienst, den du Persien erwiesen hast, noch nicht

belohnt.«

Rob war überrascht, denn er hatte angenommen, daß alle Belohnun-

gen für die Dienste während des Einfalls in Indien der Vergangenheit angehörten. Mehrere Offiziere waren wegen Tapferkeit befördert worden, und die Soldaten hatten Geld erhalten. Karim war vom Schah in der Öffentlichkeit so überschwenglich gelobt worden, daß der Marktklatsch lautete, er werde bald zu jeder Menge hervorragender Posten ernannt werden. Rob hatte nichts dagegen gehabt, daß man ihn übersehen hatte, und er war glücklich, weil der Überfall nun der Geschichte angehörte.

»Ich möchte dir noch einen calaat verleihen, der aus einem größeren Haus und einem ausgedehnten Gelände besteht, einem Besitz, der sich auch für eine königliche Unterhaltung eignet.« »Es bedarf keines calaat, Majestät.« Rob dankte dem Schah recht spröde für dessen Freigebigkeit. »Meine Teilnahme war nur ein geringer Ausdruck meiner ungeheuren Dankbarkeit Euch gegenüber.« Es wäre geziemender gewesen, wenn er von seiner Liebe zum Monarchen gesprochen hätte, aber das konnte er nicht, und Alä schien seine Worte nicht sehr zu beachten. »Trotzdem verdienst du eine Belohnung.«

»Dann bitte ich meinen Schah, mich zu belohnen, indem er mir gestattet, in dem kleinen Haus in der Jehuddijeh zu bleiben, wo ich mich wohl fühle und wo ich glücklich bin.«

Der Schah blickte ihn scharf an. Schließlich nickte er. »Du bist entlassen, Dhimmi.« Er stieß dem Schimmel die Fersen in die Flanken, und der Hengst sprengte davon. Die Eskorte galoppierte hinter ihm her, und gleich darauf zogen die berittenen Soldaten rasselnd und klirrend an Rob vorbei.

Nachdenklich wendete er seinen braunen Wallach, um sich wieder auf den Weg nach Hause zu machen und Mary die gemusterten stählernen Instrumente zu zeigen.

Ein Auftrag in Idhaj

In diesem Jahr war der Winter streng, und er kam früh nach Persien. Eines Morgens waren alle Bergspitzen weiß, und am nächsten Tag fegte heftiger, eisiger Wind ein Gemisch von Salz, Sand und Schnee durch die Straßen Isfahans. Auf den Märkten deckten die Kaufleute ihre Waren mit Tüchern ab und sehnten sich nach dem Frühling. Aber der Ernst auf vielen verkniffenen Gesichtern war keine Folge des rauhen Windes, sondern die des neuesten Skandals. Angesichts der täglichen Trinkgelage und der Ausschweifungen des Schahs hatte Imam Mirza-abul Qandrasseh seinen Freund und obersten Gehilfen, den mullah Ibn Abbas, zum König geschickt, um ihm ms Gewissen zu reden und ihn daran zu erinnern, daß alkoholische Getränke für Allah ein Greuel seien, den der Koran verbot. Alä hatte seit Stunden gezecht, als er den Abgesandten des Großwesirs empfing. Er hörte Musa ernst an. Als er das Anliegen der Botschaft sowie den vorsichtig ermahnenden Ton erkannte, stieg der Schah von seinem Thron und ging auf den mullah zu.

Verwirrt und ohne recht zu wissen, wie er sich jetzt verhalten solle, sprach Musa weiter. Da goß der Herrscher, ohne dabei seinen Gesichtsausdruck zu verändern, zur Verwunderung aller anwesenden Höflinge, Diener und Sklaven dem alten Mann Wein über den Kopf. Während Musa weitersprach, schüttete der Schah das alkoholische Getränk über seinen Bart und seine Kleidung. Durchnäßt schickte er ihn dann zutiefst gedemütigt mit einer Handbewegung zu Qandrasseh zurück.

Dies war eine Zurschaustellung seiner Verachtung für die heiligen Männer von Isfahan und wurde als Hinweis darauf gedeutet, daß Qandrassehs Zeit als Großwesir zu Ende ging. Und schon am nächsten Morgen hörte man in jeder Moschee der Stadt düstere, beunruhigende Prophezeiungen über die Zukunft Persiens.

Karim Harun beriet sich mit Rob und Ibn Sma wegen des Vorfalls. »Er ist nicht so. Er kann ein selbstloser, fröhlicher und liebenswerter Gefährte sein. Du hast ihn in Indien erlebt, Jesse. Er ist der tapferste Kämpfer, und wenn er ehrgeizig ist, ein großer Shahansha sein will, dann deshalb, weil seine Pläne in bezug auf Persien höchst anspruchsvoll sind.«

Sie hörten ihm schweigend zu.

»Ich habe versucht, ihn vom Trinken abzuhalten«, sagte Karim. Er schaute seinen ehemaligen Lehrer und seinen Freund unglücklich an. Ibn Sina seufzte. »Er ist früh am Morgen für andere höchst gefährlich, wenn er nach dem übermäßigen Weingenuß des Vortags mit Übelkeit

erwacht. Verabreicht ihm dann Sennesblättertee, um die Giftstoffe abzuführen und seine Kopfschmerzen zu lindern, und gebt gemahle-nes Bergblau in seine Speisen, um seine Melancholie zu vertreiben. Aber vor sich selbst wird ihn nichts beschützen. Wenn er trinkt, müßt Ihr ihm aus dem Weg gehen, so gut Ihr könnt.« Er sah Karim ernst an. »Ihr müßt Euch auch hüten, wenn Ihr in der Stadt herumgeht, denn jhr seid als Günstling des Schahs bekannt und geltet allgemein als Qandrassehs Rivale. Ihr habt jetzt einflußreiche Feinde, die sehr daran interessiert sind, Euren Aufstieg zur Macht zu verhindern.« Rob lenkte Karims Aufmerksamkeit auf sich. »Du mußt dich bemühen, ein untadeliges Leben zu führen«, ermahnte er ihn bedeutungsvoll, »denn deine Feinde werden sich jede deiner Schwächen zunutze machen.«

Er erinnerte sich, wie ihn vor sich selbst geekelt hatte, als er den Meister zum Hahnrei machte. Er kannte Karim; trotz seines Ehrgeizes und seiner Liebe zu dieser Frau besaß Karim eine angeborene Rechtschaffenheit, und Rob konnte sich vorstellen, welche Qual er litt, wenn er Ibn Sma betrog.

Rarim nickte. Als er sich verabschiedete, ergriff er Robs Handgelenk und lächelte. Karim besaß noch immer großen Charme, und er sah sehr gut aus, obwohl er nicht mehr unbekümmert war wie früher. Große Spannung und nervöse Unsicherheit prägten sein Gesicht, und Rob schaute seinem Freund mitleidig nach.

Der kleine Robert James hatte angefangen herumzukriechen, und seine Eltern freuten sich, als er lernte, aus einem Becher zu trinken. Auf Ibn Sinas Anraten versuchte Rob, ihm Kamelmilch zu geben, die nach Ansicht des Meisters die gesündeste Nahrung für ein Kleinkind war. Als er sie nicht zurückwies, stillte ihn Prisca nicht mehr.

Im Gefolge der bitterkalten Luft suchten zahlreiche Patienten die Arzte mit Katarrhen, schmerzenden Gliedern und entzündeten und geschwollenen Gelenken auf. Plinius der Jüngere hatte geschrieben, der Kranke solle, um eine Erkältung auszukurieren, die haarige Schnauze einer Maus küssen. Aber Ibn Sina fand, daß Plinius der Jüngere in dieser Hinsicht nicht lesenswert sei. Er hatte sein eigenes Mittel gegen Schleim und Rheumatismus und zeigte Rob, wie er es zusammenmischen solle.

Rob suchte die Elefantengehege auf, wo die mahouts schnieften und husteten und sich alles andere denn gutgelaunt mit einer Jahreszeit abfinden mußten, die so ganz anders war als die milden Winter in Indien. Er besuchte sie drei Tage nacheinander und gab ihnen Erdrauch sowie Ibn Sinas Salbe, doch war der Erfolg so zweifelhaft, daß er ihnen lieber des Baders Universal-Spezificum verabreicht hätte. Die Elefanten sahen nicht mehr so großartig aus wie in der Schlacht, da sie jetzt mit Zeltbahnen und mit Decken behängt waren, damit sie sich nicht erkälteten.

Rob stand bei Harsha und beobachtete den großen Elefantenbullen des Schahs, der sich gerade mit Heu vollstopfte. Er zitterte, während sie ihn beobachteten, und Rob ordnete an, sie sollten den Tieren Eimer mit erwärmtem Trinkwasser geben, um sie von innen warm zu halten. Harsha war skeptisch. »Wir haben mit ihnen gearbeitet, und sie arbeiten trotz der Kälte gut.«

Aber Rob hatte im Haus des Wissens einiges über Elefanten gelesen. »Hast du je von Hannibal gehört?« »Nein«, antwortete der mahout. »Ein Soldat, ein großer Heerführer.« »So groß wie Alä Shahansha?«

»Mindestens so groß, aber in längst vergangener Zeit. Er hat eine Armee mit siebenunddreißig Elefanten über die Alpen geführt, über hohe, schreckliche, steile, mit Schnee bedeckte Berge, und er hat kein einziges Tier verloren.

Aber die Kälte und die Entkräftung haben sie geschwächt. Später, als sie niedrigere Berge überquerten, starben alle Elefanten bis auf einen. Die Lehre daraus ist, daß ihr eure Tiere ruhen lassen und sie warmhalten müßt.«

Harsha nickte ehrerbietig. »Wißt Ihr, daß Euch jemand folgt?« Rob erschrak.

»Der Mann, der dort in der Sonne sitzt.«

Ein Mann lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer, um sich gegen den kalten Wind zu schützen, und hüllte sich in das Fell seines caäabi. »Bist du sicher?« »Ja, Hakim. Er ist Euch schon gestern gefolgt. Auch jetzt behält er

Euch im Auge.«

»Kannst du ihm vorsichtig folgen, wenn ich wegreite, damit wir

herausfinden können, wer er ist?«

Harshas Augen glänzten. »Ja, Hakim.«

Am späten Abend kam Harsha in die Jehuddijeh und klopfte an Robs Tür.

»Er ist Euch bis nach Hause gefolgt, Hakim. Als er Euch hier verließ, folgte ich ihm zur Freitagsmoschee. Ich habe mich sehr schlau verhalten, Ehrenwerter, ich war unsichtbar. Er betrat das Haus des mullah in seinem abgerissenen cadabi, kam aber bald darauf in schwarzer Kleidung heraus und erreichte die Moschee rechtzeitig für das letzte Gebet. Er ist ein mullah, Hakim. «•

Rob dankte ihm nachdenklich, und Harsha ging zufrieden seiner Wege. Rob war davon überzeugt, daß der mullah von Qandrassehs Freunden geschickt worden war. Zweifellos waren sie Karim zu seiner Zusammenkunft mit Ibn Sina und ihm gefolgt, und nun wollten sie feststellen, wie weit Rob mit dem voraussichtlichen Wesir verbunden war.

Vielleicht waren sie zu dem Schluß gelangt, daß die Verbindung harmlos war, denn am nächsten Tag gab er sorgfältig acht, konnte aber niemanden entdecken, der ihm folgte. Soweit er sah, spionierte ihm auch in den nächsten Tagen niemand nach.

Es blieb kühl, aber der Frühling lag in der Luft. Nur die Spitzen der rötlichgrauen Berge waren noch schneebedeckt, und in den Gärten waren die nackten Äste der Aprikosenbäume mit kleinen, schwarzen, kugelrunden Knospen bedeckt.

Eines Morgens kamen zwei Soldaten, um Rob ins Haus des Paradieses zu begleiten. Der Schah saß am Tisch über dem Bodengitter, durch das die Ofenwärme aufstieg. Nach dem ravi zemin winkte er Rob zu sich an den Tisch, und die durch das schwere Filztischtuch festgehaltene Wärme tat beiden sehr wohl.

Das Spiel des Schahs war schon aufgestellt, und Alä machte den ersten Zug, ohne sich zu unterhalten.

»Du bist ein hungriger Kater geworden, Dhimmi«, bemerkte er.

Es war richtig: Rob hatte gelernt anzugreifen.

Der Schah spielte mit gerunzelter Stirn, den Blick aufmerksam auf das Brett gerichtet. Rob hatte mit seinen beiden Elefanten zugeschlagen und schnell ein Kamel, ein Pferd mit Reiter und drei Fußsoldaten gewonnen.

Die Höflinge verfolgten das Spiel in gespannter, wortloser Stille. Zweifellos waren einige entsetzt und manche entzückt über die Tatsache, daß ein europäischer Ungläubiger den Shahansha im Spiel zu besiegen schien. Aber der Schah konnte auf seine reiche Erfahrung als hinterlistiger General bauen. Gerade als Rob begann, sich für einen guten Spieler und Meister der Strategie zu halten, bot Alä Opfer an, lockte aber damit seinen Gegner in die Falle. Er benutzte seine beiden Elefanten geschickter, als Hannibal seine siebenunddreißig eingesetzt hatte. Rob wehrte sich hartnäckig und wandte alle Feinheiten an, die Mirdin ihn gelehrt hatte, und doch dauerte es nicht lange, bis er shahtreng war. Als die beiden das Spiel beendeten, applaudierten die Höflinge zum Sieg des Herrschers, und Alä sah zufrieden aus. Der Schah zog einen massiven Goldring vom Finger und legte ihn in Robs rechte Hand. »Ich komme auf den ca.la.at zurück. Ich vergebe ihn jetzt. Du sollst ein Haus bekommen, das groß genug für eine königliche Unterhaltung ist.« Mit einem Harem. Und Mary in dem Harem, schoß es Rob durch den Kopf.

Die Edelleute sahen und hörten zu.

»Ich werde diesen Ring mit Stolz und Dankbarkeit tragen«, sagte er. »Was den calaat betrifft, bin ich schon dank Eurer Majestät früherer Großzügigkeit glücklich, und ich werde in meinem Haus bleiben.« Seine Stimme war ehrerbietig, aber sie klang entschieden, und er wandte den Blick nicht sofort ab, um seine Demut zu zeigen. Alle Anwesenden hörten den Dhimmi diese herausfordernden Worte sprechen.

Am folgenden Morgen kamen sie Ibn Sina zu Ohren. Nicht umsonst war der Arzt aller Ärzte zweimal Wesir gewesen. Er besaß Informanten bei Hof und unter den Dienern im Haus des Paradieses, und er erfuhr aus mehreren Quellen von der unbesonnenen Torheit seines Assistenten.

Wie immer in kritischen Augenblicken dachte Ibn Sina nach. Ihm war klar, daß der König auf seine Anwesenheit in der Hauptstadt berechtigterweise stolz war, weil sie ihn in die Lage versetzte, sich als Monarch mit dem Kalifen von Bagdad als Förderer der Kultur und der Wissenschaft zu vergleichen. Ibn Sina wußte auch, daß sein Einfluß

begrenzt war. Eine direkte Bitte seinerseits würde Jesse ben Benjamin nicht retten.

Alä träumte sein ganzes Leben lang, einer der größten Schahs zu sein, ein Herrscher mit einem unsterblichen Namen. Jetzt bereitete er sich auf einen Krieg vor, der ihm entweder Unsterblichkeit oder Vergessensein bescheren würde, und in diesem Augenblick konnte er unmöglich jemandem gestatten, sich seinem Willen zu widersetzen. Ibn Sina wußte, daß der König Jesse ben Benjamin töten lassen würde. Vielleicht hatten unbekannte Handlanger bereits Befehl erhalten, auf der Straße über den jungen hakim herzufallen, oder er würde vielleicht von Soldaten verhaftet und von einem islamischen Gericht verhört und abgeurteilt werden. Alä war zu jeder politischen List fähig und würde die Hinrichtung dieses Dhimmi auf eine Art benutzen, die ihm den größten Vorteil brachte.

Ibn Sina hatte Alä Schah nicht umsonst jahrelang beobachtet, und er wußte, wie das Hirn des Königs funktionierte. Er wußte, was geschehen mußte. An diesem Morgen rief er seinen Stab im manstan zusammen.

»Wir haben gehört, daß in der Stadt Idhaj etliche Bürger so schwer erkrankt sind, daß sie nicht hierher ins Krankenhaus reisen können«, erklärte er, und das entsprach auch den Tatsachen. »Infolgedessen«, wandte er sich an Jesse ben Benjamin, »müßt Ihr nach Idhaj reiten und für die Behandlung dieser Menschen sorgen.« Nachdem sie über die Krauter und Drogen gesprochen hatten, die er auf einem Packtiet mitnehmen sollte, und über die Medikamente, die es m der Stadt gab, verabschiedete sich Jesse und machte sich unverzüglich auf den Weg.

Idhaj - das bedeutete einen langen, mühsamen, dreitägigen Ritt nach Süden, und die Behandlung würde zumindest weitere drei Tage in Anspruch nehmen. Dadurch gewann Ibn Sina mehr als genug Zeit. Am nächsten Nachmittag ritt er allein in die Jehuddijeh, direkt zum Haus seines Assistenten. Die Frau kam mit dem Kind auf dem Arm zur Tür. Überraschung und kurzzeitig auch Verwirrung zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab, als der Arzt aller Ärzte auf ihrer Schwelle stand, aber sie faßte sich rasch und führte ihn mit gebührender Hochachtung ms Innere. Das Haus war einfach, aber sauber gehalten, und mit den Wandbehängen und den Teppichen auf dem Lehmboden wirkte es behaglich. Mit erstaunlicher Flinkheit stellte Mary eine irdene Schüssel mit süßem Gewürzkuchen sowie ein Scherbett aus Rosenwasser mit Ingwergeschmack vor Ihn Sina.

Er hatte nicht daran gedacht, daß sie nicht Persisch konnte. Als er sich mit ihr verständigen wollte, stellte sich schnell heraus, daß sie nur ein paar Brocken sprach. Er wollte aber ausführlich und eindringlich mit ihr reden, wollte ihr sagen, daß er den Europäer als Arzt schätze, weil es ihm klargeworden sei, daß Gott Jesse ben Benjamin zum Heiler bestimmt habe.

»Alle Herrscher sind verrückt. Für jemanden, der über die entsprechende Macht verfügt, ist es gleich, ob er jemandem das Leben nimmt oder ihm einen calaat verleiht. Doch wenn Ihr jetzt flieht, werdet Ihr es für den Rest Eures Lebens bedauern, denn er ist zu weit gegangen, hat zu viel gewagt. Ich weiß, daß er kein Jude ist.« Die Frau hielt das Kind auf dem Schoß und beobachtete Ibn Sina mit wachsender Unruhe. Er versuchte erfolglos, Hebräisch zu sprechen, dann rasch hintereinander Türkisch und Arabisch. Er war zwar ein Sprachgelehrter, beherrschte aber nur wenige europäische Sprachen, denn er lernte ein Idiom nur im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Beschäftigung. So sprach er auch Griechisch mit ihr, bekam aber keine Antwort.

Dann versuchte er es mit Latein und sah, daß sie den Kopf leicht bewegte und blinzelte.

»Rex te venire ad se vult. Si non, maritus necahitur.« Er wiederholte es. »Der König wünscht, daß du zu ihm kommst. Wenn du nicht kommst, wird dein Ehemann getötet werden.« »Quid dicis?« (Was sagst du?) fragte sie.

Er wiederholte seine Worte sehr langsam.

Das Kind in ihren Armen begann sich zu bewegen, aber die Frau achtete nicht darauf. Sie starrte Ibn Sina an, ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. Es wirkte wie aus Stein, aber es sprach auch etwas daraus, das er vorher übersehen hatte. Der alte Mann verstand sich aut Menschen, und zum erstenmal ließ seine Besorgnis etwas nach, denn er erkannte die Stärke dieser Frau. Er würde die entsprechenden Anordnungen treffen, und sie würde das Notwendige tun.

Sklaven holten sie in einer Sänfte ab. Sie wußte nicht, was sie mit Rot1 James anfangen sollte, also nahm sie ihn mit. Dies erwies sich als eiru

glückliche Lösung, denn im Harem des Hauses des Paradieses nahmen die Frauen das Kind begeistert auf.

Sie wurde zu den Bädern geführt, was ihr peinlich war. Rob hatte ihr erzählt, daß es für mohammedanische Frauen ein religiöses Gebot war, alle zehn Tage ihre Schamhaare mit einem Enthaarungsmittel aus Kalk und Arsen zu entfernen. Ebenso wurden die Haare in den Achselhöhlen bei einer verheirateten Frau einmal wöchentlich, bei einer Witwe alle zwei Wochen und bei einer Jungfrau einmal im Monat ausgezupft oder abrasiert. Die Frauen, die sie bedienten, starrten sie mit unverhohlenem Abscheu an.

Nachdem man sie gewaschen hatte, bot man ihr drei Tabletts mit Parfüms und Farbstoffen an, aber sie verwendete nur ein wenig Duftwasser.

Sie wurde in einen Raum geführt und angewiesen zu warten. Die Einrichtung bestand nur aus einer großen Strohmatratze mit Kissen und Decken und einer geschlossenen Truhe, auf der ein Waschbecken stand. Irgendwo in der Nähe spielten Musikanten. Sie fror. Als sie schon ziemlich lang gewartet hatte, nahm sie eine Decke und hüllte sich ein.

Dann kam Alä. Sie war verängstigt, aber er lächelte, als er sie in der Decke sah.

Er bedeutete ihr mit Gesten, die Decke abzulegen, und dann mit einer ungeduldigen Handbewegung, auch das Kleid auszuziehen. Sie wußte, daß sie, an den orientalischen Frauen gemessen, mager war, und die persischen Frauen hatten ihr deutlich vor Augen geführt, daß Sommersprossen Allahs gerechte Strafe für schamlose Frauen bedeuteten, die keinen Schleier trugen.

Er berührte ihr schweres, rotes Haupthaar, hob eine Handvoll davon an seine Nase. Sie hatte ihre Strähnen nicht parfümiert, und er verzog das Gesicht, weil der Duft fehlte.

Die Hände des Königs lagen noch auf ihrem Kopf. Er sprach Persisch, und sie wußte nicht, ob mit sich selbst oder zu ihr. Sie wagte nicht einmal, den Kopf zu schütteln, um anzudeuten, daß sie ihn nicht verstand, damit er die Geste nicht als Ablehnung deutete. Er begann, sich ungeniert mit ihren Schamhaaren zu befassen. Sie erregten seine Neugierde. »Henna?«

Dieses eine Wort verstand sie, und sie versicherte ihm in einer Sprache, die er natürlich nicht verstand, daß die Farbe nicht Henna war. Er zog eine Strähne vorsichtig durch die Fingerspitzen und versuchte, das Rot wegzuwischen.

Dann legte er sein einziges, loses Kleidungsstück aus Baumwolle ab. Seine Arme waren muskulös, aber er war um die Körpermitte dicklich und hatte einen vorstehenden, behaarten Bauch. Sein ganzer Körper war behaart, und sein Glied war kleiner als das Robs und dunkler. In der Sänfte auf dem Weg zum Palast hatte sie sich den verschiedensten Vorstellungen hingegeben. Bei einer hatte sie geweint und sich daran erinnert, daß Jesus den christlichen Frauen verboten hatte, diesen Akt außerhalb der Ehe zu vollziehen. Wie in einer Heiligenlegende hatten dann ihre Tränen sein Mitleid erweckt, und er hatte sie aus Güte nach Hause geschickt. In einem anderen Tagtraum hatte sie, weil sie gezwungen war, den Ehemann zu retten, den sinnlichsten körperlichen Orgasmus ihres Lebens kennengelernt, eine Beglückung durch einen einmaligen Liebhaber, der sie erwählt hatte, obwohl er über die allerschönsten Frauen Persiens verfügen konnte. Die Wirklichkeit hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihren Phantasien. Alä wendete sich ihren Brüsten zu, berührte die Warzen; vielleicht hatten die Höfe eine ihm ungewohnte Farbe. Die kühle Luft hatte ihre Brüste hart gemacht, aber er verlor bald das Interesse an ihnen. Als er sie zur Matratze drängte, flehte sie stumm die Hilfe der heiligen Mutter Gottes an, deren Namen sie trug. Sie war kein aufnahmebereites Gefäß, so daß sie aus Angst und aus Widerwillen gegenüber diesem Mann, der beinahe den Tod ihres Ehemannes beschlossen hätte, trocken blieb. Sie vermißte die süßen Liebkosungen, mit denen Rob sie erfreute und die sie in seinen Händen zu Wachs werden ließen. Statt senkrecht wie ein Stock zu sein, hing Aläs Glied schräg herab, und er hatte Schwierigkeiten, in sie einzudringen. Deshalb griff er zu Olivenöl, das er aber gereizt auf sie goß statt auf sich. Endlich zwängte er sich in sie, und sie hielt die Augen geschlossen.

Sie war gebadet worden, entdeckte aber, daß er sich nicht gereinigt hatte. Er war alles andere als kraftvoll und wirkte fast gelangweilt, während er leise grunzend zustieß. Nach wenigen Augenblicken erschauerte er für einen so großen Mann ganz unköniglich schwach, und er stöhnte angewidert. Dann zog sich der König der Könige mit einem leise-schmatzenden, öligen Geräusch aus ihr zurück und verließ Jen Raum ohne ein Wort oder einen Blick.

Sie blieb klebrig und erniedrigt liegen und wußte nicht, was sie als nächstes tun sollte. Mit Gewalt hielt sie ihre Tränen zurück. Schließlich wurde sie von den anderen Frauen wieder abgeholt und zu ihrem Sohn gebracht. Sie kleidete sich eilig an und nahm Rob James in die Arme. Die Frauen schickten sie nach Hause und stellten einen Sack mit grünen Melonen in die Sänfte. Als sie mit dem Sohn die Jehuddijeh erreichte, wollte sie die Melonen schon auf der Straße stehen lassen. Es erschien ihr jedoch einfacher, sie nach Hause mitzunehmen und die Sänfte zu verabschieden.

Als Rob aus Idhaj zurückkehrte, aß er von den grünen Melonen, die köstlicher schmeckten als alle, die er bisher gekostet hatte.

Das Beduinenmädchen

Merkwürdig. Rob mußte noch immer den Atem anhalten, und sein Herz klopfte heftig, wenn er den maristan betrar und ihm die schnatternden Studenten wie Gänseküken ihrer Mutter folgten. Sie folgten ihm, und dabei war er noch vor kurzer Zeit anderen gefolgt. Ibn Sina drängte ihn, Vorlesungen zu halten, und wenn er sich dazu entschloß, kamen auch Studenten von anderen Fächern, um ihn zu hören. Aber er fühlte sich nie vollkommen sicher, wenn er ordentlich schwitzte und sich über ein Thema verbreitete, das er sorgfältig in den Büchern nachgelesen hatte. Ihm war bewußt, wie er auf sie wirken mußte, denn er war größer als die meisten, und seine englische Nase war gebrochen. Auch wußte er, wie seine Stimme klang, denn jetzt sprach er das Persische so fließend, daß ihn sein Akzent störte. Ebenso verfaßte er auf Ibn Sinas Wunsch eine kurze Abhandlung über die Wundbehandlung mit Wein. Er mühte sich mit diesem Aufsatz ab, hatte aber keine rechte Freude daran, auch nicht, als er fertig, übertragen und im Haus der Gelehrsamkeit hinterlegt war. Rob wußte, daß er sein Wissen und Können weitergeben mußte, wie fliese Erfahrungen an ihn weitergegeben worden waren, aber Mirdin hatte sich dennoch geirrt: Rob wollte nicht alles tun. Er wollte sich Ibn

Sina nicht zum Vorbild nehmen. Er hatte nicht den Ehrgeiz, auch noch als Philosoph, Erzieher und Theologe zu wirken, er empfand nicht das Bedürfnis, zu schreiben oder zu predigen. Er mußte lernen und forschen, um zu wissen, was er zu tun hatte, sobald er handeln mußte Für ihn kam die Stunde der Wahrheit jedesmal, wenn er die Hände eines Patienten hielt. Es war der gleiche unheimliche Zauber, den er zum erstenmal empfunden hatte, als er neun Jahre alt gewesen war.

Eines Morgens wurde ein Mädchen namens Sitara von ihrem Vater einem Beduinen-Zeltmacher, in den maristan gebracht. Sie war sehr krank, litt an Übelkeit und Brechreiz und verspürte heftige Schmerzen im rechten unteren Teil ihres harten Bauches. Rob wußte, woran sie litt, hatte aber keine Ahnung, wie er die Seitenkrankheit behandeln sollte. Das Mädchen stöhnte und konnte kaum antworten, aber er befragte sie eingehend und suchte von ihr etwas zu erfahren, das ihm weiterhelfen könnte.

Er gab ihr Abführmittel, versuchte es mit heißen Packungen und kalten Kompressen und erzählte an diesem Abend auch seiner Frau von dem Beduinenmädchen. Er ersuchte Mary, für sie zu beten. Mary belastete der Gedanke, daß ein so junges Mädchen an der Krankheit litt, die James Geikie Cullen befallen hatte. Er erinnerte sie auch an die Tatsache, daß ihr Vater in einem Grab im Ahmads wadi lag, das niemand besuchte.

Am nächsten Morgen ließ Rob das Beduinenmädchen zur Ader, gab ihr Drogen und Krauter, doch alles, was er auch versuchte, blieb erfolglos. Sie fieberte, ihre Augen wurden glasig, und sie welkte dahin wie ein vom Frost überraschtes Blatt. Am dritten Tag starb sie. Rob überdachte die Stationen ihres kurzen Lebens gewissenhaft. Sie war gesund gewesen, bis diese Reihe von schmerzhaften Anfällen sie getötet hatte. Eine zwölfjährige Jungfrau, die erst vor kurzem ihre erste Monatsblutung gehabt hatte. Was hatte sie mit jenem kleinen Knaben und Robs in den besten Jahren stehendem Schwiegervater gemein? Ihm fiel nichts auf. Doch alle drei waren auf genau die gleiche Weise ums Leben gekommen.

Der Bruch zwischen Alä und seinem Großwesir, dem Imam Qandras-seh, wurde bei der Audienz des Schahs überdeutlich. Der Imam saß

wie gewöhnlich auf dem kleineren Thron zu Aläs rechter Hand, aber er wandte sich mit so kalter Höflichkeit an den Schah, daß seine Einstellung allen Anwesenden klar wurde.

An diesem Abend saß Rob bei Ibn Sina, und sie spielten das Spiel des Schahs. Es war mehr eine Lektion als ein Kampf, wie ein Spiel zwischen einem Erwachsenen und einem Kind. »Menschen versammeln sich auf den Straßen und maidans, sie tuscheln miteinander«, berichtete Rob.

»Sie werden besorgt und unruhig, wenn die Priester Allahs mit dem Herrn des Hauses des Paradieses im Streit liegen, denn sie befürchten, daß dieser Streit die Welt vernichten wird.« Ibn Sina schlug mit seinem Reiter einen rukh. »Es wird vorbeigehen. Es geht immer vorbei, und jene, die Glück haben, überleben.«

Eine Zeitlang spielten sie schweigend, dann berichtete Rob Ibn Sina vom Tod des Beduinenmädchens. Er schilderte die Symptome und beschrieb die beiden anderen Fälle, die ihn quälten. Ibn Sina seufzte. Aber er hatte keine Erklärung für den Tod des Mädchens, sondern wechselte das Thema, indem er Neuigkeiten vom Hof erzählte. Eine königliche Expedition sollte nach Indien geschickt werden. Diesmal handelte es sich um keinen Überfall, sondern Kaufleute hatten Vollmachten vom Schah erhalten, indischen Stahl oder das Erz zu kaufen, aus dem man ihn schmolz, denn Dhan Vangalil besaß längst keine Vorräte mehr, um die gemusterten blauen Klingen zu schmieden, die Alä so hoch schätzte.

»Er hat ihnen aufgetragen, nicht ohne eine schwerbeladene Karawane mit Erz oder hartem Stahl zurückzukommen, und wenn sie bis ans Ende der Seidenstraße ziehen müßten.« »Was liegt am Ende der Seidenstraße?« fragte Rob. »Chung-Kuo. Ein gewaltiges Land.« »Und dahinter?«

Ibn Sina hob die Schultern. »Wasser. Meere.«

»Reisende haben mir erzählt, daß die Erde eine flache Scheibe und von Feuer umgeben ist, und daß man sich nur so weit vorwagen kann, daß man nicht ins Feuer fällt; das sei die Hölle.«

»Geschwafel von Reisenden«, wehrte Ibn Sina verächtlich ab. »Es ist nicht wahr. Ich habe gelesen, daß es außerhalb der bewohnten Erde nur Salz und Sand gibt wie in der Dasht-i-Kavir. Es steht auch geschrieben, daß ein großer Teil der Erde aus Eis besteht.« Er blickte Rob nachdenklich an. »Was befindet sich hinter Eurem Heimatland?« »England ist eine Insel. Dahinter liegt ein Ozean, und dann kommt Dänemark, das Land der Nordmenschen, aus dem unser König kam. Dahinter soll ein Land aus Eis liegen.«

»Und wenn man von Persien nach Norden reist, liegt jenseits von Ghazna das Land der Reußen - und dahinter erstreckt sich ein Land aus Eis. Ja, ich glaube, es ist wahr, daß ein großer Teil der Erde mit Eis bedeckt ist«, stellte Ibn Sina fest. »Aber es gibt keine feurige Hölle an den Rändern, denn vernunftbegabte Menschen haben immer gewußt, daß die Erde rund ist wie ein Pflaume. Ihr seid doch auf dem Meer gereist! Wenn man ein entgegenkommendes Schiff in der Ferne erblickt, sieht man zuerst die Mastspitze am Horizont und dann immer mehr von dem Schiff, weil es über die gerundete Oberfläche der Erde segelt.«

Er besiegte Rob, indem er seinem König eine Falle stellte, obwohl er geistesabwesend gewirkt hatte. Dann schickte er einen Diener um Scherbett und eine Schüssel Pistazien. »Erinnert Ihr Euch nicht an den Astronomen Ptolemaios?«

Rob lächelte; er hatte gerade so viel Astronomie studiert, um den Anforderungen der madrassa zu genügen. »Ein alter Grieche, der seine Schriften in Ägypten verfaßte.«

»So ist es. Er schrieb, daß die Erde rund ist. Sie hängt unter dem konkaven Firmament und ist das Zentrum des Universums. Um sie kreisen Sonne und Mond, so daß es zu Tag und Nacht kommt.«

»Diese Erdkugel, die auf ihrer Oberfläche Meer, Festland, Berge, Flüsse, Wälder, Wüsten und Eisflächen trägt -

ist sie hohl oder massiv?

Und wenn sie massiv ist, woraus besteht ihr Inneres?«

»Das können wir nicht wissen. Die Erde ist riesig, wie Ihr es erlebt habt, weil Ihr über ein großes Stück von ihr geritten und marschiert seid. Und wir sind nur winzige Menschen, die nicht tief genug graben können, um diese Frage zu beantworten.«

»Wenn Ihr aber imstande wäret, ms Innerste der Erde zu blicken - würdet Ihr es tun?«

»Selbstverständlich!«

»Ihr wäret aber imstande, in den menschlichen Körper zu blicken, doch Ihr tut es nicht.«

jbn Sinas Lächeln schwand. »Die Menschheit ist halb wild und muß nach festen Regeln leben. Wenn nicht, würden wir zu unserer tierischen Natur zurückkehren und zugrunde gehen. Eines unserer Gesetze verbietet die Verstümmelung von Toten, weil sie eines Tages vom Propheten aus ihren Gräbern wiedererweckt werden.«

»Warum leiden die Menschen an Unterleibsbeschwerden?« Ibn Sina zuckte mit den Achseln. »Öffnet den Bauch eines Schweines und studiert das Rätsel! Die Organe eines Schweines sind mit denen des Menschen identisch.«

»Seid Ihr dessen sicher, Meister?«

»Ja. So steht es seit Galens Zeiten geschrieben, dessen griechische Zeitgenossen ihm nicht erlaubten, Menschen aufzuschneiden. Die Juden und die Christen unterliegen dem gleichen Verbot. Alle Menschen teilen diesen Abscheu vor dem Sezieren.« Ibn Sina blickte ihn mit zärtlicher Besorgnis an. »Ihr habt viele Widerstände überwunden, um Medicus zu werden. Aber Ihr müßt Eure Tätigkeit innerhalb der Grenzen der religiösen Vorschriften und des allgemeinen Empfindens der Menschen ausüben. Wenn Ihr Euch nicht daran haltet, wird Euch ihre Macht vernichten.«

Als Rob nach Hause ritt, starrte er zum Himmel empor, bis die Lichtpunkte vor seinen Augen verschwammen.

Von den Sternen kannte er nur den Mond und den Saturn und einen glühenden Punkt, der vielleicht der Jupiter war, denn er leuchtete gleichmäßig inmitten der funkelnden Himmelskörper.

Ihm war klar, daß Ibn Sina kein Halbgott war. Der Arzt aller Ärzte war einfach ein alternder Gelehrter, der zwischen der Medizin und dem Glauben steckte, in dem er fromm erzogen worden war. Rob liebte den alten Mann gerade auch wegen seiner menschlichen Beschränkungen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, betrogen worden zu sein, wie ein kleiner Junge, der die Schwächen seines Vaters erkennt.

In der Jehuddijeh war er in Gedanken versunken, während er sein braunes Pferd versorgte. Mary und das Kind schliefen im Hause, er zog sich vorsichtig und leise aus, lag dann wach und dachte nach, wodurch die Unterleibskrankheit verursacht werden könnte. Mitten in der Nacht schreckte Mary plötzlich auf. Sie lief hinaus, wo

sie würgte und erbrach. Er folgte ihr. Weil er so viel an die Krankheit dachte, die ihren Vater hinweggerafft hatte, wußte er, daß das Erbrechen ein erstes Anzeichen war. Obwohl Mary abwehrte, untersuchte er sie, als sie ins Haus zurückkehrte, aber ihr Unterleib war weich, und sie hatte kein Fieber. Endlich kehrten sie ins Bett zurück.

1 »Rob!« rief sie später. Und wieder: »Mein Rob!« Es war ein Schrei der Verzweiflung wie in einem Alptraum.

»Still, sonst weckst du den Kleinen«, flüsterte er. Er war überrascht, denn er hatte nicht gewußt, daß sie Alpträume hatte. Er streichelte ihren Kopf und tröstete sie, und sie zog ihn mit verzweifelter Kraft an sich.

»Ich bin doch bei dir, Mary. Ich bin doch hier, meine Liebste.« Er flüsterte ihr leise tröstende Worte ins Ohr, Zärtlichkeiten auf englisch, persisch und hebräisch, bis sie sich beruhigte.

Kurze Zeit später wurde sie wieder unruhig, aber dann berührte sie sein Gesicht, seufzte und umschlang seinen Kopf mit den Armen. Rob lag nun mit der Wange auf der weichen Brust seiner Frau, bis das süße, langsame Klopfen ihres Herzens auch ihm Ruhe brachte.

Karim

Die immer wärmer werdende Sonne ließ blaßgrüne Schößlinge aus der Erde sprießen, als der Frühling in Isfahan einzog. Es war, als hätte Rob die Hände der Erde ergriffen, um die grenzenlose, immerwährende Kraft der Natur zu fühlen. Mary war ein Beweis dieser Fruchtbarkeit. Die Anfälle von Übelkeit dauerten an und wurden schlimmer, aber diesmal brauchten sie Fara nicht, um festzustellen, daß sie schwanger war. Rob freute sich sehr, aber Mary war niedergeschlagen und wurde schneller ärgerlich als zuvor. Er verbrachte mehr Zeit denn je mit seinem Sohn.

In der gleichen Woche, in der das Kind die ersten zögernden, unsicheren Schritte machte, begann es auch zu sprechen. Es war kein Wunder, daß sein erstens Wort »Pa« war. An einem milden Nachmittag überredete er Mary, mit ihm zum

armenischen Markt zu gehen. Rob James trug er auf dem Arm. Beim Ledergeschäft stellte er das Kind auf den Boden, so daß Rob James einige wacklige Schritte auf Prisca zu machen konnte, und die ehemalige Amme schrie entzückt auf und schloß das Kind in die Arme. Später, während Mary pilaw kochte und Rob einen der Aprikosenbäume beschnitt, kamen zwei von den kleinen Töchtern Micah Halevis, des Bäckers, aus dem benachbarten Haus und spielten im Garten mit seinem Sohn. Rob freute sich über ihr kindliches Geschrei und ihre Dummheiten. Es gibt schlimmere Menschen als die Juden in der Jehuddijeh, sagte er sich, und schlimmere Orte als Isfahan.

Eines Tages traf Rob im maristan mit Ibn Sina zusammen. Sobald er den Arzt aller Ärzte erblickte, wußte er, daß Schlimmes geschehen war.

»Meine Despina und Karim Harun - sie sind verhaftet worden!« »Setzt Euch, Meister, und beruhigt Euch«, sagte Rob sanft, denn Ibn Sina war erschüttert und verwirrt und sah sehr gealtert aus. Robs schrecklichste Befürchtungen waren also wahr geworden. Er zwang sich, die notwendigen Fragen zu stellen, und war nicht überrascht, als er erfuhr, daß die beiden des Ehebruchs und der Unzucht beschuldigt wurden.

Qandrassehs Spitzel waren Karim an diesem Vormittag zu Ibn Sinas Haus gefolgt. Mullahs und Soldaten waren dann in den steinernen Turm eingedrungen und hatten die Liebenden entdeckt. »Was war mit dem Eunuchen?«

Ibn Sina blickte ihn kurz an, und Rob haßte sich, weil er begriff, was er mit seiner Frage zugegeben hatte.

Aber Ibn Sina schüttelte nur den Kopf. »Wasif ist tot. Hätten sie ihn nicht mit einer List getötet, hätten sie nicht in den Turm eindringen können.«

»Wie können wir Karim und Despina helfen?«

»Nur Alä Sbabansha kann ihnen helfen. Wir müssen ihn darum bitten.«

Zwei ganze Tage lang saßen sie im Haus des Paradieses, ohne zu Alä vorgelassen zu werden. Allmählich begriffen sie, daß der Herrscher, trotz des hohen Ranges des Arztes aller Ärzte und trotz der Tatsache, daß Karim Aläs Günstling war, nicht eingreifen würde.

»Er ist bereit, Karim Qandrasseh zu opfern«, stellte Rob betrübt fest, »als spielten sie das Spiel des Schahs und als wäre Karim eine Figur, deren Verlust man verschmerzen kann.«

Als sie das Haus des Paradieses verließen, trafen sie al-Juzjani, der auf sie gewartet hatte. Der Chirurg liebte Ibn Sina mehr als jeder andere, und aus dieser Liebe heraus brachte er ihm die schlimme Nachricht: Karim und Despina waren vor ein islamisches Gericht gestellt worden. Drei Zeugen hatten ausgesagt, jeder von ihnen ein mullab. Zweifellos, um nicht gefoltert zu werden, hatten weder Despina noch Karim versucht, sich zu verteidigen. Der mufti, der den Vorsitz führte, hatte beide zum Tod am nächsten Morgen verurteilt. »Die Frau wird geköpft. Karim wird der Bauch aufgeschlitzt.« Sie starrten einander entsetzt an. Rob wartete darauf, daß Ibn Sina vielleicht al-Juzjani sagen würde, wie Karim und Despina noch gerettet werden könnten. Doch der alte Mann schüttelte den Kopf. »Wir können das Urteil nicht umstoßen«, erklärte er müde. »Wir können nur dafür sorgen, daß ihr Ende barmherzig ist.« »Dann muß Verschiedenes getan werden«, sagte al-Juzjani ruhig. »Man muß Bestechungsgelder bezahlen. Und den medizinischen Gehilfen im Gefängnis des kelonter müssen wir durch einen Arzt ersetzen, dem wir vertrauen können.«

Trotz der warmen Frühlingsluft überlief es Rob eiskalt. »Laßt mich dieser Mann sein«, sagte er.

Nach einer schlaflosen Nacht stand er vor Sonnenaufgang auf und ritt zu Ibn Sinas Haus. Ibn Sina gab ihm eine Flasche mit Traubensaft. »Er ist mit viel Opiaten und einem Pulver aus reinen Hanfsamen, das huing heißt, vermischt. Es besteht aber ein gewisses Risiko: Sie müssen viel davon trinken, wenn jedoch einer so viel trinkt, daß er nicht mehr gehen kann, wenn sie abgeholt werden, sterbt Ihr mit ihnen.«

Im Gefängnis erklärte Rob der Wache, daß er der Medicus sei, und er erhielt eine Eskorte. Despina wartete in einer winzigen Zelle. Sie war ungewaschen und nicht parfümiert, und ihr Haar hing in glatten Strähnen herab. Ihr zierlicher, zarter Körper war in ein schmutziges, schwarzes Kleid gehüllt.

»Ich habe dir etwas zu trinken gebracht.«

In ihren Augen standen Tränen, aber sie wies das Getränk zurück.

»Du mußt trinken. Es wird dir helfen.«

Sie schüttelte den Kopf. Ich werde bald im Paradies sein, flehten ihn ihre angstgeweiteten Augen, um Bestätigung heischend, an. »Gib es ihm«, flüsterte sie, und Rob verabschiedete sich von ihr.

Sein Freund war blaß. »Also, Europäer.«

»Also, Karim.«

Sie umarmten einander, hielten sich fest umschlungen.

»Ist sie...?«

»Ich war bei ihr. Sie ist wohlauf.«

Karim seufzte. »Ich hatte seit Wochen nicht mehr mit ihr gesprochen.

Ich wollte nur ihre Stimme hören, verstehst du? Ich war sicher, daß mir an diesem Tag niemand gefolgt war.«

Rob nickte.

Karims Lippen zitterten. Als Rob ihm die Flasche reichte, ergriff er sie und trank mit einem Zug zwei Drittel der Flüssigkeit, bevor er sie zurückgab.

»Es wird wirken. Ibn Sina hat es selbst gemischt.«

»Der alte Mann, den du verehrst. Ich habe oft davon geträumt, daß ich ihn vergifte, um sie ganz besitzen zu können.«

»Jeder Mensch hat böse Gedanken. Du hättest sie nie ausgeführt.«

Karim nickte. Rob beobachtete ihn genau, weil er befürchtete, dass Karim zuviel buing getrunken haben könnte.

Wenn der Trank zu schnell wirkte, würde ein Gericht von muftis auch einen zweiten Arzt hinrichten lassen.

Karims Augen blickten müde. Er blieb wach, beschloß aber, nicht mehr zu sprechen. Rob harrte schweigend bei ihm aus, bis er endlich Schritte hörte. »Karim!«

Er blinzelte. »Ist es soweit?«

»Denk an den Gewinn des chatir«, erinnerte Rob ihn sanft. Die Schritte hielten an, die Tür ging auf. Es waren drei Soldaten und zwei mullahs. »Denk an den glücklichsten Tag deines Lebens!«

»Zaki-Omar konnte auch ein liebenswerter Mann sein«, sagte Karim.

Er schenkte Rob ein leichtes, ausdrucksloses Lächeln.

Zwei Soldaten ergriffen seine Arme. Rob folgte ihm bis in den Hof, über dem die pralle Sonne brütete. Karims Knie gaben beim Gehen nach, aber ein unbeteiligter Zuschauer mußte annehmen, daß dies eine Folge der Angst war.

Etwas Schreckliches lag schon zu Füßen einer schwarzgekleideten Gestalt auf dem blutdurchtränkten Boden, aber das buing schlug den mullahs ein Schnippchen: Karim bemerkte Despina nicht. Karims Augen waren glasig, als ihn die Soldaten vorführten. Es kam zu keinem Abschiedswort. Der Hieb des Henkers kam schnell und sicher. Seine Schwertspitze traf jedoch das Herz und führte sofort den Tod herbei, weil er bestochen worden war.

Es war Robs Aufgabe, Despina und Karim zu einem Friedhof außerhalb der Stadtmauern bringen zu lassen. Als das Begräbnis vorbei war, trank Rob den Rest des Gemisches in der Flasche aus und überließ es dem braunen Wallach, ihn nach Hause zu bringen. Als sie sich jedoch dem Hause des Paradieses näherten, zugehe er das Pferd und betrachtete den Palast. Er erschien ihm an diesem Tag besonders schön, die bunten Wimpel flatterten in der Frühlingsbrise, die Sonne blitzte auf den Standarten und Hellebarden und ließ die Waffen der Wachtposten funkeln.

Er konnte Aläs Stimme hören: Wir sind vier Freunde... Wir sind vier Freunde...

Er schüttelte die Faust. »Du Unwürdiger!«

Ein Offizier kam zu den Torposten hinunter. »Wer ist das? Kennt ihr ihn?«

»Ja. Ich glaube, es ist der hakim Jesse, der Dhimmi« Sie beobachteten die Gestalt auf dem Pferd, sahen, wie er noch einmal die Faust schüttelte, bemerkten die Weinflasche und die losen Zügel des Wallachs.

Der Offizier wußte, daß der Jude beim Vorstoß nach Indien zurückgeblieben war, um die Wunden der Soldaten zu behandeln. »Sein Kopf ist voll vom Trinken.« Er grinste. »Aber er ist kein schlechter Kerl. Laßt ihn in Ruhe!«

Sie sahen zu, wie das braune Pferd den Arzt zu den Stadttoren trug.

Die graue Stadt

Er war also das letzte überlebende Mitglied jener Abordnung aus Isfahan. Wenn er daran dachte, daß Mirdin und Karim unter der Erde

lagen, war es, als trinke er ein Gebräu aus Zorn, Schmerz und Trauer. Doch so abwegig es schien, ihr Tod versüßte dennoch sein Leben wie ein liebevoller Kuß. Er genoß nun die alltäglichen Freuden des Lebens bewußter: einen tiefen Atemzug, ein ausführliches Pissen, einen gemächlichen Furz.

Und das trotz der Tatsache, daß Isfahan ein düsterer Ort geworden war. Wenn Allah und der Imam Qandrasseh sogar den heldenhaften Läufer zugrunde richten konnten, welcher Mensch würde dann noch wagen, die vom Propheten erlassenen islamischen Gebote zu brechen? Die Huren verschwanden, und auf den maidans gab es nachts keine Ausschweifungen mehr. Mullahs patrouillierten zu zweit durch die Straßen und achteten genau darauf, ob ein Schleier vielleicht das Gesicht einer Frau zuwenig verdeckte, ob sich jemand auf den Ruf des muezzm hin zu langsam niederwarf oder ob der Besitzer eines Erfrischungshauses so ungeschickt war, Wein zu verkaufen. Sogar in der Jehuddijeh, wo die Frauen ihre Haare ohnedies sorgfältig bedeckten, begannen viele jüdische Frauen, den schweren muselmanischen Schleier zu tragen.

Jeden Morgen kamen mehr Gläubige zu Ibn Sinas Haus und beteten mit ihm, aber sobald er seine Andacht beendet hatte, kehrte der Arzt aller Ärzte jetzt in sein Haus zurück und wurde erst wieder gesehen, wenn es Zeit zum nächsten Gebet war. Er gab sich vollkommen der Trauer und Selbstbeobachtung hin und kam nicht mehr in den mari-stan, um zu unterrichten oder Kranke zu heilen. Diejenigen, die sich von einem Dhimmi nicht berühren lassen wollten, wurden von al-Juzjani behandelt, aber es waren nicht viele. Rob hatte deshalb alle Hände voll zu tun, weil er sich Ibn Sinas Patienten und den seinen widmen mußte.

Eines Morgens kam ein magerer alter Mann mit stinkendem Atem und schmutzigen Füßen ins Krankenhaus.

Qasim Ibn Sahdi hatte Stor-chenbeine mit knorrigen Knien und einen mottenzerfressenen, strähnigen weißen Bart. Er wußte nicht, wie alt er war, und hatte kein Zuhause, denn er hatte den größten Teil seines Lebens als Treiber bei der einen oder anderen Karawane zugebracht.

Er besaß keine Familie, aber Allah hielt seine Hand über ihn. »Ich kam gestern mit einer Karawane hier an, die Wolle und Datteln aus Qum brachte. Unterwegs befiel mich ein Schmerz wie ein böser djinni. «•

»Schmerz? Wo?«

Qasim stöhnte und hielt sich die rechte Seite.

Er wurde zu einem Strohsack geführt, wo er gewaschen wurde und eine leichte Mahlzeit bekam. Es war der erste Patient mit der Seitenkrankheit, den Rob in einem Frühstadium des Leidens beobachten konnte. Vielleicht wußte Allah, wie Qasim zu heilen war, Rob jedenfalls wußte es nicht.

Er verbrachte Stunden in der Bibliothek. Schließlich fragte ihn Jussuf-al-Gamal, der Hüter des Hauses der Weisheit, höflich, was er so emsig

suche.

»Das Geheimnis der Seitenkrankheit. Ich versuche Berichte von alten Ärzten zu finden, die den menschlichen Bauch geöffnet haben, bevor es verboten wurde.«

Der ehrwürdige Bibliothekar blinzelte und nickte freundlich. »Ich werde versuchen, Euch zu helfen. Laßt mich sehen, was ich finden kann«, versprach er.

Nach einigen Tagen vergingen Qasims Schmerzen, doch Rob wollte ihn nicht entlassen. »Wohin werdet Ihr von hier gehen?«

Der alte Treiber zuckte die Schultern. »Ich werde eine Karawane suchen, Hakim, denn dort bin ich zu Hause.«

»Nicht alle, die hierher kommen, können wieder gehen. Manche sterben, versteht Ihr.«

Qasim nickte ernst. »Alle Menschen müssen einmal sterben.«

»Wenn man die Toten wäscht und sie für das Begräbnis zurechtmacht, dient man Allah. Könntet Ihr eine solche Arbeit verrichten?«

»Ja, Hakim. Denn es ist Gottes Arbeit, wie Ihr sagt«, erklärte er feierlich. »Allah hat mich hierher gebracht, und vielleicht ist es Sein Wille, daß ich bleibe.«

Neben den beiden Räumen, die als Leichenhaus des maristan dienten, lag eine kleine Vorratskammer. Sie brachten sie in Ordnung und machten sie zu Qasim Ibn Sahdis Unterkunft.

»Ihr werdet Eure Mahlzeiten hier einnehmen, nachdem die Patienten gegessen haben, und Ihr könnt Euch in den Bädern des maristan waschen.«

»Ja, Hakim.«

Rob gab ihm eine Schlafmatte und eine Tonlampe. Der Alte rollte seinen abgenutzten Gebetsteppich auf und erklärte, daß der Raum die beste Wohnung sei, die er je gehabt habe.

Es dauerte fast zwei Wochen, bis Robs arbeitsreicher Zeitplan ihm erlaubte, Jussuf-al-Gamal im Haus der Weisheit aufzusuchen. Er brachte dem Bibliothekar als Anerkennung für die Hilfe ein Geschenk mit: einen Schilfkorb mit zarten Wüstendatteln. Sie aßen die Früchte spät am Abend im Haus der Weisheit; die Räume waren verlassen.

»Ich bin diesmal zeitlich so weit zurückgegangen, wie es mir möglich ist, bis in die Antike. Sogar die Ägypter, deren Balsamierungskunst Ihr kennt, lehrten, daß es böse und eine Entstellung der Toten ist, den Unterleib zu öffnen.«

»Aber... wie brachten sie ihre Mumien fertig?« »Sie waren Heuchler. Sie bezahlten verachtete Männer, die paraschi-sten hießen, für die Sünde, daß sie den verbotenen ersten Einschnitt ausführten. Sobald sie den Einschnitt gemacht hatten, flohen die paraschisten, damit man sie nicht steinigte. Dieses Schuldbekenntnis ermöglichte es den ehrbaren Einbalsamierern dann, die Organe aus dem Leib zu entfernen und mit der Konservierung fortzufahren.« »Haben sie die Organe studiert, die sie entfernt haben? Haben sie Schriften über ihre Beobachtungen hinterlassen?« »Sie haben fünftausend Jahre lang einbalsamiert, insgesamt fast eine dreiviertel Milliarde Menschen ausgeweidet, und sie haben die Eingeweide in Gefäßen aus Ton, Kalkstein oder Alabaster aufbewahrt oder sie einfach weggeworfen. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, daß sie die Organe je studiert haben. Bei den Griechen war es anders. Es geschah übrigens ebenfalls im Niltal.« Jussuf nahm sich noch eine Dattel. »Alexander der Große stürmte neunhundert Jahre vor Mohammeds Geburt durch unser Persien wie ein schöner, jugendlicher Kriegsgott. Er eroberte die Welt, und am nordwestlichen Ende des Nildeltas, auf einem Landstrich zwischen dem Mittelmeer und dem See Mareotis, gründete er eine anmutige Stadt, der er seinen Namen verlieh. Zehn Jahre später starb er am Sumpffieber, aber Alexandria war bereits ein Zentrum der griechischen Kultur. Bei dem Zusammenbruch des hellenistischen Reiches fielen Ägypten und die neue Stadt an Ptolemaios von Mazedonien, einen der gelehrtesten Begleiter Alexanders. Ptolemaios errichtete das Museion von Alexandria, die erste Universität der Welt, und die große Bibliothek von Alexandria. Alle Wissenszweige blühten, aber die medizinische Schule zog die talentiertesten Studenten aus der ganzen Welt an. Zum ersten und einzigen Mal in der langen Geschichte der Menschheit stellte die Anatomie den Grundpfeiler der Medizin dar, und das Sezieren des menschlichen Körpers wurde in den folgenden dreihundert Jahren in großem Umfang praktiziert.« Rob beugte sich eifrig vor. »Dann ist es möglich, aus dieser Zeit Beschreibungen jener Krankheiten nachzulesen, die die inneren Organe befallen?«

Jussuf schüttelte den Kopf. »Die Bücher ihrer herrlichen Bibliothek gingen verloren, als die Legionen Julius Caesars siebenundvierzig Jahre vor der christlichen Zeitrechnung Alexandria plünderten. Die Römer vernichteten die meisten Schriften der Ärzte von Alexandria. Celsus sammelte die kümmerlichen Reste und nahm sie in >De medici-na< auf, um sie zu erhalten, aber er erwähnt nur kurz ein >akutes Leiden im Bereich des Dickdarms, das hauptsächlich in jenem Teil auftritt, in dem sich der Blinddarm befindet, und von einer hitzigen Entzündung und heftigen Schmerzen, besonders auf der rechten Seite, begleitet wird.«

Rob brummte enttäuscht. »Ich kenne das Zitat. Ibn Sina erwähnt es, wenn er unterrichtet.«

Jussuf hob die Schultern. »So seid Ihr nun trotz meines angestrengten Stöberns in der Vergangenheit genau dort, wo Ihr wart, als ich anfing.« Rob nickte düster. »Warum, meint Ihr, begann der einzige kurze Abschnitt in der Geschichte, in dem Ärzte Menschen öffnen durften, ausgerechnet mit den Griechen?«

»Sie hatten nicht den einen starken Gott, der ihnen untersagte, das Werk seiner Schöpfung zu entweihen. Statt dessen glaubten sie an diese vielen unzüchtigen, schwachen, sich zankenden Götter und Göttinnen.« Der Bibliothekar spuckte einen Mundvoll Dattelkerne in seine hohle Hand und lächelte freundlich. »Sie konnten sezieren, weil sie schließlich nur Barbaren waren, Hakim."

Zwei Ankömmlinge

Marys Schwangerschaft war so weit fortgeschritten, daß sie nicht mehr reiten konnte, daher ging sie zu Fuß, um die notwendigen Nahrungsmittel für ihre Familie einzukaufen. Dabei führte sie den Esel, der die Waren und Rob James trug. Der Kleine ritt in einem Gurt auf dem Rücken des Tieres. Wie gewöhnlich, wenn sie zum armenischen Markt ging, machte sie vor dem Ledergeschäft halt, um mit Prisca ein Scherbett und heißes Fladenbrot zu sich zu nehmen. Prisca freute sich immer, ihre frühere Herrin und das Kind zu sehen, das sie gestillt hatte, heute aber war sie besonders redselig. Mary hatte zwar versucht, Persisch zu lernen, aber sie verstand nur wenige Worte: »Fremder... von weit her... genau wie der hakim... wie Ihr.«

Am Abend ärgerte sich Mary, als sie ihrem Mann von dem Vorfall berichten wollte. Er wußte bereits, was Prisca versucht hatte ihr zu erzählen, denn die Neuigkeit hatte sich bis zum maristan herumgesprochen. »Ein Europäer ist in Isfahan eingetroffen.« »Aus welchem Land?« »Aus England. Ein Kaufmann.«

»Ein Engländer?« Sie starrte ihn verblüfft an. »Warum bist du nicht sofort zu ihm gegangen?« »Mary...«

»Aber das mußt du tun! Weißt du, wo er wohnt?« »Im armenischen Viertel, deshalb wußte Prisca auch von ihm.

Angeblich wollte er zunächst nur bei Christen wohnen«, Rob lächelte, »als er aber sah, in welch elenden Hütten die wenigen armenischen Christen hausen, hat er rasch von einem Moslem ein schöneres Haus gemietet.«

»Du mußt ihm eine Botschaft senden! Lade ihn ein, zum Abendessen zu uns zu kommen!« »Ich weiß nicht einmal, wie er heißt.«

»Was macht das schon aus! Miete einen Boten. Jeder im armenischen Viertel wird ihm sagen können, wo der Fremde wohnt. Rob! Wir werden Neuigkeiten erfahren!«

Der gefährliche Kontakt mit einem englischen Christen war das letzte, was Rob sich gegenwärtig wünschte.

Aber er wußte, daß er Mary

die Gelegenheit, von Ländern zu hören, die ihrem Herzen näher standen als Persien, bieten mußte. Deshalb setzte er sich hin und schrieb an den Engländer.

»Mein Name ist Bostock. Charles Rostock.«

Rob erinnerte sich sofort. Nachdem er als Lehrling des Baderchirurgen zum erstenmal nach London zurückgekehrt war, waren der Bader und er zwei Tage lang m Begleitung von Bostocks Packpferden geritten, die mit Salz aus den Bergwerken von Arundel beladen waren. Im Lager hatten sie jongliert, und der Kaufmann hatte Rob zwei Pence geschenkt, die er ausgeben sollte, wenn sie nach London kämen. »Jesse ben Benjamin. Arzt in diesem Ort.« »Eure Einladung war englisch geschrieben. Und Ihr sprecht meine Sprache.«

Rob konnte nur die Antwort geben, die er sich für Isfahan ausgedacht hatte: »Ich bin in Leeds aufgewachsen.« Er war eher belustigt als besorgt. Vierzehn Jahre waren vergangen. Der Welpe von damals hatte sich zu einem merkwürdigen Hund ausgewachsen, und es war kaum zu erwarten, daß Bostock einen Zusammenhang zwischen dem jonglierenden Baderjungen und dem ungewöhnlich großen jüdischen Medicus herstellen würde, der ihn in sein persisches Heim eingeladen hatte. »Und das ist meine Frau Mary, eine Schottin aus dem nördlichen Landesteil.« »Mistress.«

Marys bestes blaues Kleid paßte nicht mehr wegen ihres dicken Bauchs, und so trug sie ein loses schwarzes Gewand. Aber ihr frisch gewaschenes rotes Haar glänzte prachtvoll. Sie trug ein gesticktes Stirnband, daran ihr einziges Schmuckstück, eine kleine Häkelarbeit aus Staubperlen, die zwischen ihren Brauen hing. Bostock hatte noch sein langes, mit Bändern zurückgehaltenes Haar, das aber jetzt mehr grau als blond war. Das schöne, rotbestickte Samtgewand, das er trug, war zu warm für das Klima und zu kostbar für den Anlaß. Rob hatte noch nie so scharf abschätzende Augen erlebt, die so sichtlich den Wert jedes Tieres, des Hauses, ihrer Kleidung, jedes einzelnen Möbelstückes taxierten und mit einer Mischung aus Neugierde und Widerwillen den dunkelhäutigen, bärtigen

luden, die keltische, rothaarige, hochschwangere Frau und das schlafende Kind musterten, das ein weiterer Beweis für die verwerfliche Verbindung dieses seltsamen Paares war.

Trotz seiner unverhohlenen Ablehnung sehnte sich der Besucher ebenso danach, englische Worte zu hören, wie sie, und bald waren die drei in ein Gespräch vertieft, bei dem Rob und Mary nicht umhinkonnten, Fragen zu stellen. »Habt Ihr Nachrichten über Schottland?«

»Waren die Zeiten gut oder schlecht, als Ihr London verlassen habt?« »Herrschte dort Frieden?« »War Knut noch König?«

Bostock war genötigt, sich sein Abendessen sozusagen zu verdienen, obwohl seine letzten Neuigkeiten fast zwei Jahre alt waren. Er wußte nichts über das Land der Schotten, kaum etwas über den Norden Englands. Die Verhältnisse waren günstig geblieben, und London wuchs rasch. Jedes Jahr wurden neue Häuser gebaut, und es gab mehr Schiffe, als die Hafenanlagen an der Themse aufnehmen konnten. Zwei Monate vor Bostocks Abreise aus England war König Knut eines natürlichen Todes gestorben, und als der Kaufmann in Calais gelandet war, hatte er vom Tod Roberts L, des Herzogs der Normandie, gehört. »Jetzt herrschen Bastarde auf beiden Seiten des Kanals. In der Normandie ist Roberts unehelicher Sohn Wilhelm mit Hilfe von Freunden und Verwandten seines Vaters Herzog der Normandie geworden, obwohl er noch ein Knabe ist. In England hätte die Nachfolge rechtmäßig Harthacnut gehört, dem Sohn Knuts und der Königin Emma, aber Harthacnut hat seit Jahren in Dänemark ein Leben fern von Britannien geführt, und so wurde der Thron von seinem jüngeren Halbbruder Harold Harefoot usurpiert. Knut hatte ihn als seinen unehelichen Sohn von einer wenig bekannten Frau aus Northampton namens Aelfgifu anerkannt, jetzt ist er König von England.« »Wo sind Edward und Alfred, die beiden Prinzen, die Emma König Aethelred vor ihrer Heirat mit König Knut geboren hat?« »Sie leben unter dem Schutz von Herzog Wilhelm in der Normandie, und man kann annehmen, daß sie mit großer Anteilnahme über den Kanal blicken«, berichtete Bostock.

So ausgehungert die in der Fremde Lebenden auch nach Einzelheiten aus ihrer Heimat waren, der Duft von Marys Abendessen hatte allen

dreien Appetit auf die Mahlzeit gemacht, und der Blick des Kaufmanns wurde etwas freundlicher, als er sah, was ihm zu Ehren gekocht worden war.

Ein Paar Fasane, gut eingefettet und häufig begossen, auf persische Art mit Reis und Trauben gefüllt, langsam und lange im Topf gegart. Nicht zu vergessen ein Schlauch mit gutem, rosigem Wein, den sie teuer und unter Gefahren gekauft hatten. Mary war mit Rob auf den jüdischen Markt gegangen, wo Hinda zuerst heftig abstritt, daß sie Wein verkaufe, und sich ängstlich umsah, ob jemand mitgehört habe. Nach vielem Betteln und Bezahlen des dreifachen Preises hatte sie aus einem Getreidesack einen Schlauch ausgegraben, den Mary, vor den Blicken der mullahs im Gurt neben ihrem schlafenden Kleinen verborgen, heimbrachte.

Bostock aß mit Genuß und erklärte nach einem kräftigen Rülpser, daß er in wenigen Tagen nach Europa abreisen werde. »Ich war froh, als ich endlich Persien erreicht hatte, wo ich Teppiche und schöne Wirkwaren gekauft habe. Aber ich werde nicht mehr hierher zurückkommen, denn es läßt sich wenig daran verdienen. Ich muß eine kleine Armee bezahlen, um die Waren sicher nach England zu bringen.«

Bostock erzählte auch, daß er von England zuerst nach Rom gereist war. »Ich habe die Geschäfte mit der Überbringung einer Botschaft von Aethelnoth, dem Erzbischof von Canterbury, verbunden. Im Lateran-Palast versprach mir Papst Benedikt IX. reiche Belohnung für expeditiones in terra et mari, und er befahl mir im Namen Jesu Christi, meine Geschäftsreise über Konstantinopel zu nehmen, um dort dem Patriarchen Alexios Briefe des Papstes zu überreichen.« »Ein päpstlicher Legat!« rief Mary.

Mehr ein Kurier als ein Legat, vermutete Rob geringschätzig, obwohl sich Bostock offensichtlich über Marys ehrfürchtiges Staunen freute. »Sechshundert Jahre lang hat die Ostkirche mit der westlichen Kirche in Fehde gelegen«, dozierte der Kaufmann wichtigtuerisch. »In Konstantinopel wird Alexios zum Ärgernis der Heiligen Kurie als dem Papst gleichgestellt angesehen. Die verdammten bärtigen Priester des Patriarchen heiraten, und sie beten weder zu Jesus und Maria, noch zeigen sie hinreichende Ehrfurcht vor der Heiligen Dreifaltigkeit. Deshalb bekommen sie immer wieder Beschwerdebriefe aus Rom.«

Der Krug war leer, und Rob trug ihn ins benachbarte Zimmer, um ihn aus dem Weinschlauch nachzufüllen.

»Seid Ihr Christin?« »Ja.«

»Wie seid Ihr dann Sklavin dieses Juden geworden? Wurdet Ihr von Seeräubern oder Moslems gefangengenommen und an ihn verkauft?« »Ich bin seine Frau«, sagte sie klar und deutlich. Im Nebenzimmer hörte Rob erbittert zu. Der Engländer verachtete ihn so, daß er nicht einmal den Versuch unternahm, leiser zu sprechen. »Ich könnte Euch und das Kind in meiner Karawane unterbringen. Ihr könntet eine Sänfte und Träger bekommen, bis Ihr nach der Entbindung wieder auf einem Pferd sitzen könnt.«

»Es kommt nicht in Frage, Master Bostock. Ich gehöre mit Freuden und vollem Einverständnis meinem Mann an«, lehnte Mary das Angebot ab, dankte ihm aber kühl dafür.

Rob Jeremy Cole hätte Bostock am liebsten zusammengeschlagen, aber als Jesse ben Benjamin befleißigte er sich orientalischer Gastfreundschaft und schenkte seinem Besucher Wein ein, statt ihn zu erwürgen. Dennoch verlief das weitere Gespräch kühl und knapp. Der englische Kaufmann verabschiedete sich, bald nachdem er gegessen hatte, und Rob und Mary blieben allein zurück. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt, während sie die Reste der Mahlzeit wegräumten.

Schließlich meinte sie: »Werden wir jemals in die Heimat zurückkehren?«

Er war erstaunt. »Selbstverständlich.« »War Bostock nicht meine einzige Chance?« »Das schwöre ich.«

Ihre Augen glänzten. »Er tut recht daran, eine Armee zum Schutz anzuheuern. Die Reise ist so gefährlich... Wie sollten zwei Kinder wohlbehalten so weit reisen?«

Er nahm sie vorsichtig in die Arme. »Nach unserer Ankunft in Konstantinopel werden wir Christen sein und uns einer starken Karawane anschließen.« »Und von hier bis Konstantinopel?«

»Da habe ich auf der Reise etwas Wunderbares kennengelernt. Von Isfahan bis Konstantinopel werde ich Jesse ben Benjamin bleiben. Und

wir werden von einem jüdischen Dorf nach dem anderen aufgenommen werden. Man wird uns verköstigen, beschützen und uns den Weg zeigen wie einem Mann, der einen gefährlichen Strom überquert, indem er von einem sicheren Stein auf den anderen tritt.« Er berührte ihr Gesicht, dann legte er ihr die Hand auf den großen, warmen Bauch und spürte, wie sich das Ungeborene bewegte. Es erfüllte ihn mit Dankbarkeit und Milde. Ja, so wird es sich abspielen, sagte er sich. Aber er konnte ihr nicht sagen, wann das sein würde.

Er hatte sich daran gewöhnt, im Schlaf seinen Körper an ihren großen, festen Bauch zu drücken, doch eines Nachts wachte er auf, weil er außer der Wärme auch Nässe spürte, und als er ganz zu sich gekommen war, fuhr er rasch in die Kleider, um die Hebamme Nitka zu holen. Obwohl sie daran gewöhnt war, daß Leute während der Nachtruhe an ihre Türe hämmerten, tauchte sie verärgert und mürrisch auf und befahl ihm, ruhig und geduldig zu sein. »Ihr Wasser ist abgegangen.« »Schon gut, das ist in Ordnung«, brummte sie. Bald danach bildeten sie eine kleine Karawane, die durch die nachtdunkle Straße zog. Rob beleuchtete den Weg mit einer Fackel, Nitka folgte mit einem großen Sack voll gewaschener Lappen, dahinter kamen ihre beiden kräftigen Söhne, die unter dem Gewicht des Geburtsstuhls brummten und keuchten.

Chofni und Shemuel stellten den Stuhl neben den Kamin, und Nitka forderte Rob auf, ein Feuer zu entfachen, denn die Nachtluft war kühl. Mary bestieg den Stuhl wie eine nackte Königin den Thron. Als die Söhne fortgingen, nahmen sie Rob James mit, um auf ihn achtzugeben, während seine Mutter in den Wehen lag. In der Jehuddijeh halfen in solchen Fällen die Nachbarn einander, auch wenn es sich um eine Nichtjüdin handelte.

Mary verlor ihre königliche Haltung bei der ersten Wehe, und der kurrende, knirschende Schrei, der sich ihr entrang, erschreckte Rob. Der Stuhl war solide gebaut, so daß er Stößen und Schlägen standhielt, und Nitka befaßte sich mit dem Falten und Stapeln ihrer Lappen, ohne unruhig zu werden, während Mary sich an den seitlichen Lehnen des Stuhls festhielt und schluchzte. Ihre Beine zitterten die ganze Zeit über, aber während der schrecklichen Wehen bebten und zuckten sie. Nach der dritten Wehe stand Rob hinter ihr und zog ihre Schultern an die Rücklehne des Stuhles. Mary entblößte ihre Zähne und knurrte wie ein Wolf; er wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie aufgeheult oder ihn gebissen hätte. Er hatte Männern Ghedmaßen abgeschnitten und sich an alle möglichen widerlichen Krankheiten gewöhnt, aber er spürte, wie er blaß wurde. Die Hebamme blickte ihn scharf an, nahm eine Fleischpartie auf seinem Arm zwischen ihre kräftigen Finger und kniff ihn. Der Schmerz belebte ihn wieder, und er brachte keine Schande über sich. »Raus«, befahl Nitka. »Raus, raus!«

Er ging also in den Garten, blieb im Dunkeln stehen und lauschte den Geräuschen, die aus dem Haus drangen. Es war kühl und still; er dachte kurz an Vipern, die aus der Steinmauer krochen, und beschloß, sich nicht darum zu kümmern, aber schließlich fiel ihm ein, daß er sich um das Feuer kümmern mußte, also ging er wieder hinein, um nachzulegen.

Als er Mary ansah, waren ihre Knie weit gespreizt. »Jetzt werdet Ihr pressen«, befahl Nitka streng. »Arbeitet, meine Liebe. Arbeitet!«

Wie versteinert sah Rob den Scheitel des Neugeborenen zwischen den Schenkeln seiner Frau hervorkommen. Es erinnerte an den Kopf eines Mönchs mit einer nassen, roten Tonsur, und Rob flüchtete wieder in den Garten. Er blieb lange draußen, bis er ein dünnes Wimmern hörte, da kehrte er ins Zimmer zurück und sah das Kind.

»Wieder ein Junge«, verkündete Nitka fröhlich, während sie mit der Spitze ihres kleinen Fingers Schleimreste aus dem winzigen Mund entfernte. Die dicke, schleimige Nabelschnur sah im diesigen Licht des Morgengrauens blau aus.

»Es war viel leichter als das erste Mal«, meinte Mary. Nitka reinigte und tröstete sie und übergab Rob die Nachgeburt, um sie im Garten zu vergraben. Dann nahm die Hebamme die großzügige Bezahlung mit einem zufriedenen Nicken entgegen und ging nach Hause.

Als sie in ihrem Schlafzimmer allein waren, umarmten sie einander, dann verlangte Mary Wasser und taufte das Kind auf den Namen Thomas Scott Cole. Rob hob ihn hoch und untersuchte ihn: Er war ein wenig kleiner, als sein Bruder es gewesen war, aber kein Zwerg. Ein kräftiger, gesunder Knabe mit runden, braunen Augen und einem dunklen Haarbüschel das schon einen Schimmer vom roten Haar seiner Mutter aufwies. Rob kam aber zu dem Schluß, daß das Neugeborene durch die Augen und die Kopfform, durch den großen Mund und die langen, schmalen Finger viel Ähnlichkeit mit seinen Brüdern William Stewart und Jonathan Carter zeige. Es sei immer leicht, sagte er zu Mary, einen kleinen Cole zu erkennen.

Die Diagnose

Qasim Ibn Sahdi war seit zwei Monaten Totenwäscher, als der Schmerz in seinem Unterleib wieder auflebte.

»Wie ist er?« fragte ihn Rob.

»Er ist schlimm, Hakim.«

»Ist es ein dumpfer oder stechender Schmerz?«

»Er ist, als würde ein djinni in mir an den Eingeweiden reißen, drehen und zerren.«

Er hatte kein Fieber wie beim ersten Anfall, der ihn zum maristan geführt hatte, und sein Unterleib war diesmal auch nicht hart. Rob verordnete die häufige Einnahme eines Aufgusses aus Honig und Wein, den Qasim eifrig trank, denn er war ein Trinker, und die erzwungene religiöse Abstinenz hatte er immer als schmerzlich empfunden.

Qasim verbrachte mehrere angenehme Wochen in leicht berauschtem Zustand, während denen er untätig im Krankenhaus herumging und Ansichten und Meinungen austauschte. Die letzte Neuigkeit war, daß Imam Qandrasseh trotz seines offensichtlichen politischen und taktischen Sieges über den Schah die Stadt verlassen habe. Es hieß, daß Qandrasseh zu den Seldschuken geflüchtet sei und mit einer Invasionsarmee zurückkehren werde, um Alä abzusetzen und einen streng islamischen Eiferer - vielleicht sich selbst? - auf den persischen Thron zu setzen.

Der Schah lebte im Haus des Paradieses wie in einem Versteck. Er hielt keine Audienzen ab, und seit Karims Hinrichtung hatte Rob nichts

mehr von ihm gehört. Rob wurde weder zu einer Lustbarkeit noch zur Jagd, noch zum Spiel oder zu Empfängen bei Hof eingeladen. Und wenn im Hause des Paradieses einmal anstelle des unpäßlichen Ibn Sina ein anderer Arzt gebraucht wurde, ließ man al-Juzjani kommen, aber niemals Rob.

Poch hatte der Schah ein Geschenk für den neuen Sohn geschickt. Es traf nach der hebräischen Namensgebung des Knaben ein. Diesmal wußte Rob Bescheid und lud die Nachbarn von sich aus ein. Das Kleine bekam in Wein getauchtes Brot, damit sein Schmerzgeschrei aufhörte, und auf hebräisch wurde erklärt, daß er Tarn, Sohn des Jesse, sei. Alä hatte kein Geschenk gesandt, als der kleine Rob James geboren wurde, doch nun schickte er einen schönen kleinen Teppich, hellblaue Wolle mit glänzenden Seidenfäden in der gleichen Farbe und mit dem Wappen der königlichen Samaniden-Familie in dunklerem Blau verziert.

Rob wurde in eine Prüfungskommission berufen. Er wußte, daß er Ibn Sina vertreten sollte, und er schämte sich, weil ihn jemand für anmaßend halten konnte, wenn er den Platz des Arztes aller Ärzte einnahm. Aber er konnte nichts daran ändern, also tat er sein Bestes. Er bereitete sich für die Kommission vor, als wäre er ein Prüfling und kein Prüfer. Er stellte durchdachte Fragen, die nicht darauf abzielten, den Kandidaten in Verlegenheit, sondern sein Wissen zum Vorschein zu bringen, und er hörte sich die Antworten aufmerksam an. Die Kommission prüfte vier Kandidaten, drei von ihnen ernannte sie zu Ärzten. Der vierte war ein unangenehmer Fall. Gabri Beidhawi war seit fünf Jahren Medizinstudent. Er hatte schon zwei Prüfungen nicht bestanden, aber sein Vater war ein reicher, mächtiger Mann.

Rob hatte zusammen mit Beidhawi studiert und wußte, daß er ein fauler Taugenichts war, der die Kranken nachlässig und gleichgültig behandelte. Auch auf die dritte Prüfung hatte er sich schlecht vorbereitet. Rob wußte, wie sich Ibn Sina verhalten hätte. »Ich lehne den Kandidaten ab«, erklärte er entschieden und mit wenig Bedauern. Die anderen Prüfer stimmten ihm hastig zu, und die Sitzung wurde geschlossen. Einige Tage nach der Prüfung kam Ibn Sina wieder in den maristan. »Willkommen im Krankenhaus, Meister!« rief Rob erfreut. Ibn Sina schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht zurück.« Er wirkte

müde und abgespannt und eröffnete Rob, daß er zu einer Untersuchung gekommen sei, die al-Juzjani und er durchführen sollten. Sie saßen im Untersuchungsraum mit ihm beisammen und stellten seine Krankengeschichte zusammen, wie er es sie gelehrt hatte. Er war daheim gewesen und hatte gehofft, seine Pflichten bald wieder aufnehmen zu können. Aber er hatte sich von dem doppelten Verlust, dem Abschied von Reza und dann von Despina, nicht erholt. Er sah immer schlechter aus und fühlte sich immer schlechter. Er war matt und schwach und kaum noch imstande, die einfachsten Aufgaben durchzuführen. Zuerst hatte er seine Symptome einer akuten Melancholie zugeschrieben. »Wir wissen ja alle genau, daß der Geist dem Körper schrecklichen, seltsamen Schaden zufügen kann.« Aber in letzter Zeit hatte sich sein Darm explosionsartig entleert, und der Stuhl war mit Schleim, Eiter und Blut vermengt. Das war der Grund, weshalb er diese ärztliche Untersuchung verlangte. Die beiden gingen so gründlich vor, als hätten sie nie wieder Gelegenheit, einen Menschen zu untersuchen. Sie übersahen nichts, und Ihn Sina ließ sie mit unendlicher Geduld drücken, klopfen, horchen und fragen.

Als sie fertig waren, sah al-Juzjani blaß aus, sein Gesicht aber verriet Zuversicht. »Es ist der blutige Ausfluß, Meister, verursacht durch die Belastungen Eures Gemüts.«

Robs Intuition wies dagegen in eine andere Richtung. Er sah seinen geliebten Lehrer an. »Ich glaube, es ist schirrt im Frühstadium.«

Ibn Sina blinzelte. »Darmkrebs?« fragte er so ruhig, als spräche er zu einem Patienten, den er noch nie gesehen hatte.

Rob nickte und versuchte, nicht an die langandauernden Qualen dieser Krankheit zu denken.

Al-Juzjani war rot vor Erregung, weil sein Urteil verworfen wurde, aber Ibn Sina beruhigte ihn. Deshalb hat er uns beide zugezogen, erkannte Rob, er hat gewußt, daß al-Juzjani vor lauter Liebe nicht imstande sein würde, die verhaßte Wahrheit zu erkennen. Robs Beine gaben nach. Er nahm Ibn Sinas Hände in die seinen, und sie blickten einander lange an. »Ihr seid noch stark, Meister. Ihr müsst Eure Gedärme offenhalten, um sie vor einer Stauung der schwarzen Galle zu schützen, die das Krebswachstum fördert.«

Der Arzt aller Ärzte nickte.

»Ich bete, daß meine Diagnose falsch ist«, fügte Rob hinzu. Ibn Sina schenkte ihm ein sanftes Lächeln. »Beten kann nie schaden.« Rob sagte, er würde ihn gern bald besuchen und einen Abend beim Spiel des Schahs mit ihm verbringen, worauf der alte Mann erklärte, Jesse ben Benjamin sei in seinem Haus immer willkommen.

Grüne Melonen

An einem trockenen, staubigen Tag gegen Ende des Sommers tauchte aus dem Dunst im Nordosten eine Karawane von hundertsechzehn Kamelen auf. Ein Mann namens Khendi, der oberste Treiber der Karawane, wurde in den Palast gerufen, um dem Schah persönlich die Einzelheiten seiner Nachrichten vorzutragen.

Vor mehreren Monaten war Mahmud, der Sultan von Ghazna, schwer erkrankt. Er hatte Fieber und so viel Eiter in der Brust, daß sich eine breite, weiche Schwellung auf seinem Rücken bildete. Sein Arzt hatte entschieden, daß der Eiter aus dieser Geschwulst abgezogen werden müsse, wenn Mahmud am Leben bleiben wolle.

Die anwesenden Höflinge stellten Khendi eine Menge Fragen. »Euer Gnaden, ich bin Anführer der Treiber und kein hakim!« rief er verzweifelt. »Ich kann keine dieser Fragen beantworten. Ich weiß nur eines.«

»Und zwar?«

»Drei Tage nachdem sie ihn aufgeschnitten hatten, war der Sultan von Ghazna tot.«

Alä und Mahmud waren zwei junge Löwen gewesen. Beide waren früh als Nachfolger eines starken Vaters auf den Thron gekommen, und einer hatte den anderen im Auge behalten, denn sie wußten, daß sie eines Tages aneinandergeraten würden und daß Ghazna Persien oder Persien Ghazna verschlingen würde.

Doch dazu war es nie gekommen. Sie hatten einander vorsichtig umkreist, und gelegentlich hatten ihre Streitkräfte kleine Geplänkel ausgetragen, aber jeder hatte gewartet, weil er spürte, daß die Zeit für einen richtigen Krieg noch nicht gekommen war. Doch der Schah hatte

oft von Mahmud geträumt. Immer war es der gleiche Traum, bei dem ihre Armeen zusammengezogen und kampfbegierig warteten und Alä allein auf Mahmuds wilde afghanische Stämme zuritt, um dem Sultan die Aufforderung zum Einzelkampf zuzurufen, so wie Ardashir einst Ardewan herausgefordert hatte, damit der Überlebende als wahrer, erwiesener König der Könige regieren konnte.

Nun hatte Allah eingegriffen, und der Shahansha würde Mahmud nie im Kampf gegenüberstehen. In den vier Tagen nach der Ankunft der Kamelkarawane kehrten drei erfahrene und verläßliche Spione einzeln nach Isfahan zurück. Sie verbrachten einige Zeit im Hause des Paradieses, und aus ihren Berichten gewann der Schah allmählich ein klares Bild über die Vorgänge in der Hauptstadt von Ghazna. Unmittelbar nach dem Tod des Sultans hatte Mahmuds Sohn Muhammad versucht, den Thron zu besteigen, war aber von seinem Bruder Abu Said Masüd daran gehindert worden, einem jungen Krieger, hinter dem das gesamte Heer stand. Innerhalb von Stunden war Muhammad ein gefesselter Gefangener, und Masüd war zum Sultan erklärt worden. Mahmuds Begräbnis wurde zu einem barbarischen Ereignis: teils ein grimmiger Abschied und teils eine wilde Feier. Als es zu Ende war, hatte Masüd seine Stammeshäuptlinge zusammengerufen und erklärt, daß er tun würde, was sein Vater nie getan hatte: Das Heer erfuhr, daß es schon in wenigen Tagen gegen Isfahan marschieren würde.

Das war eine Nachricht, die Alä endlich veranlaßte, das Haus des Paradieses zu verlassen.

Die geplante Invasion war ihm aus zwei Gründen nicht unwillkommen. Masüd war ungestüm und unerfahren, und Alä freute sich auf die Gelegenheit, seine Feldherrnkunst gegen die dieses unreifen Bürsch-chens auszuspielen.

Er hielt militärische Besprechungen ab, die zu kleinen Feiern wurden, mit Wein und Frauen, die zur richtigen Zeit erschienen, wie in alten Zeiten. Alä und seine Befehlshaber brüteten über ihren Karten und sahen, daß es von Ghazna nur eine Route nach Isfahan gab, die für eine große Streitmacht geeignet war. Masüd mußte die Lehmhügel und Vorberge nördlich der Dasht-i-Kavir überqueren und die große Wüste umgehen, bis sein Heer sich tief in Hamadhän befand. Von dort würden sie sich nach Süden wenden.

Alä beschloß, daß sein Heer nach Hamadhän marschieren und sich ihnen dort stellen sollte, bevor sie sich auf Isfahan stürzen konnten.

Die Vorbereitungen des Feldzugs Aläs waren der einzige Gesprächsstoff, dem man nicht einmal im maristan entgehen konnte, obwohl Rob es versuchte. Er dachte nicht an den bevorstehenden Krieg, weil er nicht an ihm teilnehmen wollte. Seine Schuld Alä gegenüber, so beträchtlich sie auch gewesen sein mochte, war bezahlt. Der Einsatz in Indien hatte ihn davon überzeugt, daß er nie wieder Soldat spielen wollte. Er machte sich also Sorgen und wartete auf eine königliche Aufforderung, die nicht kam.

Inzwischen arbeitete er schwer. Qasims Unterleibsschmerzen waren wieder verschwunden; zur Freude des ehemaligen Treibers verschrieb ihm Rob weiterhin eine tägliche Portion Wein, schickte ihn aber zu seinen Pflichten im Leichenhaus zurück. Rob sah sich mit mehr Patienten denn je konfrontiert, denn al-Juzjani hatte viele Aufgaben des Arztes aller Ärzte übernommen und einen Teil seiner Patienten Rob überantwortet.

Rob erfuhr zu seiner Verwunderung, daß Ibn Sina sich freiwillig als Leiter des Ärztekontingents gemeldet hatte, das Aläs Heer Richtung Norden begleiten sollte. Al-Juzjani, der seinen Groll überwunden hatte oder zumindest verbarg, berichtete es ihm. »Ein Frevel, eine solche Persönlichkeit in den Krieg zu schicken!« Al-Juzjani zuckte mit den Achseln. »Der Meister möchte noch einen letzten Feldzug mitmachen.« »Er ist alt und wird ihn nicht überleben.«

»Er hat schon immer alt ausgesehen, ist aber noch nicht einmal sechzig.« Al-Juzjani seufzte bekümmert. »Er hofft wahrscheinlich, daß ihn ein Pfeil oder Speer treffen wird. Es wäre keine Tragödie, einen rascheren Tod zu erleiden als den, mit dem er zu rechnen hat.« Ibn Sina verlautbarte bald, daß er eine Gruppe von elf Chirurgen ausgewählt habe, die mit ihm die persische Armee begleiten würden. Nun erhielt al-Juzjani den Titel Arzt aller Ärzte verliehen. Es war eine grausame Beförderung, weil sie der Ärzteschaft klarmachte, daß Ibn Sina nicht mehr ihr Leiter war.

Zu Robs Überraschung und Bestürzung übertrug man ihm einige der Pflichten, die al-Juzjani von Ibn Sina übernommen hatte, obwohl es

erfahrenere Ärzte gab, die al-Juzjani hätte dazu bestimmen können Auch waren fünf von den zwölf Ärzten, die zum Heer gingen, Lehrer und man erwartete nun von ihm, daß er öfter eine Vorlesung hielt und unterrichtete, wenn er seine Patienten im maristan besuchte. Außerdem wurde er zum ständigen Mitglied der Prüfungskommission ernannt und ersucht, im Komitee mitzuwirken, das die Zusammenarbeit zwischen Krankenhaus und Schule überwachte. Die erste Zusammenkunft des Komitees, bei der er anwesend war, fand in dem prächtigen Haus von Rotun ben Nasr, dem Leiter der Schule, statt. Es war eine ehrenamtliche Tätigkeit, und Rotun gab sich nicht die Mühe, der Versammlung beizuwohnen, aber er hatte sein Haus zur Verfügung gestellt und angeordnet, daß den teilnehmenden Ärzten eine ausgezeichnete Mahlzeit aufgetischt wurde.

Der erste Gang bestand aus Schnitten von großen Melonen mit grünem Fleisch, das von besonderem Geschmack und zarter Süße war. Rob hatte solche Melonen nur einmal zuvor gegessen und wollte eine Bemerkung darüber machen, als sein ehemaliger Lehrer Jalal-al-Din grinsend meinte: »Wir können der neuen Frau Rotun ben Nasrs für die köstlichen Früchte danken.« Rob verstand nichts.

Der Knocheneinrichter zwinkerte. »Rotun ben Nasr ist General und ein Vetter des Schahs, wie Ihr vielleicht wißt. Alä war vorige Woche hier zu Besuch, um den Feldzug zu planen, und dabei hat er zweifellos die jüngste Frau des Hauses kennengelernt. Sobald der königliche Samen versenkt ist, folgen immer als Geschenk Aläs besondere Melonen. Und wenn der Samen einen männlichen Sproß treibt, dann gibt es als fürstliches Geschenk einen Teppich mit dem Samaniden-Wappen.«

Es war Rob nicht mehr möglich, bei der Mahlzeit sitzen zu bleiben, sondern er gab vor, daß er sich nicht wohl fühle, und verließ die Versammlung. Tief erschüttert ritt er geradewegs zu seinem Haus in der Jehuddijeh. Rob James spielte draußen im Garten mit seiner Mutter. Der Säugling lag in der Wiege, und Rob hob Tarn hoch, um ihn zu betrachten.

Ein kleines Neugeborenes, dasselbe Kind, das er geliebt hatte, als er an diesem Morgen das Haus verlassen hatte.

Er legte den Knaben wieder in die Wiege, ging zu der Sandelholztruhe, nahm den vom Schah geschenkten Teppich heraus und breitete ihn neben der Wiege auf dem Boden aus.

Als er aufblickte, stand Mary im Türrahmen. Sie blickten einander an.

j)a wurde die Vermutung zur Gewißheit, und der Schmerz, aber auch das Mitleid, das er für sie empfand, zerrissen ihm das Herz.

Er trat zu ihr und wollte sie in die Arme schließen, doch seine Hände umklammerten sie. Er versuchte zu sprechen, doch er brachte kein Wort heraus. Sie riß sich von ihm los und knetete ihre Oberarme.

»Deinetwegen sind wir noch hier. Meinetwegen sind wir noch am Leben«, sagte sie verächtlich. Die Traurigkeit in ihrem Blick hatte sich in Kälte, ins Gegenteil von Liebe, verwandelt.

Am Nachmittag zog sie aus dem gemeinsamen Zimmer aus. Sie kaufte einen schmalen Strohsack und legte ihn zwischen die Schlafstellen ihrer Kinder neben den Teppich des Samaniden-Fürsten.

Qasims Kammer

Er konnte diese Nacht nicht schlafen, fühlte sich wie behext, als wäre ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden, und er müßte einen weiten Weg durch die Luft zurücklegen. Es wäre nicht ungewöhnlich gewesen, wenn jemand in seiner Lage Mutter und Kind getötet hätte, aber er wußte, daß Tarn und Mary im Raum nebenan vor ihm sicher waren. Er wurde zwar von verrückten Gedanken geplagt, aber er war nicht verrückt.

Am Morgen stand er auf und ging in den maristan, wo auch nicht alles in Ordnung war. Vier Pfleger hatte Ibn Sina als Bahrenträger und zum Einsammeln der Verwundeten ins Heer übernommen, und al-Juzjani hatte noch keinen Ersatz gefunden, der seinen Anforderungen entsprach. Die im maristan verbliebenen Pfleger waren überarbeitet und mürrisch. Rob besuchte die Patienten und kam seinen ärztlichen Verpflichtungen ohne Hilfe nach. Manchmal reinigte er etwas, das ein Pfleger aus Zeitmangel versäumt hatte, oder er wusch ein fiebriges Gesicht oder holte Wasser, um einen trockenen, durstigen Mund anzufeuchten. Er stieß auf Qasim Ibn Sahdi, der bleich und stöhnend dalag; der

Boden neben ihm war von Erbrochenem beschmutzt. Qasim, dem übel geworden war, hatte seine Kammer neben dem Leichenhaus verlassen und von sich aus einen Platz als Kranker eingenommen weil er wußte, daß Rob ihn auf seinem Weg durch den maristan finden würde. Er hatte in der letzten Woche mehrere Anfälle gehabt.

»Warum habt Ihr es mir nicht gemeldet?«

»Herr, ich hatte meinen Wein. Ich habe ihn getrunken, und der Schmerz verging. Doch jetzt hilft der Wein auch nicht mehr, Hakim, und ich kann den Schmerz kaum ertragen.«

Seine Stirn fühlte sich fiebrig an, aber nicht brennend heiß, und sein Unterleib war wohl empfindlich, aber weich. Manchmal keuchte er vor Schmerzen wie ein Hund, seine Zunge war belegt, und sein Atem roch übel.

»Ich werde Euch einen Trunk zubereiten.« »Allah wird Euch dafür segnen, Herr!«

Rob ging sofort zur Apotheke. Er mischte Betäubungsmittel und buing in den Rotwein, den Qasim so liebte, dann eilte er zu seinem Patienten zurück. Die Augen des alten Hüters des Leichenhauses waren von ängstlicher Ahnung erfüllt, als er das Gebräu trank. Als Rob den maristan verließ, sah er, daß die ganze Stadt auf den Beinen war, um die Soldaten zu verabschieden. Er folgte den Leuten auf die maidans, wo das Gedränge der Menge fürchterlich war, nicht weniger das Stimmengewirr.

Rob bekam Ibn Sina nicht zu Gesicht, dafür erschienen die königlichen Musikanten. Einige bliesen auf langen, goldenen Trompeten, andere schlugen Silberglöckchen und kündigten das Herannahen des großen Elefanten Aläs an. Der mahout war weiß gekleidet, und der Schah trug blaue Seide und einen roten Turban, das war seine Kriegskleidung.

Als er seine Hand königlich grüßend erhob, wußten die Menschen, daß ihnen damit Ghazna versprochen wurde.

Rob betrachtete den steif aufgerichteten Rücken des Schahs. In diesem Augenblick war Alä nicht Alä: Er war Xerxes, Darius und Cyrus der Große in einer

Person.

Wir sind vier Freunde. Wir sind vier Freunde. Rob schwindelte. Er dachte an die Gelegenheiten, bei denen es so leicht gewesen wäre, ihn zu töten. Er wandte sich ab, entfernte sich aus der Menge und ging mit leerem Blick, bis er zum Ufer des Zajandeh, des Flusses des Lebens, kam.

£r zog den massiven Goldring vom Finger, den ihm Alä für seine Verdienste in Indien geschenkt hatte, und warf ihn in das braune Wasser.

Während die Menge in der Ferne jubelte und schrie, ging er in den rriaristan zurück.

Qasim hatte eine große Dosis von dem Trunk erhalten, war aber offensichtlich sehr krank. Er zitterte, obwohl es ein warmer Tag war, und Rob zog eine Decke über ihn, die bald schweißdurchtränkt war. Als Rob Qasims Gesicht berührte, war es glühend heiß. Am späten Nachmittag wurden die Schmerzen so schlimm, daß der alte Mann aufschrie, als Rob seinen Unterleib berührte. Rob ging nicht nach Hause. Er blieb im maristan und kehrte oft an Qasims Lager zurück.

Am Abend trat mitten in Qasims Qualen plötzlich Erleichterung ein. Eine Zeitlang ging sein Atem ruhig und gleichmäßig; er schlief. Rob schöpfte schon Hoffnung, aber nach wenigen Stunden kam das Fieber wieder, sein Körper wurde immer heißer, sein Puls jagte und war zeitweise kaum überprüfbar. Rob ergriff seine Hände - und verlor den Mut. Er ließ sie nicht mehr los, denn nun konnte er Qasim nur noch seine Gegenwart und den geringen Trost einer menschlichen Berührung bieten. Qasims rasselnder Atem wurde immer langsamer und hörte dann ganz auf. Rob hielt noch immer die schwieligen Hände, als Qasim das Leben ausgehaucht hatte.

Er schob einen Arm unter die knotigen Knie und den anderen unter die nackten, knochigen Schultern und trug den Toten ins Leichenhaus. Dann betrat er die danebenliegende Kammer. Sie stank; er würde dafür sorgen müssen, daß sie gereinigt wurde. Er setzte sich zwischen Qasims spärliche Habseligkeiten.

Es war nach Mitternacht, und fast das ganze Krankenhaus schlief. Dann und wann schrie ein Patient auf oder weinte. Niemand sah Rob, als er Qasims armseligen Besitz aus dem kleinen Raum entfernte. Während er den Holztisch hineintrug, begegnete er einem Pfleger. Der aber nahm von ihm gar nicht Notiz. Er schaute weg und hastete an dem hakim vorbei, damit dieser ihm nicht noch mehr Arbeit aufbürden konnte.

In der Kammer legte Rob unter zwei Beine des Tisches ein Brett, so daß er schräg stand, und unter die niedrige Kante stellte er eine große Waschschüssel. Er brauchte genügend Licht und schlich im maristan herum, um sich vier Lampen und ein Dutzend Kerzen zu besorgen, die er um den Tisch anordnete, als wäre dieser ein Altar.

Dann holte er Qasim aus dem Leichenhaus und legte ihn auf den Tisch. Schon als Qasim im Sterben lag, hatte Rob gewußt, daß er das Verbot

brechen würde.

Doch nun war der Augenblick gekommen, und das Atmen fiel ihm schwer. Er war kein altägyptischer Einbalsamierer, der einen verachteten paraschisten herbeirufen konnte, damit dieser den Körper öffnete und die Sünde auf sich nahm. Er mußte die Tat und die Sünde, wenn es eine war, auf sich nehmen.

Er ergriff ein gebogenes chirurgisches Messer, ein sogenanntes Bistouri, machte einen Einschnitt und schlitzte den Bauch von der Leistengegend bis zum Brustbein auf. Das Fleisch leistete keinen Widerstand und begann leicht zu bluten.

Rob wußte nicht, wie er vorgehen sollte, und löste zuerst die Haut vom Brustbein. Dann verlor er den Mut. Er hatte in seinem ganzen Leben nur zwei unvergleichliche Freunde gehabt, und beide waren gestorben, weil man ihren Körper grausam verletzt hatte. Wenn er ertappt wurde, würde er auf die gleiche Weise sterben, aber er würde außerdem noch geschunden werden, die schlimmste Marter. Er verließ die kleine Kammer und schlich nervös durch das Krankenhaus. Doch die Menschen, die noch wach waren, beachteten ihn nicht. Er hatte das Gefühl, als habe sich der Boden unter ihm geöffnet, und er gehe auf Luft, doch nun glaubte er, tief in einen Abgrund zu blicken. Er holte eine Knochensäge mit kleinen Zähnen aus dem kleinen Operationsraum und sägte das Brustbein durch, indem er die Wunde nachahmte, die Mirdin in Indien davongetragen hatte. Am unteren Ende der Öffnung setzte er einen Schnitt von der Leistengegend zur Innenseite des Oberschenkels und erhielt so einen breiten, unförmigen Lappen, den er zurückschlagen konnte, womit er die Bauchhöhle bloßlegte. Unter der rosa Bauchhaut bestand die Bauchdecke aus rotem Fleisch und weißlichen Sehnensträngen, und sogar im Gewebe des mageren Qasim gab es gelbe Fettkügelchen. Der dünne Innenbelag der Bauchwand war wund und mit einer

geronnenen Substanz bedeckt. Zu Robs Verblüffung schienen die Organe gesund zu sein bis auf den Dünndarm, der gerötet und an vielen Stellen entzündet war. Selbst die kleinsten Gefäße waren so mit Blut gefüllt, daß sie aussahen, als wären sie voll roten Wachses. Ein kleiner, sackähnlicher Teil des Darmes war ungewöhnlich schwarz und haftete an der Bauchdecke. Als er versuchte, die beiden durch vorsichtiges Ziehen voneinander zu trennen, riß ein Häutchen, und zwei oder drei Löffelvoll Eiter kamen zum Vorschein. Das mußte die Infektion gewesen sein, die Qasim so starke Schmerzen bereitet hatte. Rob hegte den Verdacht, daß Qasims Qualen aufgehört hatten, als das kranke Gewebe aufgebrochen war. Eine dünne, dunkle und übelriechende Flüssigkeit hatte sich an der entzündeten Stelle in der Bauchhöhle angesammelt. Er tauchte die Fingerspitze hinein und roch neugierig daran, denn das konnte das Gift sein, das Fieber und Tod verursacht hatte.

Er wollte noch andere Organe untersuchen, hatte aber zuviel Angst. Also nähte er die Bauchdecke sorgfältig zu, damit Qasim Ibn Sahdi als ganzer Mensch aus dem Grab zum Leben erweckt werden konnte, falls die heiligen Männer recht hatten. Dann kreuzte er die Handgelenke, band sie zusammen und schlang ein großes Tuch um die Lenden des alten Mannes. Er wickelte den Toten sorgfältig in ein Leichentuch und trug ihn wieder ins Leichenhaus. Am Morgen würde er begraben werden.

»Ich danke Euch, Qasim«, flüsterte er ernst. »Ruhet in Frieden!« Er nahm eine Kerze in die Bäder des maristan mit, schrubbte sich sauber und wechselte seine Kleidung. Aber er hatte den Eindruck, daß der Geruch des Todes noch immer an ihm haftete, und besprühte deshalb seine Hände und Arme mit Parfüm.

Draußen in der Dunkelheit wollte die Furcht noch immer nicht von ihm weichen. Er konnte selbst nicht glauben, was er da gewagt hatte. Es dämmerte beinahe, als er sich auf sein Lager legte. Am Morgen schlief er noch tief, und Marys Gesicht verwandelte sich zu Stein, als sie glaubte, den Blumenduft einer anderen Frau einzuatmen, der ihr Haus verpestete.

Ibn Sinas Irrtum

Jussuf-al-Gamal zog Rob in das wissenschaftliche Dunkel der Bibliothek. »Ich möchte Euch einen Schatz zeigen.«

Es war ein dickes Buch, eine offensichtlich neue Kopie von Ibn Sinas Meisterwerk »Der Kanon der Medizin«.

»Dieses Exemplar ist eine von einem mir bekannten Schreiber angefertigte Abschrift des Originals aus dem Besitz des Hauses der Weisheit. Sie ist zu verkaufen.«

Rob ergriff das Buch. Es war mit viel Liebe angefertigt, die Buchstaben standen schwarz und klar auf jeder der elfenbeinfarbenen Seiten. Es war ein Kodex, ein Buch mit vielen Lagen, großen Stücken aus Pergament, die gefaltet und dann so geschnitten worden waren, daß jede Seite unbehindert umgeblättert werden konnte. Die Lagen waren zwischen zwei Deckeln aus weich gegerbtem Schafleder sorgfältig eingenäht. »Ist es teuer?« Jussuf nickte. »Wieviel?«

»Er will es für achtzig Silber-bestis verkaufen, weil er Geld braucht.« Rob schob die Unterlippe vor, weil er wußte, daß er nicht soviel Geld besaß. Mary verfügte noch über große Beträge, das Geld ihres Vaters, aber er und Mary waren nicht mehr... Rob schüttelte den Kopf.

Jussuf seufzte. »Ich hatte das Gefühl, daß es Euch gehören sollte.« »Wann muß es verkauft werden?«

Jussuf hob die Schultern. »Ich kann es noch zwei Wochen behalten.« »Also gut. Hebt es auf!«

Der Bibliothekar sah ihn zweifelnd an. »Werdet Ihr dann das Geld haben, Hakim?« »Wenn es Gottes Wille ist.«

Jussuf lächelte. »Ja, Imshallah.«

Er brachte an der Tür der Kammer neben dem Leichenhaus ein kräftiges Schließband und ein schweres Schloß an. Dann trug er einen zweiten Tisch hinein, dazu einen Wetzstahl, eine Gabel, ein kleines Messer, mehrere scharfe Skalpelle und einen Grabstichel, den die

Steinmetzen Meißel nennen, ein Zeichenbrett, Papier, Zeichenkohle und Graphitstifte, Lederriemen, Ton und Wachs, Federkiele und ein Tintenfaß.

Eines Tages nahm er mehrere kräftige Studenten zum Markt mit, und sie brachten mit einiger Mühe ein frisch geschlachtetes Schwein zurück. Niemand schien etwas daran zu finden, daß er es in dem kleinen Raum sezieren wollte.

In der darauffolgenden Nacht trug er allein die Leiche einer jungen Frau in die Kammer und legte sie auf den leeren Tisch. Sie war wenige Stunden zuvor gestorben und hatte Melia geheißen. Diesmal war er eifriger, und er hatte weniger Angst. Seiner Meinung nach hatte er Arzt werden dürfen, um zum Wohl von Gottes edelster Schöpfung zu wirken. Der Allmächtige würde es ihm bestimmt nicht übelnehmen, wenn er sein Wissen über ein so kompliziertes und interessantes Geschöpf erweiterte.

Er schnitt das Schwein und die Frau auf, weil er die Anatomien der beiden sorgfältig miteinander vergleichen wollte. Kaum hatte er seine doppelte Untersuchung an jener Körperstelle begonnen, an der die Seitenkrankheit ausbricht, hielt er schon inne. Der Blinddarm des Schweins, der beuteiförmige Schlauch, mit dem der Dickdarm begann, war stattlich, fast achtzehn Zoll lang. Der Blinddarm der Frau aber war winzig, nur zwei oder drei Zoll lang und nur so dick wie Robs kleiner Finger... Und siehe da! An diesem kleinen Schlauch hing noch etwas. Es sah aus wie ein kleiner rosa Wurm, den man im Garten entdeckt, aufgehoben und in den Bauch der Frau gesteckt hatte.

Das Schwein auf dem anderen Tisch wies keinen Wurmfortsatz auf, und Rob hatte an einem Schweinedarm auch noch nie einen ähnlichen Fortsatz bemerkt. Zuerst glaubte er, daß die geringe Größe des Blinddarms der Frau eine Anomalie und der wurmartige Fortsatz eine seltene Geschwulst oder eine andere Wucherung war. Er machte Melias Leiche ebenso sorgfältig für die Bestattung zurecht wie die Qasims und trug sie wieder ins Leichenhaus. Doch in den folgenden Nächten öffnete er die Leichen eines jungen Bürschchens, einer Frau mittleren Alters und eines sechs Wochen alten Knaben. In jedem Fall stellte er mit zunehmender Erregung fest, daß der gleiche winzige Wurmfortsatz vorhanden war. Dieser Wurm

war ein Teil jedes Menschen - ein winziger Beweis dafür, daß die Organe des Menschen nicht die gleichen waren wie die eines Schweines. O du verlogener Ihn Sma. »Du verlogener alter Mann«, flüsterte er.

»Du hast nicht recht!«

Trotz der Schriften des Celsus, trotz all dessen, was man tausend Jahre lang gelehrt hatte, war der Mensch einzigartig. Und wenn dem so war, wer wußte, wie viele wunderbare Geheimnisse entdeckt und gelöst werden konnten, indem man einfach in den Leichen von Menschen nachschaute?

Sein ganzes Leben lang war Rob allein und einsam gewesen, bis er Mary kennengelernt hatte. Und nun war er wieder einsam und konnte es nicht ertragen. Als er eines Nachts nach Hause kam, legte er sich neben sie zwischen die beiden schlafenden Kinder. Er traf keine Anstalten, sie zu berühren, doch sie wandte sich wie ein wildes Geschöpf um. Ihre Hand traf sein Gesicht mit einem brennenden Schlag. Sie war eine starke Frau und konnte einem durchaus Schmerz zufügen.

Er ergriff ihre Hände und hielt sie fest. »Du Närrin!«

»Komm nicht nach deinen persischen Huren zu mir!«

Ihm wurde klar, daß es das Parfüm sein mußte. »Ich verwende es, weil ich im maristan Tiere seziert habe.«

Einen Moment lang schwieg sie, versuchte jedoch, sich zu befreien. Er spürte den vertrauten Körper an dem seinen, während sie sich wehrte, und der Duft ihres roten Haares stieg ihm in die Nase.

»Mary!«

Sie beruhigte sich; vielleicht lag es an seiner Stimme. Als er sie küßte, hätte es ihn nicht überrascht, wenn sie ihn in die Lippen oder in den Hals gebissen hätte, doch sie tat nichts dergleichen. Er brauchte einen Augenblick, bis er begriff, daß sie seinen Kuß erwiderte. Er ließ ihre Hände los, und es tat ihm unendlich wohl, ihre Brüste berühren zu können, deren Warzen steif waren, aber nicht wie bei den Toten. Er konnte nicht unterscheiden, ob sie weinte oder nur erregt war, sie stöhnte leise. Er kostete ihre milchigen Brustwarzen und saugte an ihrem Nabel.

Als er in sie eindrang, bewegten sie sich gegeneinander wie klatschende Hände, stießen und schlugen, als versuchten sie, etwas zu zerstören, dem sie nicht gewachsen waren. Sie trieben den djinni aus, den Dämon. Ihre Nägel bohrten sich in seinen Rücken, als sie sich ihm entgegenwarf. Nur das leise Stöhnen und Klatschen der Paarung war zu hören, bis sie endlich aufschrie. Gleich darauf schrie er auf, dann brüllte Tarn, und Rob James erwachte schreiend. Alle vier lachten oder weinten, die Erwachsenen taten beides zugleich. Schließlich kehrte wieder Ruhe ein. Der kleine Rob James schlief ein, der Säugling wurde an die Brust genommen, und während sie ihn stillte, erzählte sie Rob, wie Ibn Sina zu ihr gekommen war und ihr geraten hatte, was sie tun müsse. Und so hörte er, wie seine Frau und der alte Mann ihm das Leben gerettet hatten.

Er war überrascht und erschüttert, als er von Ibn Sinas Eingreifen hörte. Was den Rest betraf, entsprach dieser ungefähr dem, was er angenommen hatte, und nachdem auch Tarn eingeschlafen war, schloß er sie in seine Arme und schwor ihr, daß sie auf ewig die einzige für ihn sei. Er strich ihr rotes Haar glatt und küßte ihren weißen Nacken, an den sich keine Sommersprossen wagten. Als sie einschlummerte, starrte er zur dunklen Decke hinauf.

Tarn sah Robs verschwundenem Bruder William Stewart erstaunlich ähnlich. Vor und nach der Zeit, die er in Ibn Sinas Auftrag in Idhaj verbracht hatte, hatte er mit Mary oft geschlafen. Wer konnte sagen, ob Tarn nicht die Frucht seines eigenen Samens war? Einige Wochen später liebten er und Mary einander zärtlich und liebevoll.

Bei aller Entspannung war es aber nicht das gleiche wie einst. Alles unterliegt dem Wandel, wurde ihm klar. Sie war nicht mehr die junge Frau, die ihm so vertrauensvoll ins Weizenfeld gefolgt war, und er war nicht mehr der junge Mann, der sie dorthin geführt hatte. Und das war nicht die kleinste der Schulden, die er Alä Shabansba unbedingt zurückzahlen wollte.

Der durchsichtige Mann

Im Osten erhob sich eine Staubwolke von solchen Ausmaßen, daß die Beobachtungsposten mit Bestimmtheit eine riesige Karawane oder

vielleicht sogar mehrere große zu einem einzigen Zug vereinigte Karawanen erwarteten.

Statt dessen näherte sich der Stadt eine Armee. Als sie die Tore erreichte, konnte man erkennen, daß die Soldaten Afghanen aus Ghazna waren. Sie lagerten außerhalb der Mauern, und ihr Befehlshaber, ein junger Mann, der ein blaues Gewand und einen schneeweißen Turban trug, ritt in Begleitung von vier Offizieren nach Isfahan hinein. Niemand hielt ihn auf. Aläs Heer war nach Hamadhän gezogen, und die Tore wurden von einer Handvoll älterer Soldaten bewacht, die beim Herannahen des fremden Heeres verschwunden waren, so daß Sultan Masüd — um ihn handelte es sich - unangefochten in die Stadt einritt. Vor der Freitagsmoschee stiegen die Afghanen ab und traten ein, wobei sie sich der Gemeinde der Gläubigen beim dritten Gebet anschlössen, um sich dann mehrere Stunden lang mit dem Imam Musa Ibn Abbas und seinen mullahs zurückzuziehen. Die meisten Einwohner von Isfahan hatten Masüd nicht gesehen, aber als sich die Anwesenheit des Sultans herumsprach, waren Rob und al-Juzjani unter jener Menge, die auf die Mauer hinaufstieg und auf die Soldaten von Ghazna hinunterblickte. Es waren kräftige Männer in zerlumpten Hosen und langen, losen Hemden, die diszipliniert und ohne Gewalttätigkeiten warteten, während ihr Anführer sich in der Moschee aufhielt. Rob fragte sich, ob sich jener Afghane unter ihnen befand, der sich beim chatir so wacker gegen Karim gehalten hatte.

»Was kann Masüd von den mullahs wollen?« fragte er al-Juzjam. »Zweifellos haben ihm seine Spione von Aläs Schwierigkeiten mit der Geistlichkeit berichtet. Er hat bestimmt vor, bald hier zu herrschen, und er verhandelt deshalb mit den mullahs, um sich ihres Segens und Gehorsams zu versichern.«

Vermutlich war es so, denn Masüd und seine Offiziere kehrten bald zu ihren Truppen zurück, und es kam zu keiner Plünderung. Der Sultan war jung, kaum älter als ein Knabe, aber er und Alä hätten verwandt sein können: Sie hatten das gleiche stolze, grausame Raubvogelgesicht. Er nahm den sauberen weißen Turban ab, der dann sorgfältig verstaut wurde, und setzte einen schmutzigen schwarzen Turban auf, bevor er sich wieder in Marsch setzte.

Die Afghanen ritten nach Norden, sie folgten der Route von Aläs Heer.

»Der Schah hat sich geirrt, als er annahm, sie würden über Hamadhän kommen.«

»Ich glaube, daß sich die Hauptmacht aus Ghazna bereits in Hamadhän befindet«, sagte al-Juzjani langsam.

»Jedenfalls macht es keinen Unterschied, ob Alä Masüd besiegt oder Masüd Alä. Wenn der Imam Qandrasseh wirklich die Seldschuken gegen Isfahan führen will, werden letzten Endes weder Masüd noch Alä die Oberhand behalten. Die Seldschuken sind schreckliche Krieger und so zahlreich wie der Sand am Meer.«

»Was wird aus dem maristan, wenn die Seldschuken kommen oder Masüd die Stadt einnimmt?«

Al-Juzjani zuckte mit den Achseln. »Das Krankenhaus wird wohl für einige Zeit geschlossen werden, und wir werden uns zunächst alle verstecken müssen. Dann werden wir aus unseren Löchern hervorkriechen, und das Leben wird weitergehen wie zuvor. Ich habe mit unserem Meister einem halben Dutzend Königen gedient.

Monarchen kommen und gehen, aber die Welt braucht weiterhin Ärzte.«

Rob bat Mary um Geld für das Buch, und »Der Kanon der Medizin« wurde sein Eigentum. Wenn er das Exemplar in der Hand hielt, war er von Ehrfurcht erfüllt, doch er verbrachte nicht allzuviel Zeit mit dem Lesen, denn Qasims Kammer zog ihn magisch an. Er sezierte mehrere Nächte in der Woche und begann, sein Zeichenmaterial zu verwenden. Er wollte noch mehr tun, war aber dazu nicht imstande, weil er ein Mindestmaß an Schlaf brauchte, um während des Tages im maristan zuverlässig zu sein.

In einer der Leichen, die er untersuchte - es handelte sich um einen jungen Mann, der bei einer Wirtshausrauferei erstochen worden war-, fand er den kleinen Wurmfortsatz vergrößert. Die Oberfläche war gerötet und rauh, und er nahm an, daß er das früheste Stadium der Seitenkrankheit vor sich hatte, während dem der Kranke die ersten, zeitweise auftretenden stechenden Schmerzen empfand. Nun konnte er sich ein Bild vom Verlauf der Krankheit vom Beginn bis zum Tod machen, und er schrieb in sein Patientenbuch: Die perforierende Seitenkrankheit wurde bei sechs Patienten beobachtet, die alle gestorben sind. Das erste deutliche Symptom der

Krankheit ist ein plötzlich eintretender Schmerz im Unterleib. Der Schmerz ist für gewöhnlich intensiv und in seltenen Fällen schwächer. Gelegentlich wird er von Schüttelfrost, aber öfter von Übelkeit und Erbrechen begleitet. Dem Schmerz im Unterleib folgt Fieber als nächstes gleichbleibendes Symptom. Beim Abtasten des rechten Unterbauches ist eine abgegrenzte Resistenz spürbar, wobei das ganze Gebiet oft druckempfindlich ist und die Bauchmuskeln angespannt und starr sind. Der Zustand wird von einem Fortsatz des Blinddarms hervorgerufen, der Ähnlichkeit mit einem dicken, rosa Wurm besitzt. Wenn dieses Organ entzündet oder infiziert ist, färbt es sich rot und dann schwarz, füllt sich mit Eiter und platzt schließlich, wobei sich sein Inhalt in die Bauchhöhle ergießt. In diesem Fall tritt der Tod rasch ein, für gewöhnlich innerhalb eines Zeitraums von einer halben Stunde bis zu sechsunddreißig Stunden nach dem Einsetzen des hohen Fiebers.

Er sezierte und untersuchte nur jene Teile des Körpers, die später vom Leichentuch bedeckt wurden. Das schloß die Füße und den Kopf aus, was ihn sehr unzufrieden machte, weil er sich nicht mehr damit abfinden mochte, das Gehirn eines Schweines zu untersuchen. Rob arbeitete geduldig. Er legte die Muskeln wie Draht und wie Seilstränge bloß und skizzierte sie. Manche begannen und endeten an einem Band, bei manchen waren die Muskelbänder flach, bei anderen rund, wieder andere hatten nur an einem Ende ein Band, und manche komplizierte Muskeln besaßen zwei Bänder, deren besonderer Wert offensichtlich darin bestand, daß im Falle einer Verletzung des einen das andere seine Aufgabe übernahm. Er fertigte Skizzen vom Aufbau, von der Form und Lage der Knochen und der Gelenke an, wobei er erkannte, daß solche anatomische Zeichnungen für die Behandlung von Verstauchungen und Brüchen von unschätzbarem Wert wären. Wenn er mit seiner Arbeit fertig war, hüllte er die Leichen ein, trug sie zurück und nahm seine Zeichnungen mit. Er hatte nicht mehr das Gefühl, in den gähnenden Abgrund seiner Verdammung zu blicken, aber ihm war immer bewußt, daß ihn ein schreckliches Ende erwartete, wenn er entdeckt wurde. Er hatte guten Grund für seine Furcht. Eines Morgens trug er den Körper einer älteren Frau, die erst vor kurzem gestorben war, aus dem Leichenhaus. Vor der Tür sah er

plötzlich einen Pfleger auf sich zukommen, der den Leichnam eines Mannes trug. Der Kopf der Frau baumelte, und ein Arm pendelte hin und her, als Rob stehenblieb und den Pfleger wortlos ansah, der höflich den Kopf beugte. »Soll ich Euch helfen, Hakimf'* »Sie ist nicht schwer.«

Er trat vor dem Pfleger ein, und sie legten die beiden Leichen nebeneinander, dann verließen sie gemeinsam das Leichenhaus. Das Schwein, das er sezierte, hatte innerhalb von nur vier Tagen einen Zustand der Zersetzung erreicht, der die Entfernung des Kadavers notwendig machte. Doch wenn er den menschlichen Magen und die Därme öffnete, setzte er viel 'schlimmere Gerüche frei als den unangenehm süßlichen Geruch von verwesendem Schweinefleisch. Trotz Seife und Wasser war der Raum von dem Geruch durchtränkt. Eines Morgens erstand er ein neues Schwein. Am selben Nachmittag ging er an Qasims Kammer vorbei und entdeckte den haäschi Davout Hosein, der an der versperrten Tür rüttelte. »Warum ist sie versperrt? Was ist da drinnen?« »Es ist der Raum, in dem ich ein Schwein seziere«, antwortete Rob ruhig.

Der stellvertretende Direktor der Schule blickte ihn angewidert an. In letzter Zeit betrachtete Davout Hosein alles mit äußerstem Mißtrauen, denn er hatte von den mullahs den Auftrag erhalten, im maristan und in der madrassa nach Verletzungen der islamischen Gesetze zu forschen.

Den ganzen Tag über bemerkte Rob Davout Hosein mehrmals in seiner Nähe. Am Abend ging er früh nach Hause. Als er am nächsten Morgen ins Krankenhaus kam, sah er, daß das Schloß an der Tür der Kammer aufgebrochen worden war. Drinnen lagen die Gegenstände da, wie er sie zurückgelassen hatte, aber nicht genauso. Das zugedeckte Schwein lag auf dem Tisch. Robs Instrumente waren durcheinandergebracht worden, doch es fehlte keines. Sie hatten nichts gefunden, dessen sie ihn bezichtigen konnten, und er konnte sich im Augenblick sicher fühlen. Aber die Einmischung führte zu unangenehmen Folgerungen: Er wußte, daß man ihn früher oder später überraschen würde. Doch angesichts der wichtigen Erkenntnisse und wunderbaren Zusammenhänge war er nicht bereit aufzuhören.

Er wartete zwei Tage, während der ihn der hadschi Hosein in Ruhe ließ. Dann war ein alter Mann im Krankenhaus gestorben, während Rob sich mit ihm unterhalten hatte. In dieser Nacht öffnete er den Körper, um zu sehen, was einen so friedlichen Tod bewirkt hatte, und stellte fest, daß die Arterie, die das Herz und die unteren Extremitäten versorgte, vertrocknet und zusammengeschrumpft wie ein welkes Blatt war. In der Leiche eines Kindes sah er, warum der Krebs so hieß, denn die gierige, bösartige Wucherung hatte ihre Klauen nach allen Richtungen ausgestreckt. In der Leiche eines anderen Mannes stellte er fest, daß die Leber nicht weich und satt rotbraun gefärbt war, sondern sich in ein gelbliches Organ von der Härte des Holzes verwandelt hatte. In der darauffolgenden Woche sezierte er eine seit mehreren Monaten schwangere Frau, und er skizzierte die Gebärmutter in dem sich wölbenden Bauch wie einen umgekehrten Trinkbecher, der das Leben umschloß, das sich in ihm entwickelte. In der Zeichnung verlieh er der Frau das Gesicht Despinas, die nun nie mehr ein Kind zur Welt bringen würde. Er nannte die Zeichnung »Die schwangere Frau«. Und eines Nachts saß er am Seziertisch und zeichnete einen jungen Mann, dem er Karims Züge gab; die Ähnlichkeit war unvollkommen, aber für jeden, der Karim geliebt hatte, erkennbar. Rob zeichnete seine Gestalt, als wäre die Haut aus Glas. Was er nicht selbst in dem Körper vor ihm auf dem Tisch sehen konnte, zeichnete er so, wie Galen es geschildert hatte. Er wußte, daß einige Details falsch waren, aber die Zeichnung war bemerkenswert, denn sie zeigte Organe und Blutgefäße, als blicke Gottes Auge durch das feste Fleisch des Menschen. Als die Zeichnung fertiggestellt war, signierte er sie triumphierend mit seinem Namen und dem Datum und nannte sie »Der durchsichtige Mann«.

Das Haus in Hamadhan

Während all dieser Zeit hatten sie keine Neuigkeiten vom Krieg erfahren. Und dann traf eines Nachmittags kurz vor dem vierten Gebet ein Reiter ein, der die schlimmste aller vorstellbaren Nachrichten brachte.

Wie al-Juzjani, als Masüd in Isfahan eine Marschpause einlegte, vermutet hatte, war dessen Hauptmacht schon auf die Perser gestoßen und griff sie an. Masüd hatte sein Heer unter den zwei ranghöchsten Generälen Sahl al-Hamdüni und Täsh Farräsh auf die ursprünglich erwartete Marschroute geschickt. Sie planten den Frontalangriff und führten ihn fehlerlos durch. Sie teilten ihre Streitkräfte in zwei Hälften, versteckten sich hinter dem Dorf al-Karaj und schickten die Späher aus. Als die Perser nahe genug herangekommen waren, schwenkte Sahl al-Hamdünis Truppe um eine Seite von al-Karaj herum, und Täsh Farräshs Leute kamen von der anderen Seite. Sie griffen Alä Shahan-shas Truppen mit zwei Flügeln an, die sich einander rasch näherten, bis das Heer von Ghazna sich entlang einer halbkreisförmigen Kampflinie wie ein Netz zusammengezogen hatte.

Nach der anfänglichen Überraschung kämpften die Pers.er mutig, aber sie waren zahlenmäßig unterlegen und ausmanövriert. Sie verloren ständig an Boden. Schließlich entdeckten sie, daß sich in ihrem Rücken eine weitere Truppe unter der Führung von Sultan Masüd näherte. Nun wurde der Kampf immer verzweifelter und wilder, und das Ende war unvermeidlich. Die überlegenen Streitkräfte der beiden Ghazna-Generäle standen den Persern gegenüber. Im Rücken hatten sie die zahlenmäßig kleinere, aber wilde Kavallerie des Sultans. Die Afghanen schlugen immer wieder zu und verschwanden, um an einem anderen Kampfabschnitt wieder aufzutauchen.

Als die Perser schließlich hinreichend geschwächt und demoralisiert waren, setzte Masüd unter dem Schutz eines Sandsturmes zum Totalangriff seiner drei Truppen an.

Am nächsten Morgen durchdrang die Sonne den über dem größten Teil des persischen Heeres wirbelnden Sand.

Einige seien entkommen, und es hieß, daß A\äShahansha sich unter ihnen befinde, berichtete ein Kurier, aber das sei nicht sicher. »Was ist aus Ibn Sina geworden?« fragte al-Juzjani. »Ibn Sina hat die Armee lange vor der Ankunft in al-Karaj verlassen, Hakim«, sagte der Kurier. »Er wurde von einer schrecklichen Kolik geplagt, die ihn hilflos niederwarf. Deshalb brachte ihn der jüngste Arzt seiner Feldschere, ein gewisser Bibi al-Ghüri, in die Stadt Hamadhan, wo Ibn Sina noch das Haus seines Vaters besitzt.« »Ich kenne das Haus«, bestätigte al-Juzjani.

Rob wußte, daß al-Juzjani hinreisen würde. »Laßt mich mitkommen!« bat er ihn.

Einen Moment lang sprach aus den Augen des älteren Arztes Eifersucht, doch die Vernunft siegte schnell, und er nickte. »Wir werden uns sofort auf den Weg machen«, beschloß er.

Sie mußten einen Umweg nach Osten in Kauf nehmen, um den Kämpfen auszuweichen, die, soviel sie wußten, noch in der Umgebung von Hamadhän ausgefochten wurden. Aber als sie die Hauptstadt erreichten, von der die Region ihren Namen hatte, wirkte Hamadhän verschlafen und friedlich. Nichts deutete auf das große Gemetzel hin, das sich in einer Entfernung von nur wenigen Meilen abgespielt hatte.

Während sie sich dem Haus näherten, fand Rob, daß es besser zu Ibn Sina paßte als der große Besitz von Isfahan. Das aus Lehm und Steinen erbaute Haus war wie die Kleidung, die Ibn Sina immer trug, unauffällig fast und schäbig, aber bequem.

Im Inneren jedoch schlug ihnen der Gestank der Krankheit entgegen. Al-Juzjani ersuchte Rob in einem Anflug von Eifersucht, vor dem Zimmer zu warten, in dem Ibn Sina lag. Einen Augenblick später vernahm Rob murmelnde Stimmen, dann zu seiner Überraschung und Bestürzung das unverkennbare Geräusch einer Ohrfeige.

Der junge Medicus namens Bibi al-Ghüri kam aus dem Zimmer. Sein Gesicht war weiß, und er weinte. Er eilte grußlos an Rob vorbei und stürzte aus dem Haus.

Bald darauf kam al-Juzjani, dem ein älterer mullah folgte, heraus. »Der junge Scharlatan hat Ibn Sina auf dem Gewissen. Als sie hier eintrafen, verabreichte al-Ghüri dem Meister Selleriesamen gegen die Blähungen. Aber statt zwei düng Samen gab er ihm fünf mescal, und seither hat Ibn Sina große Mengen von Blut ausgeschieden.«

Ein mescal entsprach sechs dung; das bedeutete, daß Ibn Sina das Fünfzehnfache der empfohlenen Dosis des starken Abführmittels verabreicht worden war.

Al-Juzjani sah Rob an. »Ich war Mitglied der Prüfungskommission, die al-Ghüri durchkommen ließ«, sagte er bitter. »Ihr konntet nicht in die Zukunft schauen und diesen Fehler voraussehen«, tröstete ihn Rob.

Aber al-Juzjani ließ sich nicht trösten. »Was für eine grausame Ironie des Schicksals«, klagte er, »daß der große Arzt von einem unwürdigen hakim getötet wird!« »Ist der Meister bei Bewußtsein?«

Der mullah nickte. »Er hat seine Sklaven freigelassen und sein Vermögen den Armen geschenkt.« »Darf ich hineingehen?« Al-Juzjani nickte.

Im Zimmer erschrak Rob. In den vier Monaten, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war Ibn Sinas Fleisch geschmolzen. Seine geschlossenen Augen waren eingesunken, sein Gesicht war eingefallen, und seine Haut wächsern.

Al-Ghüris Behandlung hatte ihm geschadet, aber sie hatte nur die unvermeidlichen Folgen des Magenkrebses beschleunigt. Rob ergriff Ibn Sinas Hände und spürte so wenig Leben in ihnen, daß es ihm schwerfiel zu sprechen. Ibn Sina öffnete die Augen. Sie bohrten sich in die seinen. Er fühlte, daß sie seine Gedanken lesen konnten, es war unnötig, ihm etwas vorzumachen.

»Warum ist es so eingerichtet, Meister«, fragte Rob bitter, »daß ein Arzt trotz allem, was er tun kann, nur ein Blatt im Wind ist, und die wahre Macht doch bei Allah liegt?«

Zu seiner Verblüffung leuchteten die verfallenen Züge auf. Und plötzlich wußte er, warum Ibn Sina zu lächeln versuchte. »Ist das das Rätsel?« fragte er schwach.

»Es ist das Rätsel... mein Europäer. Ihr müßt den Rest Eures Lebens damit verbringen... es zu lösen.« »Meister?«

Ibn Sina hatte die Augen wieder geschlossen und antwortete nicht. Eine Zeitlang saß Rob schweigend neben ihm. »Ich hätte, ohne zu heucheln, anderswohin gehen können«, sagte er auf englisch. »Ins westliche Kalifat -

nach Toledo, Cordoba. Aber ich hatte von einem Mann namens Avicenna gehört, dessen arabischer Name mich berührte wie ein Zauber und mich erschütterte wie ein Fieber: Abu Ali al-Hussein Ibn Abdullah Ibn Sina.«

Der Arzt aller Ärzte konnte nicht mehr als seinen Namen verstanden haben, doch er öffnete die Augen wieder, und seine Finger übten einen leichten Druck auf Robs Hände aus. »Um den Saum Eures Gewandes zu berühren.

Des größten Arztes der Welt«, flüsterte Rob.

Das war der einzige Vater, den seine Seele je gekannt hatte. Er vergaß alles, worüber er sich geärgert hatte, und war sich nur eines Wunsches bewußt: »Ich bitte um Euren Segen.«

Die stockenden Worte, die Ibn Sina sprach, waren reines Arabisch, aber es war nicht notwendig, daß Rob sie verstand. Er wußte, dass Ibn Sina ihn schon lange vorher gesegnet hatte.

Er küßte den alten Mann zum Abschied. Als er ging, hatte sich der mullah wieder neben das Bett gesetzt, um laut aus dem Koran zu lesen.

Der König der Könige

Rob ritt allein nach Isfahan zurück. Al-Juzjani war in Hamadhän geblieben und hatte ihm erklärt, daß er mit seinem sterbenden Meister während der letzten Tage allein sein wolle. »Wir werden Ibn Sina nie wiedersehen«, eröffnete Rob Mary sanft, als er nach Hause zurückkam, und sie wandte das Gesicht ab und weinte wie ein Kind.

Sobald er sich ausgeruht hatte, eilte er in den maristan. Ohne Ibn Sina oder al-Juzjani befand sich das Krankenhaus schnell in Auflösung, und es gab viel zu erledigen. So verbrachte er einen langen Tag damit, Patienten zu untersuchen und zu behandeln, über Wunden zu dozieren und - eine unangenehme Aufgabe - mit Hadschi Davout Hosein über die allgemeine Verwaltung der Schule zu beraten. In dieser Nacht waren Marys Augen rot und geschwollen, und sie und Rob klammerten sich mit einer Zärtlichkeit aneinander, die sie schon beinahe vergessen hatten.

Als er am Morgen das kleine Haus in der Jehuddijeh verließ, spürte er in der Luft die Veränderung wie die Feuchtigkeit eines englischen Gewitters.

Auf dem jüdischen Markt waren die meisten Läden ungewöhnlich leer, und Hinda packte fieberhaft ihre Waren zusammen. »Was ist los?«

»Die Afghanen!«

Er ritt zur Mauer. Als er die Treppe hinaufstieg, war die Mauerkrone von merkwürdig schweigenden Menschen besetzt, und er erkannte sofort die Ursache ihrer Angst: Die Streitmacht aus Ghazna stand in voller Kriegsstärke vor den Toren. Masüds Fußsoldaten füllten die Hälfte der kleinen Ebene im Westen der Stadt. Die Pferde- und Kamelreiter hatten ihr Lager auf den Vorbergen aufgeschlagen, und auf den höheren Hängen waren in der Nähe der einfachen Zelte und der Prunkzelte der Adeligen und Befehlshaber, deren Standarten im trockenen Wind flatterten, die Kriegselefanten angepflockt. In der Mitte des Lagers schwebte über allem das schlangenförmige Banner der Ghaznaniden-Familie, ein schwarzer Leopardenkopf in einem orangefarbenen Feld.

Rob schätzte, daß das Ghazna-Heer viermal so groß war wie jenes, das Masüd auf seinem Weg nach Westen durch Isfahan geführt hatte.

»Warum sind sie nicht in die Stadt eingedrungen?« fragte er einen Untergebenen des kelonter.

»Sie haben Alä bis hierher verfolgt. Er befindet sich innerhalb der Stadtmauern.«

»Und warum sollten sie deshalb draußen bleiben?«

»Masüd verlangt, daß Alä von seinem eigenen Volk verraten wird.

Wenn wir den Schah ausliefern, wird er unser Leben schonen. Wenn wir nicht dazu bereit sind, droht er aus unseren Gebeinen auf dem zentralen maidan einen Haufen zu errichten.«

»Wird Alä ausgeliefert?«

Der Mann funkelte ihn an und spuckte aus. »Wir sind Perser. Und er ist unser Schah.«

Rob nickte. Aber er glaubte nicht daran.

Er verließ die Mauer und ritt zu seinem Haus in der Jehuddijeh zurück. Sein englisches Schwert war in ölige Lappen gewickelt und aufbewahrt worden. Er schnallte es um und bat Mary, das Schwert ihres Vaters herauszuholen und die Tür hinter ihm zu verbarrikadieren. Dann bestieg er wieder sein Pferd und ritt zum Haus des Paradieses.

Als er das äußere Tor erreichte, trat die Palastwache heraus, um ihn aufzuhalten.

»Ich bin Jesse, hakim im maristan, und zum Schah bestellt.«

Der Wachtposten nickte, trat zur Seite und ließ den Reiter durch. Rob ritt durch die für den König künstlich angelegten Wälder, an dem grünen Feld für das Ball-und-Stock-Spiel, an den beiden Rennplätzen und den Pavillons vorbei. Dann schlug er die Prachtauffahrt zum Hause des Paradieses ein. Die Hufe seines Pferdes klapperten über die Zugbrücke, und er band das Pferd vor dem Eingang an. Im Hause des Paradieses hallten seine Schritte in den leeren Korridoren. Endlich kam er zum Audienzzimmer, in dem ihn der Schah immer empfangen hatte und in dem Alä jetzt allein mit gekreuzten Beinen in einer Ecke auf dem Boden saß. Vor ihm stand ein halbvoller Weinkrug, daneben ein Brett mit den Figuren des Spiels des Schahs. Er sah so verwildert und ungepflegt aus wie die Gärten draußen. Sein Bart war nicht gestutzt worden. Unter seinen Augen befanden sich violette Ringe, und er hatte abgenommen, so daß seine Adlernase noch schmaler wirkte. Er starrte zu Rob hinauf, der mit der Hand auf dem Schwertgriff vor ihm stand.

»Nun, Dhimmi? Bist du gekommen, um dich zu rächen?« Rob wurde erst nach einer kurzen Pause klar, daß Alä, der schon die Figuren auf dem Spielbrett ordnete, das Spiel des Schahs meinte. Rob hob die Schultern, ließ den Griff los und legte das Schwert so zurecht, daß er sich dem König gegenüber bequem auf den Boden setzen konnte.

»Frische Armeen«, sagte Alä ohne Humor und eröffnete mit einem Elfenbeinbauern.

Rob erwiderte mit einem schwarzen Ebenholzbauern. »Wo ist Far-had? Ist er in der Schlacht gefallen?« Er hatte nicht erwartet, den Schah allein anzutreffen. Er war darauf gefaßt gewesen, den Stadthauptmann zuerst töten zu müssen.

»Farhad ist nicht gefallen. Er ist geflohen.« Alä schlug einen Bauern mit seinem weißen Reiter, und sofort benutzte Rob einen seiner schwarzen Reiter, um einen weißen Bauern zu schlagen. »Khuff hätte Euch nicht im Stich gelassen.«

»Nein, Khuff wäre nicht davongelaufen«, pflichtete ihm Alä geistesabwesend bei. Er studierte die Lage auf dem Brett. Schließlich ergriff er den r«&/7-Kämpfer am Ende der Linie, der die elfenbeinernen Mörderhände an die Lippen hielt, um das Blut seiner Feinde zu trinken, und zog mit ihm.

Rob stellte ihm eine Falle und erwischte Alä, indem er einen schwarzen Reiter gegen den weißen rukh tauschte.

Alä starrte auf das Brett. Danach überlegte der Schah seine Züge besser, und er brauchte Zeit zum Nachdenken.

Seine Augen glänzten, als er den zweiten schwarzen Reiter schlug, wurden aber wieder matt, als er einen Elefanten verlor. »Was ist aus Eurem großen Elefanten geworden?« »Ah, das war ein guter Elefant. Ich habe auch ihn am Tor von al-Karaj verloren.«

»Und aus dem mahont Harsha?«

»Gefallen, bevor der Elefant starb. Eine Lanze traf ihn in die Brust.« Er trank den Wein, ohne Rob welchen anzubieten, direkt aus dem Krug und verschüttete einen Teil davon auf sein bereits verschmutztes Gewand. Er wischte sich Mund und Bart mit dem Handrücken ab. »Genug geredet«, knurrte er und wendete sich dem Spiel zu, denn die Ebenholzfiguren waren leicht im Vorteil.

Alä griff nun wütend an und versuchte alle Kniffe, die ihm einmal so gut gelungen waren, aber Rob hatte in den letzten Jahren gegen stärkere Gegner gekämpft. Mirdin hatte ihm gezeigt, wann er kühn und wann er vorsichtig sein mußte, und von Ibn Sina hatte er gelernt, vorauszuschauen und weit vorauszudenken. Es sah jetzt ganz so aus, als führe er Alä genau auf den Weg der Niederlage, und die Vernichtung der Elfenbeinfiguren wurde zur Gewißheit. Die Zeit verging, und Aläs Gesicht glänzte vor Schweiß, obwohl der Raum dank der Mauern und Fußböden aus Stein kühl war.

Rob hatte den Eindruck, als würden Mirdin und Ibn Sina für ihn mitspielen.

Dann standen von den Elfenbeinfiguren nur noch der König, der General und ein Kamel auf dem Brett, und bald schlug Rob, während sich sein Blick in die Augen des Schahs bohrte, mit seinem General das Kamel.

Alä stellte seinen General vor die Königsfigur und blockierte die Angriffslinie. Aber Rob hatte noch fünf Figuren zur Verfügung: den König, den General, einen rukh, ein Kamel und einen Bauern. Er zog den nicht bedrohten Bauern zur gegenüberliegenden Seite des Feldes, wo ihm die Regeln gestatteten, ihn gegen den zweiten rukh einzutauschen.

In drei Zügen hatte er den neu gewonnenen rukh geopfert, um den Elfenbeingeneral zu schlagen. Und in zwei weiteren Zügen bedrohte sein Ebenholzgeneral den Elfenbeinkönig. »Ziehe, o Schah«, flüsterte er.

Er wiederholte die Worte dreimal, während er seine Figuren so aufstellte, daß es für Aläs König keinen Ausweg mehr gab. »Shahtreng«, verkündete er schließlich.

»Ja, der Todeskampf des Königs.« Alä fegte die restlichen Figuren vom Brett.

Nun sahen sie einander prüfend an, und Robs Hand lag wieder auf dem Griff seines Schwertes.

»Masüd hat erklärt, wenn die Einwohner von Isfahan Euch nicht ausliefern, werden die Afghanen alle ermorden und die Stadt plündern.«

»Die Afghanen werden morden und diese Stadt plündern, ob man mich ausliefert oder nicht. Es gibt nur eine Chance für Isfahan.« Der Schah erhob sich mühsam, und Rob stand auch auf, damit ein Untertan nicht saß, während der Herrscher stand. »Ich werde Masüd zum Zweikampf herausfordern: König gegen König.« In Rob brannte der Wunsch, den Schah zu töten, nicht zu bewundern oder zu lieben, und er runzelte die Stirn.

Alä spannte den schweren Bogen, den nur wenige Männer so handhaben konnten, und zeigte auf das Schwert aus gemustertem blauen Stahl, das an der gegenüberliegenden Wand hing. »Hol meine Waffe, Dhimmi!«

Rob brachte sie und sah zu, wie er sie umschnallte. »Ihr wollt jetzt gegen Masüd kämpfen?« »Der Augenblick scheint mir günstig.« »Wollt Ihr, daß ich Euch begleite?« »Nein!«

Der Schah von Persien reagierte empört und verächtlich darauf, daß ihn ein Jude begleiten wollte. Statt in Zorn zu geraten, empfand Rob Erleichterung darüber, denn er hatte sich unüberlegt angeboten und dies bereits bedauert, da es weder sinnvoll noch eine Ruhmestat war, neben dem Schah zu sterben.

Doch das Falkengesicht wurde weich, und Alä Shahansha blieb stehen, bevor er ging. »Es war ein ritterliches Angebot«, sagte er. »Denk

nach, was du dir als Belohnung wünschst. Wenn ich zurückkomme, werde ich dir einen calaat verleihen.«

Rob stieg eine schmale Steintreppe zu den höchsten Zinnen des Hauses des Paradieses empor. Von diesem luftigen Standort aus sah er dje Häuser des vornehmen Viertels von Isfahan, die Perser, die auf der Stadtmauer standen, die Ebene vor ihnen und das Lager des Ghazna.-Heeres, das sich bis zu den Hügeln erstreckte. Er wartete lange, während der Wind ihm Haar und Brust zauste, ohne daß Alä erschien.

Dann begann er sich Vorwürfe zu machen, weil er den Schah nicht getötet hatte. Er war sicher, daß Alä ihn übertölpelt hatte und daß ihm die Flucht geglückt war. Doch jetzt sah er ihn.

Das Westtor lag außerhalb seiner Sichtweite, doch in dieser Richtung, auf der flachen Ebene jenseits der Mauer, tauchte der Schah auf. Er ritt sein vertrautes Pferd, den wilden, schönen weißen Araberhengst, der den Kopf hochwarf und ungebärdig tänzelte.

Rob sah zu, wie Alä auf das feindliche Lager zuritt. Als er nahe genug war, zugehe er sein Pferd, richtete sich in den Steigbügeln auf und rief seine Herausforderung. Rob konnte die Worte nicht verstehen, hörtc nur ein fernes unverständliches Geschrei. Aber einige von den Leuten des Schahs konnten ihn hören. Sie waren mit der Legende von Ardewan und Ardashir und ihrem Duelle, um einen ersten shahansha zu küren, aufgewachsen, und von den Mauerzinnen erklangen vielfältige Jubelrufe. Im Ghazna-Lager verließ eine kleine Gruppe von Reitern der. Bereich der Offizierszelte. Ihr Anführer trug einen weißen Turban, aber Rob konnte nicht erkennen, ob es Masüd war. Wo immer Masüd sich befand - falls er überhaupt je von Ardewan und Ardashir un(j dem alten Kampf um das Recht gehört hatte, König der Könige zq werden, er kümmerte sich nicht um Legenden. Aus den Reihen der Afghanen löste sich ein Trupp von Bogenschützen auf schnellen Pferden.

Aläs Schimmelhengst war das schnellste Roß, das Rob je gesehen hatte, aber sein Reiter versuchte nicht zu entrinnen. Wieder erhob er sich in den Steigbügeln. Diesmal war Rob sicher, daß er dem jungen Sultan, der nicht kämpfen wollte, Schmähungen und Beschimpfungen zuschrie.

Als die Soldaten ihn beinahe erreicht hatten, spannte Ala den Bogen und begann zu fliehen. Aber der freie Raum war eng begrenzt. Er ritt scharf, drehte sich im Sattel um und schoß einen Pfeil ab, der den führenden Afghanen fällte: ein vollendeter Partherschuß, der den Zuschauern auf der Mauer Beifallsrufe entlockte. Aber als Antwort traf ihn ein Hagel von Pfeilen.

Vier Pfeile trafen auch sein Pferd. Aus dem Maul des Hengstes trat blutiger Schaum. Der Schimmel wurde langsamer, dann hielt er an und schwankte, bevor er mit seinem toten Reiter zu Boden stürzte. Rob wurde unvermutet von Trauer ergriffen.

Er sah zu, wie sie ein Seil an Aläs Knöcheln befestigten und ihn dann zum Ghazna-Lager schleppten, wobei sie eine Wolke aus Staub aufwirbelten. Aus einem Rob unverständlichen Grund störte ihn besonders die Tatsache, daß sie den König mit dem Gesicht nach unten über den Boden schleiften.

Er lenkte den braunen Wallach zur Koppel hinter den königlichen Ställen und nahm ihm den Sattel ab. Es war schwierig, das mächtige Tor allein zu öffnen, aber der Platz war ebenso unbewacht wie der Rest des Hauses des Paradieses, und er wurde damit fertig. »Leb wohl, Freund!« sagte er.

Er schlug das Pferd auf die Kruppe, und als es sich zu der Herde gesellte, schloß er sorgfältig das Tor. Gott allein wußte, wem das braune Pferd am nächsten Morgen gehören würde. Auf der Kamelkoppel nahm er zwei Halfter von den Geschirren, die in einem offenen Schuppen hingen, und suchte zwei junge, kräftige Kamelstuten aus, die ihm gefielen. Sie knieten im Staub, käuten wieder und beobachteten ihn.

Die erste versuchte, ihm den Arm abzubeißen, als er mit dem Zaumzeug näher kam. Aber Mirdin, der sanfteste aller Männer, hatte ihm gezeigt, wie man mit Kamelen umging, und er versetzte dem Tier einen so kräftigen Schlag in die Rippen, daß es seinen Atem zwischen den quadratischen gelben Zähnen herauspfiff. Nun war das Kamel gefügig, und das zweite Tier machte keine Schwierigkeiten, als hätte es durch Beobachtung gelernt. Er ritt das größere und führte das zweite Tier an einem Strick. Er mußte einen weiten Bogen um den östlichen Teil der Stadt schlagen,

um die Jehuddijeh zu erreichen. Menschen und Tiere stauten sich schon eine Viertelmeile weit, weil sie versuchten, durch das Osttor aus Isfahan zu fliehen, um dem Feind zu entgehen, der hinter der westlichen Stadtmauer lagerte.

Als er das Haus erreichte, öffnete Mary die Tür auf seinen Ruf, ihr Gesicht war aschgrau, und sie hielt das Schwert ihres Vaters noch immer in der Hand. »Wir reisen nach Hause.«

Sie war entsetzt, doch ihre Lippen sprachen ein stummes Dankgebet. Er nahm den Turban ab, zog die persische Kleidung aus, legte seinen schwarzen Kaftan an und setzte den ledernen Judenhut auf. Sie nahmen seine Abschrift von Ihn Sinas »Der Kanon der Medizin«, rollten die anatomischen Zeichnungen zusammen und steckten sein Patientenbuch, seine Tasche mit den medizinischen Instrumenten, Mirdms Schachspiel, Lebensmittel und ein paar Arzneien, das Schwert James Cullens und eine kleine Schachtel, die ihre Barschaft enthielt, ein. Das alles wurde auf das kleinere Kamel gepackt. Auf die Seite des größeren Kamels hängte er einen Schilfkorb und auf die andere einen locker gewebten Sack. Er hatte in einer Phiole eine kleine Menge bumg bei sich, gerade genug, um damit die Spitze seines kleinen Fingers anzufeuchten. Er ließ Rob James an der Fingerspitze saugen und dann Tarn ebenfalls. Als sie schliefen, legte er den älteren Jungen in den Korb und den Säugling in den Sack, und ihre Mutter bestieg das Kamel, um zwischen ihnen zu reiten. Es war noch nicht vollkommen dunkel, als sie das kleine Haus in der Jehuddijeh für immer verließen. Aber sie hatten keine Zeit zu verlieren, weil die Afghanen jeden Augenblick über die Stadt herfallen konnten.

Als er die beiden Kamele durch das von den Posten verlassene Westtor führte, war die Dunkelheit hereingebrochen. Der Jagdsteig, dem sie durch die Hügel folgten, führte so nahe an den Ghazna-Lagerfeuern vorbei, daß sie das Singen und Johlen hörten, mit dem sich die Afghanen vor der Plünderung in die richtige Stimmung steigerten. Sie wurden nicht verfolgt. Bald ließen sie die Lagerfeuer hinter sich. Als Rob jedoch zurückblickte, war tief am Himmel eine rosa Wolke aufgetaucht, und er wußte, daß Isfahan jetzt in Flammen stand. Arn nächsten Morgen, nach einer durchrittenen Nacht, weinten beide Kinder, und seine Frau saß mit grauem Gesicht und geschlossenen Augen auf dem Kamel. Rob konnte jedoch nicht haltmachen. Er zwang seine müden Beine, weiterzustapfen, und führte die Kamele nach Westen zu dem ersten jüdischen Dorf.