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Zweites Buch. Zug durch die Wüste

Woodborough, Massachusetts November 1964

12

Oberschwester Mary Margaret Sullivan nahm breithüftig hinter dem Schreibtisch in ihrem Büro Platz. Seufzend langte sie hinüber zum Aktenregal und holte einen Ordner in Metallfolie heraus. Ein paar Minuten lang schrieb sie mit kratzender Feder den Bericht über einen Vorfall auf der Station Templeton: Mrs. Felicia Seraphin hatte eine andere Frau mit ihrem Schuhabsatz ins Gesicht geschlagen.

Am Ende ihres Berichtes angelangt, betrachtete sie gedankenverloren den Wasserkessel und die Kochplatte, die auf einem Aktenschrank an der gegenüberliegenden Wand standen. Als Rabbi Kind zur Tür hereinsah, hatte sie eben entschieden, daß der Kaffee die Anstrengung des Aufstehens nicht wert sei.

»Ah, unser Rabbiner«, sagte sie.

»Wie geht's, Maggie?« Er trat ein, einen Stoß Bücher im Arm.

Sie erhob sich mühsam, ging zum Schrank um zwei Tassen und schaltete im Vorbeigehen die Kochplatte ein. Sie stellte die Tassen auf den Schreibtisch und holte eine Dose mit Pulverkaffee aus der obersten Lade.

»Keinen Kaffee für mich, bitte. Ich will nur meiner Frau diese Bücher bringen.«

»Sie ist drüben in der Arbeitstherapie. Wie die meisten.« Schwerfällig setzte sie sich wieder. »Wir haben eine neue jüdische Patientin auf der Station, vielleicht könnten Sie versuchen, mit ihr zu reden. Sie heißt Hazel Birnbaum. Mrs. Birnbaum. Das arme Ding glaubt, daß wir alle uns gegen sie verschworen haben, um sie fertigzumachen.

Schizo.«

»Wo liegt sie?«

»Auf Siebzehn. Wollen Sie nicht vorher Kaffee trinken?«

»Nein, danke. Aber ich werde nach ihr sehen. Wenn nachher noch Zeit bleibt, hätte ich gern eine Tasse.«

»Nachher wird's keinen mehr geben. Der Kaplan kommt.« Lächelnd ging er durch die fast menschenleere Abteilung. Alles war so bedrückend sauber; das Ergebnis rastlosen Bemühens ... In Zimmer siebzehn lag eine Frau auf dem Bett.

Ihr Haar hob sich schwarz und wirr von dem weißen Kissen ab.

Mein Gott, dachte er, die sieht meiner Schwester Ruthie ähnlich.

»Mrs. Birnbaum?« sagte er und lächelte. »Ich bin Rabbi Kind.« Ein schneller Blick aus den großen blauen Augen traf ihn sekundenlang und wandte sich dann wieder zur Zimmerdecke.

»Ich wollte Ihnen nur guten Tag sagen. Kann ich irgend etwas für Sie tun?«

»Gehen Sie, bitte«, sagte sie. »Ich wünsche niemanden zu belästigen.«

»Ist schon gut, ich bleibe nicht, wenn Sie es nicht wollen. Ich mache regelmäßig die Runde durch die Abteilung. Ich werde nächstens wieder vorbeikommen.«

»Morty hat Sie hergeschickt«, sagte sie. »Aber nein, ich kenne ihn nicht einmal.« »Sagen Sie ihm, er soll mich in RU-HE LAS-SEN! «

Nicht schreien, dachte er, ich bin hilflos gegen Schreien. »Ich komme bald wieder, Mrs. Birnbaum«, sagte er. Ihre Beine und Füße waren bloß, und es war kalt im Zimmer. Er griff nach der grauen Decke am Fußende des Bettes und deckte die Frau damit zu, aber Mrs.

Birnbaum begann zu strampeln wie ein ungezogenes Kind. Eilends verließ er den Raum.

Leslies Zimmer lag am anderen Ende des Korridors, um die Ecke. Er legte die Bücher auf ihr Bett, riß eine Seite aus seinem Notizbuch und schrieb darauf: »Ich komme nochmals am Nachmittag. Du warst in der Arbeitstherapie. Hoffentlich machst du dort was Brauchbares -

zum Beispiel Männersocken ohne Löcher.«

Auf dem Rückweg warf er einen Blick in Maggies Büro, um sich von ihr zu verabschieden. Aber die Oberschwester war nicht da. Aus dem Wasserkessel strömte Dampf und erzeugte einen nassen Fleck an der Decke. Michael zog den Stecker heraus, überlegte, daß er noch Zeit hatte, und goß Wasser in eine der Tassen.

Während er langsam seinen Kaffee trank, notierte er: ZU ERLEDIGEN: Woodborough General Hosp. Susan Wreshinsky, Entbindungsabtlg. (Bub, Mdch.?) Maseltow wünschen.

Lois Gurwitz (Enkln. v. Mrs. Leibling), Apndx. Jerry Mendelsohn, Beinamp. Bibliothek Bialik Biogr. bestellen Mikrofilm NY Times, jüdische Wachen in Wohnvierteln mit Rassenunruhen, für Predigt.

Er sah den Namen seiner Frau auf einem der Ordner im Aktenschrank, und unwillkürlich griffen seine Hände nach dem Faszikel. Er zögerte nur kurz, bevor er ihn öffnete. Während er die Papiere durchblätterte, nahm er noch einen Schluck Kaffee und begann dann zu lesen.

Woodborough State Hospital Patientin: Mrs. Leslie (Rawlings) Kind Falldarstellung, vorgetragen bei Mitarbeiterbesprechung am 21. Dezember 1964

Diagnose: Involutionsmelancholie

Patientin ist attraktiv und gut aussehend, Weiße, vierzig Jahre alt, in guter körperlicher Verfassung.

Haar: dunkelblond; Größe: 1,68 m; Gewicht: 64 kg.

Sie wurde am 28. August 1964 von ihrem Gatten ins Spital gebracht.

Präpsychotische Symptomatik: »neurasthenischer« Zustand, Pat. klagte darüber, daß ihr alles zuviel werde, daß sie körperlich und geistig schnell ermüde, reizbar und unruhig sei und unter Schlaflosigkeit leide.

Während der ersten elf Wochen in der Anstalt blieb Pat. stumm. Oft sah es aus, als wolle sie weinen, sei aber unfähig, sich diese Erleichterung zu verschaffen.

Nach dem zweiten Elektroschock - Pat. erhielt bis zum heutigen Datum neun von den verordneten zwölf Schocks - kehrte die Sprache wieder. Thorazine scheint gute symptomlindernde Wirkung zu haben, wurde nun aber ersetzt durch Pyrrolazote in allmählich steigender Dosierung bis zu 200 mg. q. i. d.

Keine nennenswerte Amnesie nach der Schockbehandlung. Pat.

berichtet ihrem Psychiater im Laufe der vergangenen Woche, sie erinnere sich, geschwiegen zu haben, weil sie niemandem ihre Schuldgefühle anvertrauen wollte, die sich aus der Entfremdung von ihrem Vater herleiteten sowie aus dem Gefühl, wegen einer zwei Jahrzehnte zurückliegenden vorehelichen Sexualerfahrung als Collegestudentin nun eine schlechte Frau und Mutter zu sein. Pat. hat dieses Erlebnis ihrem jetzigen Gatten vor ihrer Heirat mitgeteilt und kann sich nicht erinnern, sich je wieder damit beschäftigt oder auch nur daran gedacht zu haben - bis es ihr vor einigen Monaten plötzlich wieder in den Sinn kam. Sie erinnert sich jetzt deutlich an die ihrer Erkrankung vorausgehenden Schuldgefühle wegen jener frühen Sexualbeziehung und des Verlustes der väterlichen Liebe, doch scheinen sie diese Gefühle nicht länger zu quälen. Sie macht jetzt einen ruhigen und optimistischen Eindruck.

Die sexuellen Beziehungen zu ihrem Gatten schildert Pat. als gut. Die Menstruation ist seit fast einem Jahr unregelmäßig. Bei der gegenwärtigen Erkrankung handelt es sich offensichtlich um einen agitierten wahnhaften Depressionszustand der beginnenden Wechseljahre.

Pat. ist die Tochter eines Congregationalisten-Geistlichen und trat, ehe sie vor achtzehn Jahren ihren jetzigen Gatten, einen Rabbiner, heiratete, zum Judentum über. Sie scheint der jüdischen Religion zutiefst verbunden zu sein; Gegenstand ihrer Schuldgefühle ist nicht ihr Austritt aus dem Christentum, sondern ihr Verhalten dem Vater gegenüber, das sie als Verrat an ihm erlebt hat. Im Elternhaus der Patientin spielte die Lehre der Bibel eine entscheidende Rolle; seit ihrer Heirat widmete sich Pat. dem Studium des Talmud und genießt, nach Aussage ihres Gatten, die Freundschaft und Bewunderung anerkannter Autoritäten rabbinischer Schulen.

Mr. Kind scheint als Geistlicher etwas strenge Vorstellungen hinsichtlich des Verhaltens seiner Gemeinde zu haben; als Folge davon führte die Familie ein ziemlich unstetes Wanderleben. Dies bedeutete offensichtlich eine gewisse emotionale Belastung für beide Ehepartner.

Trotzdem ist die Prognose des Falles gut.

Ich empfehle, nach dem zwölften Elektroschock die Entlassung der Patientin aus der Anstaltspflege in Betracht zu ziehen. Fortsetzung der psychotherapeutischen Behandlung der Patientin durch einen Psychiater, wenn möglich auch eine stützende Therapie für den Gatten wären angezeigt.

(Unterschrift) Daniel L. Bernstein, M.D. Chef-Psychiater Michael wollte sich soeben dem nächsten Bericht zuwenden, als er Maggie bemerkte, die in der Tür stand und ihm zusah.

»Sie gehen wie auf Gummisohlen«, sagte er.

Schwerfällig trat sie zu ihrem Schreibtisch, nahm Michael Leslies Krankengeschichte aus den Händen und stellte sie zurück. »Sie könnten vernünftiger sein, Rabbi. Wenn Sie wissen wollen, wie es Ihrer Frau geht, fragen Sie ihren Psychiater.«

»Sie haben recht, Maggie«, sagte er. Sie erwiderte seinen Gruß mit stummem Nicken. Er steckte seine Notizen ein und verließ das Büro.

Eilig schritt er durch den hallenden, allzu sauberen Korridor.

Der Brief kam vier Tage später.

Mein Michael, wenn Du nächstens in Dein Büro im Spital kommst, wirst Du merken, daß die Kabbala von Deinem Schreibtisch fehlt. Ich habe Dr. Bernstein dazu überredet, seinen Universalschlüssel zu verwenden und mir das Buch zu holen. So hat er zwar für mich gestohlen, aber die Idee kam von mir. Der gute Max Gross hat immer darauf bestanden, daß sich kein Mann vor seinem vierzigsten Lebensjahr mit der kabbalistischen Mystik beschäftigen sollte. Er wäre entsetzt, wenn er wüßte, daß ich mich nun schon seit zehn Jahren damit herumplage - und ich bin doch nur eine Frau!

Ich gehe regelmäßig zu meinen Sitzungen bei Dr. Bernstein; »Psycho-Schmonzes« hast Du das früher gern genannt. Ich fürchte, ich werde nie wieder so selbstzufrieden sein, daß ich mich über Psychotherapie lustig machen könnte. Merkwürdig, ich erinnere mich an fast alles aus der Zeit der Krankheit, und ich wünsche sehr, Dir davon zu erzählen. Am leichtesten ist es, glaube ich, das in einem Brief zu tun - nicht, weil ich Dich zuwenig liebe, um diese Dinge mit Dir zu besprechen, während ich Dir in die Augen sehe, sondern weil ich so feig bin, daß ich vielleicht nicht alles sagen würde, was notwendig ist.

So schreibe ich es eben, jetzt gleich, bevor ich den Mut verliere. Du weißt nur zu gut, daß ich schon seit ungefähr einem Jahr nicht mehr in Ordnung war. Aber Du kannst nicht wissen - weil ich es Dir nicht sagen konnte -, daß ich in dem letzten Monat, bevor Du mich ins Spital brachtest, kaum mehr geschlafen habe. Ich hatte Angst vor dem Schlaf, Angst vor zwei Träumen, die immer wiederkehrten; es war wie die Fahrt durch ein Geisterschloß in einem verrückten Vergnügungspark - man fährt wieder und wieder und kann nicht herauskommen.

Der erste Traum spielte im Wohnzimmer des alten Pfarrhauses in der Elm Street in Hartford. Ich sah jede Einzelheit so deutlich wie auf einem Fernsehschirm: das behäbige abgenützte rote Plüschsofa und die dazu passenden Fauteuils mit den zerschlissenen Polsterschonern, die Mrs.

Payson alljährlich regelmäßig und beharrlich erneuerte; den fadenscheinigen Orientteppich und den polierten Mahagonitisch mit den zwei Kanarienvögeln aus Porzellan unter ihren Glasstürzen; an der Wand die handkolorierte Photographie - ein müder kleiner Bach, der sich spielerisch durch eine senffarbene Wiese schlängelt-, ein gerahmter Strauß künstlicher Blumen, von meiner Großmutter aus den Locken gefertigt, die von meinem ersten Haarschnitt abgefallen waren, und, über dem mächtigen Marmorkamin, in dem nie ein Feuer brannte, ein gestickter Spruch:

Des Hauses Schönheit ist Ordnung Des Hauses Segen ist Zufriedenheit Des Hauses Stolz ist Gastlichkeit Des Hauses Krone ist Frömmigkeit Es war der häßlichste Raum, der je von gottesfürchtigen, aber geizigen Pfarrersleuten eingerichtet worden ist.

Und ich sah auch die Menschen.

Meine Tante Sally, dünn und grauhaarig und verbraucht von der Mühe, sich nach dem Tod meiner Mutter um uns zu kümmern und so voll von Liebe für den Mann ihrer toten Schwester, daß alle es wußten, nur er nicht, die Arme.

Und mein Vater. Sein Haar war auch damals schon weiß, und er hatte die glattesten rosigen Backen, die ich je bei einem Mann gesehen habe.

Ich kann mich nicht erinnern, daß er je so ausgeschaut hatte, als hätte er eine Rasur nötig. Ich sah auch seine Augen im Traum, hellblau, mit einem Blick, der tief in einen eindrang, bis zu der Lüge, die man im geheimsten Gedanken verbarg.

Und ich sah auch mich, zwölfjährig vielleicht, mit langen Zöpfen, dünn und eckig, mit Metallrandbrille auf der Nase, denn ich war kurzsichtig bis zu meinem Eintritt in die High School.

Und jedesmal stand mein Vater im Traum vor dem Kamin, sah mir in die Augen und sprach die Worte, die er wohl vielhundertmal am Samstag nach dem Abendessen in diesem häßlichen Zimmer zu uns gesprochen hat:

»Wir glauben an Gott, den Vater, unendlich an Weisheit, Güte und Liebe, und an Jesus Christus, seinen Sohn, unsern Herrn und Heiland, der für uns und unsere Erlösung lebte und starb und wieder auferstand zum ewigen Leben, und an den Heiligen Geist, der uns geoffenbaret ward, zu erneuern, zu trösten und zu erleuchten die Seelen der Menschen.«

Dann wurde es schwarz in meinem Traum, als wäre mein Vater ein TV-Prediger, der ausgeblendet wird, weil jetzt die Reklamen kommen, und ich erwachte in unserem Bett und spürte das Prickeln und die Gänsehaut am ganzen Körper, wie ich sie als Kind immer gespürt hatte, wenn mein Vater mir in die Augen sah und davon sprach, wie Jesus für mich gestorben sei.

Anfangs machte ich mir keine Gedanken über den Traum. Man träumt eben alles mögliche, alle Menschen tun das. Aber der Traum wiederholte sich alle paar Nächte: immer derselbe Raum, dieselben Worte, gesprochen von meinem Vater, der mir in die Augen sah.

Er erschütterte mich nicht in meinem jüdischen Glauben. Das war für mich schon lange bereinigt. Ich bin Deinetwegen übergetreten, aber ich gehörte zu den Glücklichen, die mehr fanden, als sie erwartet hatten. Über all das brauchen wir nicht mehr zu reden.

Aber ich begann darüber nachzudenken, was es wohl für meinen Vater bedeutet haben mußte, als ich verwarf, was er mich gelehrt hatte, und Jüdin wurde. Ich dachte darüber nach, was es für Dich bedeuten würde, käme eines von unseren Kindern zu dem Entschluß, zu konvertieren, katholisch zu werden zum Beispiel.

Dann lag ich da und starrte zur finsteren Zimmerdecke hinauf, und ich dachte daran, daß mein Vater und ich einander völlig fremd geworden waren. Und ich dachte daran, wie sehr ich ihn als kleines Mädchen geliebt hatte.

Dieser Traum kam lange Zeit hindurch wieder, aber dann tauchte ein anderer auf. In dem zweiten Traum war ich zwanzig Jahre alt; ich saß in einem Wagen mit Schiebedach, der an einer dunklen Nebenstraße in der Gegend von Wellesley Campus geparkt war, und ich hatte nichts an.

Alle Einzelheiten und Eindrücke waren ebenso deutlich wie in dem ersten Traum. An den. Familiennamen des Jungen konnte ich mich nicht erinnern - sein Vorname war Roger-, aber ich sah sein Gesicht: erregt, jung und ein wenig erschrocken. Er hatte einen Bürstenhaarschnitt und trug ein blaues Leverett-House-Fußballeibchen mit der weißen Nummer 42. Seine Tennisshorts und seine Unterwäsche lagen auf einem Haufen mit meinen Kleidern auf dem Boden des Wagens. Ich betrachtete ihn äußerst interessiert: nie zuvor hatte ich einen nackten Männerkörper gesehen. Ich empfand weder Liebe noch Verlangen, nicht einmal Zuneigung. Dennoch hatte es keiner Überredung bedurft, als er den Wagen hier im Dunkeln parkte und mich auszuziehen begann - und der Grund dafür waren meine große Neugier und die Überzeugung, daß es Dinge gebe, die ich wissen wollte. Als ich dann da lag, den Kopf an die Wagentür gepreßt und das Gesicht in die rissige Lederlehne des Sitzes, als ich spürte, wie der Junge mit mir beschäftigt war, mit demselben blöden Eifer, den er beim Fußballspiel zeigte, als ich spürte, wie es mich schmerzhaft aufriß wie eine Schote - da war meine Neugier befriedigt. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund, und der Junge im Wagen gab einen Laut von sich, der wie ein Seufzer klang, und ich spürte, wie ich zu einem fühllosen Gefäß wurde. Ich konnte nichts tun, als dem fernen Bellen lauschen und dabei wissen, daß ich betrogen worden war, daß dies nichts war als ein trauriger Einbruch in mein privatestes Leben.

Wenn ich dann aufwachte in unserem dunklen Zimmer und mich wiederfand in unserem Bett neben Dir, dann hatte ich den Wunsch, Dich zu wecken und Dich um Verzeihung zu bitten, Dir zu sagen, daß das dumme Mädchen im Auto tot ist und daß die Frau, die ich geworden bin, niemanden in Liebe erkannt hat als Dich. Aber ich lag nur zitternd wach die ganze Nacht.

Diese Träume kamen immer wieder, manchmal der eine und manchmal der andere, sie kamen so häufig, daß sie sich mit meinem wachen Leben mischten und ich manchmal nicht mehr sagen konnte, was Traum war und was Wirklichkeit. Wenn mein Vater mir in die Augen schaute und von Gott und Jesus sprach, dann wußte ich, daß er die Ehebrecherin in mir sah, obwohl ich erst zwölf Jahre alt war, und ich wünschte mir den Tod. Einmal verzögerte sich die Menstruation um fünf Wochen, und an dem Nachmittag, als sie endlich einsetzte, sperrte ich mich im Badezimmer ein und saß auf dem Rand der Wanne, zitternd, weil ich nicht weinen konnte, und ich wußte nicht mehr, ob ich nun die Studentin war, die erleichtert aufatmete, oder eine dicke vierzigjährige Frau, die froh war, kein Kind zu kriegen, das nicht von Dir gewesen wäre. Tagsüber konnte ich Dir nicht mehr in die Augen sehen und ertrug es nicht, wenn die Kinder mich küßten. Und nachts lag ich erstarrt und kniff mich, um nicht einzuschlafen und zu träumen. Und dann hast Du mich ins Krankenhaus gebracht und mich allein gelassen, und ich wußte, daß es so war, wie es sein sollte: denn ich war schlecht und mußte eingesperrt und zum Tod verurteilt werden. Und ich wartete darauf, daß sie mich töten - bis die Schockbehandlung begann und die verschwommenen Umrisse meiner Welt wieder feste Kontur annahmen.

Dr. Bernstein riet mir, Dir von den Träumen zu erzählen, wenn ich es wirklich wolle. Er glaubt, daß sie mich dann nie mehr heimsuchen werden.

Laß nicht zu, daß sie Dir Schmerz bereiten, Michael. Hilf mir, sie aus unserer Welt zu vertreiben. Du weißt, daß Dein Gott mein Gott ist, und daß ich Dein Weib und Deine Frau bin, im Fleisch und im Geist und in der Wahrheit. Ich verbringe die Zeit damit, auf meinem Bett zu liegen und die Augen zu schließen und an das zu denken, was sein wird, wenn ich dieses Haus verlasse - und an die vielen guten Jahre, die ich mit Dir gelebt habe. Küß die Kinder von mir. Ich liebe Dich so sehr,

Leslie

Er las den Brief viele Male.

Es war bemerkenswert, daß sie den Familiennamen des jungen vergessen hatte. Phillipson hatte er geheißen. Roger Phillipson. Sie hatte ihm den Namen nur einmal genannt, aber er hatte ihn nie mehr vergessen. Und vor sieben Jahren, während er im Haus eines Amtskollegen in Philadelphia auf das Abendessen wartete und das Gedenkbuch zur Zehn-Jahres-Feier der Harvard-Klasse seines Gastgebers durchblätterte, war ihm der Name plötzlich in die Augen gesprungen: er stand unter einem Gesicht, das mit der Aufrichtigkeit des Versicherungsagenten lächelte. Teilhaber: Folger, Folger, Phillipson, Paine & Yeager Versicherungsgesellschaft, Walla Walla, Wash., Gattin: eine geborene Sowieso aus Springfield, Mass. Drei Töchter mit nordischen Namen, im Alter von sechs, vier und eineinhalb Jahren. Hobbies: Segeln, Fischen, jagen, Statistik. Klubs, Universität, Lions, Rotary, noch zwei, drei andere. Lebensziel: beim fünfzigsten Klassentreffen Fußball zu spielen. Ein paar Wochen später, zum Jom Kippur in seinem eigenen Tempel, hatte er bereut und fastend Buße getan und Gott um Vergebung gebeten für die Gefühle, die er gegen den lächelnden Mann auf dem Bild gehegt hatte. Er hatte für Roger gebetet und ihm ein langes Leben und ein kurzes Gedächtnis gewünscht.

13

Michaels Besorgnis um Max war nach dem Brief eher noch größer geworden.

In dieser Nacht, wach liegend in seinem Messingbett, versuchte er sich zu erinnern, wie sein Sohn als Baby und als kleiner junge ausgesehen hatte. Max war ein häßliches Kind gewesen, das nur durch sein Lächeln manchmal verschönt wurde. Seine Ohren lagen nicht flach am Kopf an, sie waren abstehend wie -wie heißen die Dinger nur, Schalldämpfer? Seine Wangen waren voll und weich gewesen.

Und heute, dachte Michael, sucht man in seiner Brieftasche nach einer Marke und entdeckt, daß er ein Brocken von einem Mann mit sexuellen Wünschen ist. Er brütete noch immer über dieser Entdeckung.

Seine Phantasie wurde dadurch beflügelt, daß Max vor zwanzig Minuten mit Dessainae Kaplan nach Hause gekommen war. Michael hörte, daß sie im Wohnzimmer waren. Leises Lachen. Und vielerlei andere Geräusche. Welches Geräusch macht das Herausziehen einer Brieftasche? Michael ertappte sich dabei, daß er mit gespannten Sinnen auf dieses Geräusch lauschte. Laß die Brieftasche, wo sie ist, mein Sohn, bat er stumm. Dann begann er plötzlich zu schwitzen.

Aber wenn du schon so blöd sein mußt, mein Sohn, dachte er, dann paß wenigstens auf und hol die Brieftasche heraus.

Sechzehn, dachte er.

Endlich stand er auf, zog seinen Schlafrock und Hausschuhe an. Auf der Stiege konnte er sie deutlicher hören.

»Ich will nicht«, sagte Dessamae. »So komm doch, Dess.«

Michael blieb auf halbem Weg stehen, stand wie erstarrt im dunklen Stiegenhaus. Einen Augenblick später hörte er ein leises Geräusch, regelmäßig und rhythmisch. Am liebsten wäre er davongelaufen. »Das ist so angenehm... Ah, ist das gut.«

»So?«

»Hmmm. . . Hey -«

Sie lachte kehlig. »Jetzt kratz du mir den Rücken, Max.«

Du alter Dreckskerl, sagte Michael zu sich, du schäbiger Voyeur in mittleren Jahren. Fast stolpernd, eilte er die Stiegen hinunter und stand plötzlich im Wohnzimmer, blinzelnd in der Helle. Sie saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich vor dem Kamin. Dessamae hielt den elfenbeinernen chinesischen Rückenkratzer in der Hand.

»Guten Tag, Rabbi«, sagte sie. »Tag, Dad.«

Michael begrüßte sie - aber er konnte ihnen nicht in die Augen sehen. Er ging in die Küche und goß Tee auf. Als er bei der zweiten Tasse war, kamen die beiden ihm nach und leisteten ihm Gesellschaft. Später ging Max weg, um Dessamae nach Hause zu begleiten, und Michael kroch in sein Messingbett und tauchte in den Schlaf wie in ein warmes Bad.

Das Telephon weckte ihn. Er erkannte Dan Bernsteins Stimme. »Was ist los?«

»Nichts. Ich glaube, es ist nichts. Ist Leslie bei Ihnen?« »Nein«, sagte er, plötzlich schmerzhaft wach.

»Sie ist vor ein paar Stunden hier weggegangen.« Michael setzte sich im Bett auf.

»Es hat einen kleinen Auftritt zwischen zwei Patientinnen gegeben. Mrs.

Seraphin hat Mrs. Birnbaum mit so einem kleinen Taschenmesser verletzt. Gott weiß, wo sie es hergenommen hat. Wir versuchen gerade, der Sache auf den Grund zu kommen.«

Dr. Bernstein machte eine Pause und sagte dann hastig: »Leslie hatte mit der ganzen Geschichte überhaupt nichts zu tun. Aber das war der einzige Augenblick, wo sie unbemerkt hinauskommen konnte; es kann zu keiner anderen Zeit gewesen sein.« »Wie geht es Mrs. Birnbaum?«

»Alles in Ordnung. Solche Sachen passieren eben.«

»Warum haben Sie mich nicht sofort angerufen?« fragte Michael. »Man hat jetzt erst bemerkt, daß Leslie nicht da ist. Sie müßte schon dort sein, wenn sie nach Hause gegangen wäre«, bemerkte der Psychiater nachdenklich. »Sogar zu Fuß.«

»Besteht irgendeine Gefahr?«

»Ich glaube nicht«, sagte Dr. Bernstein. »Ich habe Leslie heute gesehen.

Sie ist in keiner Weise suizidgefährdet oder gemeingefährlich. Sie ist wirklich eine recht gesunde Frau. In zwei oder drei Wochen hätten wir sie nach Hause geschickt.«

Michael stöhnte. »Wenn sie jetzt zurückkommt - bedeutet das, daß die Internierung länger dauern wird?«

»Warten wir's ab. Es gibt Patienten, die aus sehr normalen Ursachen ausreißen. Wir müssen erst einmal sehen, was sie vorgehabt hat.«

»Ich werde sie suchen gehen.«

»Es sind ein paar Wärter unterwegs, die nach ihr Ausschau halten. Jetzt könnte sie freilich schon in einem Bus oder in einem Zug sitzen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Michael. »Warum sollte sie das tun?« »Ich weiß ja nicht, warum sie weggegangen ist«, sagte Dr. Bernstein. »Wir müssen abwarten. Routinegemäß verständigen wir die Polizei.«

»Wie Sie glauben.«

»Ich rufe Sie an, sobald ich etwas weiß«, sagte Dan.

Michael hängte den Hörer ab, zog sich warm an und nahm die große Taschenlampe aus dem Werkzeugschrank.

Rachel und Max waren bereits zu Bett. Michael ging in das Zimmer seines Sohnes. »Max«, sagte er, »wach auf.« Er rüttelte Max an der Schulter, und der Junge schlug die Augen auf. »Ich muß noch weggehen.

Gemeindeangelegenheiten. Paß auf deine Schwester auf.«

Max nickte schlaftrunken.

Die Uhr unten im Vorraum zeigte halb zwölf. An der Tür zog er seine Stiefel an, dann ging er um das Haus herum zum Wagen. Sein Schritt knirschte im frischen Schnee.

Ein leises Geräusch in der Dunkelheit.

»Leslie?« fragte er und knipste die Taschenlampe an. Eine Katze sprang von der Abfalltonne und flüchtete ins Dunkel.

Er ließ den Wagen im Rückwärtsgang aus der Zufahrt rollen und fuhr dann sehr langsam die ganze Strecke vom Haus bis zum Spital ab. Dreimal hielt er an, um seine Scheinwerfer auf Schatten zu richten.

Er begegnete keinem Fußgänger und nur zwei Autos. Vielleicht hat sie jemand im Wagen mitgenommen, dachte er.

Auf dem Krankenhausgelände angekommen, parkte er an einer Stelle, die Aussicht auf den See gewährte, und stapfte dann durch den Schnee hinunter zum Strand und hinaus auf das Eis. Vor zwei Jahren waren zwei College-Studenten nach ihrer Aufnahme in eine Fraternity blindlings quer über den See gegangen, waren im dünnen Eis eingebrochen, und einer war ertrunken; der Neffe von Jake Lazarus, erinnerte sich Michael. Aber diesmal schien das Eis dick und tragfähig. Er ließ das Licht seiner Taschenlampe über die weiße Fläche spielen und sah nichts.

Einem plötzlichen Einfall folgend, ging er zum Wagen zurück und fuhr in die Stadt, zum Tempel. Aber Beth Sholom war dunkel und leer.

Er fuhr nach Hause, durchsuchte jeden einzelnen Raum. Im Wohnzimmer hob er den Rückenkratzer auf. Wir sind niemals so jung gewesen, dachte er müde.

Das Telephon läutete nicht.

Der Brief von Columbia lag auf dem Kaminsims. Er erinnerte ihn zwar an das Harvard-Jahrbuch mit Phillipsons Bild, aber trotzdem nahm er ihn zur Hand und las ihn. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, und bald begann er zu schreiben. So hatte er wenigstens etwas zu tun.

An die Vereinigung der Absolventen von Columbia College, 116th Street und Broadway

New York, New York 10027 Gentlemen,

nachfolgend übermittle ich Ihnen meinen autobiographischen Beitrag zum Gedenkbuch anläßlich der Fünfundzwanzig-Jahr-Feier des Jahrgangs 1941.

Ich kann es kaum glauben, daß fast fünfundzwanzig Jahre vergangen sind, seit wir Morningside Heights verlassen haben. Ich bin Rabbiner. Als solcher habe ich in reformierten Gemeinden in Florida, Arkansas, Kalifornien und Pennsylvania gearbeitet. Jetzt lebe ich in Woodborough, Massachusetts, mit meiner Frau Leslie, geb. Rawlings (Wellesley, 1946) aus Hartford, Connecticut, und unseren Kindern Max (16) und Rachel (8).

Ich sehe dem Zusammentreffen anläßlich unseres

fünfundzwanzigjährigen Jubiläums mit freudiger Erwartung entgegen. Die Gegenwart stellt so viele Anforderungen an uns, daß wir nur allzu selten Gelegenheit haben, auf die Vergangenheit zurückzublicken ...

Queens, New York Februar 1939

14

An einem Winternachmittag - Michael absolvierte sein erstes Semester in Columbia - erteilte Dorothy Kind Mr. Lew, ihrem langjährigen Kosmetiker, präzise Aufträge, und er behandelte ihr Haar mit einer faulig riechenden Flüssigkeit, die das Rot in Grau verwandelte. Damit nahm ihr ganzes Leben eine zunächst kaum merkliche Wendung. Vielleicht hatte Abe Kind es allmählich aufgegeben, hinter anderen Frauen her zu sein, nun, da er nicht mehr jung war. Michael zog es vor, anzunehmen, seine Mutter sei endlich mit sich ins reine gekommen. Ein Anzeichen dafür war, daß sie weniger Make-up verwendete: ihr graues Haar umrahmte nun ein Gesicht anstatt einer Maske. Dann lernte sie stricken und versorgte bald die ganze Familie mit Kaschmir-Pullovern und warmen Socken.

Abe und Dorothy gewöhnten sich an, am Freitagabend mit ihrem Sohn zum Gottesdienst zu gehen. Zum erstenmal, seit Michael denken konnte, wurden die Kinds eine Familie im echten Sinn des Wortes.

An einem Sonntagmorgen kroch Michael aus dem Bett, während die Eltern noch schliefen. Im Wohnzimmer fand er seine Schwester, noch in Pyjama und Schlafrock; auf dem Sofa zusammengerollt, aß sie bejgl mit Rahmkäse und löste The New York Times- Rätsel. Mit der Buchbesprechungsseite und dem Rückblick auf die Ereignisse der Woche zog sich Michael in einen Fauteuil zurück. Eine Weile lasen sie schweigend, und Michael hörte, wie Ruthie ihr bejgl kaute. Dann hielt er es nicht länger aus; er putzte die Zähne und holte sich gleichfalls ein bejgl mit Käse. Sie betrachtete ihn, während er saß, ohne sie zu beachten.

Schließlich blickte er auf. Ihre Augen, die denen der Mutter so ähnlich waren, hatten die Intelligenz des Vaters.

»Ich wäre beinahe nicht aus Palästina zurückgekommen«, sagte sie. »Was meinst du damit?« fragte er, aufmerksam werdend.

»Ich habe dort einen Mann kennengelernt. Er wollte mich heiraten, ich wollte es auch, sehr. Hättest du mich vermißt, wenn ich nicht zurückgekommen wäre?«

Er betrachtete sie, weiter sein bejgl essend, und kam zu dem Schluß, daß sie die Wahrheit sagte. Hätte sie sich vor ihm in Szene setzen wollen, dann hätte sie die Angelegenheit dramatischer gestaltet.

»Wenn du's wolltest, warum hast du's nicht getan?«

»Weil ich nichts wert bin. Weil ich ein verwöhnter Mittelstandsfratz aus Queens bin und keine Pionierin.«

Er fragte sie nach dem Palästinenser. Sie stand auf und lief barfuß in ihr Zimmer. Er hörte, wie sie ihre Handtasche öffnete. Sie kam zurück mit einer Amateuraufnahme, die einen jungen Mann mit welligem braunem Haar und krausem braunem Bart zeigte. Er trug nur Khakishorts und Leinenschuhe, die eine Hand ruhte auf einem Traktor, der Kopf war ein wenig zurückgeneigt, und die Augen waren gegen die Sonne halb geschlossen. Er lächelte nicht. Sein Körper war gebräunt, muskulös und ziemlich mager. Michael war mit sich nicht ganz einig darüber, ob ihm der junge Mann auf dem Bild gefiele oder nicht.

»Wie heißt er denn?« fragte er.

»Saul Moreh. Früher hat er Samuel Polansky geheißen. Er kommt aus London. Er ist seit vier Jahren in Palästina.«

»Er hat seinen Namen gändert? Er wird doch nicht aus der Miederbranche kommen?«

Sie lächelte nicht. »Er ist ein großer Idealist«, sagte sie. »Er wollte einen Namen haben, der etwas bedeutet. Saul hat er sich ausgesucht, weil er in seinen ersten drei Monaten in Palästina Soldat war und arabische Überfälle abgewehrt hat. Und Moreh heißt Lehrer - Lehrer wollte er werden, und jetzt ist er's.«

Michael betrachtete den Traktor. »Ich dachte, er ist Bauer.«

Sie schüttelte den Kopf. »Er unterrichtet in der Schule des kibbuz. Die Siedlung heißt Tikveh le'Machar. Sie liegt mitten in der Wüste; nur ganz wenige freundlich gesinnte arabische Nachbarn. Die Sonne ist so kräftig, daß einem die Augen weh tun. Es gibt kaum jemals eine Wolke am Himmel. Die Wüste ist nichts als ausgebleichter Sand und ausgebranntes Gestein, und die Luft ist sehr trocken. Weit und breit kein Grün, außer in den Bewässerungsgräben. Wenn sie kein Wasser führen, verdorren die Pflanzen und sterben.«

Sie schwiegen. Er merkte, wie ernst es ihr war, und er wußte nicht, was er sagen sollte.

»Es gibt ein einziges Telephon, im Büro des kibbuz. Manchmal funktioniert es. Und die Toiletten solltest du sehen! Wie bei den ersten amerikanischen Siedlern.« Sie entfernte ein Stückchen bejgl von ihrem Schlafrock, drehte es hin und her und betrachtete es aufmerksam. »Er fragte mich, ob ich ihn heiraten wolle, und ich wollte es so sehr. Aber ich konnte die Toiletten nicht aushalten, und so bin ich nach Hause gefahren.« Sie sah ihn an und lächelte. »Ist das nicht ein idiotischer Grund, einen Heiratsantrag abzulehnen?«

»Und was wirst du jetzt machen?« Sie hatte nach zweieinhalb Jahren Wirtschaftswissenschaften an der New Yorker Universität das Studium aufgegeben und arbeitete jetzt als Sekretärin im Columbia Broadcasting System.

»Ich weiß es nicht. Ich bin so durcheinander. Jetzt schreibt er mir seit über einem Jahr. Ich antwortete auf jeden Brief. Ich kann nicht Schluß machen.« Sie sah ihn an. »Du bist mein Bruder. Sag mir, was ich tun soll.«

»Niemand kann dir das sagen, Ruthie, das weißt du doch.« Er räusperte sich. »Was ist mit all den Kerlen, mit denen du dauernd ausgehst. Ist da keiner drunter... ?«

Ihr Lächeln war traurig. »Du kennst doch die meisten von ihnen. Ich bin dazu bestimmt, jemanden zu heiraten, der im Wirtschaftsteil schreibt.

Oder einen Vertreter. Oder einen jungen Mann, dessen Vater einen Autoverleih betreibt. Einen jungen Mann, der auf seine Diät aufpassen muß und mir eine Toilette installieren lassen kann, die Brahms spielt, wenn man sich hinsetzt, und Chanel verspritzt, wenn man auf den goldenen Knopf für die Wasserspülung drückt.«

Einen Augenblick lang sah er seine Schwester, wie andere Männer sie sehen mochten. Eine Brünette mit blanken Augen und einem hübschen Lächeln, das ebenmäßige weiße Zähne sehen ließ. Ein Mädchen mit festem Busen und einem gutgebauten Körper. Eine schöne Frau. Er setzte sich neben sie und umarmte sie zum erstenmal seit ihrer Kindheit. »Wenn du das machst«, sagte er, »werd ich dich dauernd besuchen, nur um das Klo zu benützen.« Sein eigenes Liebesleben war um nichts erfreulicher als das seiner Schwester. Er kam mit Mimi Steinmetz zusammen, weil sie eben da war - er brauchte nur über den Korridor zu gehen. Immer wieder einmal ließen sie sich auf kindische sexuelle Spielereien ein, wobei Mimis Hände ihn abwehrten, aber nur zögernd und gleichsam bittend, er möge sie überwältigen. Aber er hatte keine Lust zum Überwältigen, denn er spürte, daß sie mehr nach Besitz verlangte als nach Lust - und er hatte nicht den leisesten Wunsch, zu besitzen oder besessen zu werden.

So fand der Trieb keine wirkliche Entspannung, und Michael wurde unruhig und nervös. Manchmal, wenn er noch spät in der Nacht lernte, ging er im Zimmer auf und ab. Friedmans, die das Apartment unter den Kinds bewohnten, beklagten sich schüchtern bei Dorothy.

So gewöhnte sich Michael daran, lange Spaziergänge zu unternehmen. Er durchstreifte die Umgebung des Campus, die Straßen von Manhattan und Queens. Eines Tages setzte er sich in die Hochbahn nach Brooklyn, ursprünglich mit der Absicht, in der altvertrauten Gegend von Borough Park auszusteigen; aber dann blieb er sitzen wie angeleimt, bis der Zug längst weitergefahren war, und erst in Bensonhurst stieg er aus und ging und ging durch Straßen mit alten, schäbigen Häusern. Gehen wurde für ihn zu einer Art Alkohol und er zum Säufer, der sich seinem geheimen Laster hingab, während seine Freunde schliefen oder Musik hörten oder studierten oder ein Mädchen zur Strecke zu bringen versuchten.

In einer Januarnacht verließ er die Butler-Bibliothek, wo er bis gegen zehn Uhr gelernt hatte, und machte sich auf den Weg zur Untergrundbahn. Schnee fiel in dicken weißen Flocken und hüllte die Welt ein. Wie im Traum ging Michael an der Untergrundstation vorbei. Im Verlauf von zehn Minuten hatte er sich verirrt, aber es machte ihm nichts aus. Er bog um eine Ecke in eine finstere schmale Gasse, kaum breiter als ein Hausdurchgang, mit baufälligen Wohnhäusern an beiden Seiten. Inmitten einer verlorenen Lichtinsel unter einer Straßenlaterne an der Ecke stand ein Polizist, groß und breitschultrig in seiner blauen Uniform, und hob das rauhe rote Gesicht aufwärts, dem fallenden Schnee entgegen. Er nickte Michael zu, als jener vorbeiging.

Auf halbem Wege zur nächsten Straßenecke hörte Michael schnelle leichte Schritte, die ihm folgten. Sein Herz begann zu hämmern, und er wandte sich um, ärgerlich über sich selbst, daß er so dumm gewesen war, nachts allein durch Manhattan zu gehen; der Mann schritt an ihm vorbei, schnell, aber so nahe, daß Michael ihn ausnehmen konnte: ein kleiner Mann mit großem Kopf, einem Bart, in dem Schnee hing, mit großer Nase und halbgeschlossenen Augen, die nichts sahen. Er trug den Mantel trotz der Kälte offen, die bloßen Hände hatte er auf dem Rücken gefaltet, und er redete leise vor sich hin. Betete er? Es kam Michael vor, als hätte er Hebräisch gesprochen.

Schon nach wenigen Augenblicken konnte Michael ihn nicht mehr sehen. Er hörte den Überfall mehr, als er ihn sah: das Geräusch von Schlägen, den Grunzlaut entweichender Luft, wie sie ihn in den Magen hieben, das Klatschen von Fäusten.

»POLIZEI!« brüllte Michael. »POLIZEI!« Der Polizist, weit unten an der nächsten Straßenecke, begann zu laufen. Er war sehr dick und wälzte sich unendlich langsam heran. Michael wäre ihm am liebsten entgegengelaufen, um ihn an der Hand zu nehmen, aber dazu war keine Zeit. Er lief auf die Kämpfenden zu, stolperte beinahe über zwei von ihnen, die neben einem reglosen Körper knieten.

Der eine richtete sich schweigend auf und rannte in die Dunkelheit.

Der andere, Michael näher, tat noch einen Schritt auf ihn zu, ehe Michaels Faust die bartstoppelige Wange traf. Michael sah Augen voll Haß und Angst, eine zerschlagene Nase, einen verkniffenen Mund. Jung, schwarze Lederjacke. Lederhandschuhe. Als der Schlag seinen Mund traf, fühlte Michael sich beinahe erleichtert: kein Messer! Er trug Fergusons und Bruuns Survey of American Civilization in der Linken - ein Buch von mindestens vier Pfund. Er faßte es mit der Rechten und holte aus, so gut er konnte. Er traf präzis, und der Angreifer fiel in den Schnee. »Arschloch«, flüsterte er, fast schluchzend. Ein Stück weit kroch er auf allen vieren, dann sprang er auf und rannte davon.

Der kleine bärtige Mann auf dem Pflaster richtete sich auf. Sie hatten allen Atem aus ihm herausgeprügelt, und seine Lungen rasselten, als er die Luft einsog. Schließlich atmete er tief, grinste und wies mit einer Kopfbewegung nach dem Lehrbuch. »Die Macht des gedruckten Wortes«, sagte er mit schwerem Akzent. Michael half ihm beim Aufstehen. Etwas Schwarzes lag im weißen Schnee: die jarmulka.

Sie war voll Schnee. Mit einer verlegenen Dankesgebärde stopfte der andere sie in die Manteltasche. »Ich habe gerade das schmma gesagt, das Abendgebet.«

»Ich weiß.«

Der Polizist kam keuchend heran. Michael erzählte ihm, was vorgefallen war, und schluckte dabei Blut, das aus seinen zerschlagenen Lippen quoll. Die drei gingen zurück zu der Lichtinsel unter der Straßenlaterne.

»Haben Sie ihre Gesichter ausnehmen können?« fragte der Polizist.

Der kleine Mann schüttelte den Kopf. »Nein.«

Michael hatte verschwommene Züge gesehen, von Erregung verzerrt.

Der Polizist fragte ihn, ob er die Täter aus einer Erkennungskartei herausfinden könnte. »Sicher nicht.«

Der Beamte seufzte. »Dann können wir die Geschichte ebensogut auf sich beruhen lassen. Die sind jetzt schon über alle Berge. Wahrscheinlich sind sie aus einem anderen Stadtviertel gekommen. Haben sie was erwischt?«

Der bärtige Mann hatte ein blaues Auge. Er griff in seine Hosentasche und zählte nach, was er zutage förderte: einen halben Dollar, einen Vierteldollar und zwei Cents. »Nein«, sagte er.

»Das ist alles, was Sie bei sich haben?« fragte der Polizist freundlich.

»Keine Brieftasche?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Die hätten Sie um ein Haar für Ihren letzten Cent erschlagen«, sagte der Polizist.

»Ich rufe ein Taxi«, sagte Michael. »Kann ich Sie mitnehmen?« »Aber nein, es ist ja nur zwei Gassen weit. Auf dem Broadway.« »Dann gehe ich mit Ihnen und nehme das Taxi dort.«

Sie bedankten sich bei dem Polizisten und gingen schweigend durch den Schnee, jeder seine Verletzung spürend. Schließlich hielt der Mann vor einem alten Ziegelbau mit einer unleserlichen Holztafel über dem Tor.

Er ergriff Michaels Hand. »Ich danke Ihnen. Ich heiße Gross, Max Gross. Rabbi Max Gross. Wollen Sie nicht noch zu mir kommen, auf eine Tasse Tee?«

Michael war neugierig, und so nannte er seinen Namen und nahm die Einladung an. Beim Eintreten stellte sich Rabbi Gross auf die Zehenspitzen, um eine hoch oben am Türrahmen angebrachte m'suse zu berühren, und küßte dann seine Fingerspitzen. Er zog die jarmulka hervor, die jetzt ganz durchweicht war von geschmolzenem Schnee, und setzte sie auf. Dann wies er auf einen Pappkarton, in dem noch eine Menge anderer Käppchen lagen. »Dies ist Gottes Haus.« Wäre dem so, dachte Michael, ein Käppchen aufsetzend, dann hätte Gott wohl eine Unterstützung nötig. Das Zimmer war klein und schmal, eigentlich mehr ein Vorraum als ein Zimmer; zehn Reihen hölzerner Klappsessel und ein Altar füllten es fast zur Gänze aus. Der Boden war mit abgescheuertem Linoleum belegt. In einem winzigen Nebenraum, der sich an der einen Seite anschloß, standen ein abgenützter Bürotisch und ein paar zerschrammte Rohrstühle. Gross zog seinen Mantel aus und warf ihn auf den Tisch. Darunter trug er einen zerknitterten marineblauen Anzug.

Ob sich unter dem Bart eine Krawatte befand, konnte Michael nicht feststellen. Obwohl der Rabbi einen sehr sauberen Eindruck machte, hatte Michael doch die Vorstellung, er würde dauernd schlecht rasiert herumgehen, hätte er keinen Bart.

Ein Dröhnen erschütterte das Gebäude und ließ die nackte gelbe Glühbirne an ihrem Kabel tanzen, so daß lange Schatten über die Decke huschten.

»Was ist denn das?« fragte Michael erschrocken.

»U-Bahn.« Über dem Ausguß des Waschbeckens füllte Gross einen verbeulten Aluminiumkessel mit Wasser und stellte ihn auf die Elektroplatte. Die Becher waren dickwandig und gesprungen. Gross färbte beide Tassen Wasser mit einem Teepäckchen, reichte Würfelzucker dazu. Er sagte die broche. Sie saßen auf den rohrgeflochtenen Stühlen und tranken schweigend ihren Tee.

Die bläulichen Male der Schläge im Gesicht des Rabbi wurden allmählich rot. Seine Augen waren groß und braun und von sanfter Unschuld, wie die Augen eines Kindes oder eines Tieres. Ein Heiliger oder ein Narr, dachte Michael.

»Leben Sie schon lange hier, Rabbi?«

Gross blies seinen Tee und dachte eine Weile nach. »Sechzehn Jahre. Ja, sechzehn.«

»Wie viele Mitglieder hat Ihre Gemeinde?«

»Nicht viele. Nur ein paar. Alte Männer zumeist.« Er saß einfach da und trank seinen Tee. Er schien nicht neugierig, was Michael betraf, stellte keine Fragen. Sie tranken ihren Tee aus, und Michael verabschiedete sich und zog seinen Mantel an. In der Tür wandte er sich nochmals um. Rabbi Gross bemerkte ihn offenbar nicht mehr. Er hatte seinem Gast den Rücken zugekehrt und wiegte sich und schaukelte beim abendlichen sch'mma, dort fortsetzend, wo er auf der Straße unterbrochen worden war: »Höre, Israel, der Herr unser Gott ist einig und einzig.« Die U-Bahn dröhnte. Das Gebäude erbebte. Die Glühbirne tanzte. Die Schatten huschten über die Decke. Michael ergriff die Flucht.

An einem Abend kurz vor Semesterschluß saß er in der Mensa mit einem Kollegen und einer Kollegin, einem Mädchen, das ihm gefiel, beim Kaffee. Alle drei plagten sich gerade ein wenig mit amerikanischer Philosophie. »Und was ist mit Orestes Brownson und seiner Enttäuschung über die Aufklärung?« fragte Edna Roth.

Mit flinker rosiger Zunge leckte sie ihre Fingerspitzen ab, die klebrig waren von Blätterteiggebäck.

»Mein Gott«, sagte er seufzend, »katholisch ist er geworden - das ist alles, was ich über ihn weiß.«

»Ich hab über deinen Vater nachgedacht«, sagte Chuck Farley aus heiterem Himmel. »Kleine Kapitalisten wie dein Vater sind die größten Feinde der Arbeiterschaft.«

»Mein Vater muß sich fast jede Woche den Kopf drüber zerbrechen, wie er seine Löhne ausbezahlt«, sagte Michael kurz. Farley kannte Abe Kind nicht. Ein paarmal hatte er nach Kind Foundations gefragt, und Michael hatte Antwort gegeben. »Die Gewerkschaft liegt ihm im Magen. Was hat das mit amerikanischer Philosophie zu tun?«

Farley zog die Augenbrauen hoch. »Alles«, sagte er. »Siehst du das nicht?« Farley war sehr häßlich, hatte eine große sommersprossige Nase und brandrote Haare, Wimpern und Brauen. Er trug eine achteckige randlose Brille und kleidete sich auffallend, aber nachlässig. Wenn er in der Vorlesung oder im Seminar das Wort ergriff, zog er regelmäßig eine goldene Uhr, groß wie ein Wagenrad, aus der Hosentasche und legte sie vor sich auf den Tisch. Michael trank häufig in der Mensa Kaffee mit ihm, weil Edna Roth immer in seiner Gesellschaft war.

Edna war ein freundliches dunkelhaariges Mädchen mit einem winzigen Muttermal auf der linken Wange und einer leicht vorspringenden Unterlippe, die Michael davon träumen ließ, seine Zähne daran zu versuchen. Sie neigte ein wenig zur Fülle, kleidete sich einfach und war weder hübsch noch häßlich; ihre braunen Augen zeigten einen Ausdruck von friedlichem Einverständnis mit ihrer Weiblichkeit; sie strömte eine angenehm animalische Wärme aus und einen zarten, verwirrenden Geruch wie nach Milch.

»Von jetzt an gibt's keine fröhlichen kleinen Saufereien mehr«, sagte sie, obgleich Michael noch nie mit ihnen auf Bartour gegangen war.

»Kein Schläfchen, keine Spielereien, keine Extravaganzen. Wir müssen noch eine Menge lernen für diese Prüfung.« Sie blinzelte Farley ängstlich an. Die Kurzsichtigkeit gab ihrem Gesicht einen träumerischen, ein wenig entrückten Ausdruck. »Wirst du auch genug Zeit zum Lernen haben, mein Schatz?«

Er nickte. »In der Eisenbahn.« Er fuhr regelmäßig nach Danbury, Connecticut, wo er mit half, einen Streik in der Hutindustrie zu organisieren. Edna hatte viel Verständnis für seine politische Tätigkeit. Sie war Witwe. Auch Seymour, ihr verstorbener Gatte, war Parteimitglied gewesen. Sie kannte sich aus mit Streiks. Farley berührte ihren üppigen Mund flüchtig mit seinen dünnen Lippen und verabschiedete sich. Michael und Edna tranken ihren Kaffee aus und begaben sich dann an ihre Arbeitsplätze im dritten Stock des Bibliotheksgebäudes; dort rangen sie bis zum Ende der Bibliotheksstunden mit Brownson und Theodore Parker, mit der transzendenten und der kosmischen Philosophie, den Radikalempiristen und den Calvinisten, mit Borden Parker Browne, Thoreau, Melville, Brook Farm, William Torrey Harris ...

Er rieb sich die brennenden Augen, als sie das Haus verließen. »Es ist einfach zu viel, zu viele Einzelheiten.«

»Ich weiß. Hast du Lust, noch zu mir zu kommen, mein Schatz? Wir könnten noch ein, zwei Stunden lernen.«

Sie fuhren mit der Untergrundbahn nach Washington Heights, wo Edna ein Apartment in einem alten Rohziegelbau bewohnte. Sie sperrte auf, und Michael erblickte zu seiner Verwunderung eine junge Negerin, die, neben dem Radio sitzend, ihre Mathematikaufgabe machte; sie packte ihre Hefte sofort zusammen, als die beiden eintraten.

»Wie geht's ihm, Martha?« fragte Edna. »Alles in Ordnung. Er ist ein süßer Junge.« Das Mädchen packte seine Schulsachen zusammen und verabschiedete sich. Michael folgte Edna in das kleine Schlafzimmer und beugte sich über das Kinderbett. Er war der Meinung gewesen, Seymour hätte ihr nichts hinterlassen als gerade genug Geld, daß sie ins Lehrerseminar zurückkehren konnte. Aber da gab es noch eine andere Hinterlassenschaft.

»Ein hübscher Kerl«, sagte Michael, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten. »Wie alt ist er denn?«

»Danke. Vierzehn Monate. Er heißt Alan.« Sie ging in die Küche und kochte Kaffee. Michael sah sich im Zimmer um. Auf dem Kaminsims stand ein Bild. Ohne zu fragen wußte er, daß es den verstorbenen Seymour darstellte, einen recht gut aussehenden Mann mit lächerlichem Schnurrbart und angestrengtem Lächeln. Die Kolonialstil-Möbel konnten, wenn Edna Glück hatte, halten, bis sie zu unterrichten beginnen oder wieder heiraten würde. Zum Fenster hinausblickend, sah Michael den Fluß. Das Haus lag näher dem Broadway als dem Riverside Drive, aber die Stadt fällt zum Hudson steil ab, und die Wohnung befand sich im achten Stock. Die kleinen Lichter der Boote krochen langsam über das Wasser.

Sie tranken Kaffee in der winzigen Kitchenette, und dann lernten sie, ohne sich von ihren Plätzen zu rühren; nur sein Knie berührte ihren Schenkel. Noch keine vierzig Minuten waren vergangen, da war er mit seinem Pensum durch, und auch sie hatte ihr Buch geschlossen. Es war warm in der Küche. Er spürte wieder Ednas Duft, den zarten, aber deutlichen Milchgeruch.

»Jetzt muß ich wohl gehen.«

»Du kannst auch dableiben, wenn du magst, mein Schatz. Heute kannst du dableiben.«

Er rief zu Hause an, während sie die Kaffeetassen wegräumte. Seine Mutter war am Telephon, ihre Stimme klang verschlafen, und er sagte ihr, daß er noch lerne und bei einem Freund übernachten werde. Sie dankte ihm dafür, daß er sie angerufen hatte, so daß sie sich keine Sorgen machen mußte.

Das Schlafzimmer lag neben dem Kinderzimmer, und die Verbindungstür war offen. Einander den Rücken zuwendend, entkleideten sie sich im Schein des Nachtlichts, das nebenan bei dem Baby brannte. Er versuchte seine Zähne zart an ihrer Unterlippe, ganz so, wie er es sich vorgestellt hatte. Im Bett, als er ihr ganz nahe war, machte sich der zarte Milchgeruch sehr kräftig bemerkbar. Er fragte sich, ob sie das Baby noch immer stillte. Aber ihre Brustwarzen waren trockene, harte kleine Knospen. Alles übrige war weich und warm, ohne Schrecken oder Überraschungen, ein sanftes Steigen und Fallen, wie das gleichmäßige Schaukeln einer Wiege. Sie war freundlich. Im Einschlafen spürte er, wie ihre Hand sein Haar streichelte.

Um vier Uhr begann das Baby zu schreien; der dünne, klagende Laut riß sie aus dem Schlaf. Edna zog ihren Arm unter Michaels Kopf hervor, sprang aus dem Bett und lief, die Flasche zu wärmen.

Nun er sie nackt sah, merkte er, daß ihre Hinterbacken groß und etwas hängend waren. Als sie die Flasche aus dem heißen Wasser nahm, fand auch das Geheimnis des Milchgeruchs seine Lösung: sie spritzte einen weißen Tropfen auf die zarte, empfindliche Haut in der Ellbogenbeuge. Zufrieden mit der Temperatur der Milch, steckte sie dem Kleinen den Sauger in den Mund. Das Weinen hörte auf.

Als sie wieder im Bett lag, beugte er sich über sie und küßte sie in die Ellbogenbeuge. Sie war noch feucht und warm von der Milch.

Mit der Zungenspitze fühlte er, wie weich ihre Haut war. Die Milch schmeckte süß. Edna seufzte. Ihre Hand suchte ihn. Diesmal war er seiner selbst sicherer und sie weniger mütterlich. Als sie dann schlief, erhob er sich vorsichtig, kleidete sich im Dunkel an und verließ die Wohnung. Drunten auf der Straße war es finster; Wind kam vom Fluß her. Michael klappte den Mantelkragen hoch und machte sich auf den Weg. Er fühlte sich schwerelos und glücklich, befreit von der Last der Unschuld. »Endlich«, sagte er laut vor sich hin. Ein Junge, der auf seinem mit Paketen vollbeladenen Fahrrad vorbeifuhr, musterte ihn mit hellem, hartem Blick. Selbst um fünf Uhr am Morgen, wenn überall anders die Leute noch schliefen, war Manhattan wach. Menschen waren unterwegs, Taxis und Autos fuhren. Michael ging lange. Allmählich wurde es Tag. Plötzlich erkannte er eines der Häuser, an denen er vorüberging. Es war die kleine schäbige schul mit den von der Untergrundbahn geschüttelten Lampen, die Synagoge des Rabbi Max Gross.

Er trat dicht an das Tor heran und versuchte die fast nicht mehr leserliche Schrift auf der kleinen Holztafel zu entziffern. Im grauen Licht der Morgendämmerung schienen die verblaßten hebräischen Schriftzeichen sich zu drehen und zu krümmen, aber mit einiger Mühe gelang es ihm, sie zu entziffern. Scharaj Schomajim. Pforte des Himmels.

15

Mit vier Jahren, als er noch in der polnischen Stadt Worka lebte, konnte Max Gross Teile des Talmud lesen. Mit sieben, als sich die meisten seiner kleinen Freunde noch mit der Sprache und den Geschichten der Bibel plagten, war er schon tief in die Kompliziertheit des Gesetzes eingedrungen. Sein Vater, der Weinhändler Chaim Gross, war glücklich darüber, daß seine Kaufmannslenden einen ilui gezeugt hatten, ein Talmud-Genie, das Gottes Segen über die Seele Soreles bringen würde, seines verstorbenen Weibes, das die Grippe ins Paradies befördert hatte, als ihr Sohn noch nicht gehen konnte. Sobald Max lesen konnte, begleitete er seinen Vater, wenn dieser sich mit all den anderen Chassidim bei Rabbi Label, ihrem Lehrer, einfand. An jedem Sabbatabend hielt der Rabbi von Worka seine Tafelrunde. Die frommen Juden aßen früh zu Abend, wußten sie doch, daß ihr Lehrer sie erwartete. Sobald alle sich um den Tisch versammelt hatten, begann der alte Rabbi zu essen, reichte auch von Zeit zu Zeit einen Leckerbissen - ein Stückchen Huhn, ein saftiges Markbein oder einen Bissen Fisch - einem verdienstvollen Juden, der die Speise beseligt verzehrte, wissend, daß Gott berührt hatte, was aus den Händen des Rabbi kam. Und unter all den Erwachsenen saß Max, das Wunderkind, in seinem weißen Samtkaftan, dünn und großäugig, auch damals schon zu klein für sein Alter, mit ständig gerunzelter Stirn und an einer seiner Schläfenlocken ziehend, während er gespannt den Worten der Weisheit lauschte, die aus dem Munde des Rabbi kamen.

Aber Max war nicht nur ein Wunder, sondern auch ein Kind, und er genoß die Feste mit kindlicher Freude. Am Abend eines jeden Feiertags versammelten sich die Chassidim zu festlichem Mahl. Die Tische bogen sich unter Schüsseln voll nahit, Tellern voll Kuchen und kuglen und vielen Flaschen Schnaps. Die Frauen, als mindere Geschöpfe, nahmen an diesen Festen nicht teil. Die Männer aßen mäßig und tranken reichlich. Eingedenk der Lehre, daß alles Böse nur durch Freude, nicht aber durch Kümmernis überwunden werden kann, und sicher in dem Glauben, daß die Ekstase sie näher zu Gott brächte, öffneten sie ihre Herzen der Fröhlichkeit. Bald erhob sich einer der bärtigen Chassidim und winkte einem Gefährten. Sie legten einander die Hände auf die Schultern und begannen zu tanzen. Andere fanden sich zusammen, und bald war der Raum voll mit tanzenden bärtigen Paaren. Der Takt war schnell und sieghaft. Sie hatten keine Musik als ihren eigenen Gesang, der unaufhörlich ein und denselben Bibelvers wiederholte. Dann gab wohl einer der Männer Max im Scherz einen Schluck von dem feurigen Schnaps zu trinken, und einer, manchmal sogar der Rabbi selbst, holte den kleinen Jungen zum Tanz. Mit leichtem Kopf und unsicheren Füßen, herumgewirbelt von großen Händen, die ihn an den Schultern faßten, drehte sich Max in atemloser Lust durch den Raum, seine kleinen Füße flogen über den Boden und ahmten das Stampfen der Erwachsenen nach, während die tiefen Stimmen der bärtigen Männer den rhythmisch sich wiederholenden Chor summten: »W'tah-hair libanu l'awd'scho be-emess. - Mach rein unsre Herzen, auf daß sie Dir dienen in Wahrheit.«

Schon lange vor seiner bar-mizwe war Max zu einer Legende geworden. Tiefer und mit zunehmender Geschicklichkeit tauchte er in das unendliche Meer des Talmud, und immer häufiger geschah es, daß er am Tisch des Rabbi mit einem erlesenen Bissen ausgezeichnet wurde, oder daß seines Vaters Freunde ihn auf der Straße anhielten, um ihm den Rücken zu tätscheln oder seinen Kopf zu berühren. Als er acht Jahre alt war, nahm ihn sein Vater aus dem chejder, der Schule, die alle Jungen besuchten, und übergab ihn zur persönlichen Unterweisung dem Reb Yankel Cohen, einem tuberkulösen Gelehrten mit krankhaft glänzenden Augen. Für Max war es fast so, als studierte er allein. Er rezitierte Stunden und Stunden, während der hagere Mann neben ihm saß und ohne Ende in ein großes Tuch hustete. Sie redeten nicht miteinander.

Wenn Max sich mit müder Stimme in falsche Philosophie oder fehlerhafte Interpretationen verirrte, krallten sich die dürren Finger des Lehrers wie Zangen in seinen Arm; die blauroten Flecken waren noch eine Weile nach Reb Yankels Begräbnis sichtbar. Vier Monate vor seinem Tod teilte der Lehrer Chaim Gross mit, er habe den Zehnjährigen alles gelehrt, was er wisse. Von da an ging Max bis zu seiner bar-mizwe allmorgendlich in das Lehrhaus der Gemeinde, wo er mit anderen, oft mit graubärtigen Männern, jeden Tag einen anderen Abschnitt des Gesetzes studierte und hitzige Diskussionen über die Auslegungen führte. Nachdem er mit Dreizehn als Mann in die Gemeinde aufgenommen worden war, übernahm Rabbi Label persönlich die Verantwortung für die weitere Erziehung des Wunderkindes. Das war eine einzigartige Auszeichnung. Im Hause des Rabbi gab es außer Max nur noch einen einzigen Schüler; und das war der Schwiergersohn des Rabbi, ein zweiundzwanzigjähriger Mann, der auf ein Rabbinat wartete.

Chaim Gross dankte Gott täglich dafür, daß er ihn mit diesem Sohn gesegnet hatte. Maxens Zukunft war gesichert. Er würde Rabbiner werden und dank seiner glänzenden Gaben eine Schule um sich versammeln, die ihm Reichtum, Ehre und Ruhm bringen würde. Er, der Sohn eines Weinhändlers! Über diesen Träumen von seines Sohnes Zukunft verschied Chaim Gross eines Winterabends lächelnd an einem Herzschlag.

Max zweifelte nicht an Gott, weil dieser ihm seinen Vater genommen hatte. Aber als er auf dem kleinen jüdischen Friedhof an dem offenen Grab stand und kadisch sagte, spürte er zum erstenmal in seinem Leben, wie schneidend der Wind und wie bitter die Kälte war.

Auf Rabbi Labels Rat stellte er für den Weinhandel einen polnischen Geschäftsführer namens Stanislaus an. Einmal in der Woche kontrollierte er oberflächlich die Bücher, um Stanislaus'

Diebereien in erträglichem Ausmaß zu halten. Der Weinhandel brachte ihm weit weniger Geld ein, als sein Vater damit verdient hatte, aber immerhin konnte er sein ganz dem Studium ergebenes Leben fortsetzen wie bisher.

Als er zwanzig Jahre alt war und nach einem Rabbinat und einer passenden Frau Ausschau zu halten begann, brachen schwere Zeiten über Polen herein. Der Sommer war in diesem Jahr mörderisch heiß und trocken gewesen. Der Weizen verbrannte auf den Feldern, die Halme knickten im Wind, statt sich geschmeidig zu beugen. Die wenigen Zuckerrüben, die in diesem Herbst geerntet wurden, waren weich und runzlig und die Kartoffeln klein und bitter. Mit dem ersten Schnee drängten sich die Bauern zu den Spinnereien, den Glas- und Papierfabriken und überboten einander an Bereitwilligkeit, für immer niedrigeren Lohn zu arbeiten. Bald wurde jeder Schichtwechsel zu einem erbitterten Kampf, die Hungrigen rotteten sich auf den Straßen und Plätzen zusammen und lauschten finster blickenden Männern, die bei ihren Reden drohend die Faust erhoben.

Anfangs wurden nur wenige Juden verprügelt. Bald aber gab es regelrechte Überfälle auf die Gettos; wenn sie die Männer niederschlugen, die den Erlöser getötet hatten, vergaßen die Polen in der Erregung des Augenblicks das Hungergeschrei ihrer Kinder.

Stanislaus erkannte bald, wie schwierig es für ihn als Geschäftsführer einer jüdischen Weinhandlung sein würde, den plündernden Mob davon zu überzeugen, daß er kein Jude sei. Eines Nachmittags machte er sich aus dem Staub, ohne auch nur den Laden abzusperren, und nahm, statt eine Nachricht zu hinterlassen, die Wochenlosung mit. Er hatte gerade noch rechtzeitig die Flucht ergriffen. Am Abend darauf drang eine lachende, betrunkene Menge in das Getto von Worka ein. In den Straßen flog Blut wie Wein; im Laden des verstorbenen Chaim Gross vergossen sie Wein wie Blut.

Was sie nicht trinken oder mitnehmen konnten, wurde verschüttet oder zerschlagen. Am nächsten Tag, während die Juden ihre Wunden verbanden und ihre Toten begruben, stellte Max fest, daß der Laden ruiniert war. Er nahm den Verlust mit einem Gefühl der Erleichterung zur Kenntnis. Seine wirkliche Arbeit war Dienst an seinem Volk und an Gott. Er half dem Rabbi bei vier Begräbnissen und betete mit seinen Brüdern um die Hilfe Gottes.

Nach der Katastrophe unterstützte ihn Rabbi Label zwei Monate lang. Max war nun so weit, daß er ein eigenes Rabbinat übernehmen konnte. Aber als er sich nach einer Gemeinde umzusehen begann, stellte sich heraus, daß unter den Juden in Polen kein Bedarf nach neuen Rabbinern bestand. Zu Zehntausenden verließen sie das Land; England oder die Vereinigten Staaten waren die häufigsten Reiseziele.

Rabbi Label bemühte sich, seine Besorgnis nicht zu zeigen. »Dann wirst du eben mein Sohn sein und wirst essen, was wir essen. Es kommen auch wieder bessere Zeiten.«

Max aber sah, daß von Tag zu Tag eine größere Zahl von Juden die Stadt verließ. Wer sollte ihnen helfen, in einer fremden Umgebung Gott zu finden? Als er Rabbi Label fragte, hob der Lehrer hilflos die Schultern.

Aber der Schüler wußte bereits die Antwort.

Er traf im August in New York ein, während einer Hitzewelle, und er trug seinen langen schweren Kaftan und einen runden schwarzen Hut. Zwei Tage und zwei Nächte verbrachte er in der Zwei-Zimmer-Wohnung von Simon und Buni Wilensky, die sechs Wochen vor ihm mit ihren drei Kindern Worka verlassen hatten.

Wilensky arbeitete in einer Fabrik, die kleine amerikanische Flaggen erzeugte. Er war Weißnäher. Voll Zuversicht versicherte er Max, daß auch Buni, wenn sie nur erst zu weinen aufhörte, Amerika lieben würde. Max hörte Bunis Weinen zwei Tage lang, spürte zwei Tage lang den Geruch der Wilensky-Kinder. Als er es nicht mehr ertragen konnte, verließ er die Wohnung und durchstreifte ziellos die East Side, bis er zu einer Synagoge kam. Der Rabbi hörte ihm zu, setzte ihn dann in ein Taxi und fuhr mit ihm zur Vereinigung Orthodoxer Rabbiner. Im Augenblick sei keine Gemeinde vakant, sagte ihm ein mitfühlender orthodoxer Kollege. Aber Kantoren für die hohen Feiertage würden sehr gesucht. Ob er ein chasn sei, ein Kantor? In diesem Fall könnten sie ihn zu der Gemeinde Beth Israel in Bayonne, New Jersey, schicken. Die schul sei bereit, fünfundsiebzig Dollar zu zahlen.

Als er in Bayonne seine Stimme erhob, sahen die Gläubigen ihn verwundert an. Er hatte die Gesänge schon als kleiner Bub auswendig gelernt, jeder Ton war ihm vertraut wie ein guter Freund.

In seiner Vorstellung klang die Melodie auch ganz richtig und klar, aber was aus seinem Mund kam, konnte kaum Singen genannt werden. Er sang wie ein dressierter Frosch. Nach dem Gottesdienst winkte ihn der gestrenge Schatzmeister der Gemeinde, ein Mann namens Jacobson, mit drohend erhobenem Finger zu sich heran.

Jetzt war es zu spät für die schul, einen anderen chasn zu finden. Aber Max erfuhr in einem kurzen Gespräch, daß er für seinen Gesang während der Feiertage keine fünfundsiebzig Dollar bekommen würde, sondern nur zehn und einen Schlafplatz. Für zehn Dollar kann man keine Nachtigall verlangen, sagte Jacobson. Max machte seine Sache als Kantor so miserabel, daß die meisten Besucher der Synagoge ihm aus dem Weg gingen. Nur Jacobson wurde nach ihrem ersten Gespräch freundlicher. Er war ein dicker glatzköpfiger Mann mit blasser Haut und einem goldenen Vorderzahn. Aus der Brusttasche seines karierten Jacketts sahen immer drei Zigarren heraus. Er stellte viele persönliche Fragen, die Max höflich beantwortete. Schließlich entpuppte er sich als schadchen, als Heiratsvermittler.

»Für Ihre Sorgen gibt es nur eine Lösung: eine gute Frau«, sagte er.

»»Denn Er schuf sie, einen Mann und ein Weib. Und Er sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde.<« Max verschloß sich diesem Argument nicht. Als namhafter junger Gelehrter hatte er erwartet, in eine der wohlhabenden jüdischen Familien von Worka zu heiraten. Und hier in Amerika würde das Leben viel freundlicher aussehen mit einem hübschen Mädchen, das ihm ein Heim bereitete, und mit einflußreichen Verwandten, die eine große Mitgift zur Verfügung stellten. Jacobson aber betrachtete ihn genau und sagte laut auf englisch, das Max, wie er wußte, noch nicht verstand: »Du dummer Junge du, ziehst dich an, als möchtest du die Leute zum Pogrom direkt einladen. Riese bist du auch keiner, kein Mädchen wird sich klein neben dir fühlen.« Er seufzte. »Blatternarbig bist du wenigstens nicht, das ist aber auch das Beste, was man über dich sagen kann.« Dann setzte er Max auf jiddisch auseinander, daß der Markt für polnische Juden in Amerika wesentlich schlechter sei als in Polen. »Tun Sie Ihr Bestes«, sagte Max.

Leah Masnick war fünf Jahre älter als Max, eine Waise, die bei ihrem Onkel Lester Masnick und dessen Frau Ethel lebte. Die Masnicks führten eine koschere Geflügelhandlung. Sie behandelten das Mädchen liebevoll, aber Leah war der Meinung, daß sie selbst in frischgebadetem Zustand nach Blut und Hühnerfedern rochen. Als schon im Land geborene Amerikanerin wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, einen Immigranten zu heiraten, wäre es nicht schon Jahre her gewesen, daß ein Mann sie auch nur angesehen hatte.

Sie war nicht häßlich, obwohl sie kleine Augen und eine lange Nase hatte, aber es fehlte ihr jeder weibliche Charme; sie wußte nicht, wie man einen Mann anlächelt und wie man ihn zum Lachen bringt. Die Jahre vergingen, und sie fühlte sich immer weniger als Frau. Sie meinte, daß ihre Brüste, flach wie die Pfannkuchen, allmählich noch flacher würden. Die Menstruation wurde unregelmäßig und setzte ein paar Monate lang ganz aus; manchmal stellte sie sich verzweifelt vor, wie sich ihr großer schlanker Körper plötzlich in den eines Jungen verwandeln würde, weil niemand Verwendung für ihn hatte. Sie hatte 2843 Dollar bei der New Jersey Guarantee Trust Company liegen.

Als Jacobson eines Abends im Hause ihres Onkels auftauchte und sie über seine Kaffeetasse hinweg anlächelte, wußte sie, daß sie mit jedem einverstanden sein würde, den er für sie hatte, wußte, daß sie es sich nicht leisten konnte, auf irgendeine Chance zu verzichten. Als sie hörte, daß der Mann ein Rabbiner sei, erbebte sie vor Hoffnung.

Sie hatte englische Romane über Geistliche und deren Frauen gelesen, und sie phantasierte von einem Leben in einem kleinen, aber sauberen englischen Pfarrhaus mit m'susess an den Türen. Als sie ihn dann sah, einen kleinen Knirps von einem Mann, bärtig und in komischen ungebügelten Kleidern, mit merkwürdigen weibischen Locken an den Ohren, mußte sie sich zwingen, freundlich mit ihm zu sprechen, und ihre Augen glänzten vor Tränen.

Trotz aller Vorsätze wurde sie zehn Tage vor der Hochzeit hysterisch und schrie, sie werde ihn nicht heiraten, wenn er sich nicht die Haare schneiden ließe wie ein Amerikaner. Max war entsetzt, aber er hatte wohl bemerkt, daß die amerikanischen Rabbiner, mit denen er zusammenkam, keine Schläfenlocken trugen. Resigniert suchte er einen Friseursalon auf und nahm es hin, daß der Italiener sich fast schief lachte, als er die pejess abschnitt, die Max sein Leben lang getragen hatte.

Ohne Schläfenlocken fühlte er sich nackt. Nachdem Leahs Onkel Lester ihn auch noch in ein Warenhaus geschleppt und ihm einen grauen zweireihigen Anzug mit eckig wattierten Schultern gekauft hatte, kam er sich vor wie ein leibhaftiger goj.

Als er aber neuerlich das Büro der Vereinigung Orthodoxer Rabbiner aufsuchte, verursachte sein Äußeres keinerlei unliebsames Aufsehen. Er sei zur guten Stunde gekommen, sagte man ihm. In Manhattan habe sich eine neue Gemeinde gebildet, deren Mitglieder die Vereinigung beauftragt hatten, einen Rabbiner für sie zu gewinnen. Shaarai Shomayim habe nur wenige Mitglieder und verfüge nur über einen gemieteten Raum, in dem der Gottesdienst stattfinden solle, aber die Gemeinde werde schon wachsen. So versicherten ihm die Rabbiner der Vereinigung, und Max war überglücklich. Er hatte sein erstes Rabbinat.

Sie mieteten eine Vier-Zimmer-Wohnung, nur zwei Straßen von der schul entfernt, und gaben einen großen Teil der Mitgift für Möbel aus. In diese Wohnung kamen sie am Abend nach ihrer Hochzeit. Sie waren beide müde von den Aufregungen des Tages und schwach vor Hunger, denn von Tante Ethel Masnicks Hochzeitshühnchen hatten sie nichts essen können. Max saß auf seinem neuen Sofa und spielte mit der Skala seines neuen Radios, während seine neu angetraute Frau sich im Nebenzimmer auszog und in ihr neues Bett stieg. Als er sich neben sie legte, war ihm bewußt, daß sein Scheitel gerade an ihr Ohr heranreichte, während seine kalten Zehen auf ihren bebenden Knöcheln lagen. Ihr Hymen war zäh wie Leder. Er bemühte sich aus Leibeskräften, murmelte hastige Gebete und fühlte sich eingeschüchtert, sowohl von dem Widerstand, dem er begegnete, als auch von den leisen Angst- und Schmerzensschreien seiner Braut. Endlich gelang es ihm, das Häutchen riß, und Leah schrie durchdringend auf. Als alles vorüber war, lag sie allein an der äußersten Kante des Bettes und weinte, weinte über den Schmerz und die Demütigung, aber auch über ihren seltsamen kleinen Gatten, der nackt über zwei Drittel des Bettes ausgestreckt lag und Triumphgesänge auf hebräisch sang, in einer Sprache, die sie nicht verstand.

Anfangs fühlte sich Max von allem bedrückt und bedroht. Die Straßen waren voll mit fremden Menschen, die einander stießen und drängten und es immer eilig hatten. Autos und Autobusse und Trolleybusse und Taxis hupten unablässig und erfüllten die Luft mit dem Gestank ihrer Abgase. Überall gab es Lärm und Schmutz. Und in seinem eigenen Haus, wo er hätte Frieden finden sollen, gab es eine Frau, die es ablehnte, jiddisch mit ihm zu sprechen, obwohl sie doch sein Weib war.

Er sprach nie anders als auf jiddisch zu ihr, und sie antwortete nie anders als auf englisch: es war ein Tauziehen. Erstaunlicherweise erwartete sie Gespräche während der Mahlzeiten und weinte, wenn er darauf bestand, beim Essen zu studieren. Eines Nachts kurz nach ihrer Hochzeit setzte er ihr freundlich auseinander, daß sie die Frau eines Rabbis sei, den Chassidim erzogen hätten. Und die Frau eines Chassid, so erklärte er ihr, müsse kochen und backen und nähen und die Wohnung sauberhalten und beten und licht benschn, statt dauernd zu reden, zu reden und zu reden über nichts und wieder nichts.

Tag für Tag ging er früh zur schul und blieb bis spät abends; dort fand er Frieden. Gott war derselbe, der Er in Polen gewesen war, die Gebete waren dieselben. Er konnte den ganzen Tag so sitzen und lernen und beten, ganz verloren an seine Betrachtung, während die Schatten des Tages länger wurden. Seine Gemeinde fand, er sei gelehrt, aber distanziert. Sie respektierten sein Wissen, aber sie liebten ihn nicht.

Nach fast zwei Jahren der Ehe packte Leah eines Nachmittags ihre Kleider in einen Koffer aus imitiertem Leder und teilte ihrem Mann schriftlich mit, daß sie ihn verlasse. Sie fuhr mit dem Bus nach Bayonne, New Jersey, bezog wieder ihr altes Zimmer bei den Masnicks und begann wieder, Onkel Lesters Bücher zu führen. Max stellte fest, daß er nach Leahs Weggang allmorgendlich eine halbe Stunde früher aufstehen mußte, um rechtzeitig zum kadisch in der schul zu sein. Um die Wohnung kümmerte er sich nicht. Staub häufte sich auf dem Fußboden, und der Spülstein war voll mit schmutzigem Geschirr.

Leah hatte nicht mehr an den Blut- und Federngeruch der Geflügelhandlung gedacht. Ihr Onkel hatte seine Verrechnung während ihrer Abwesenheit nur unordentlich geführt, und die Bücher waren voll hoffnungsloser Fehler; sie verursachten ihr Kopfschmerzen, wie sie nun wieder an ihrem alten Schreibtisch im Hinterstübchen des Geschäftes saß, inmitten des Gegackers der Hühner und des Krähens der Hähne, und sich damit plagte, die Bilanz in Ordnung zu bringen. Nachts konnte sie nicht schlafen.

Der seltsame bärtige Zwerg, den sie geheiratet hatte, war stark und rüstig gewesen, und zwei Jahre lang hatte er ihren Körper benützt, wann immer er dazu Lust gehabt hatte. Sie hatte geglaubt, sie würde sich frei fühlen ohne ihn. Jetzt aber lag sie wieder im Bett ihrer einstigen Jungfernschaft und entdeckte mit Staunen, daß ihre Hand sich im Einschlafen zwischen ihre Schenkel verirrte und daß sie erschreckend deutlich und eindeutig von dem kleinen Tyrannen träumte.

Eines Morgens, während ihre Finger geschäftig über die Tasten der Addiermaschine liefen und sie sich bemühte, den Geruch des Hühnermistes nicht zur Kenntnis zu nehmen, begann sie plötzlich zu erbrechen. Stundenlang fühlte sie sich elend. Am Nachmittag sagte ihr der Arzt, daß sie im dritten Monat schwanger sei. Als Max tags darauf spät aus der Synagoge nach Hause kam, fand er seine Frau in der Küche bei der Arbeit. Die Wohnung war aufgeräumt.

Auf dem Herd standen brodelnde und dampfende Töpfe, aus denen es verlockend duftete. Das Abendessen sei gleich fertig, sagte sie.

Sie werde darauf achten, ihn nachher nicht beim Studium zu stören, aber während des Essens gebe es keine Bücher mehr auf dem Tisch, oder sie würde sofort wieder nach Bayonne fahren.

Er nickte zufrieden. Wenigstens redete sie mit ihm, wie es sich für eine jüdische Frau gehörte: auf jiddisch.

Die Synagoge Shaarai Shomayim entwickelte sich zu keiner großen und einflußreichen Gemeinde. Max war kein Administrator, und er gehörte auch nicht zu jenen Rabbinern, die in der Synagoge eine soziale Einrichtung sehen. Shaarai Shomayim hatte keinen Männer-und keinen Frauenverein. Es gab keinen gemeinsamen Ausflug einmal im Jahr, keine Filmvorführungen. Familien, die solche Erwartungen gehegt hatten, waren schnell enttäuscht worden. Die meisten von ihnen wanderten mit ihrer Mitgliedschaft und ihren Jahresbeiträgen zu anderen Synagogen ab, die in den umliegenden Vierteln neu gegründet wurden. Bei Max verblieb schließlich eine Handvoll Männer, die nichts wollten als ihre Religion.

Max verbrachte den größten Teil seiner Tage in dem kleinen dunklen Zimmer mit der Thora. Die Propheten waren seine Familie.

Leah hatte ein Kind geboren, einen Sohn, den sie Chaim nannten.

Er starb mit drei Jahren an einem Blinddarmdurchbruch. Als Max den sterbenden jungen in seinen Armen hielt, als er spürte, wie das kleine Gesicht unter seinen Lippen brannte und das Leben unaufhaltsam aus ihm entwich, sagte er seiner Frau, daß er sie liebe.

Er sagte es nie wieder, aber Leah vergaß es nicht. Es war nicht genug, sie über die Einsamkeit zu trösten, die nie von ihr wich, über den Kummer, über die Leere ihres Lebens, über die Erkenntnis, daß Gott ihm viel mehr bedeutete als sie; aber es war immerhin etwas.

Die Jahre vergingen, die schul wurde immer schäbiger, doch die alten Männer seiner Gemeinde hielten Max eine Treue, die ihn verwunderte, weil sie Liebe enthielt. Er dachte nie daran, sich nach einem einträglicheren Rabbinat umzusehen. Der Hungerlohn, den sie als sein Jahresgehalt aufbrachten, genügte ihm. Zweimal brachte er Leah in Wut, weil er kleine Gehaltserhöhungen ablehnte; er erklärte dem Vorstand der schul ganz einfach, ein Jude brauche nicht mehr als sein Essen und seinen taless. Schließlich ging Leah selbst zu den Ältesten der Gemeinde und nahm die Erhöhung in seinem Namen an.

Einsam fühlte er sich nur, wenn er an die Chassidim dachte. Einmal erfuhr er, daß einige Familien aus Worka in Williamsburg wohnten.

Er nahm die lange Fahrt mit der Untergrundbahn auf sich und suchte, bis er die einstigen Landsleute fand. Oh, sie erinnerten sich seiner, nicht seines Gesichtes oder seiner Person, aber der Legende, die er gewesen war; sie erinnerten sich des ilui, des Wunderkindes, des Lieblingsschülers von Rabbi Label, er ruhe in Frieden. Er saß mit ihnen beisammen, und die Frauen brachten nahit, und von den Männern trugen einige noch Bärte, aber sie waren keine Chassidim.

Sie hatten keinen Lehrer, keinen großen Rabbi, an dessen Tisch sie sich versammeln konnten, um Worte der Weisheit zu hören und Bissen heiliger Speise zu genießen. Sie tanzten auch nicht, und sie freuten sich nicht, sie saßen einfach beisammen und seufzten und redeten davon, wie es in der alten Heimat gewesen war, die sie schon so lange verlassen hatten. Er besuchte sie nie wieder.

Manchmal diskutierte er mit den alten Männern seiner Gemeinde angeregt über das Gesetz, aber seine besten Debatten führte er, wenn er allein in seiner düsteren kleinen schul saß, eine entkorkte Whiskyflasche auf dem Tisch, neben den aufgeschlagenen Büchern.

Nach dem dritten oder vierten Glas spürte er, wie sein Gesicht sich erhellte und seine Seele glücklich ihre Fesseln abstreifte. Dann hörte er auch die Stimme. Immer war Rabbi Label sein Diskussionsgegner. Nie konnte Max den großen Mann sehen, aber die Stimme war da, die weise, zögernde Stimme, er hörte sie innerlich, wenn sie schon draußen nicht tönte, und dann führten die beiden ihre intellektuellen Duelle, wie sie es einst getan hatten, die Stimme parierte jeden philosophischen Ausfall, den Max unternahm, setzte zum Gegenstoß an und vollendete ihren Sieg mit Berufung auf biblische Quellen und rechtliche Präzedenzfälle. Wenn Max dann vom Kampf so erregt wie erschöpft war, schwand die Stimme, und Max trank, bis der Raum zu schwanken begann; dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück, schloß die Augen und wurde wieder zu dem kleinen Jungen, der die großen Hände eines Erwachsenen auf seinen Schultern fühlte und durch den Raum wirbelte, getragen vom schnellen Rhythmus eines donnernden biblischen Gesanges. Manchmal schlief er bei dieser inneren Musik ein.

Eines Nachmittags, als er nach solch einem Schlummer die Augen öffnete, stieg eine Woge der Freude in ihm auf: zum erstenmal glaubte er Rabbi Label leibhaft vor sich zu sehen. Dann erkannte er, daß ein großgewachsener junger Mann sich über ihn beugte, einer, den er schon irgendwann einmal getroffen haben mußte.

»Was wünschen Sie?« fragte er. Irgend etwas in den Augen des Jungen erinnerte ihn - erinnerte ihn an die Augen des Rabbi von Worka. Er stand vor Max und hielt ihm einen Kuchen in der Verpackung einer koscheren Bäckerei unter die Nase, als wäre das eine Eintrittskarte.

»Erzählen Sie mir von Gott«, sagte Michael.

16

In den leeren Stunden vor Tagesanbruch hatte Michael an der Existenz Gottes zu zweifeln begonnen, spielerisch zuerst, allmählich aber mit quälender Verzweiflung. Er warf sich hin und her, bis die Bettücher heillos durcheinandergeraten waren, und starrte in die Dunkelheit. Von Kindheit an hatte er gebetet. Jetzt fragte er sich, an wen seine Gebete sich wandten. Wie, wenn er nur zu der summenden Stille der schlafenden Wohnung betete, seine Wünsche und Ängste über Millionen Meilen ins Nichts sandte, oder seinen Dank einer Macht darbrachte, die nicht mächtiger war als die Katzen, deren Krallenwetzen am Pfahl für die Wäscheleine er aus dem Durchgang unter seinem Fenster hören konnte?

Die Beharrlichkeit seiner Fragen, die ihn schlaflos machten, hatte ihn schließlich zu Max Gross getrieben; und nun kämpfte er erbittert mit dem Rabbi und haßte ihn für seine ruhige Sicherheit. An dem verschrammten Tisch saßen sie einander gegenüber, ein Glas Tee nach dem andern leerend, im Bewußtsein des bevorstehenden Kampfes.

»Was wollen Sie also wissen?«

»Woher nehmen Sie die Gewißheit, daß der Mensch Gott nicht nur erfunden hat, weil er Angst hatte - Angst vor der Dunkelheit, vor der scheußlichen Kälte-, weil er irgend etwas gebraucht hat, was ihn schützt, sei es auch nur seine eigene dumme Einbildung?«

»Warum glauben Sie, daß es sich so abgespielt hat?« fragte Max ruhig.

»Ich weiß nicht, wie es sich abgespielt hat. Aber ich weiß, daß es seit mehr als einer Billion von Jahren Leben auf der Erde gibt. Und immer, in jeder primitiven Kultur, hat es auch etwas gegeben, zu dem man beten konnte: eine dreckbeschmierte Holzskulptur, oder die Sonne, oder einen riesigen steinernen Phallus.«

»Wos haßßt Phallus?«

»Potz.«

»Aha.« Einem Mann, der mit der Stimme des Label von Worka zu diskutieren gewohnt war, konnte das keine Schwierigkeit bereiten.

»Und wer hat die Menschen gemacht, die das schamlose Idol verehrten? Wer hat das Leben geschaffen?«

Ein Physikstudent von der Columbia konnte darauf leicht Antwort geben. »Der Russe Oparin meint, das Leben könnte mit der zufälligen Entstehung von Kohlenstoffverbindungen begonnen haben.« Er sah Gross an, in der Erwartung, in seinem Gesicht die Langeweile des Laien zu lesen, der in eine wissenschaftliche Diskussion gezogen wird - aber er las darin nichts als Interesse.

»Am Anfang enthielt die Erdatmosphäre keinen Sauerstoff, dafür große Mengen von Methan, Ammoniak und Wasserdampf. Oparin nimmt nun an, daß durch die elektrische Energie von Blitzen aus diesen Gasen synthetische Aminoacide entstanden, das Material alles Lebendigen. Dann entwickelten sich in den Tümpeln der Urzeit Millionen Jahre hindurch organische Zellen, und aus ihnen entstanden durch die natürliche Auslese immer kompliziertere Lebewesen - solche, die kriechen, solche, die Schwimmhäute haben

- und auch solche, die Gott erfunden haben. « Er sah Rabbi Gross herausfordernd an. »Verstehen Sie, wovon ich rede?«

»Ich verstehe genug.« Er strich sich den Bart. »Nehmen wir an, es war so. Dann habe ich eine Frage: Wer hat das - wie haben Sie gesagt? -ja, das Methan und den Ammoniak und das Wasser gemacht? Und wer hat den Blitz gesandt? Und woher ist die Welt gekommen, in der sich dieses Wunder ereignen konnte?«

Michael schwieg.

Gross lächelte. »Oparin hin oder her«, sagte er leise, »glauben Sie denn wirklich nicht an Gott?«

»Wahrscheinlich bin ich Agnostiker geworden.«

»Was ist das?«

»Einer, der nicht sicher ist, ob es Gott gibt oder nicht.«

»Nein, nein, dann sagen Sie lieber, Sie sind ein Atheist. Denn wie kann ein Mensch je sicher sein, daß es Gott gibt? Nach Ihrer Definition wären wir alle Agnostiker. Glauben Sie denn, ich habe wissenschaftliche Beweise für die Existenz Gottes? Kann ich zurückgehen zum Anfang der Zeit und hören, wie Gott zu Isaak spricht oder die Gebote gibt? Wenn das möglich wäre, dann gäbe es nur eine Religion auf Erden; wir wüßten genau, welche die richtige ist.

Nun ist der Mensch aber so beschaffen, daß er Partei ergreifen muß.

Ein Mensch muß sich entscheiden. Ober Gott wissen wir nichts -

Sie nicht und ich nicht. Aber ich habe mich für Gott entschieden.

Sie haben sich gegen Ihn entschieden.«

»Ich habe mich überhaupt nicht entschieden«, sagte Michael eigensinnig. »Deshalb komme ich ja zu Ihnen. Ich möchte mit Ihnen studieren.«

Rabbi Gross strich mit der Hand über den Bücherstoß auf seinem Tisch. »Da drinnen sind viele große Gedanken enthalten«, sagte er.

»Aber sie geben Ihnen keine Antwort auf Ihre Frage. Sie können Ihnen nicht helfen, Ihre Entscheidung zu finden. Zuerst müssen Sie sich entscheiden. Dann können wir studieren.« »Gleichgültig, wie ich mich entscheide? Nehmen wir einmal an, ich entscheide mich dafür, Gott für ein Märchen zu halten, für eine bobe-majsse?«

»Ganz gleichgültig, wie Sie sich entscheiden.«

Draußen auf dem dunklen Korridor wandte sich Michael nochmals um und sah zurück nach der geschlossenen Tür der schul.

Gottverdammter Kerl, dachte er. Dann lächelte er trotz allem über das Wort, das ihm in den Sinn gekommen war.

17

Michaels Schwester Ruthie verwandelte sich in jener Zeit so gründlich, daß es ihm nicht länger möglich war, mit ihr zu streiten.

Ihr nächtliches, vom Kissen gedämpftes Weinen wurde zu einem gewohnten Geräusch, fast nicht mehr bemerkt, wie das Summen des Eiskastenmotors. Die Eltern versuchten es mit allen möglichen Angeboten - von Schiurlauben, die sie finanzierten, über psychiatrische Hilfe bis zu, gutaussehenden Söhnen und Neffen von Freunden -, aber das alles half nichts. Schließlich schickte Abe Kind einen Scheck und einen langen Brief nach Tikveh le'Machar, Palästina, und sechs Wochen später betrat Saul Moreh die Werbetextabteilung des Columbia Broadcasting System, mit dem Effekt, daß Ruthie aufsprang, einen Schrei ausstieß und allen Ernstes ohnmächtig wurde. Zur Enttäuschung der Familie stellte sich heraus, daß Saul für sie durchaus ein Fremder war; er war kleiner, als sie ihn sich nach den Bildern vorgestellt hatten, und wirkte sehr britisch mit seiner Briar-Pfeife, seinem Tweedanzug, seinem Akzent und seinen Diplomen von der Londoner Universität.

Aber mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihn und konnten ihn ganz gut leiden. Ruth erwachte aus ihrer Lethargie und blühte auf. Schon am zweiten Tag nach Sauls Ankunft in New York teilten sie der Familie mit, daß sie heiraten wollten. Es kam für sie nicht in Frage, in den Vereinigten Staaten zu bleiben. Deutsche Juden, die die Flucht bewerkstelligen konnten, fanden ihren Weg nach Palästina.

Ein Zionist dürfe erez-jissro'ejl jetzt nicht im Stich lassen, sagte Saul; in drei Wochen würden sie in den kibbuz in der Wüste zurückkehren.

»Eine typisch amerikanische Aufstiegs-Story«, sagte Abe. »Ich arbeite schwer mein Leben lang, ich spare mein Geld, und in meinen mittleren Jahren kaufe ich meiner Tochter einen Bauern.«

Er überließ ihnen die Entscheidung zwischen einer großen Hochzeit oder einer chupe im Familienkreis und dreitausend Dollar als Basis für ihren Hausstand in Palästina. Saul wies das Geld mit sichtbarer Genugtuung zurück. »Was wir brauchen, werden wir vom kibbuz bekommen. Was wir haben, wird dem kibbuz gehören. Also bitte, behalte deine Dollar.« Er hätte die chupe einer formellen Zeremonie vorgezogen, aber Ruthie setzte ihren Willen durch und ließ ihren Vater eine Hochzeit im Waldorf bestellen, im kleinen Kreis, aber hochelegant: ein letztes Schwelgen im Luxus. Der Spaß kostete zweitausendvierhundert Dollar, und Saul fand sich schließlich bereit, die verbleibenden sechshundert für den kibbuz anzunehmen.

Sie wurden zum Grundstock eines umfänglicheren Kapitals, aus Hochzeitsgeschenken stammend, die entweder gleich in Form von Bargeld eintrafen oder nachträglich eingetauscht wurden; denn schließlich sind nur wenige Gschenke brauchbar für ein junges Ehepaar, das im Begriff steht, sein gemeinsames Leben in einer Gemeinschaftssiedlung in der Wüste zu beginnen. Michael schenkte Ruth einen altmodischen Nachttopf und vermehrte den Kibbuz-Fonds um zwanzig Dollar. Bei der Hochzeitsfeier trank er zuviel Champagner und tanzte intensiv mit Mimi Steinmetz, ein Bein zwischen ihre Schenkel schiebend, so daß auf ihren hohen Backenknochen rote Flecken erschienen und ihre Katzenaugen zu funkeln begannen.

Rabbi Joshua Greenberg von der Sons of Jacob-Synagoge zelebrierte die Trauung. Er war ein magerer, gutgekleideter Mann mit wohlgepflegtem Bart, seidenweichem Predigtton und einem R, das er in Augenblicken der Erregung eindrucksvoll rollen ließ, zum Beispiel bei seiner Frage an Ruthie, ob sie willens sei, ihren Gatten zu lieben, zu ehr-r-ren und ihm zu gehorchen. Während der Feierlichkeit entdeckte Michael plötzlich, daß er Rabbi Greenberg mit Rabbi Max Gross verglich. Beide waren orthodoxe Geistliche, aber damit war die Ähnlichkeit auch zu Ende, und das Ausmaß der Unterschiede war nahezu komisch. Rabbi Greenberg stand im Genuß eines Jahresgehalts von dreizehntausend Dollar. Sein Gottesdienst wurde von gutgekleideten Männern aus der Mittelschicht besucht, die, wenn es an der Zeit war, eine Spende für die schul zu geben, zwar murrten, aber zahlten. Er fuhr einen viertürigen Plymouth, den er alle zwei Jahre für einen neuen Wagen in Zahlung gab. Im Sommer verbrachte er mit seiner Frau und ihrer dicken Tochter drei Wochen in einer koscheren Pension in den Catskills und beglich jeweils einen Teil seiner Rechnung durch die Abhaltung von schabat-Gottesdiensten. Wenn er Gäste zu sich lud -

er bewohnte ein Apartment in einem neuen Genossenschaftshaus in Queens -, war der Tisch blütenweiß und mit echtem Silber gedeckt.

Seien wir ehrlich, dachte Michael, während der Rabbi zuerst Ruthie, dann Saul den hochzeitlichen Wein reichte: verglichen mit Rabbi Greenberg ist Rabbi Gross ein Schnorrer.

Und dann zerklirrte das Glas, in ein Tuch gehüllt, damit keine Scherben umherspritzen konnten, unter Sauls rustikalem Absatz, und Ruthie küßte den Fremden, und die Hochzeitsgäste drängten herzu: masel-tow!

Hitler, der inzwischen begonnen hatte, Michaels Volk auszurotten, ruinierte nebenbei auch Michaels Sexualleben. Die Hutindustrie stellte sich auf die Erzeugung von Militärkappen für Armee und Marine um, die Gewerkschaft schloß die Kommunisten aus und stellte keine Streikposten mehr auf, und so fuhr auch Farley nicht mehr nach Danbury, und Edna lud Michael nie wieder in ihre Wohnung ein.

Schließlich, an einem kalten Freitagmorgen, begleitete Michael die beiden auf ihre Bitte zur City Hall - als ihr Trauzeuge. Er schenkte ihnen eine Silbertasse, die über seine Verhältnisse ging, und legte eine Karte bei, auf der zu lesen stand: »Dich gekannt zu haben, war eine der wichtigsten Erfahrungen meines Lebens«. Farley zog die buschigen Brauen hoch und sagte, Michael müsse sie bald zum Dinner besuchen.

Edna errötete und runzelte die Stirn und drückte die Tasse an ihren Busen. Von da an sah Michael die Farleys kaum mehr, auch nicht in der Mensa. Schließlich wurde die Episode in Ednas Bett für ihn wie eine Geschichte, die er irgendwo gelesen hatte, und er war wieder unberührt, ruhelos und voll Verlangen.

Einer seiner Freunde, ein Bursche namens Maury Silverstein, trainierte für einen Platz in der Boxmannschaft von Queens College.

Eines Abends boxte Michael mit ihm in der Sporthalle. Maury war gebaut wie Tony Galento, aber er war kein wild drauflosgehender Bulle: seine Linke schoß vor und zog sich zurück, blitzschnell wie die Zunge einer Schlange, und seine Rechte schwang aus wie ein Hammer. Michael war mit ihm in den Ring gegangen, damit er sich an einem Gegner üben könne, der ihm an Körpergröße und Reichweite überlegen war.

Silverstein ging anfangs sehr behutsam mit Michael um, und zunächst war der Kampf ein Spaß. Dann aber geriet Maury in Begeisterung; das rhythmische Dröhnen der Schläge brachte ihn außer Rand und Band.

Plötzlich fühlte sich Michael von allen Seiten her angegriffen und getroffen von lederbewehrten Fäusten. Ein Schlag landete auf seinem Mund. Er hob die Fäuste und ging unter einem nächsten Schlag, der ihn ins Zwerchfell traf, krachend zu Boden. Keuchend saß er auf der Matte.

Silverstein stand vor ihm, sich auf den Ballen wiegend, verschleierten Blicks, die behandschuhten Fäuste noch immer erhoben. Allmählich nur wich der Schleier von seinen Augen, und die Hände sanken herab; verwundert sah er auf Michael nieder.

»Schönen Dank, Killer«, sagte Michael.

Silverstein kniete neben ihm und stammelte Entschuldigungen. Unter der Dusche fühlte Michael sich elend, aber später, als er sich im Umkleideraum frottierte und sein Gesicht im Spiegel sah, empfand er einen erregenden und seltsamen Stolz. Er hatte eine geschwollene Lippe und ein blutunterlaufenes linkes Auge. Maury bestand darauf, daß sie noch einen Keller unweit des Campus aufsuchten. Das Lokal hieß The Pig's Eye, und die Kellnerin war eine magere Rothaarige mit unwahrscheinlich wogendem Busen und etwas vorspringenden Zähnen.

Beim Servieren warf sie einen Blick auf Michaels zerschlagenes Gesicht und schüttelte den Kopf.

»Hab eben so einen Idioten verdroschen, der einer hübschen Kellnerin nahegetreten ist.«

»Schon gut«, sagte sie uninteressiert. »Er hätte dich gleich erschlagen sollen, du Schießbudenfigur. Dürfen denn Kellnerinnen gar kein Vergnügen haben?«

Als sie ihnen die zweite Runde Bier brachte, tauchte sie die Fingerspitze in den Schaum auf seinem Glas und berührte kühl und feucht die blutunterlaufene Stelle unter seinem Auge.

»Wann machst du hier Schluß?« fragte er.

» In zwanzig Minuten.« Sie starrten auf ihre wackelnden kleinen Hinterbacken, als sie sich entfernte.

Silverstein versuchte seine Erregung zu verbergen. »Hör zu«, sagte er,

»meine Leute sind zu Besuch bei meiner Schwester in Hartford. Die Wohnung steht leer, die ganze Wohnung. Vielleicht hat sie für mich auch ein Ferkel auf Lager.«

Sie hieß Lucille. Während Michael mit seiner Mutter telephonierte, um ihr zu sagen, daß er nicht nach Hause kommen werde, schleppte Lucille ein Mädchen für Maury herbei, eine kleine Blonde namens Stella. Sie hatte dicke Knöchel und kaute unablässig Kaugummi, aber Maury schien hoch befriedigt. Im Taxi, das sie zu Maurys Wohnung brachte, saßen die Mädchen ihnen auf den Knien, und Michael entdeckte eine kleine Warze auf Lucilles Nacken. Im Aufzug küßten sie einander, und als Lucille den Mund öffnete, spürte Michael Zwiebelgeschmack auf ihrer Zungenspitze.

Maury holte eine Flasche Scotch aus einem Wandschrank, und nach zwei Glas trennten sich die Paare. Maury ging mit seinem Mädchen in das elterliche Schlafzimmer, als solches kenntlich an dem großen Doppelbett, während sich Michael mit Lucille auf der Couch im Wohnzimmer einrichtete. Er bemerkte ein paar Mitesser auf ihrem Kinn. Lucille hob das Gesicht, seinen Kuß erwartend. Nach einer Weile knipste sie das Licht aus.

Aus dem Nebenzimmer hörte man Silversteins Keuchen und das Gekicher des Mädchens.

»Jetzt, Lucille?« rief Stella.

»Noch nicht«, gab Lucille etwas gereizt zur Antwort.

Er ertappte sich bei Gedanken an andere Frauen, an Edna Roth, an Mimi Steinmetz, selbst an Ellen Trowbridge. Während der ganzen folgenden Prozedur lag sie reglos, summte nur nasal vor sich hin. April in Paris, dachte er wirr, während er sich auf ihr abplagte. Als es vorüber war, blieben sie im Halbschlaf liegen, bis Lucille sich unter ihm hervorwand.

»Fertig! « rief sie fröhlich und ging nackt hinüber ins Schlafzimmer, das Stella im selben Augenblick verließ. Michael verstand plötzlich, daß die präzise Ausführung dieser Szene das Resultat langer, auf vielen ähnlichen Parties erworbener Übung war. Der Personenwechsel erregte ihn von neuem. Als aber die kleine, dickliche Stella zu ihm kam, berührte er eine teigige Haut, und was ihn einhüllte, war ein Geruch nicht nach Frau, sondern nach ungewaschenem Körper; plötzlich spürte er, daß er nicht mehr konnte.

»Wart einen Augenblick«, sagte er. Seine Kleider lagen hingeworfen auf dem Teppich am Fußende der Couch. Er hob sie auf und ging behutsam durch die dunkle Wohnung bis ins Vorzimmer; dort zog er sich eilig an und nahm sich nicht einmal mehr die Zeit, seine Schuhbänder zu knüpfen.

»Hey! « rief ihm das Mädchen nach, als er die Wohnung verließ. Er fuhr im Aufzug hinunter und kehrte dem Haus eilig den Rücken. Es war zwei Uhr morgens. Erst nach einem Fußmarsch von einer halben Stunde fand er ein Taxi und stieg ein, obwohl er da nur mehr zwei Straßen von seiner Wohnung entfernt war.

Zum Glück schliefen seine Eltern, als er nach Hause kam. Im Badezimmer putzte er sich ausführlich die Zähne und duschte sehr heiß und mit großem Seifenverbrauch.

Ihm war nicht nach Schlafen zumute. In Pyjama und Schlafrock schlich er aus der Wohnung und stieg leise wie ein Dieb die Dachstiege hinauf.

Auf Zehenspitzen, um die Waxmans nicht zu wecken, die die Mansarde bewohnten, betrat er das Dach und setzte sich hin, den Rücken an den Schornstein gelehnt.

Der Wind schmeckte nach Frühling. Der Himmel war übersät mit Sternen, und Michael lehnte den Kopf zurück und betrachtete sie, bis der Wind seine Augen tränen machte und die weißen Lichtpunkte vor seinem Blick zu kreisen und zu verschwimmen begannen. Das konnte nicht alles sein, dachte er. Maury hatte die Mädchen Ferkel genannt, aber wenn man es so betrachten wollte, dann hatten auch Maury und er sich wie Ferkel benommen. Er gelobte sich, daß es nie wieder Sex ohne Liebe für ihn geben sollte. Die Sterne waren ungewöhnlich hell. Er rauchte und beobachtete sie und versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl aussahen ohne die Konkurrenz der Lichter einer Stadt. Was hielt sie dort oben, fragte er sich, und dann kam automatisch die Antwort: vage Erinnerungen an Masseanziehung, Schwerkraft, erstes und zweites Newtonsches Gesetz. Aber da gab es so viele tausende Sterne, ausgestreut über so unendliche Räume, und sie zogen so beständig ihre Bahn und bewegten sich so präzis wie Teile eines riesigen, großartig konstruierten Uhrwerks. Die Gesetze aus dem Lehrbuch reichten nicht aus, es mußte noch etwas geben, sonst, meinte Michael, wäre diese herrlich ineinandergreifende Vielfalt für ihn sinnlos und ohne Gefühl, wie Sex ohne Liebe. Er entzündete eine neue Zigarette an der abgerauchten und warf den noch glühenden Stummel über den Dachrand. Er fiel wie eine Sternschnuppe, aber Michael merkte es nicht.

Den Kopf zurückgeneigt, stand er da und sah auf zum Himmel und versuchte, etwas zu erkennen, fern, jenseits der Sterne.

Als er am Nachmittag dieses Tages die Shaarai-Shomayim-Syn a goge betrat, saß ein alter Mann bei Max Gross an dem mit Büchern bedeckten Tisch und sprach leise mit dem Rabbi. Michael setzte sich in einen der hölzernen Klappstühle in der letzten Reihe und wartete geduldig, bis der Alte sich mühsam und mit einem Seufzer erhob, die Schulter des Rabbi berührte und die schul verließ. Dann trat Michael an den Tisch. Rabbi Gross musterte ihn prüfend. »Nun?« sagte er. Michael sagte nichts. Der Rabbi sah ihn lange an. Dann nickte er befriedigt.

»Nun.« Er wählte zwei Bücher aus den vielen auf seinem Tisch, eine g'mara und Raschis Kommentar zum Pentateuch. »Jetzt können wir anfangen«, sagte er freundlich.

18

Fünf Monate lang hielt Michael sein Keuschheitsgelübde. Dann besuchte er mit Maury eine bar-mizwe in Hartford - die bar-mizwe des Sohnes der Schwester von Maurys Schwager - und lernte dort die Schwester des Konfirmanden kennen, ein schlankes, schwarzhaariges Mädchen mit durchsichtiger weißer Haut und schöngeformten, leicht vibrierenden Nasenflügeln. Sie tanzten miteinander, und Michael merkte, daß ihr Haar süß und sauber roch, wie frisch gewaschene Wäsche, die in der Sonne trocknet. Zu zweit verließen sie das Haus und fuhren in Maurys Plymouth ein Stück weit über Wilbur Cross Parkway und dann eine Landstraße hinaus. Michael parkte unter einem riesigen Kastanienbaum, dessen unterste Äste das Wagendach berührten, und sie küßten einander lange, bevor es ohne Vorsatz oder Plan geschah.

Nachher, bei einer gemeinsamen Zigarette, erzählte er ihr, daß er ein sich selbst gegebenes Versprechen gebrochen hatte, das Versprechen, dies nie mehr zu tun, außer mit einem Mädchen, das er liebte. Er hatte erwartet, daß sie lachen werde, aber anscheinend fand sie die Sache eher traurig. »Ist das dein Ernst?« fragte sie. »Wirklich?«

»Wirklich. Und ich liebe dich nicht. Wie sollte ich auch?« fügte er eilig hinzu. »Schließlich kenne ich dich kaum.«

»Ich liebe dich auch nicht. Aber ich mag dich sehr«, sagte sie. »Reicht das nicht?«

Sie fanden beide, dies sei wenigstens das zweitbeste.

In diesem Sommer, dem Sommer nach seinem ersten Universitätsjahr, arbeitete er als Hilfskraft in einem Laboratorium auf dem Campus, wusch Retorten und Eprouvetten, reinigte und verwahrte Mikroskope und bereitete das Material für Experimente vor, deren Zweck und deren Resultate er nie erfuhr. Mindestens dreimal in der Woche studierte er mit Rabbi Gross. Abe fragte ihn eifrig aus, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. »Na, was hört sich vom Einstein?«

Aus Michaels Antworten sprach nur allzu deutlich seine geringe Begeisterung, seine enttäuschte Interesselosigkeit gegenüber der Physik und den Naturwissenschaften im allgemeinen. Manchmal hatte er dabei auch das Gefühl, daß sein Vater ihm etwas sagen wolle, doch Abe hörte jedesmal auf, noch ehe er begonnen hatte, und Michael drängte ihn nicht. Schließlich fuhren sie auf Abes Anregung an einem Sonntagmorgen zwei Wochen vor Beginn des neuen Semesters nach Sheepshead Bay, mieteten dort ein Boot und kauften eine Schuhschachtel voll schon ziemlich verrottet aussehender Meer-Ringelwürmer. Michael ruderte so weit hinaus, wie es seinem Vater nötig schien, dann warfen sie ihre Köder aus, an denen die Flundern nicht einmal knabberten - was Abes Wunsch, zu reden, durchaus entgegenkam.

»Und was wird nächstes Jahr um die Zeit sein?«

Michael öffnete zwei Flaschen Bier und reichte die eine seinem Vater. Das Bier war nicht sehr kalt, und der Schaum quoll über. »Was soll schon sein, Pop - und mit wem?«

»Mit dir natürlich, mit wem sonst.« Er sah Michael an. »Jetzt studierst du drei Jahre lang Physik, lernst genau, wie alles zusammengesetzt ist aus kleinen Teilen, die du nicht sehen kannst. Du wirst noch ein Jahr studieren. Aber du magst es nicht, das merk ich.« Er nahm einen Schluck Bier. »Stimmt's? Oder stimmt's nicht?«

»Stimmt.«

»Also, was wird sein? Medizin? Jus? Du hast die Zeugnisse dazu -

und den Kopf. Und ich hab Geld genug, um einen Doktor oder einen Anwalt aus dir zu machen. Du kannst dir's aussuchen.« »Nein, Pop.« Die Leine in seinen Händen spannte sich unter den verzweifelten Befreiungsversuchen eines Fisches, der angebissen hatte, und Michael holte sie Länge um Länge ein, froh darüber, daß er etwas zu tun hatte.

»Michael, du bist inzwischen älter geworden. Vielleicht verstehst du gewisse Dinge jetzt besser. Hast du mir vergeben?«

Zum Teufel damit, dachte er wütend. »Was denn?«

»Du weißt ganz genau, wovon ich rede. Von dem Mädchen.« Michael wollte wegschauen, aber da war nichts als das Wasser, das die Sonne widerspiegelte und seinen Augen weh tat. »Denk nicht mehr daran.

Es hilft doch niemandem, solche Dinge wieder auszugraben.«

»Nein. Ich muß eine Antwort haben. Hast du mir vergeben?«

»Ich hab dir vergeben. Und jetzt - gib Ruh.«

»Hör zu. Hör mir zu.« Erleichterung klang aus der Stimme seines Vaters, Erregung und aufsteigende Hoffnung. »Das zeigt doch, wie nah wir beide einander wirklich sind, daß wir imstand waren, auch so etwas zu überstehen. Schau - wir haben ein Geschäft in der Familie, von dem wir immer gut gelebt haben. Ein wirklich gutes Geschäft.«

An der Angel hing ein Fisch von Tellergröße. Er schlug um sich, als Michael ihn ins Boot holte; aus der umgestürzten Bierflasche ergoß sich schaumige Flüssigkeit über Michaels Leinenschuhe.

»Früher einmal hab ich geglaubt, ich könnte es selbst schaffen«, sagte Abe. »Aber ich bin noch aus der alten Schule, ich kenn mich im großen Geschäft nicht aus. Ich muß das zugeben. Aber du - du könntest für ein Jahr nach Harvard gehen, Betriebswirtschaft studieren, dann kommst du zurück mit all den neuen Methoden, und Kind Foundations könnte führend in der Branche werden. Davon hab ich immer geträumt.«

Michael setzte den Fuß im bierdurchnäßten Leinenschuh auf die flache, braungesprenkelte Flunder, um sie am Hin- und Herschlagen zu hindern, und spürte ihr aufgeregtes Zucken durch die dünne Gummisohle. Der Angelhaken war tief eingedrungen. Der Fisch lag mit seiner weißen, blinden Seite nach unten, die zwei schwarzen Glotzaugen sahen Michael an, noch glänzend und nicht erstarrt.

»Es tut mir leid, Pop«, sagte Michael schnell, »bitte, hör auf.«

Vorsichtig versuchte er, den Fisch von der Angel zu lösen, hoffte, es möge nicht weh tun, und spürte doch, wie der Widerhaken am Fleisch riß, als er ihn herauszog.»Ich will Rabbiner werden«, sagte er.

19

Der Emanuel-Tempel in Miami Beach war ein großes Ziegelbauwerk mit weißen Säulen und breiten weißen Marmorstufen davor. Im Laufe der Jahre waren die Kristalle im Marmor von den Füßen vieler Gläubiger so blank poliert worden, daß die Stufen nun im starken Licht der Sonne von Florida glänzten. Drinnen im Tempelgebäude gab es eine beinahe geräuschlose Klimaanlage, der Gottesdienst wurde in einem Raum mit fast endlos erscheinenden Reihen roter Plüschsessel abgehalten, es gab einen schalldichten Tanzsaal, eine komplette Küche, eine nicht komplette Judaica-Bibliothek und auch für den Hilfsrabbiner ein kleines, aber teppichbelegtes Büro.

Michael saß unglücklich hinter dem polierten Schreibtisch, der nur um weniges kleiner war als jener in dem größeren Büro am anderen Ende des Flurs, wo Rabbi Joshua L. Flagerman residierte. Unmutig blickte er auf, als das Telephon läutete. »Hallo?«

»Kann ich den Rabbi sprechen?«

»Rabbi Flagerman?« Er zögerte einen Augenblick. »Er ist nicht hier«, sagte er schließlich und gab dem Frager die Privatnummer des Rabbi. Der Mann dankte und legte ab.

Seit drei Wochen war Michael nun auf diesem Posten - gerade lange genug, um sich davon zu überzeugen, daß es ein Fehler gewesen war, Rabbiner zu werden. Die fünf Jahre Studium am Jewish Institute of Religion hatten ihn in die Irre geführt. An der Rabbinatsschule war er ein blendender Student gewesen. »Ein Edelstein unter dem Schotter der Reformierten«, hatte Max Gross einmal bitter bemerkt.

Gross machte kein Hehl daraus, daß er Michaels Entschluß, Rabbiner bei den Reformierten zu werden, als Verrat empfand. Ihre geistige Beziehung blieb zwar bestehen, wurde aber nie so innig, wie sie hätte werden können, hätte Michael sich der Orthodoxie zugewandt. Dem Jüngeren fiel es schwer, seine Wahl zu erklären. Er wußte nur, daß die Welt sich schnell veränderte, und Reform schien ihm der beste Weg, diese Veränderungen zu bewältigen.

In den Ferien arbeitete er als Jugendfürsorger in Manhattan und versuchte Kindern, die im Begriff waren, in unsichtbaren Meeren zu ertrinken, die Strohhalme des Glaubens hinzuhalten. Von den Vätern waren viele bei der Armee, und die Mütter arbeiteten in Tag-und Nachtschicht in den Kriegsbetrieben oder brachten zahlreiche fremde und schnell wechselnde »Onkel« in Uniform nach Hause.

Bald erkannte Michael den Jugendlichen, der unter Rauschgift stand, schon an seinem beschwingten Gang und den erweiterten Pupillen und den verschmachtenden armen Teufel, dem seine Droge ausgegangen war, an den verkrampften Bewegungen und dem zwanghaften Kaugummikauen. Er sah, wie die Kindheit vom Schmutz des Lebens zerstört wurde. Nur ganz selten hatte er den Eindruck, daß es ihm gelungen war, irgend jemandem ein klein wenig zu helfen. Immerhin hielt ihn diese Erkenntnis davon ab, seine Arbeit aufzugeben und statt dessen als Sozialarbeiter in ein Sommerlager zu gehen.

Als die Japaner Pearl Harbor angriffen, hatte Michael eben sein drittes Semester an der Rabbinatsschule beendet. Die meisten seiner Freunde meldeten sich freiwillig zum Militär oder wurden rasch vom Sog des Einberufungssystems erfaßt. Theologiestudenten waren nicht dienstpflichtig, aber ein halbes Dutzend seiner Kollegen verließ die Schule und zog die Uniform an. Die übrigen, unter ihnen auch Michael, ließen sich von ihren Lehrern davon überzeugen, daß Rabbiner in den kommenden Zeiten mehr denn je vonnöten sein würden. Michael fühlte im großen ganzen eher Bedauern, als wäre er um ein Abenteuer betrogen worden, auf das er Anspruch gehabt hätte. Zu jener Zeit glaubte er an den Tod, aber nicht an das Sterben.

Die Briefe, die er gelegentlich aus Orten mit unbekannten und manchmal schwer auszusprechenden Namen erhielt, klangen aufregend und romantisch. Maury Silverstein blieb mit ihm in Verbindung. Er war als Rekrut zum Marineinfanteriekorps eingerückt, mit Aussicht auf die Offiziersanwärterschule in Quantico nach Abschluß seiner Grundausbildung. Auf Paris Island boxte er gelegentlich, und während eines solchen Kampfes geriet er mit seinem Ausbilder in einen Streit, dessen Einzelheiten Michael nie genau erfuhr. Maury schrieb nur, daß es zwischen ihm und seinem Gegner einige Wochen später zu einer Begegnung kam, ohne Handschuhe und außerhalb des Rings. Genauer gesagt: der Kampf spielte sich außerhalb - hinter- der Sporthalle ab, vor den Augen der versammelten Mannschaft, die Maury Beifall brüllte, als er seinem Gegner, einem Korporal, den Kiefer brach. Der Korporal hatte sein Hemd mit den Streifen ausgezogen, so kam es zu keinem offiziellen Disziplinarverfahren, aber von da an hatte es das gesamte Unteroffizierskorps auf den Rekruten abgesehen, der einen der Ihren von seinem Podest als Vorbild der Mannschaft gestürzt hatte.

Silverstein wurde bei der kleinsten Unzukömmlichkeit zum Rapport gebracht, und seine Aussichten auf die Offizierslaufbahn schwanden bald dahin. Nach Abschluß seiner Rekrutenzeit erhielt er ein paar Wochen Ausbildung als Maultiertreiber, und schließlich wurde ihm ein kurzbeiniges Maultier mit dickem Hinterteil anvertraut. In seinem letzten Brief aus den Vereinigten Staaten teilte er Michael mit, er habe dem Vieh aus sentimentalen Gründen den Namen Stella gegeben. Maury und Stella wurden auf einer namenlosen und vermutlich gebirgigen Pazifikinsel ausgeschifft, wo Maury bis zur Erschöpfung in Anspruch genommen war, anscheinend aber nur, seinen Andeutungen zufolge, von geradezu sagenhaften Abenteuern mit Eingeborenenmädchen. Respekt vor der Uniform, so schrieb er, verbiete ihm, diese Heldentaten in allen Einzelheiten mitzuteilen.

Während seines letzten Studienjahres wurde Michael dazu ausersehen, in einem Tempel in Rockville bei den Gottesdiensten zu den hohen Feiertagen zu assistieren. Die Feierlichkeiten verliefen ohne Zwischenfall, und er hatte das Gefühl, nun zu guter Letzt doch wirklich ein Rabbiner zu sein. Schon begann er von eitlem Selbstvertrauen zu triefen. Dann setzte das Personalreferat des Instituts für ihn drei Wochen vor seiner Graduierung eine Vorsprache im Emanuel-Tempel in Miami fest, wo der Posten eines Hilfsrabbiners vakant war. Er hielt eine Gastpredigt an einem Freitagabend. Den Text hatte er sorgfältig niedergeschrieben und den Vortrag vor dem Spiegel in seinem Schlafzimmer einstudiert.

Sein Lehrer an der Fakultät hatte sich lobend über die Predigt geäußert, und Michael selbst wußte, daß Inhalt und Diktion klar und kraftvoll waren. Als er in Miami vorgestellt wurde, fühlte er sich bereit für sein Amt. Er begrüßte Rabbi Flagerman und die Gemeinde mit kräftiger Stimme. Dann stützte er beide Hände auf das Rednerpult und beugte sich ein wenig vor.

»Was ist ein Jude?« begann er.

Die Gesichter in den ersten Reihen blickten mit so stummer Erwartung zu ihm auf, daß er sich genötigt sah, den Blick abzuwenden. Aber wohin er auch schaute, Reihe um Reihe, waren die Gesichter aufwärts und ihm zugewandt. Alte und junge Gesichter, glatte und solche, die von Erfahrung gezeichnet waren.

Er war gelähmt von der Erkenntnis dessen, was er im Begriff stand zu tun. Wer bin ich, fragte er sich, daß ich es wage, ihnen etwas zu sagen, irgend jemandem irgend etwas zu sagen?

Die Pause wurde zum Schweigen, und noch immer konnte er nicht sprechen. Es war schlimmer als an dem Tag, da er bar-mizwe wurde.

Er erstarrte. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Hinten im Betsaal kicherte ein Mädchen, ein winziger Laut, der allgemeines Füßescharren bei den Wartenden auslöste.

Mit größter Willensanstrengung zwang er sich zu sprechen. Er hetzte die Predigt durch, versprach sich einige Male, machte nachher verzweifelt Konversation und nahm schließlich ein Taxi zum Flughafen. Gleichgültig vor Verzweiflung, sah er fast während des ganzen Rückflugs nach New York zum Fenster hinaus und brummte nur etwas vor sich hin, wenn er Kaffee oder Likör ablehnte, die ihm die rothaarige Stewardeß anbot. Nachts fand er, erschöpft von der Reise, Zuflucht im Schlaf, aber am folgenden Morgen lag er wach im Bett und fragte sich, wieso er auf ein Amt verfallen war, für das er nicht das geringste Talent besaß. Eine Woche lang überlegte er, welche Möglichkeiten außer dem Rabbinat ihm blieben. Der Krieg mit Deutschland war zu Ende, und mit Japan konnte es nicht mehr lange dauern; es wäre pure Resignation gewesen, jetzt noch zur Armee zu gehen. Er konnte unterrichten; aber die Aussicht darauf machte ihn melancholisch. Blieb nur Kind Foundations. Während er noch seinen Mut für ein Gespräch mit Abe sammelte, kam ein Telegramm vom Anstellungskomitee der Gemeinde in Florida. Sie seien noch nicht eindeutig entschlossen; ob er bereit wäre, sie auf ihre Kosten zum kommenden Wochenende nochmals aufzusuchen und zu predigen?

Von Übelkeit und Ekel vor sich selbst gequält, fuhr er ein zweites Mal nach Miami. Diesmal haspelte er seine Predigt ohne Verzögerung herunter, obgleich seine Knie zitterten und er ziemlich sicher war, daß auch seine Stimme schwankte.

Zwei Tage später kam die Berufung.

Seine Pflichten waren einfach. Er hielt den Kindergottesdienst. Er assistierte dem Rabbiner am Sabbat. Er korrigierte die Fahnen des Tempel-Bulletins. Auf Rabbi Flagermans Wunsch arbeitete er an einem Katalog rabbinischer Literatur. Tagsüber, wenn sein Chef und dessen Sekretär anwesend waren, nahm Michael das Telephon nicht ab, das gleichzeitig an allen drei Apparaten läutete. Abends aber, wenn die beiden nicht hier waren und Michael noch in seinem Büro saß, übernahm er die Anrufe. Sooft jemand den Rabbiner zu sprechen wünschte, gab Michael Rabbi Flagermans Privatnummer.

Er machte einige Seelsorgegänge, besuchte erkrankte Gemeindemitglieder. Da er sich in Miami nicht auskannte, fuhren ihn junge Leute aus der Jugendgruppe des Tempels. Eines Nachmittags war sein Chauffeur Toby Goodman, ein blondes, sechzehnjähriges Mädchen.

Ihr Vater war ein wohlhabender Fleischkonservenfabrikant mit eigenen Herden in den Viehzuchtgebieten rund um St. Petersburg. Sie war sehr braungebrannt, trug weiße Shorts mit einer rückenfreien, ärmellosen Bluse und fuhr einen langgestreckten blauen Wagen mit offenem Dach.

Sie sah Michael aus großen Augen an und stellte Fragen über die Bibel, die er ernsthaft beantwortete, obgleich er wußte, daß sie sich über ihn lustig machte. Während er seine Besuche absolvierte, wartete sie geduldig im Wagen, parkte, wenn irgend möglich, im Schatten, aß halb zerschmolzene Schokolade und las ein Groschenheft, dessen Umschlag sexy aussah. Als er fertig war, fuhren sie schweigend zum Tempel zurück. Er betrachtete sie, während sie den Wagen langsam durch die von Menschen wimmelnden Straßen lenkte.

Überall gab es Uniformen. Miami war voll von Veteranen aus Übersee, die in den berühmten Strandhotels stationiert waren, der Ruhe pflegten und auf ihre Entlassung warteten. Sie füllten die Straßen, einzeln, in Gruppen oder in lockeren Zweierreihen, unterwegs zu einem Kurs oder ins Kino.

»Aus dem Weg, Bande«, murrte das Mädchen. Sie wechselte den Gang, stieg aufs Gas und zwang drei Air-Force-Männer, eilig zur Seite zu springen.

»Vorsicht«, sagte Michael sanft verweisend. »Die haben nicht den Krieg heil überstanden, damit sie jetzt von einem Rabbiner auf Gemeindebesuchen über den Haufen gefahren werden.« »Die tun doch nichts anderes, als in der Sonne liegen und pfeifen und blöde Bemerkungen darüber machen, daß sie einen eben im Kino gesehen haben.« Das Mädchen lachte. »Ich habe einen Freund bei der Navy, wissen Sie. Im vorigen Monat war er zu Hause. Der hat nie was anderes getragen als Zivil. Wir haben diese Kerle verrückt gemacht.«

»Wie?«

Sie musterte ihn mit schmal gewordenen Augen. Plötzlich schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein; sie bremste und beugte sich über ihn, um irgend etwas im Handschuhfach zu suchen. Als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie eine halbvolle Ginflasche in der Hand. Etwa zehn Meter von ihnen entfernt bewegte sich eine Zweierreihe von Männern, deren einige das Infanterie-Kampfabzeichen trugen, langsam unter der heißen Sonne. Sie blickten auf, als das Mädchen schrill pfiff. Ehe Michael noch wußte, wie ihm geschah, hatte sie einen Arm um seine Schultern gelegt, während ihre Hand aufreizend die Flasche schwenkte.

»Er ist prima! « rief sie spöttisch zu den marschierenden Männern hinüber. Dann küßte sie Michael auf die Stirn.

Sie gab so heftig Gas, daß Michael in seinen Sitz zurückgeworfen wurde, als der Wagen heulend anzog. Immerhin war ihm die wilde Fahrt noch lieber als die Szene von vorhin. Die Marschlinie der Soldaten hatte sich plötzlich aufgelöst. Einige von ihnen liefen dem blauen Wagen fast bis zur nächsten Straßenecke nach. Das Mädchen schüttelte sich vor Lachen und tat, als höre sie nicht, was die Männer ihr nachriefen.

Michael schwieg, bis sie vor dem Tempel anhielt. »Jetzt sind Sie wohlwütend, ja?«

»Wütend ist nicht ganz das richtige Wort«, sagte er bedachtsam und stieg aus.

»Hey, das ist meine Flasche! «

Er hatte die Flasche aufgehoben, die das Mädchen achtlos unter den Sitz geworfen hatte, hielt sie am Hals.

»Die können Sie sich bei mir abholen, sobald Sie einundzwanzig sind.«

Er stieg die Stufen hinauf und trat ins Haus. Das Telephon läutete. Eine Frau verlangte den Rabbiner zu sprechen, und er gab ihr Rabbi Flagermans Privatnummer.

Hinten in seiner Schreibtischlade lag eine Packung Papierbecher. Er goß einen tüchtigen Schuß aus der Flasche des Mädchens, gut drei Finger hoch, trank in einem Zug aus - und stand dann da mit hängenden Schultern und geschlossenen Augen.

Es war warmes Wasser.

Zwei Abende später rief Toby Goodman an und entschuldigte sich.

Er nahm ihre Entschuldigung an, lehnte aber ihr Angebot ab, ihn tags darauf wieder zu fahren. Wenige Minuten später läutete das Telephon von neuem.

»Rabbi?« Die Stimme klang seltsam rauh.

Als Michael Rabbi Flagermans Nummer sagte, kam ein Ton wie das Keuchen eines müden Hundes aus dem Telephon.

Er begann zu lächeln. »Sie glauben doch nicht, daß Sie mich frotzeln können, Toby«, sagte er.

»Ich bin drauf und dran, mich umzubringen.« Es war die Stimme eines Mannes.

»Wo sind Sie?« fragte Michael.

Der Mann nannte eine nur halb verständliche Adresse, Michael bat ihn, sie zu wiederholen. Er kannte die Straße, sie war nur ein paar Häuserblocks vom Tempel entfernt.

»Tun Sie jetzt gar nichts, bitte. Ich komme sofort.« Er lief aus dem Haus, stand auf den Marmorstufen und betete, während er vorbeifahrende Taxis aufzuhalten versuchte. Als er endlich ein leeres gefunden hatte, saß er auf der Kante seines Sitzes und überlegte, was er einem Mann sagen konnte, der Angst hatte, weiterzuleben. Aber als das Taxi hielt, war sein Hirn immer noch leer wie zuvor. Er drückte dem Fahrer einen Schein in die Hand und lief, ohne auf das Wechselgeld zu warten, über einen ausgedörrten, versandeten Rasen auf den Bungalow zu, drei Stufen hinauf zu einer überdachten Veranda.

Auf der Tafel über der Glocke stand: Harry Lefcowitz. Das Tor war offen, der Windfang unversperrt.

»Mr. Lefcowitz?« rief Michael leise. Es kam keine Antwort. Michael trat ein. Im Wohnzimmer roch es nach Fäulnis. Offene Flaschen und halbvolle Biergläser standen auf den Fensterbrettern. In einer Glasschüssel auf dem Tisch verfaulten ein paar Bananen. Die Aschenbecher waren voll mit Zigarrenresten. Ein Armeehemd hing über einer Sessellehne; Sergeantslitzen auf den Ärmeln.

„Mr. Lefcowitz?« Hinter einer der Türen, die aus dem Wohnzimmer führten, hörte Michael ein leises Geräusch. Er öffnete. Ein kleiner, schmächtiger Mann in Khakiunterhosen und Leibchen saß auf dem Bett. Seine Füße waren nackt. Der dünne Schnurrbart verlor sich beinahe in den Bartstoppeln auf dem unrasierten Gesicht. Die Augen waren gerötet und traurig. In der Hand hielt er eine kleine schwarze Pistole.

»Sie kommen von der Polizei«, sagte er.

»Nein. Ich bin der Rabbiner. Sie haben mich angerufen, erinnern Sie sich nicht?«

»Flagerman sind Sie nicht.« Es gab ein lautes Klicken, als der Mann die Pistole entsicherte.

Michael stöhnte innerlich, als ihm klarwurde, daß sich bestätigt hatte, was er ohnedies schon wußte: seine Unfähigkeit als Rabbiner. Er hatte die Polizei nicht verständigt. Er hatte nicht einmal eine Nachricht in seinem Büro zurückgelassen, niemand wußte, wo er zu finden war.

»Ich bin Rabbi Flagermans Assistent. Ich möchte Ihnen helfen.«

Der Pistolenlauf hob sich langsam, bis er direkt auf Michaels Gesicht gerichtet war. Die runde Öffnung an seinem Ende wirkte geradezu obszön. Der Mann spielte mit der Waffe, sicherte und entsicherte sie wieder. »Scher dich zum Teufel«, sagte er.

Michael setzte sich auf das Bett; er zitterte nur ganz wenig. Draußen war es dunkel.

»Und was wäre das schon für eine Lösung, Mr. Lefcowitz?«

Die Augen des Mannes wurden schmal. »Du glaubst, ich werd es schon nicht tun, du Held. Glaubst vielleicht, das macht mir was aus, nach dem, was ich gesehen hab? Ich schieß dich über den Haufen, und dann erschieß ich mich.« Er sah Michael an und lachte. »Du weißt nicht, was ich weiß. Es würde gar keinen Unterschied machen.

Die Welt geht trotzdem weiter.«

Michael neigte sich ihm zu, streckte die Hand aus: es war eine Geste des Mitleids, aber der andere empfand sie als Drohung. Er drückte die Mündung seiner Pistole in Michaels Wange. Der Druck schmerzte.

»Weißt du, woher ich diese Pistole hab? Hab sie einem toten Deutschen abgenommen. Der Kopf war ihm halb weggeschossen.

Ich kann mit dir dasselbe machen.«

Michael sagte nichts. Nach ein paar Minuten nahm der Mann den Pistolenlauf von seiner Wange. Mit den Fingerspitzen fühlte Michael die kleine kreisrunde Vertiefung, die auf seiner Haut zurückgeblieben war.

Sie saßen und blickten einander an. Michaels Uhr tickte laut.

Der Mann begann zu lachen. »Das ist nichts als Unsinn, was ich Ihnen da erzählt hab. Ich hab viele tote Deutsche gesehen, manche hab ich angespuckt, aber nie hab ich einem Toten etwas abgenommen. Ich hab das Ding gekauft, für drei Kartons Lucky Strikes. Ich wollte was haben für den Jungen, etwas zum Aufheben.« Lefcowitz kratzte seinen Fuß mit der freien Hand. Seine Füße waren groß und knochig, mit krausen schwarzen Haaren an den Gelenken der großen Zehen.

Michael sah ihm in die Augen. »Die ganze Geschichte, die Sie da aufgeführt haben, war doch nichts als Unsinn, Mr. Lefcowitz. Warum sollten Sie mir was antun wollen? Ich will weiter nichts, als Ihr Freund sein. Und es wäre fast noch schlimmer, wenn Sie sich etwas antun wollten.« Er versuchte zu lächeln. »Ich glaube, es war weiter nichts als ein seltsamer Scherz. Ich glaube, die Pistole ist gar nicht geladen.« Der Mann hob die Waffe, und im selben Sekundenbruchteil, da der Knall schaurig laut in dem kleinen Raum widerhallte, wurde seine Hand ein wenig hochgerissen, und in der weißen Decke über ihren Köpfen zeigte sich ein schwarzes Loch.

»Sieben waren drin«, sagte Lefcowitz. »Jetzt sind's noch sechs. Mehr als genug. Also glaub lieber nichts, Kleiner. Bleib sitzen und halt den Mund.«

Lange Zeit sprachen sie kein Wort. Es war eine sehr ruhige Nacht.

Nichts war zu hören als gelegentlich ein Autohupen und das langsame, gleichmäßige Zischen der Brandung gegen die nahe Küste. Michael sprach sich selbst Beruhigung zu: jemand mußte den Schuß gehört haben; sie mußten bald kommen. »Fühlen Sie sich eigentlich jemals einsam?« fragte Lefcowitz plötzlich.

»Immer.«

»Manchmal fühl ich mich so einsam, daß ich schreien könnte.« »Jedem Menschen geht's manchmal so, Mr. Lefcowitz.« »Wirklich? Na dann -

warum eigentlich nicht?« Er betrachtete die Pistole und schüttelte sie.

»Wenn Sie auf den Kern der Sache gehen - warum nicht?« Er lachte freudlos. »Jetzt haben Sie eine gute Gelegenheit, über Gott zu reden, Seele und so Zeug.« »Aber nein. Es gibt einen viel einfacheren Grund.

Das da -« Michael berührte die Pistole mit den Fingerspitzen und gab ihr eine leichte Wendung, so daß sie nicht mehr auf ihn zielte -, »das ist endgültig, unwiderruflich. Nachher haben Sie keine Möglichkeit mehr, es sich zu überlegen und einzusehen, daß Sie unrecht hatten. Und obwohl es eine Menge scheußliche Dinge auf der Welt gibt, ist es doch manchmal großartig, zu leben. Nichts weiter als Wasser zu trinken, wenn man durstig ist, oder etwas Schönes zu sehen - irgend etwas von all den schönen Dingen, die es gibt. Die guten Zeiten wiegen die schlechten auf.«

Einen Augenblick lang sah Lefcowitz nicht mehr ganz so entschlossen aus. Aber dann wendete er den Lauf der Pistole, so daß er nun wieder auf Michael gerichtet war. »Ich bin nur sehr selten durstig«, sagte er.

Wieder schwieg er lange, und Michael versuchte nicht, ihn zum Sprechen zu bringen. Einmal liefen zwei Burschen lachend und rufend auf der Straße vorbei, und im Gesicht des Mannes begann es seltsam zu arbeiten.

»Gehen Sie manchmal fischen?« »Selten«, sagte Michael.

»Ich hab grad daran gedacht, daß ich auch meine guten Zeiten gehabt hab, wie Sie das nennen - beim Fischen, mit Wasser und Sonne und so.«

»Ja.«

»Deshalb bin ich ja überhaupt hierhergekommen. Ich war noch ein Junge, hab in einem Schuhgeschäft in Erie, P-A., gearbeitet. Mit einer ganzen Bande von Kumpels bin ich nach Hialeah hinuntergefahren und hab vierhundertachtzig Dollar gewonnen. Das Geld war ganz hübsch, aber was hab ich schon von Geld verstanden. Damals hab ich für niemanden zu sorgen gehabt. Das Wichtigste war das Fischen. Den ganzen Tag lang hab ich Seeforellen gefangen. Die Burschen haben mich für verrückt gehalten, als ich nicht mit ihnen zurückfahren wollte. Ich hab einen Job in einer Kneipe am Strand gefunden. Da hatte ich das Fischen und die Sonne und Weiber in Badeanzügen, und ich kam mir vor wie im Paradies.«

»Sie waren Bartender, bevor Sie eingerückt sind?«

»Hab mein eigenes Lokal gehabt. Da war dieser Bursche, mit dem ich gearbeitet hab, Nick Mangano, der hatte ein bißchen was auf die Seite gelegt, und ich hab meines dazugetan, und so haben wir eine Muschelbar mit Alkohollizenz übernommen, an diesem Fischplatz, den sie Murphy's Pier nennen. Kennen Sie ihn?« »Nein.«

»Wir haben ganz ordentlich verdient, und ein paar Jahre später haben wir uns vergrößert, ein Lokal mit ein paar Nischen und einem Pianisten. Es hat sich ganz gut angelassen. Damals war ich verheiratet, und ich hab den Tagdienst gehabt. Den ganzen Tag lang nichts als Fischer, meistens alte Männer. Es gibt eine Menge alte Leute hier. Die sind eine ausgezeichnete Kundschaft. Ein paarmal am Tag kommen sie in aller Ruhe einen heben, und nie hat man Ärger mit ihnen. Nachts war Nick im Geschäft, mit noch einem Burschen, den wir angestellt hatten, damit er sich um die Leute kümmert, die zum Tanzen kamen.«

»Muß ein gutes Geschäft gewesen sein.« »Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

Lefcowitz schwieg einen Augenblick. »Ich hab eine schiksse geheiratet«, sagte er dann. »Ein irisches Mädchen.«

»Sind Sie noch immer in der Armee?«

>ja, ich hab noch einen Urlaubsanspruch gehabt, dann werd ich entlassen.« Seine Kinnladen mahlten. »Wie sie mich eingezogen haben, hab ich Nick alle Vollmacht gegeben. Er hat's mit dem Herzen, das hat ihm den Krieg erspart. Vier Jahre lang hat er den Laden allein geschmissen, mit Tag- und Nachtbetrieb.«

Er sank in sich zusammen. Seine Stimme klang belegt. »Na, ich hab mir vorgestellt, ich werd hineingehen in unser Lokal, und mein Kumpel, der Nick, wird wenigstens eine kleine Wiedersehens-Party für mich machen. Komisch, in Neapel hab ich sogar die italienischen Weiber ordentlich behandelt. Ich hab gedacht, den Nick wird das freuen, wenn ich's ihm erzähl. Na, ich komm hin, alles zu, mit Brettern verschlagen. Kein Knopf auf der Bank.« Er sah Michael an und grinste, mit zitternden Lippen und schwimmenden Augen. »Aber das ist der komische Teil der Geschichte. Da hat er gewohnt, die ganze Zeit, die ich drüben war. In diesem Haus.«

»Sind Sie sicher?«

»Herr, ich hab's gehört. Wieder und wieder und wieder. Wenn so was passiert - Sie würden sich wundern, wieviel gesprächige Freunde Sie da auf einmal haben. Aus allen Winkeln kommen sie hervor.«

»Wo sind sie jetzt?«

»Der Junge ist fort. Sie ist fort. Er ist fort. Das Geld ist fort. Adresse unbekannt. Alles blankgeputzt wie ein abgenagter Knochen.«

Michael suchte nach Worten, die helfen könnten, aber nichts fiel ihm ein.

»Daß sie eine Niete war, hab ich schon gewußt, wie ich sie geheiratet hab. Dann hab ich mir gedacht, wer ist schon ein Engel, ich hab mir inzwischen auch nichts entgehen lassen, vielleicht können wir miteinander neu anfangen. Das war nicht möglich. Schön, so was passiert, über sie zerbrech ich mir nicht den Kopf. Aber der Bub hat Samuel geheißen. Samuel, nach meinem Vater, aleja ha Schalom. Die zwei sind Katholiken. Der Bub wird nie bar-mizwe werden.«

Er stöhnte, und dann war es, als würde ein Damm brechen. »Mein Gott, ich werd dieses Kind nie wiedersehen.« Er ließ sich fallen, sein Kopf schlug mit solcher Kraft gegen die Schulter seines Zuhörers, daß es Michael fast vom Bett geworfen hätte. Der aber hielt ihn fest, wiegte ihn leise und schwieg. Lange. Dann nahm er sehr sanft die Pistole aus den erschlafften Fingern. Er hatte nie zuvor eine Waffe in der Hand gehalten; sie war überraschend schwer. Über den Kopf des Mannes hinweg las er die erhabene Prägung auf dem Lauf: SAUER

U. SOHN, SUHL, CAL 7.65. Dann legte er die Pistole neben sich auf das Bett. Er wiegte noch immer, umfaßte den an seiner Schulter ruhenden Kopf des Mannes mit der Rechten und streichelte sein wirres Haar. »Weinen Sie, Mr. Lefcowitz«, sagte er, »weinen Sie.«

Es war noch dunkel, als die Militärpolizei ihn vor dem Tempel aussteigen ließ. Michael entdeckte, daß er das Tor unversperrt gelassen und nicht einmal das Licht ausgeschaltet hatte, und er war froh darüber, daß er zurückgekommen war, anstatt geradenwegs nach Hause zu fahren; Rabbi Flagerman hätte sich wahrscheinlich geärgert. Der Ventilator in seinem Büro lief noch immer auf vollen Touren. Die Nachtluft war frisch, und es war ungemütlich kalt im Zimmer. Er stellte den Ventilator ab.

Dann schlief er an seinem Schreibtisch ein, den Kopf auf die Arme gelegt.

Als ihn das Telephon aufschreckte, zeigte die Uhr auf seinem Schreibtisch acht Uhr fünfundfünfzig. Er fühlte sich zerschlagen, und sein Mund war trocken. Draußen schien die Sonne, warm und golden.

Die Luftfeuchtigkeit machte sich schon unangenehm bemerkbar. Er schaltete die Klimaanlage ein, bevor er den Telephonhörer abhob.

Eine Frau war am Apparat. »Kann ich den Rabbiner sprechen?« fragte sie.

Er unterdrückte ein Gähnen und setzte sich auf. »Welchen Rabbiner?« fragte er.

20

Nicht ganz ein Jahr nach seiner Ankunft in Miami flog Michael nach New York, um Rabbi Joshua Greenberg von der Sons of Jacob-Synagoge bei einer Hochzeit zu assistieren: Mimi Steinmetz wurde einem Wirtschaftsprüfer angetraut, den ihr Vater soeben als Juniorpartner in seine Firma genommen hatte. Als die Jungvermählten einander nach der Zeremonie küßten, spürte Michael plötzlich etwas wie Bedauern und Verlangen - nicht nach diesem Mädchen, sondern nach einer zu ihm gehörenden Frau, nach einem Menschen, den er lieben könnte. Er tanzte den kosazke mit der Braut und trank nachher zuviel Champagner.

Rabbi David Sher, einer seiner ehemaligen Lehrer am Institut, arbeitete jetzt in der Amerikanischen Union Jüdischer Gemeinden. Zwei Tage nach der Hochzeit suchte Michael ihn auf. »Kind! « rief Rabbi Sher und rieb sich die Hände. »Sie sind genau der Mann, den ich brauche. Ich habe einen Posten für Sie.«

»Guter Posten?«

»Lausig. Miserabel.«

Hol's der Teufel, dachte Michael, ich habe Miami gründlich satt. »Ich nehme ihn«, sagte er.

Michael hatte den Wanderprediger für eine Absonderlichkeit aus der protestantischen Vergangenheit gehalten.

»Jüdische Hinterwäldler?« fragte er ungläubig.

»Juden in den Ozarks«, sagte Rabbi Sher. »Sechsundsiebzig Familien in den Bergen von Missouri und Arkansas.«

»Es gibt doch Tempel in Missouri und Arkansas.«

»Ja, im Flachland und in den größeren Gemeinden. Aber nicht in der Gegend, von der ich spreche, im Bergland, wo da und dort ein vereinzelter Jude eine Gemischtwarenhandlung oder ein Fischercamp führt.«

»Sie haben von einem lausigen Posten gesprochen. Das klingt aber doch großartig.«

»Sie haben einen Umkreis von achthundert Kilometern zu bereisen. Nie wird's ein Hotel geben, wenn Sie eines suchen, Sie werden sich mit dem einrichten müssen, was Sie vorfinden. Die meisten von Ihren Gemeindemitgliedern werden Sie mit offenen Armen aufnehmen, aber es wird auch solche geben, die Sie wegschicken, und solche, die sich nicht um Sie kümmern. Sie werden dauernd unterwegs sein.«

»Ein transportabler Rabbiner.«

»Ein rabbinischer Vagabund.« Rabbi Sher nahm einen Ordner aus dem Aktenschrank. »Da ist eine Liste der Dinge, die Sie besorgen müssen; Sie können alles der Union verrechnen. Ein Kombiwagen ist für den Posten vorgesehen. Sie werden einen Schlafsack und sonstige Campingausrüstung brauchen. Und wenn Sie Ihren Wagen kaufen, Rabbi«, sagte er mit breitem Grinsen, »dann sorgen Sie dafür, daß man Ihnen extrastarke Stoßdämpfer einbaut.«

Vier Wochen später war er in den Bergen, nach einer zweitägigen Fahrt über zweitausendfünfhundert Kilometer von Miami herauf. Der Kombi war ein Jahr alt, aber er war ein großer, schwerer grüner Oldsmobile, und Michael hatte ihn mit Stoßdämpfern versehen lassen, die stark genug für einen Tankwagen schienen. Bis jetzt waren Rabbi Shers düstere Prophezeiungen nicht eingetroffen; die Straßen waren gut und nach der Karte leicht zu finden, und es war so warm, daß er weiterhin seine Kleidung aus Florida trug und nichts von dem Winterzeug brauchte, das sich hinten im Wagen türmte. Der erste Name auf Michaels Liste war George Lilienthal, Direktor einer Holzfirma mit der Adresse Spring Hollow, Arkansas. Als er ins Vorgebirge kam und die Steigung der Straße fühlbarer wurde, hob sich auch Michaels Stimmung.

Er fuhr langsam und genoß den Rundblick: verwitterte Gehöfte, Blockhäuser mit silbrig glänzenden Wänden, Holzzäune, da und dort ein Bergwerk oder eine Fabrik.

Um vier Uhr nachmittags begann es leicht zu schneien, und Michael fror. Er hielt an einer Tankstelle - einem Bauernhaus mit zwei Benzinsäulen - und zog im Haus Winterkleidung an, während ein runzliger alter Mann seinen Wagen auftankte. Nach den Informationen, die Michael aus dem Büro der Union mitgebracht hatte, sollte Spring Hollow siebenundzwanzig Kilometer von Harrison entfernt sein, auf einer Sandstraße erreichbar. Aber der Alte, den Michael zur Sicherheit fragte, schüttelte den Kopf.

»Nein. Sie fahren die Zweiundsechzig, nach Rogers biegen Sie ab nach Osten, bis Monte Ne, dann sind's noch ein paar Kilometer.

Schotterstraße. Wenn Sie's nicht finden, müssen Sie eben noch einmal fragen.«

Als Michael hinter Rogers von der Autostraße abbog, war der Schotterbelag der Landstraße unter dem Schnee nur mehr zu ahnen. Der Wind kam in Böen, schüttelte den Kombi und pfiff eisig durch die Fensterspalten. Michael gedachte dankbar der Liste des Rabbi Sher: die dort angegebene Kleidung erwies sich als angemessen. Er trug jetzt schwere Stiefel, Cordhosen, Wollhemd, Pullover, Anorak, Handschuhe und eine Kappe mit Ohrenschützern. Der schwere Schneefall setzte mit Einbruch der Dunkelheit ein. Manchmal, wenn Michael um eine Kurve fuhr, fiel der Lichtkegel seiner Scheinwerfer direkt in schwarze Leere. Er wußte nur zu gut, daß er von Bergfahrten bei Nacht nichts verstand.

Zunächst fuhr er an den Straßenrand und parkte, mit der Absicht, das Unwetter abzuwarten. Aber bald wurde es sehr kalt im Wagen. Er startete den Motor und schaltete die Heizung auf den höchsten Grad, dann aber kamen ihm Bedenken, ob die Lüftung auch ausreichte, ob man ihn nicht am nächsten Morgen steifgefroren im Wagen finden würde. (»Der Motor lief noch, meldet der Polizeibericht.«) Oberdies, so kam ihm in den Sinn, war der geparkte Wagen ein gefährliches Hindernis für jedes Fahrzeug, das plötzlich aus Schnee und Dunkelheit auftauchen konnte. So fuhr er sehr langsam weiter, bis er, am Ende einer Steigung angelangt, in der Ferne ein gelbliches Lichtviereck sah, das, wie sich im Näherkommen erwies, das erleuchtete Fenster eines Bauernhauses war. Er parkte den Wagen unter einem großen Baum und klopfte ans Tor. Der Mann, der ihm öffnete, sah immerhin nicht wie Li'l Abner aus. Er trug Jeans und ein dickes braunes Arbeitshemd. Michael schilderte, in welch übler Lage er sich befand, und der Mann bat ihn ins Haus.

»Jane«, rief er, »da ist einer, der ein Bett für die Nacht braucht.« Die Frau kam langsam in den vorderen Raum. Durch die Tür, die sie hinter sich offenließ, sah Michael den Feuerschein, der durch die Sprünge eines mit Töpfen besetzten Küchenherdes drang. In der Stube war es sehr kalt.

An einem Nagel hing eine Laterne.

»Haben Sie Spielkarten bei sich?« Sie hielt sich die ungeknöpfte Jacke über der Brust zu.

»Nein«, sagte Michael. »Bedaure.«

Ihr Mund war streng. »Sie sind hier in einem guten christlichen Haus.

Karten und Whisky dulde ich nicht.«

»In Ordnung, Ma'am.«

Dann saß er in der Küche an einem wackligen, offensichtlich selbstgefertigten Tisch, und die Frau wärmte ihm ein Stew auf. Es schmeckte ungewohnt und kräftig, aber Michael wagte nicht zu fragen, aus welcher Art Fleisch sie es zubereitet hatte. Nach dem Essen nahm der Mann die Laterne vom Nagel und führte Michael in ein stockfinsteres Hinterzimmer.

»Scher dich raus«, brummte er, und ein großer gelber Hund verließ gähnend und unwillig die schmale Bettstatt. »So, das wär's, Mister«, sagte der Mann.

Nachdem Michael die Tür hinter ihm geschlossen hatte und im Dunkeln allein geblieben war, beschloß er, sich nicht auszukleiden. Es war sehr kalt. Er zog nur die Stiefel aus und richtete sich dann im Bett ein, so gut er konnte. Die Decken waren zerfetzt und wärmten nur wenig: sie rochen stark nach Hund.

Die Matratze war dünn, voll Unebenheiten. Michael lag stundenlang wach, spürte die Kälte und den fettigen Nachgeschmack des Stews und konnte nicht verstehen, wie er hierhergekommen war. Um Mitternacht hörte er ein Kratzen an der Tür. Der Hund, dachte er, aber die Tür öffnete sich unter dem Druck einer Menschenhand, und Michael gewahrte, einigermaßen beunruhigt, seinen Gastgeber.

»Seht«, sagte der Mann, den Finger an die Lippen legend. In der andern Hand trug er einen Krug. Er stellte ihn neben Michaels Bett und verschwand ohne ein Wort.

Es war das übelste Gebräu, das Michael je gekostet hatte, aber es war stark wie Feuer und ebenso wärmend. Schon nach wenigen Schlucken schlief er wie ein Toter.

Als er am Morgen erwachte, war das Haus verlassen: weder Mann noch Frau, noch Hund waren zu sehen. Er legte drei Dollar auf das Fußende des Bettes. Sein Kopf schmerzte, und er konnte den Krug nicht einmal mehr ansehen, aber er fürchtete, die Frau werde ihn finden. So trug er ihn in den Wald hinter der Hütte und stellte ihn in den Schnee, in der Hoffnung, der Mann werde vorbeikommen, ehe die Frau ihn entdeckt hatte.

Der Wagen startete fast ohne Schwierigkeiten. Nach kaum einem Kilometer sah Michael, wie vernünftig es gewesen war, die Nacht abzuwarten. Die Straße wurde steiler und enger. Zur Linken stieg der Berg an, da und dort ragten Felsblöcke in die Straße hinein; zur Rechten ein senkrechter Absturz und der Blick über ein verschneites Tal, jenseits begrenzt von Gipfel an Gipfel, und rings von Bergketten umgeben. Die Haarnadelkurven waren mit Schneematsch und stellenweise mit schmelzendem Eis bedeckt. Er fuhr sie so behutsam wie möglich, immer damit rechnend, daß die Straße hinter jeder Biegung an einem steilen Abhang enden könnte, über den er mitsamt seinem Wagen in die Tiefe stürzen würde.

Erst am späteren Nachmittag kam Michael in Spring Hollow an.

George Lilienthal war mit den Holzfällern im Wald, aber seine Frau Phyllis begrüßte Michael wie einen neu entdeckten Verwandten. Seit Tagen hätten sie die Ankunft des Rabbiners erwartet, sagte sie.

Die Lilienthals bewohnten ein Haus mit drei Schlafräumen, das der Ozarks Lumber Corporation gehörte. Das Warmwasser funktionierte gut, es gab einen Eisschrank mit Tiefkühlfach und ein schon etwas altmodisches Tonmöbel. Als George Lilienthal zum Abendessen nach Hause kam, hatte Michael bereits den Luxus eines stundenlangen heißen Bades genossen, war frisch rasiert und umgezogen, und lauschte, ein Glas in der Hand, einer Debussy-Platte. George war ein schwerer, fröhlicher Mann von siebenunddreißig Jahren, der in Syracuse Forstwirtschaft studiert hatte. Phyllis war eine untadelige Hausfrau, deren sanft ausladende Hüften ihr Wohlgefallen an der eigenen Kochkunst verrieten.

Michael sagte die Segenssprüche beim Abendessen und betete nachher mit ihnen, wobei er den ssider mit ihrem Sohn Bobby teilte.

Der Junge war schon elf Jahre alt; er hatte nur mehr zwanzig Monate bis zur bar-mizwe, aber er konnte noch kein Wort Hebräisch lesen.

Den ganzen folgenden Nachmittag brachte Michael damit zu, ihn das hebräische Alphabet zu lehren. Dann gab er ihm ein alef-bejss und eine Zusammenstellung von Aufgaben, die Bobby bis zu Michaels nächstem Besuch durchführen sollte.

Am folgenden Morgen brachte ihn George bis zu einem Holzweg, auf dem er seine nächste Station erreichen sollte.

»Ich hoffe, Sie werden keine zu unangenehme Fahrt haben«, sagte er beim Abschied besorgt. »Sie müssen allerdings über zwei, drei Bäche, und das Wasser ist um diese Jahreszeit ziemlich hoch ...« Der Gemischtwarenladen in Swift Bend lag direkt am Fluß - einem reißenden, kalten Fluß, der häßliche graue Eisschollen führte. Ein bärtiger Mann in braunkariertem Wollmantel lud Warenbündel aus einem Ford-Lieferwagen, Baujahr 1937: gestapelte und mit Stricken zusammengebundene Bälge irgendwelcher kleiner Pelztiere. Die Bälge waren steifgefroren, und der Mann schichtete sie bündelweise unter dem Vordach des Ladens.

»Ist das der Laden von Edward Gold?« fragte Michael. »Ja«, sagte der Mann, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Drinnen gab es einen Ofen, und es war warm. Michael wartete, bis die Frau hinter dem Verkaufspult einem jungen Mädchen drei Pfund ungebleichtes Mehl in einen braunen Papiersack eingewogen hatte. Dann sah sie ihn fragend an. Sie war eine junge Frau aus den Bergen, fast noch ein Mädchen, mager und sommersprossig, mit grober Haut und rissigen Lippen.

»Ist Edward Gold hier?« »Wer sucht ihn?«

»Ich bin Michael Kind, der Rabbiner. Mr. Gold weiß von meinem Besuch, ich habe ihm geschrieben.«

Sie sah ihn feindselig an. »Sie sprechen mit seiner Frau. Wir brauchen keinen Rabbiner.«

»Ist Ihr Mann zu Hause, Mrs. Gold? Könnte ich ihn einen Augenblick sprechen?«

»Wir brauchen Ihre Religion nicht«, sagte sie wütend. »Haben Sie nicht verstanden?«

Er hob die Hand an seine Mütze und ging.

Als er in seinen Kombi stieg, rief ihm der Mann, der unter dem Vordach seine Ware stapelte, leise nach. Michael ließ den Motor warmlaufen und wartete, bis der Mann herangekommen war.

»Sind Sie der Rabbiner?«

»Ja.«

»Ich bin Ed Gold.« Der Mann zog mit den Zähnen den ledernen Fausthandschuh von seiner Rechten und suchte in seiner Hosentasche.

Dann drückte er Michael etwas in die Hand.

»Mehr kann ich für Sie nicht tun«, sagte er, den Handschuh wieder anziehend. »Besser, Sie kommen nicht wieder.« Dann ging er schnell zurück zu seinem Ford und fuhr davon.

Michael blieb sitzen und schaute ihm nach. In der Hand hielt er zwei Ein-Dollar-Scheine.

Von der nächsten Stadt schickte er sie dem Mann zurück.

Am Ende seiner ersten Rundfahrt hatte er neunzehn Hebräisch-Schüler im Alter von sieben bis zu dreiundsechzig Jahren. Der älteste betrieb einen Campingplatz, war als Junge nicht bar-mizwe geworden und wollte das noch vor seinem fünfundsechzigsten Lebensjahr nachholen. Michael hielt Gottesdienste, wo immer er einen Juden fand, der dafür aufnahmebereit war. Die Mitglieder seiner »Gemeinde« waren durch große Entfernungen voneinander getrennt. Einmal mußte er in einem Zug hundertvierzig beschwerliche Kilometer zurücklegen, um von einem jüdischen Haus zum nächsten zu gelangen. Er lernte, beim ersten Anzeichen von Schnee eine Unterkunft zu suchen, und er fand sie in den verschiedensten Bergbauernhäusern. Eines Abends, als er darüber mit Stan Goodstein sprach - einem Müller, in dessen Haus er regelmäßig Station machte -, erhielt er von seinem Gastgeber einen Schlüssel und eine genaue Lagebeschreibung.

»Wenn Sie in Big Cedar Hill vorbeikommen, übernachten Sie in meiner Jagdhütte«, sagte er. »Konserven finden Sie dort reichlich. Sie müssen nur auf eines achten: wenn es zu schneien beginnen sollte, trachten Sie, daß Sie schnell wegkommen, oder Sie müssen sich einrichten bis zur Schneeschmelze. Der Weg führt über eine Hängebrücke. Wenn die Brücke eingeschneit ist, kommen Sie mit dem Wagen nicht mehr hinüber.«

Auf seiner nächsten Rundfahrt machte Michael in der Hütte Station. Die Brücke überspannte eine tiefe Schlucht, die ein reißender, weißschäumender Bergbach in Jahren ausgewaschen hatte. Michael saß starr auf seinem Sitz, als er die Brücke überfuhr, hielt das Lenkrad so fest, daß seine Knöchel hervortraten, und hoffte nur, daß Goodstein die Brücke erst kürzlich auf ihre Tragfähigkeit kontrolliert haben möge.

Aber sie hielt der Prüfung stand, ohne zu wanken. Die Hütte lag auf einer kleinen Anhöhe. Der Küchenschrank war wohlgefüllt, und Michael bereitete sich eine reichliche Mahlzeit; er beschloß sie mit drei Tassen starken, heißen Tees vor dem Kamin, in dem er ein mächtiges Feuer entfacht hatte. Beim Dunkelwerden zog er sich warm an und ging hinaus in den nahen Wald, um das sch'ma zu sagen. Die riesigen Bäume, die dem Ort seinen Namen gaben, rauschten und seufzten im Wind, das Raunen im Laubwerk stieg und fiel wie das Gebet alter Männer. Michael schritt unter den Bäumen dahin, betete laut und fühlte sich zu Hause.

In der Hütte fand er ein Halbdutzend neuer Maiskolbenpfeifen, in einer Schüssel verwahrt, und einen Rest feuchtgehaltenen Tabaks. Er saß vor dem Feuer, rauchte und hing seinen Gedanken nach. Draußen frischte der Wind ein wenig auf. Michael fühlte sich wohlig warm und mit sich selbst in Frieden. Als er schläfrig wurde, dämpfte er das Feuer und schob das Bett nahe zum Kamin.

Irgend etwas weckte ihn kurz nach zwei Uhr morgens. Als er aus dem Fenster sah, wußte er sofort, was es gewesen war. Es schneite leicht, aber gleichmäßig. Er wußte, daß innerhalb von Minuten dichtes Schneetreiben einsetzen konnte. Stöhnend streckte er sich nochmals im Bett aus. Einen Augenblick lang war er versucht, die Augen zu schließen und wieder einzuschlafen. Würde er eingeschneit, dann könnte er sich drei oder vier Tage lang ausruhen, bis der Schnee wieder geschmolzen wäre. Die Aussicht war verführerisch; zu essen gab es genug in der Hütte, und er war müde.

Aber er wußte, daß er für die Leute, die er aufsuchte, eine vertraute Gestalt werden mußte, wenn er im Bergland mit Erfolg arbeiten wollte.

Er zwang sich, das warme Bett zu verlassen und schnell in die Kleider zu schlüpfen.

Als er zur Brücke kam, war sie schon dünn mit Schnee bedeckt. Den Atem anhaltend und wortlos betend, fuhr er den Wagen langsam hinauf.

Die Räder griffen; in wenigen Augenblicken war er drüben.

Nach zwanzig Minuten kam er an eine Hütte, deren Fenster erleuchtet waren. Der Mann, der ihm öffnete, war dunkel und mager, sein Haar schon schütter. Ohne ein Zeichen der Bewegung hörte er an, was Michael zu sagen hatte: daß er im Schnee nicht weiterfahren wolle; dann öffnete er die Tür weit und führte den Gast ins Haus. Indessen war es drei Uhr morgens geworden, aber in der Stube brannten noch drei Laternen, im Kamin loderte ein Feuer, und davor saßen ein Mann, eine Frau und zwei Kinder. Michael hatte auf ein Bett gehofft, aber sie boten ihm einen Stuhl an. Der Mann, der ihm geöffnet hatte, stellte sich als Tom Hendrickson vor. Die Frau war mit ihm verheiratet, das kleine Mädchen war Ella, ihre Tochter. Die beiden andern waren Toms Bruder Clive und dessen Sohn Bruce. »Und das ist Mr. Robby Kind«, sagte Hendrickson zu seiner Familie.

»Nein, Rabbi Kind«, berichtigte Michael. »Mein Vorname ist Michael.

Ich bin Rabbiner.«

Sie starrten ihn an. »Was ist das?« fragte Bruce.

Michael lächelte den Erwachsenen zu, während er dem Jungen sagte:

»Das ist mein Beruf, damit verdiene ich mein Geld.«

Sie lehnten sich wieder in ihre Stühle zurück. Tom Hendrickson warf von Zeit zu Zeit ein Kiefernscheit ins Feuer. Michael schaute verstohlen auf seine Uhr und fragte sich, was hier vorgehe. »Wir wachen für unsere Mutter«, sagte Hendrickson.

Clive Hendrickson nahm Geige und Bogen wieder auf, die er neben seinem Stuhl auf den Boden gelegt hatte, lehnte sich zurück, schloß die Augen und begann leise zu fiedeln, während sein Fuß den Takt gab. Bruce schnitzte an einem weichen Stück Föhrenholz, die Späne ringelten sich unter seinem Messer, fielen nieder ins Feuer. Die Frau lehrte ihre Tochter ein Strickmuster. Sie beugten sich über ihre Nadeln und sprachen im Flüsterton. Tom Hendrickson starrte ins Feuer.

Michael fühlte sich mit ihnen einsamer als zuvor allein im Wald. Er holte eine kleine Bibel aus der Tasche seiner Jacke und begann zu lesen.

»Mister.«

Tom Hendrickson betrachtete aufmerksam die Bibel. »Sind Sie ein Prediger?«

Das Geigen, das Schnitzen und das Stricken hörten auf: fünf Augenpaare starrten Michael an.

Jetzt wurde ihm klar, daß sie nicht wußten, was ein Rabbiner ist.

»Man kann es so nennen«, sagte er. »So eine Art Prediger des Alten Testaments.«

Tom Hendrickson griff nach einer der Laternen und lud den verwunderten Michael mit einer Kopfbewegung ein, ihm zu folgen.

In dem kleinen Hinterzimmer verstand Michael plötzlich, warum die Leute im Haus wachten. Die alte Frau war groß und mager wie ihre Söhne. Ihr Haar war weiß, sorgfältig gekämmt und zu einem Knoten geflochten. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht friedlich, zumindest jetzt, im Tod.

„Mein aufrichtiges Beileid«, sagte Michael.

»Sie hat ein gutes Leben gehabt«, sagte Hendrickson mit klarer Stimme. »Sie war eine gute Mutter. Sie ist achtundsiebzig Jahre alt geworden. Das ist eine lange Zeit.« Er sah Michael an. »Die Sache ist die, wir müssen sie begraben. Es ist jetzt zwei Tage her. Der Prediger, den wir hier hatten, ist vor ein paar Monaten gestorben.

Clive und ich haben daran gedacht, sie morgen früh ins Tal zu führen. Sie wollte hier begraben werden. Ich wäre froh, wenn Sie sie einsegnen könnten.«

Michael spürte das Verlangen, zu lachen, und gleichzeitig zu weinen -

und natürlich tat er weder das eine noch das andere. Er sagte nur sehr sachlich: »Sie wissen, daß ich Rabbiner bin. Jüdischer Rabbiner.«

»Die Sekte spielt keine Rolle. Sind Sie Prediger? Ein Mann Gottes?«

»Ja.«

»Dann wären wir Ihnen dankbar für Ihre Hilfe, Mister«, sagte Hendrickson.

»Es ist mir eine Ehre«, erwiderte Michael hilflos. Dann kehrten sie ins Wohnzimmer zurück.

»Clive, du verstehst dich auf die Tischlerei. Im Schuppen findest du alles, was du für einen Sarg brauchst. Ich geh inzwischen hinunter zum Begräbnisplatz. « Hendrickson wandte sich an Michael.

»Brauchen Sie irgendwas Besonderes?«

»Nur ein paar Bücher und Gegenstände aus meinem Wagen.«

Michael fühlte sich keineswegs so zuversichtlich, wie er sprach. Er hatte bis jetzt bei zwei - natürlich jüdischen - Begräbnissen assistiert.

Jetzt sollte er zum erstenmal die Rolle des Geistlichen übernehmen, der die Zeremonie zu leiten hatte.

Er ging zum Wagen, holte seine Tasche heraus und saß dann wieder vor dem Feuer, diesmal allein. Bruce half seinem Vater, den Sarg zu zimmern. Ella und ihre Mutter rührten in der Küche einen Kuchen für das Leichenfrühstück. Michael durchforschte seine Bücher nach passenden Texten.

Von draußen drang der gedämpfte Schlag eines Werkzeugs auf gefrorene Erde herein.

Michael las lange in der Bibel, ohne zu einem Entschluß zu kommen.

Dann schloß er das Buch, zog Jacke und Stiefel an, setzte seine Kappe auf und trat ins Freie, wie gelenkt vom Geräusch des Grabens. Er folgte dem Laut, bis er den Schein von Hendricksons Laterne sah.

Der Mann hielt in seiner Arbeit inne. »Brauchen Sie etwas?« »Ich will Ihnen helfen. Als Tischler bin ich wohl nicht viel wert, aber graben kann ich.«

»Nein, Sir. Nicht notwendig.« Doch als ihm Michael die Spitzhacke aus den Händen nahm, überließ er sie ihm.

Hendrickson hatte den Schnee und die oberste gefrorene Erdschicht schon abgegraben. Der tiefer gelegene Boden war weich, aber steinig.

Michael keuchte beim Lockern eines großen Steines.

»Schieferboden«, sagte Hendrickson gelassen. »Voll Kiesel. Bei uns gibt's mehr Steine als Frucht.«

Es hatte zu schneien aufgehört, aber die Nacht war mondlos. Die Laterne flackerte, doch sie verlosch nicht.

Schon nach wenigen Minuten war Michael außer Atem. Rücken und Armmuskeln schmerzten. »Ich habe vergessen, Sie zu fragen«, sagte er, »welche Religion Ihre Mutter hatte?« Hendrickson stieg in die Grube und löste ihn ab. »Sie war Methodistin, gottesfürchtig, aber vom Kirchengehen hielt sie nicht viel. Mein Vater ist baptistisch erzogen worden, aber ich kann mich kaum erinnern, daß er in die Kirche gegangen ist.« Er wies mit der Schaufel auf ein Grab nahe der Grube, die sie aushoben. »Dort drüben liegt er. Schon seit sieben Jahren.« Eine Weile gruben sie schweigend weiter. Eine Krähe krächzte, und Hendrickson richtete sich auf und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Das ist ein Regenvogel. Wird ein nasser Morgen. Nichts ist mir so zuwider wie ein verregnetes Begräbnis.«

»Mir auch.«

»Ich war ihr zweitjüngster Sohn. Der jüngste hieß Joseph. Mit drei Jahren ist er gestorben. Wir sind auf einen Baum gestiegen, und er ist runtergefallen.« Er sah hinüber zum Grab seines Vaters. »Der war nicht einmal beim Begräbnis. Hat damals gerade gesponnen und ist auf und davon. Vierzehn Monate lang. Sie hat für uns gesorgt, als wäre er da. Hat Kaninchen und Eichhörnchen geschossen, so daß immer Fleisch im Haus war. Und aus dem Garten herausgeholt, was nur möglich war. Dann kam er eines Tages zurück, so selbstverständlich, als wäre er nie weggegangen. Bis zu seinem Tod haben wir nie erfahren, wo er die vierzehn Monate gewesen ist.«

Sie wechselten wieder. Die Grube war nun tiefer, und Michael fand den Boden weniger steinig.

»Sagen Sie, Mister, gehören Sie zu den Geistlichen, die gegen das Trinken wettern?«

»Nein. Keineswegs.«

Die Flasche war dicht hinter der Laterne im Schatten gestanden.

Hendrickson überließ ihm höflich den ersten Schluck. Die Arbeit hatte Michael in Schweiß gebracht, aber vom Berg her wehte ein kühler Wind, und der Schnaps tat gut.

Als Michael Hendrickson aus dem fertigen Grab half, begann es zu dämmern. Von fern her drang der laute Anschlag eines Hundes zu ihnen herüber. Hendrickson seufzte. »Muß mir einen guten Hund anschaffen«, meinte er.

Die Frau hatte schon warmes Wasser vorbereitet, und sie wuschen sich und wechselten die Kleider. Vielleicht hatte die Regenkrähe recht, doch sie war voreilig gewesen. Tiefhängende Wolken jagten über die Berge, aber noch fiel kein Regen. Während sie den Fichtensarg aus dem Schuppen hereinschafften, stellte Michael seine Grabrede zusammen und markierte die betreffenden Abschnitte in der Bibel mit abgerissenen Zeitungsstreifen. Nachdem er damit fertig war, bedeckte er das Haupt mit der jarmulka und hängte sich den Mantel um die Schultern. Als sie den Sarg an das Grab schafften, krächzte die Krähe erneut. Die beiden Söhne ließen den Sarg in die Grube, und dann standen alle fünf um das Grab und sahen Michael an.

»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln«, sagte er. »Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele, er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.«

Das kleine Mädchen bohrte mit der Fußspitze so lange in der klumpigen Erde, bis sich ein Brocken davon löste und in das Grab polterte. Bleich vor Schreck zuckte sie zurück.

»Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.

Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde, du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

Wem ein tugendsam Weib beschert ist«, sprach er weiter, »die ist viel edler als die köstlichsten Perlen. Ihres Mannes Herz darf sich auf sie verlassen, und Nahrung wird ihm nicht mangeln. Sie tut ihm Liebes und kein Leides ihr Leben lang. Sie geht mit Wolle und Flachs um und arbeitet gern mit ihren Händen. Sie ist wie ein Kaufmannsschiff, das seine Nahrung von ferne bringt. Sie steht vor Tage auf und gibt Speise ihrem Hause und Essen ihren Dirnen. «

Clive Hendrickson blickte der Mutter ins Grab nach, den Arm um seinen Sohn geschlungen. Tom Hendrickson hielt die Augen geschlossen. Er merkte nicht, daß er die Haut seines Handgelenks zwischen den Fingern und dem hornigen Daumennagel der anderen Hand andauernd hin und her drehte.

»Sie denkt nach einem Acker und kauft ihn und pflanzt einen Weinberg von den Früchten ihrer Hände. Sie gürtet ihre Lenden mit Kraft und stärkt ihre Arme. Sie merkt, wie ihr Handel Frommen bringt. Ihre Leuchte verlischt des Nachts nicht. Sie streckt ihre Hand nach dem Rocken, und ihre Finger fassen die Spindel. Sie breitet ihre Hände aus zu dem Armen und reicht ihre Hand dem Dürftigen. Kraft und Schöne sind ihr Gewand, und sie lacht des kommenden Tages. Sie tut ihren Mund auf mit Weisheit, und auf ihrer Zunge ist holdselige Lehre. Sie schaut, wie es in ihrem Hause zugeht, und ißt ihr Brot nicht mit Faulheit.«

Der erste Tropfen traf Michaels Wange wie ein kalter Kuß. »Ihre Söhne stehen auf und preisen sie selig; ihr Mann lobt sie: Viele Töchter halten sich tugendsam; du aber übertriffst sie alle. Lieblich und schön sein ist nichts; ein Weib, das den Herrn fürchtet, soll man loben. Sie wird gerühmt werden von den Früchten ihrer Hände, und ihre Werke werden sie loben in den Toren.« Die Tropfen fielen nun dichter und klatschten schwer auf. »Lasset uns nun beten, jeder auf seine Weise, für die Seele der Verstorbenen, Mary Bates Hendrickson«, sprach Michael.

Die beiden Brüder und die Frau knieten in dem aufgeweichten Erdreich nieder. Erschrocken blickten die Kinder einander an und taten es ihnen nach. Die Frau weinte gesenkten Hauptes vor sich hin.

Und über ihnen allen sprach Michael mit lauter, klarer Stimme die alten aramäischen Worte des jüdischen Totengebets. Und sprach noch, da die halbdollargroßen Tropfen dichter und dichter aus den Himmeln fielen.

Und während Frau und Kinder sich eilig und mit unterdrücktem Gekreisch entfernten, verstaute Michael die Bibel in der Jacke und stieß dann mit den Brüdern die Steine und die nassen Erdbrocken zurück in die Grube und häufte mit ihnen den Hügel darüber im Wettlauf gegen die Zeit.

Nach dem Frühstück begann Clive auf seiner Geige fröhliche Melodien zu spielen und brachte die Kinder damit zum Lachen. Der Abschied erleichterte sie sichtlich.

»Ich danke Ihnen für das schöne Begräbnis«, sagte Tom Hendrickson und hielt Michael einen ganzen und einen halben Dollar hin. »Soviel hat unser verstorbener Prediger immer verlangt.

Geht das in Ordnung?«

Michael hätte das Geld sonst nicht genommen, aber etwas in den Augen des Gebers zwang ihn zu sagen: »Das ist mehr als genug.

Vielen Dank.«

Hendrickson begleitete ihn bis zum Wagen. Während der Motor warmlief, lehnte er sich zum Fenster herein. »Hab mal mit so 'nem Kerl auf einer großen Missouri-Farm gearbeitet«, sagte er. »Der wollte mir weismachen, die Juden haben Niggerhaare, und aus dem Schädel wachsen ihnen zwei kleine Hörner. Hab immer gewußt, daß er aus Dummheit lügt.« Dann kam ein rauher Händedruck.

Michael fuhr langsam. Der Regen hatte den Schnee zum Schmelzen gebracht. Nach etwa vierzig Minuten kam er durch einen Ort und hielt an der einzigen Tanksäule vor Cole's Gemischtwarenhandlung (SÄMEREIEN, FUTTERMITTEL, HÜLSENFRÜCHTE,

LEBENSMITTEL), um aufzutanken, denn die nächste Tankstelle, das wußte er, war drei Stunden entfernt. Nach der Ortschaft sperrte ein breiter Fluß den Weg. Der Fährmann kassierte den Vierteldollar für die Überfahrt und schüttelte den Kopf, als Michael nach den weiteren Straßenverhältnissen fragte. »Keine Ahnung«, sagte er.

»War heut noch keiner da von drüben.«

Er klatschte dem Leitmaultier mit einer Weidenrute auf den Rücken, beide Tiere zogen an, und die Seilwinde, die das Floß gegen die Strömung hielt, begann sich zu drehen.

Nach zwanzig Fahrminuten am anderen Ufer hielt Michael an, wendete den Wagen und fuhr zurück. Der Fährmann trat aus seiner Hütte in den Regen. »Geht's nicht weiter da drüben?« »Doch«, sagte Michael. »Ich habe nur etwas vergessen.«

»Aber den Fährlohn kann ich Ihnen nicht schenken.« »Schon recht.«

Michael zahlte zum zweitenmal.

Wieder vor Cole's Laden angelangt, parkte er den Wagen und ging hinein. »Gibt's hier ein Münztelephon?«

Es befand sich innen an der Türwand eines Magazins, das nach alten Kartoffeln roch. Er wählte das Amt und gab der Beamtin die Nummer. Obwohl er viel Kleingeld bei sich hatte, reichte es nicht, und er mußte die Dollarnote wechseln, welche ihm Hendrickson aufgedrängt hatte.

Draußen begann es zu schütten; er hörte den Regen auf das Dach trommeln.

»Hallo? Hallo, hier spricht Michael. Nein, gar nichts ist passiert. Ich hatte nur gerade Lust, mit dir zu reden. Wie geht's dir, Mama?«

21

Das Bergland von Arkansas ist von Massachusetts aus auch über ein langes Wochenende nicht erreichbar, während es von Wellesley Campus nach Hartford nur zwei Stunden sind. So kam es, daß Deborah Marcus während ihrer nun schon dreijährigen Freundschaft mit Leslie Rawlings ein halbdutzendmal mit jener nach Connecticut gefahren war. Es war in ihrem vorletzten Semester, auf einer Neujahrsparty in Cambridge. Während Deborah den Mann küßte, den sie liebte, und sich zugleich auf einer anderen Bewußtseinsebene Sorgen darüber machte, ob ihre Eltern wohl mit Mort einverstanden sein würden, kam ihr plötzlich die Idee, Leslie für die Semesterferien nach Mineral Springs einzuladen; sie erwartete sich von der Freundin moralische Unterstützung in dem bevorstehenden Gespräch mit den Eltern.

Fünf Wochen später, an einem Samstagabend, an dem Leslie keine Verabredung hatte, wie eigentlich üblich, war sie allein in dem völlig verlassenen Schlafsaal. Sie trocknete eben in der Duschkabine ihr langes dunkelblondes Haar, als sie bemerkte, daß schon wieder einmal irgend jemand das Klosett verstopft hatte, so daß der Abfluß nicht funktionierte. Über diesen keineswegs seltenen Vorfall ärgerte sie sich so sehr, daß ihr eine Unterbrechung der täglichen Routine plötzlich äußerst wünschenswert erschien. Am nächsten Morgen, während die beiden Mädchen verschlafen in der Sonntagsausgabe des Bostoner Herald blätterten und einander Teile der Zeitung von Bett zu Bett zureichten, teilte Leslie ihrer Zimmergefährtin mit, daß sie mit ihr in die Ozarks fahren werde.

»Wie schön, Leslie! « Deborah rekelte sich, gähnte und lächelte dann strahlend. Sie war ein grobknochiges Mädchen mit etwas zu üppigem Busen, schönem braunem Haar und einem ernsten Gesicht, das häßlich war, solange sie nicht lächelte.

»Wird's eine Passah- feier geben?« fragte Leslie.

»Natürlich, mit allem Drum und Dran. Meine Mutter hat diesmal sogar einen Rabbiner bestellt. Du wirst eine perfekte Jüdin sein, wenn die Ferien vorüber sind.«

Das fehlte mir noch, dachte Leslie. »Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt«, sagte sie und vertiefte sich in die Comics. Mineral Springs trug, wie sich herausstellte, seinen Namen zu Recht: auf einer Bergkuppe sprudelten drei Quellen aus dem Boden, und dort hatte Nathan Marcus, Deborahs Vater, im Anschluß an seinen kleinen Gasthof eine Badeanstalt eingerichtet. Die Heilquellen, deren Wasser nach faulen Eiern und Schwefel rochen und kaum besser schmeckten, sicherten dem Gasthof einen kleinen, aber zuverlässigen Kreis von Stammgästen, zum überwiegenden Teil arthritische jüdische Damen aus den großen Städten des Mittelwestens. Nathan, grauhaarig und gerissen, versicherte seiner städtischen Kundschaft im Brustton der Uberzeugung, das Wasser enthalte Schwefel, Kalk, Eisen und alles mögliche andere und heile sämtliche Leiden von Ischias bis zu Liebestorheiten. Tatsächlich fühlten sich die Damen schon nach einem zehnminutigen Bad beträchtlich erleichtert. Was so schlecht riecht, muß doch einfach gesund sein, sagten sie oft und gern.

»Die Temperatur der Quellen steigt«, sagte Nathan zu dem jungen Rabbiner. Sie saßen in Klappstühlen auf dem Rasen, in Gesellschaft von Deborah und Nathans Frau Sarah. Leslie, mit Jeans und Bluse bekleidet, lag neben ihnen auf einer Decke im Gras und blickte über Wiesen und Wälder, die sich talwärts in Dämmerung verloren.

»Seit wann steigt die Temperatur?« fragte der Rabbiner. Leslie fand, er sehe Henry Fonda ein wenig ähnlich, obwohl er schmaler in den Schultern und überhaupt hagerer war als jener. Überdies hätte er einen Haarschnitt dringend notwendig gehabt. Gestern, bei ihrer ersten Begegnung, als er in Stiefeln und einem zerknitterten Anzug, der augenscheinlich noch nie in einer Putzerei gewesen war, aus seinem schmutzigen Kombiwagen stieg, hatte sie ihn für irgendeinen seltsamen Menschen aus den Bergen gehalten, einen Farmer oder Trapper. Jetzt aber, in einem sauberen Sportanzug, sah er bei weitem annehmbarer, ja sogar interessant aus. Nur seine Haare waren zu lang.

»Seit sechs Jahren steigt sie um ungefähr einen halben Grad im Jahr.

Jetzt steht sie auf siebenunddreißig.«

»Wodurch wird das Wasser eigentlich warm?« fragte Leslie träge, zu den andern aufsehend. Er könnte ein Italiener sein, dachte sie, oder ein Spanier, sogar ein Ire.

»Da gibt es verschiedene Theorien. Es kann sein, daß das Wasser unterirdisch mit Lavagestein oder heißen Gasen in Berührung kommt.

Oder daß es durch eine chemische Reaktion aufgeheizt wird. Oder durch Radioaktivität.«

»Schön wäre es schon, wenn die Temperatur weiter stiege«, sagte Sarah Marcus hoffnungsvoll.

»An wirklich heißen Quellen könnten wir reich werden. Es gibt nichts dergleichen in der ganzen Gegend. Die nächsten sind in der Gegend von Hot Springs, und die gehören dem Staat. Mit heißen Mineralquellen auf unserem Boden könnten wir hier den reinsten Kurort aufziehen. Diese verdammten Weiber wollen doch nur in warmes Wasser steigen, weiß der Teufel, warum. Die Indianer, die Quapaw, haben vor mehr als zweihundert Jahren mit diesen Quellen jede Krankheit behandelt. Angeblich sollen sie in jedem Sommer für ein paar Wochen ihre Zelte hier aufgeschlagen haben.«

»Und was ist schließlich aus ihnen geworden?« fragte seine Tochter unschuldsvoll.

»Größtenteils ausgestorben«, sagte er mit ärgerlichem Blick. »Ich muß die Temperatur messen.« Und damit erhob er sich und ging. Sarah schüttelte sich vor Lachen. »Du sollst deinen Vater nicht so frotzeln«, sagte sie, während sie mit einiger Mühe aufstand. »Die haben uns nicht genug Mazzesmehl geliefert. Wenn wir morgen Mazzesorrieletten essen wollen, dann muß ich jetzt eine Menge Mazzes reiben.«

»Warte, ich helfe dir«, sagte Deborah.

»Aber nein, bleib du nur bei den jungen Leuten. Ich brauche keine Hilfe.«

»Ich möchte mit dir reden.« Deborah erhob sich und zwinkerte Leslie zu. »Auf später.«

Leslie lachte leise vor sich hin, als die beiden gegangen waren. »Die Mutter hätte es gern gesehen, daß Deborah hier bei ihnen bleibt. Ist sie nicht eine gute Ehevermittlerin? Aber Deb ist verlobt, und wahrscheinlich wird sie der Mutter das jetzt erzählen, während sie Mazzesbrösel reiben.«

»Großartig«, sagte er. Er reichte ihr eine Zigarette, nahm selbst eine und griff nach seinem Feuerzeug. »Wer ist der Glückliche?« »Er heißt Mort Beerman, hat Architektur studiert und kommt in ein paar Tagen hierher. Sie werden ihn sicher gern haben.« »Woher wissen Sie das?«

»Er ist wirklich nett. Und er ist Jude. Deb hat mir mehrmals erzählt, daß ihre Eltern sich Sorgen machen und sich schuldbewußt fühlen, weil sie ihre Tochter hier auf dem Land aufwachsen ließen, ohne Kontakt mit jungen jüdischen Männern.« Sie erhob sich von der Decke und rieb sich fröstelnd die Arme. Er zog seine Jacke aus, und sie ließ es zu, daß er sie ihr um die Schultern legte, ohne ihm zu danken. Mit untergeschlagenen Beinen saß sie nun in dem Stuhl neben ihm, in dem zuvor Deborah gesessen hatte. »Es muß schwierig für Sie sein«, sagte Leslie. »Es gibt wohl nicht viele jüdische Mädchen in dieser Gegend.«

Aus der Küche des Gasthofs ertönte ein kurzer Aufschrei, dem ein begeistertes Geschnatter folgte.

»Masel-tow«, sagte Michael, und das Mädchen lachte.

»Nein«, fuhr er fort, »es gibt nicht viele jüdische Mädchen in der Gegend. Kaum eine im richtigen Alter, um mit ihr auszugehen.« Sie sah ihn mit spöttischem Blick an. »Ihr habt doch eine Bezeichnung für nichtjüdische Frauen. Wie heißt das Wort nur?« »Wir? Meinen Sie schiksse?«

»Ja.« Dann, nach einer Pause: »Bin ich eine schiksse? Ist das der Name, der Ihnen einfällt, wenn Sie mich ansehen?«

Ihre Blicke verfingen sich. Sie sahen einander an, lange. Ihr Gesicht war bleich in der aufkommenden Dunkelheit, er nahm die sanfte Rundung der Wangen unter den hohen Backenknochen wahr, den vollen, aber festen Mund, der vielleicht ein wenig zu groß war, um schön zu sein.

»Ja«, sagte er, »das ist's wohl, was mir einfällt.«

Am Morgen nach dem ssejder fuhr er weiter und war überzeugt, daß er den Gasthof der Familie Marcus frühestens in vier oder fünf Wochen wieder aufsuchen würde. Aber schon drei Tage später war er von neuem auf dem Weg nach Mineral Springs. Er versuchte sich einzureden, daß er auf Mort Beerman neugierig sei, aber dann ärgerte er sich und wünschte alle Ausflüchte zum Teufel und dachte: Seit ich mich auf diese verrückte Hinterwäldler-Existenz eingelassen habe, war ich keinen Tag lang wirklich auf Urlaub, habe ich mit keiner Frau mehr geredet wie ein Mensch, nur immer wie ein Rabbiner. Außerdem ist's ja möglich, daß sie einen Freund hat, der mit Beerman kam, oder daß sie schon abgereist ist.

Als er aber im Gasthof eintraf, war sie noch da, und weit und breit war kein Freund zu sehen, nur Beerman war inzwischen gekommen.

Er hatte schütteres Haar, einen gewissen Sinn für Humor und einen übertragenen Buick, und das stolze Elternpaar Marcus hatte ihn vom ersten Augenblick an wie einen Sohn aufgenommen.

An diesem Abend spielten Leslie und Michael Bridge gegen das jungverlobte Paar, Michael reizte schlecht und verrechnete sich andauernd, aber das störte niemanden, denn sie tranken guten Schnaps, den Nathan Marcus aus seinem Keller geholt hatte, und lachten unaufhörlich über Dinge, an die sie sich schon nach einer halben Stunde nicht mehr erinnern konnten.

Als er am nächsten Morgen zum Frühstück kam, fand er Leslie allein. Sie trug einen Baumwollrock und eine schulterfreie Bluse, die ihn unwillkürlich zwang, den Blick abzuwenden.

»Guten Morgen. Hat man Sie ganz allein gelassen?«

»Ja, Mrs. Marcus hat eine neue Wirtschafterin einzuführen, und Mr.

Marcus ist unterwegs, um Gemüse einzukaufen.«

»Und das junge Paar?«

»Die wollen allein sein«, flüsterte sie.

Er lachte. »Ich bin ihnen nicht bös deshalb.«

»Ich auch nicht.« Sie beschäftigte sich mit ihrer Grapefruit. »Sagen Sie, hätten Sie Lust, fischen zu gehen?«

»Im Ernst?«

»Natürlich. Ich habe einem kleinen Jungen Hebräischunterricht gegeben, und er hat mich dafür im Fischen unterrichtet. Er hat mir damit ganz ungeahnte neue Perspektiven eröffnet.«

»Ich komme sehr gern mit.«

»Fein, dann los.« Er warf noch einen kurzen Blick auf ihre Bluse.

»Aber ziehen Sie lieber irgend etwas Altes an. Dieses Land kann hart sein wie Stein - wie wir sagen. «

Langsam fuhr er nach Big Cedar Hill. An einem Anlegeplatz am Fluß machte er halt, um einen Eimer voll Döbelköder zu kaufen. Er hatte alle Fenster heruntergekurbelt, und die warme Frühlingsluft strömte herein, mit dem erregenden Geruch nach schmelzendem Eis. Das Mädchen trug nun Leinenschuhe, Jeans und einen alten grauen Pullover. Sie streckte und rekelte sich neben ihm, mit allen Anzeichen unverhohlenen Wohlbehagens.

Er fuhr über die Brücke und parkte am jenseitigen Ufer. Leslie nahm eine Decke über den Arm, und er folgte ihr mit den Ködern und der Angelrute. Der Pfad, der am Rand der Schlucht dahinführte, war schmal und gesäumt von Büschen, die schwer von kleinen roten und großen weißen Blüten waren. Leslies Jeans waren so verblichen, daß das Garn an manchen Stellen fast weiß war.

Michael konnte sich vorstellen, wie sie in diesen sehr engen Jeans durch das Campus fuhr, über die Lenkstange eines Fahrrads gebeugt. Die Sonne sprenkelte ihr Haar mit kleinen Lichtflecken.

Sie folgten dem Pfad, bis das Ufer flacher wurde und der Fluß in langsamer Strömung sich in ein breiteres Bett ergoß. Schließlich fanden sie einen geeigneten Platz auf einem grasbewachsenen Abhang und breiteten die Decke aus; Treibholz hatte an dieser Stelle im Fluß eine Staustufe gebildet, an deren Fuß das Wasser tief und sehr klar war. Schweigend sah Leslie zu, wie Michael einen Köder aus dem Eimer holte und ihn an die Angel spießte, vorsichtig, um die Wirbelsäule nicht zu verletzen und die Elritze am Leben zu erhalten.

»Tut ihm das weh?«

»Ich weiß es nicht.« Er warf die Angel aus, ein paar Augenblicke lang sahen sie den Köder in der Mitte des Tümpels treiben, sahen, wie er sich in die Tiefe schlängelte, wo das Wasser grünlich war und sehr kalt aussah, bis er ihren Blicken entschwand.

Eine Blüte trieb nahe dem Ufer im Wasser, und Leslie beugte sich über die Böschung, um sie aufzufischen. Ihr Pullover schob sich ein wenig hinauf und ließ Michael zwei Handbreit ihres nackten Rückens und eine verlockende Andeutung des Hüftansatzes über dem gürtellosen Hosenbund sehen, aber schon saß sie wieder aufrecht, die nasse Blüte in der Hand: sie war groß und weiß, aber eines ihrer vier Blätter war gebrochen. »Was ist das?« fragte das Mädchen und betrachtete voll Staunen die Blüte.

»Hartriegel«, sagte er.

»Mein Vater hat mir Geschichten vom Hartriegel erzählt«, erwiderte sie.

»Was für Geschichten?«

»Legenden. Aus dem Holz des Hartriegels hat man das Kreuz gemacht. Mein Vater ist Geistlicher. Kongregationalist.«

»Das ist schön.« Michael zog prüfend an der Leine.

»Das glauben Sie«, sagte das Mädchen. »Er war für mich der Pfarrer, wie für alle anderen Leute, aber er war so damit beschäftigt, Gott und seiner Gemeinde zu dienen, daß er nie Zeit hatte, auch mein Vater zu sein. Achten Sie darauf, Rabbi, wenn Sie je eine Tochter haben sollten.«

Er wollte erwidern, aber dann wies er auf die im Wasser treibende Leine, die allmählich unter den Wasserspiegel zu sinken begann, gezogen von etwas Unsichtbarem. Er stand auf, rollte die Leine auf die Winde, und dann tauchte der Fisch auf, ein stattlicher grünschillernder Fisch von gut dreißig Zentimeter Länge, mit weißem Bauch und breitem Schwanz, mit dem er zweimal um sich schlug, bis er sich von der Leine befreite und im Tümpel untertauchte. Michael zog die Leine ein. »Ich hab zu schnell angezogen und vergessen, den Haken einrasten zu lassen. Mein Lehrer würde sich meiner schämen.«

Sie sah ihm zu, wie er einen frischen Köder auf die Angel spießte und diese von neuem auswarf. »Ich bin fast froh«, sagte sie. »Werden Sie mich auslachen, wenn ich Ihnen etwas sage?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich war Vegetarierin, von meinem vierzehnten Lebensjahr bis lang in meine Hochschulzeit. Ich war einfach der Meinung, es sei Sünde, lebendige Wesen zu essen.«

»Und wieso haben Sie Ihre Meinung geändert?«

»Ich hab sie eigentlich nicht geändert. Aber dann hab ich begonnen, mit Burschen auszugehen, und wir gingen gemeinsam essen, eine ganze Gruppe junger Leute, und alle aßen sie Steak, und ich kaute an meinem Salat, und der Fleischgeruch machte mich fast verrückt.

Schließlich hab ich eben auch Fleisch gegessen. Aber noch immer ist mir der Gedanke verhaßt, daß wir anderen Lebewesen Schmerz zufügen.«

»Gewiß«, sagte er. »Kann ich verstehen. Aber jetzt sollten Sie lieber hoffen, daß dieses Lebewesen oder einer seiner Verwandten nochmals anbeißt. Dieser Fisch ist nämlich Ihr Lunch.« »Sonst haben wir nichts zu essen?« fragte sie.

Er schüttelte wieder den Kopf.

»Gibt es ein Restaurant in der Gegend?« »Nein.«

»Du lieber Himmel«, sagte sie, »Sie sind völlig verrückt. Plötzlich habe ich einen Mordshunger.«

»Na, dann versuchen Sie's.« Er reichte ihr die Angelrute. Gebannt schaute sie ins Wasser.

»Kind ist ein merkwürdiger Name für einen Rabbiner, oder nicht?«

sagte sie nach einer Weile.

Er schien nicht ganz zu verstehen. »Klingt nicht sehr jüdisch, meine ich.«

»Wir haben ursprünglich Rivkind geheißen. Mein Vater ließ den Namen ändern, als ich noch ein Kind war.«

»Ich bin für Originalfassungen. Rivkind gefällt mir besser.«

»Mir auch.«

»Warum lassen Sie ihn nicht wieder ändern?«

»Ich bin daran gewöhnt. Es wäre genauso dumm von mir, den Namen ändern zu lassen, wie es dumm war von meinem Vater. Oder nicht?«

Sie lächelte. »Doch, ich verstehe schon.« Etwa sechzig Zentimeter der treibenden Leine tauchten plötzlich unter, und sie legte die Hand auf seinen Arm. Aber es war blinder Alarm, nichts weiter geschah.

»Es muß sehr unangenehm sein, Jude zu sein; viel schlimmer als Vegetarier«, sagte sie. »Mit all der Verfolgung und dem Wissen um die Todeslager und die Krematorien und all das.«

»Ja, sicher ist es unangenehm - wenn man selbst im Krematorium oder im Konzentrationslager ist«, sagte er. »Aber draußen, überall sonst, kann es wunderbar sein; da wird's nur unangenehm, wenn man es unangenehm sein läßt -wenn man zum Beispiel duldet, daß Leute einen guten Tag mit Gerede kaputtmachen, statt daß sie sich darauf konzentrieren, ihren schönen, aber hungrigen und knurrenden Bauch zu füllen.«

»Mein Bauch knurrt nicht.«

»Ich hab es ganz deutlich gehört - er knurrt fast wie ein Tier.« »Ich mag Sie gern«, sagte sie.

»Ich mag Sie auch gern. Ich habe so viel Vertrauen zu Ihnen, daß ich mich jetzt ein wenig schlafen lege.« Er streckte sich auf der Decke aus und schloß die Augen, und erstaunlicherweise schlief er wirklich ein, obwohl er das keineswegs beabsichtigt hatte. Als er erwachte, hatte er keine Ahnung, wie lang er geschlafen hatte; aber das Mädchen saß noch immer in derselben Haltung neben ihm, als hätte sie sich überhaupt nicht geregt; nur ihre Schuhe trug sie nicht mehr. Die Füße waren wohlgeformt, nur an der rechten Ferse entdeckte er zwei kleine Stellen gelblich verhärteter Haut und an der kleinen Zehe ein winziges Hühnerauge. Sie wandte den Kopf und lächelte, als sie bemerkte, daß er sie ansah - und in diesem Augenblick zog der Fisch an, und die Leinenwinde begann zu schwirren.

»Da«, sagte sie und wollte ihm die Rute reichen, aber er drückte sie ihr wieder in die Hand.

»Langsam bis zehn zählen«, flüsterte er. »Dann ein kräftiger Ruck, damit der Haken festsitzt.«

Sie zählte laut, ab vier von nervösem Lachen geschüttelt. Bei zehn riß sie die Angel kräftig hoch. Sie begann die Leine aufzuwinden, aber der Fisch kreuzte im Tümpel hin und her, kämpfte um sein Leben und kam nicht an die Oberfläche, bis Leslie in ihrer Aufregung die Angelrute hinwarf und die Leine Hand über Hand einholte. So brachte sie ihn schließlich aus dem Wasser; er war ein schöner Barsch, besser als der erste, dunkel und dick und an die vierzig Zentimeter lang. Der Fisch zappelte auf der Decke, schlug um sich und versuchte, in den Tümpel zurückzukommen. Sie mühten sich beide, ihn festzuhalten, und als sie sich mit ihm herumbalgten, legte Michael die Arme um Leslie, und ihre Hände waren in seinem Haar, und er spürte ihre Brüste deutlich und lebendig an seiner Brust und fast noch lebendiger den Fisch zwischen ihren Brüsten, und ihr Lachen sprudelte von ihrem Mund in seinen, als er sie küßte.

Er fürchtete, Leslie werde wütend über ihn sein, als er ihr Stan Goldsteins Jagdhütte auf der Anhöhe zeigte, aber beim Anblick all der Regale voll mit Konservendosen begann sie von neuem zu lachen. Er trug ihr auf, Bohnen zu wärmen, während er den Fisch zum Brunnen hinter dem Haus trug. Diesen Teil des Programms hatte er in seiner Planung vergessen gehabt. Außer einer unscheinbaren Barbe, die er vor vierzehn Tagen mit dem kleinen Bobby Lilienthal gefangen hatte, waren seine einzige Beute bis jetzt die Flundern gewesen, die er und sein Vater jedesmal triumphierend bei einem Fischverkäufer aus der Nachbarschaft gegen andere Nahrungsmittel eingetauscht hatten. Er hatte Phyllis Lilienthal zugesehen, wie sie aus dem Fang ihres Sohnes ein Abendessen bereitet hatte; jetzt, bewaffnet mit einer rostigen Schere, einer Zange und einem stumpfen Fleischermesser, versuchte er Schritt für Schritt zu rekonstruieren, wie sie es angestellt hatte.

Mit dem Messer führte er zwei tiefe, wenn auch unsichere Schnitte entlang der Rückengräte, die er dann mit der Zange herausriß. Während dieser Prozedur war Phyllis Lilienthals Fisch nochmals zu unerwartetem Leben erwacht und ihr fast aus den Händen gesprungen. Als Michael sich jetzt daran erinnerte, schmetterte er seinen Fisch mit dem Kopf gegen einen Felsen, mit so viel Nachdruck, als gelte es, einen Mann zu enthaupten; dennoch schauderte er noch immer beim Gedanken an die blutige Erweckung jenes anderen Fisches. Dann schnitt er mit der Schere den weißen Bauch vom After bis zum Maul auf. Mit der Zange zog er die Haut ab und wunderte sich, wie wenig Mühe es bedurfte, die Eingeweide zu entfernen. Das Abschneiden des Kopfes bereitete einige Schwierigkeiten. Während er mühsam mit dem Messer hin und her sägte, schienen die roten Augen anklagend auf ihn gerichtet. Aber schließlich fiel der Kopf zu Boden, und Michael führte das Messer an Rücken und Brust entlang. Die Filets, die er auf diese Art zustande brachte, waren zwar nicht ganz formvollendet, aber immerhin Filets. Er spülte sie am Brunnen ab und trug sie in die Hütte.

»Sie sehen etwas bleich aus«, sagte Leslie.

Bobbys Mutter hatte den Fisch in Ei und Paniermehl getaucht und ihn dann in Pflanzenfett gebraten. Hier gab es weder Eier noch Pflanzenfett, aber Michael fand Paniermehl und eine Flasche Olivenöl. Er hatte seine Zweifel wegen der Veränderungen am Rezept, aber der fertige Fisch sah aus wie direkt aus Ladies Home Journal. Leslie sah und hörte ihm aufmerksam zu, als er die brache sagte. Die Bohnen waren gut, und der Fisch war zart und köstlich, und Michael fand selbst die sonst verabscheuten Zucchini schmackhaft, die Leslie aus eigenem Antrieb geöffnet und gewärmt hatte. Zum Dessert öffneten sie eine Dose Pfirsiche und tranken den Saft.

»Wissen Sie, was ich jetzt gern täte?« »Nun?«

»Ihr Haar schneiden.«

»Und was sonst noch?«

»Nein, wirklich. Es wäre so dringend nötig. So wie Ihre Haare jetzt aussehen, könnte jemand, der Sie nicht kennt, glauben, Sie sind... na, Sie wissen schon.«

»Ich weiß gar nichts.«

»Schwul.«

»Sie kennen mich doch auch nicht - fast nicht. Woher wissen Sie, daß ich nicht schwul bin?«

»Ich weiß es eben«, sagte sie und neckte ihn weiter mit seinen langen Haaren, bis er nachgab und einen von Stan Goodsteins Ahornstühlen hinaus vor die Hütte trug. Es war warm in der Sonne, er zog sein Hemd aus, und sie holte die Schere und begann an seiner Frisur herumzuschnipseln. Plötzlich schnupperte er und fragte ärgerlich:

»Um Himmels willen, haben Sie die Schere nicht abgewaschen? Die ist doch voll Fisch.«

Er wollte die Sache sofort aufgeben, aber sie ging schon zum Brunnen und spülte die Schere ab und trocknete sie an ihrem straffgespannten Hosenboden, und er dachte: Noch nie im Leben war ich so fröhlich wie heute.

Er lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück und schloß die Augen und genoß die Wärme und hörte dem Geklapper der rostigen Schere zu.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte das Mädchen.

»Wofür?«

»Ich habe auf Ihren Kuß reagiert - sehr intensiv sogar.«

»Ist das so außergewöhnlich?«

»Für mich ist's außergewöhnlich - seit dem letzten Sommer. Ich hatte da so eine Affäre ...«

»Nicht! « Er beugte sich vor, so daß sie mit dem Haarschneiden aufhören mußte. »Sie werden mir doch nicht im Ernst solche Geschichten erzählen wollen.«

Sie faßte nach seinen Haaren und zog seinen Kopf nach hinten.

»Doch, ich will. Ich habe mit niemandem darüber sprechen können -

jetzt kann ich. Hier ist es ungefährlich - es hätte sich gar nicht besser treffen können. Sie sind Rabbiner und ich bin ... eine schiks se, und wir werden einander wahrscheinlich nie wiedersehen. Das ist noch besser als eine Beichte bei den Katholiken - ich muß nicht zu einem unbekannten Pfarrer reden, der hinter dem Beichtstuhlgitter versteckt ist, ich kenne den Menschen, zu dem ich spreche.« Er ergab sich und hielt still, während die Schere klapperte und die abgeschnittenen Haare auf seine nackten Schultern fielen.

»Es war ein Student aus Harvard, den ich nicht einmal gern hatte. Er heißt Roger Phillipson, seine Mutter ist eine Schulkollegin meiner Tante, und wir gingen ein paarmal zusammen aus, nur um darüber nach Hause schreiben zu können und ihnen eine Freude zu machen.

Und dann habe ich mit ihm geschlafen, in seinem Auto, nur ein einziges Mal. Ich wollte einfach wissen, wie es ist. Es war scheußlich.

Es war überhaupt nichts. Seither hat es mir keine Freude mehr gemacht, wenn ein Mann mich küßte - ich konnte nichts mehr spüren. Das hat mir Sorgen gemacht. Aber als Sie mich küßten, vorhin, als ich den Fisch erwischte - da habe ich es gespürt.«

»Freut mich«, sagte er und fand ihre Mitteilung schmeichelhaft und peinlich zugleich. Sie schwiegen beide.

Dann sagte sie: »Jetzt mögen Sie mich nicht mehr so sehr wie vorher.«

»Nein, es liegt nicht an dieser Geschichte. Ich fühle mich nur einfach wie ein Versuchsobjekt, das die richtige Reaktion hervorgerufen hat.«

»Verzeihen Sie«, sagte sie. »Seit das passiert ist, habe ich mir gewünscht, es jemandem erzählen zu können. Ich war mir selbst so widerwärtig und so traurig darüber, daß ich meiner Neugier nachgegeben habe.«

»Sie sollten aus dieser einen Erfahrung nicht eine große Angelegenheit machen, die Ihr ganzes Leben verändert«, sagte er behutsam. Sein Rücken begann zu schmerzen, und einige Haarbüschel waren ihm in die Hose gerutscht.

»Das möchte ich auch nicht«, sagte sie leise.

»Es gibt kein Leben ohne solche Erfahrungen. Es gibt keinen Menschen, der nicht andere verletzt - und auch sich selbst. Wir langweilen uns und spießen einen kleinen Fisch auf den Haken, wir sind hungrig und essen Fleisch, wir spüren Lust und machen Liebe.«

Das Mädchen begann zu weinen.

Er wandte sich ihr zu, staunend ergriffen von der tiefen Wirkung seiner Worte. Aber sie betrachtete weinend seinen Kopf.

»Es ist das erstemal, daß ich jemandem die Haare geschnitten habe«, sagte sie.

Langsam fuhren sie die Bergstraße zurück und führten stille Gespräche in der einbrechenden Dunkelheit. Einmal schlug Leslie die Hände vor das Gesicht und ließ sich in ihren Sitz zurückfallen, aber diesmal wußte er, daß sie lachte. Als sie bei dem Gasthof ankamen, küßte er sie vor dem Aussteigen zum Abschied. »Das war ein guter Tag«, sagte sie.

Ungesehen schlich er sich hinauf in sein Zimmer. Am nächsten Morgen reiste er sehr zeitig ab - er hatte Leslie gebeten, ihn bei ihren Gastgebern zu entschuldigen. Der Friseur war fünfzig Kilometer von Michaels nächster Station entfernt, und er hatte ihn seit Wochen nicht aufgesucht, weil der Mann sein Handwerk nicht verstand.

Kopfschüttelnd betrachtete der Alte den seltsamen Haarschnitt.

»Die muß ich aber sehr kurz schneiden, um die Stufen wegzukriegen«, sagte er.

Als er fertig war, konnte auch keine jarmulka mehr das traurige Resultat verbergen: von Michaels Haaren war nichts als ein brauner Flaum übriggeblieben.

In einem Gemischtwarenladen neben dem Friseurgeschäft erstand er eine khakifarbene Jagdmütze, die er in den folgenden Wochen auch an heißen Tagen trug, sich glücklich schätzend, daß er nicht barhäuptig beten durfte.

22

Als es wirklich Sommer geworden war, suchte Michael kein Nachtquartier mehr. Der Schlafsack, den Rabbi Sher so vorsorglich auf seine Liste gesetzt hatte, war zwar etwas stockfleckig geworden, erwies sich aber als äußerst brauchbar. Nachts schlief Michael unter den Sternen, immer darauf gefaßt, von einem Wolf oder einem Luchs verspeist zu werden, und lauschte dem Wind, der über die Berge kam und rastlos in den Bäumen rauschte. Am Nachmittag, wenn die fernen Berge in der Hitze blau zu flimmern begannen, unterbrach er seine Fahrt und tat es den Fischen gleich, anstatt sie zu fangen, lag nackt und allein im seichten Wildwasser, prustend und lachend über die eisige Kälte, oder gesellte sich, nur mit Unterhosen bekleidet, zu ein paar einfältig schweigsamen Burschen aus den Bergen, die an einer tieferen Stelle des Flusses schwammen.

Seine Haare wuchsen; als sie lang genug geworden waren, bürstete er sie jeden Morgen mit nasser Bürste zurück, um den Scheitel loszuwerden, den er vor dem kurzen Haarschnitt getragen hatte. Er rasierte sich regelmäßig und machte an jeder seiner Stationen von Wanne oder Dusche Gebrauch. Seine Gemeinde ernährte ihn nur zu gut, anläßlich der Besuche des Rabbiners gab es überall üppige Mahlzeiten. Er hörte auch auf, sich selbst um seine Wäsche zu kümmern, und führte einen entsprechenden Turnus ein, da vier Hausfrauen an seiner Strecke sich angeboten hatten, ihm diese Arbeit abzunehmen. Bobby Lilienthal hatte genug Hebräisch erlernt, um nun als Vorbereitung auf seine bar-mizwe mit der haf tara beginnen zu können. Stan Goodsteins Mutter starb, und Michael zelebrierte sein erstes jüdisches Begräbnis in seiner Gemeinde, und dann bestellte ihn Mrs. Marcus für den 12. August, und er zelebrierte seine erste Hochzeit.

Es war eine Hochzeit großen Stils, die Räumlichkeiten des Gasthofs wurden fast, wenn auch nicht ganz bis zum äußersten ausgenützt, und es ging für die Ozark Mountains erstaunlich vornehm zu. Die Verwandten beider Familien waren aus Chicago, New York, Massachusetts, Florida, Ohio und zwei Städten in Wisconsin gekommen. Von Morts Freunden war keiner erschienen, wohl aber vier Studienkolleginnen von Deborah, unter ihnen Leslie Rawlings, die den Bräutigam führen sollte.

Vor der Trauung saß Michael fast eine Stunde lang mit Mort und dessen jüngerem Bruder, der als Brautführer figurierte, in einem der Schlafzimmer im Oberstock. Die beiden Brüder waren sehr aufgeregt und stärkten sich pausenlos aus einer Flasche, die Michael beim Verlassen des Zimmers schließlich mit sich nahm. Er stand an der Stiege und überlegte gerade, wo er den Scotch verwahren könnte. Unten in dem großen Raum hatten sich schon die Gäste versammelt, Herren in weißen Jacketts und Damen in festlichen Kleidern, die Diors New Look gehorchten. Von oben betrachtet, sahen die Frauen mit ihren langen Handschuhen, den duftigen Hüten und pastellfarbenen Seidenkleidern eher wie Blumen aus -

selbst die dicken. Unmöglich konnte Michael mit einer Schnapsflasche in der Hand mitten unter sie treten. Er deponierte den Scotch schließlich im Oberstock in einem Abstellraum, zwischen einem Staubsauger und einer großen Dose voll Bodenwachs.

Während der Zeremonie ging dann alles wie am Schnürchen. Mort war nüchtern und ernst. Deborahs weißer Schleier, gekrönt von einem heiligenscheinartigen Kranz weißer Blüten, löste die üblichen Rufe des Entzückens aus, als sie, von ihrem Vater geführt, eintrat.

Die Augen hinter dem Schleier waren ernst und sanft, und nur der gespannte Griff, mit dem sie das Gebetbuch umklammerte, strafte ihr gelassenes Aussehen Lügen.

Als alles vorüber war und Michael jedermann beglückwünscht hatte, entdeckte er, nach einem Glas Champagner greifend, daß Leslie Rawlings ihn über den Rand ihres Glases hinweg fixierte.

Sie trank und lächelte ihm zu. »Sie können einen wirklich beeindrucken!«

»War es in Ordnung?« fragte er. »Ich verrate Ihnen ein Geheimnis, wenn Sie's nicht weitersagen. Das war die erste Trauung, die ich allein vollzogen habe.«

»Gratuliere. « Sie streckte ihm die Hand hin, und er schüttelte sie.

»Wirklich großartig. Mir ist es heiß und kalt über den Rücken gelaufen.«

Der Champagner, trocken und sehr kalt, war genau das, was Michael jetzt nach der Zeremonie haben wollte.

»Ihnen muß man gratulieren! « fiel ihm plötzlich ein. »Sie und Deborah haben doch im Juni promoviert, nicht wahr?«

»Ja, ja«, sagte sie. »Und ich hab einen Posten. Nach Labor Day fange ich in der Research-Abteilung von Newsweek an. Ich bin sehr aufgeregt und habe ein bißchen Angst.«

»Denken Sie nur immer daran: bis zehn zählen und dann den Haken einrasten lassen.« Sie lachten beide. Ihr Kleid und die Accessoires waren kornblumenfarbig wie ihre Augen. Die Brautjungfern - drei Mädchen aus Wellesley und eine Cousine Deborahs aus Winnetka -

trugen Rosa. Blau machte ihr bronzefarbenes Haar blonder, stellte er fest. »Blau gefällt mir an Ihnen. Aber Sie sind schlanker geworden.«

Sie versuchte gar nicht, ihre Genugtuung zu verbergen. »Bin ich froh, daß es Ihnen auffällt! Ich habe Diät gehalten.«

»Treiben Sie keinen Unsinn. Sie gehen zu Newsweek, nicht zu Vogue.

Außerdem haben Sie auch vorher ausgezeichnet ausgesehen.« Er griff nach ihrem leeren Glas und kam bald mit zwei vollen Gläsern wieder. »Ich freue mich auf November. Drei Wochen Urlaub! Dann komme ich auch nach New York. Ich kann es kaum mehr erwarten.«

»Ich weiß noch nicht, wo ich wohnen werde. Aber wenn Sie sich langweilen, rufen Sie mich in der Redaktion an. Ich nehm Sie mit zum Fischen.«

»Okay«, sagte er.

Rabbi Sher war zufrieden. »Sehr zufrieden«, wiederholte er. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß Ihre Rundreisen sich bewährt haben. Vielleicht können wir nach dieser Erfahrung andere Rabbiner auch in andere abgelegene Gebiete schicken.«

»Ich hätte als nächstes gern ein bißchen Dschungel«, sagte Michael.

»Etwas mit Sümpfen und viel Malaria.«

Rabbi Sher lachte, aber er sah Michael scharf an. »Müde?« fragte er.

»Wollen Sie's jetzt einen andern versuchen lassen?«

»Ich habe zwei Schüler, die demnächst bar-mizwe werden. Ich kenne mich nun aus in den Bergen. Ich bereite für nächste Ostern einen gemeinsamen ssejder in Mineral Springs vor, an dem ungefähr vierzig Familien teilnehmen werden.«

»Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, nein.«

»Noch nicht.«

»Gut. Nur denken Sie daran, daß ich das nie als Ihre Lebensaufgabe betrachtet habe. In ganz Amerika und auch außerhalb werden Rabbiner gesucht. Wenn Sie vom Pionierdasein genug haben, lassen Sie's mich wissen.«

Beim Abschied waren sie beide zufrieden.

New York, New York. Es war etwas schmutziger, aber viel aufregender, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Der gehetzte Rhythmus von Manhattan; das achtlose Gedränge auf den Gehsteigen; der herausfordernde Reiz der smarten Frauen auf der Fifth Avenue und Upper Madison; der Hochmut eines weißen Französischen Pudels, der sich in einem Rinnstein an der 57th Street nahe dem Central Park hinhockt, um seine Notdurft zu verrichten, während der Hauswart, ein grauhaariger Neger, ein Stäubchen von seinen Manschetten schnippt, die Leine locker läßt und nach der anderen Seite sieht - all dies erschien Michael jetzt neu, obwohl er es sein Leben lang gekannt und sich nichts dabei gedacht hatte.

Am ersten Tag, nach dem Gespräch mit Rabbi Sher, ging er lange spazieren und fuhr dann mit der Untergrundbahn zurück nach Queens.

»Iß«, sagte seine Mutter.

Er versuchte ihr zu erklären, daß er gut verköstigt worden war, aber sie war überzeugt, daß er log, um sie zu schonen.

»Wie findest du die Kinder?« fragte sein Vater.

Ruthies Sohn war sieben Jahre alt. Er hieß Moshe. Chaneh, das Mädchen, war vier. Die Großeltern waren im Vorjahr für zwei Monate bei ihnen zu Besuch gewesen, trotz Araberüberfällen und britischer Blockade, die sie auf Grund ihrer amerikanischen Pässe durchbrochen hatten. Sie hatten einen ganzen Koffer voll Aufnahmen von zwei kleinen sonngebräunten Fremden für Michael.

»Stell dir nur vor«, sagte seine Mutter, »so klein, und schon ganz allein, weit weg von Vater und Mutter, schlafen müssen. In einem eigenen Haus, nur mit anderen pützeles. Zustände sind das!« »Lauter Sozialisten, der ganze kibbuz«, sagte sein Vater. »Und die Araber draußen sehen dich an, als wollten sie dich abstechen. Kannst du dir deine Schwester als Lastwagenfahrerin denken, mit dem Schießeisen am Beifahrersitz?«

»Es ist ein Bus für die Kinder«, sagte seine Mutter.

»Ein Lastwagen mit eingebauten Sitzen«, sagte der Vater. »Ich bin froh, Republikaner in Amerika zu sein. Und diese britischen Soldaten, die überall ihre Nase hineinstecken. Und nichts zu fressen. Weißt du, daß es nicht möglich ist, auch nur ein Dutzend Eier zu kaufen?«

»Iß doch«, drängte die Mutter.

Am dritten Abend ließ er alle die Mädchen, die er gekannt hatte, in Gedanken an sich vorüberziehen. Soviel er wußte, waren nur zwei von ihnen noch ledig. Die eine rief er an - auch sie war verheiratet. Die Mutter der anderen teilte ihm mit, daß ihre Tochter sich an der University of California auf ihr Doktorat in klinischer Psychologie vorbereitete. »An der Universität von Los Angeles«, betonte sie. »Wenn Sie an die andere schreiben, erhält sie die Post nicht.« Er rief Maury Silverstein an, der nun in Greenwich Village eine eigene Wohnung gemietet hatte. Maury hatte an Queens College Chemie fertig studiert, war aber gleich nach seiner Rückkehr von der Marine zu einer der größten Fernsehgesellschaften gegangen. »Hör zu, in einer Dreiviertelstunde geht's ab nach Kalifornien«, sagte er. »Ich bin aber schon nächste Woche zurück. Dann müssen wir uns treffen. Am Donnerstag gebe ich in meiner Wohnung eine Party. Du bist eingeladen. Ein Haufen interessanter Leute, du mußt sie kennenlernen.«

Er rief auch Mrs. Harold Popkin, geborene Mimi Steinmetz an. Soeben hatte sie erfahren, daß ihr Schwangerschaftstest positiv war.

»Kannst dir was einbilden darauf«, sagte sie. »Nicht einmal meine Mutter hat eine Ahnung, nur Hal. Aber alte Liebe rostet nicht, darum sag ich's dir.« Und sie tratschten eine Weile über Schwangerschaft.

»Sag mal«, fragte er schließlich, »weißt du nicht irgendein nettes Mädchen, mit dem ich während meines Urlaubs einmal ausgehen könnte? Ich glaube, ich habe hier jeden Kontakt verloren.«

»Siehst du endlich, wohin das Junggesellenleben führt?« Und während sie schwieg, spürte er, wie sie ihren Triumph auskostete. »Wie wär's mit Rhoda Levitz? Wir sind jetzt sehr eng befreundet.«

»War das nicht die Dicke mit dem unreinen Teint?«

»So dick ist die gar nicht«, sagte Mimi. »Aber ich werd mir's überlegen.

Sicherlich weiß ich irgend jemanden für dich. In New York gibt's genug Mädchen, die allein sind.«

Die Telephonistin von Newsweek konnte Leslie zunächst nicht ausfindig machen, aber nachdem er ihr gesagt hatte, Miss Rawlings sei eine neue Angestellte in der Research-Abteilung, schaute sie auf einer Liste nach und stellte die Verbindung her.

Er erwartete sie vor dem Gebäude in der 42nd Street. Zehn nach fünf kam sie herunter, so hübsch und erwartungsvoll, wie man sich's nur wünschen konnte.

»Also so eine sind Sie«, sagte er und nahm ihre Hand. »Sie kommen zu spät zum Rendezvous.«

»Und Sie sind einer, der mit der Uhr in der Hand dasteht.«

Er hielt nach einem Taxi Ausschau, aber sie fragte, wohin sie denn gehen wollten, und als er das »Miyako« vorschlug, wollte sie lieber gehen. So schlenderten sie die vierzehn Blocks entlang. Es war nicht sehr kalt, aber der Wind blies stoßweise, hob ihr den Mantel und drückte ihr das Kleid gegen die gutgeformten Beine. Beim Restaurant angelangt, waren sie durch den Fußmarsch angeregt und hatten Lust auf Martinis.

»Auf Ihre neue Beschäftigung«, sagte er, während sie anstießen. »Wie gefällt's Ihnen?«

»Ach«, sagte sie und zog die Nase kraus. »Es ist bei weitem nicht so interessant, wie ich mir's vorgestellt hab. Stundenlang sitze ich in den Büchereien über so dramatischen Werken wie dem Ashtabula-

Telephonbuch und schneide Meldungen aus den obskursten Provinzblättern aus.«

»Werden Sie sich nach etwas anderem umsehen?«

»Ich glaube nicht.« Sie kaute an ihrer Olive. »Seinerzeit haben alle gesagt, als Herausgeber der Wellesley News wäre ich sehr gut gewesen. Meine Story über den Reifenwettlauf, den eine verheiratete Frau gewonnen hat, wurde sogar von Associated Press nachgedruckt. Ich glaube, ich gäbe einen recht guten Reporter ab. Jetzt bleib ich einmal dabei, bis sie mir die Chance geben, es zu probieren.«

»Reifenwettlauf, was ist das?«

»Das ist ein traditionelles Rennen in Wellesley. Jedes Jahr treiben die Mädchen des letzten Semesters ihre Reifen um die Wette, und zwar in der alten Studententracht. Man sagt, die Siegerin wird sich auch als erste einen Mann angeln. Deshalb war es ja in unserem Jahrgang so komisch.

Lois Fenton war schon seit sechs Monaten mit einem Harvard-Medizinstudenten heimlich verheiratet. Nach ihrem Sieg war sie so durcheinander, daß sie in Tränen ausbrach und mit der ganzen Geschichte herausplatzte - das war ihre Heiratsanzeige.«

Es wurde serviert, tempura und eine klare, sehr fein gewürzte Suppe mit einer kompliziert geschnittenen Gemüseeinlage. Dann gab es sukiyaki, das am Tisch von einem geschmeidigen Kellner zelebriert wurde.

Michael bestellte noch einen Steinkrug voll saki, aber sie sprach ihm nicht zu, denn das Getränk war heiß, und so trank er allein und verlor bald jedes Gefühl in seinen Fußspitzen. Als er ihr beim Weggehen in den Mantel half, berührte er zart ihre Schultern, worauf sie den Kopf wandte und ihn ansah. »Ich habe nicht geglaubt, daß Sie mich anrufen werden.«

Vielleicht war es der Schnaps, jedenfalls fühlte er sich dazu gedrängt, ihr die reine Wahrheit zu sagen. »Ich wollte es auch nicht.«

»Ich weiß, ein Rabbiner sollte nicht mit Christenmädchen ausgehen«, sagte sie.

»Weshalb sind Sie dann gekommen?«

Sie hob die Schultern und schüttelte dann den Kopf.

Draußen rief er nach einem Taxi, aber sie wollte nirgends mehr hingehen.

»Unsinn«, sagte er. »Wir sind erwachsene und moderne Menschen-warum sollten wir nicht Freunde sein? Es ist noch so früh am Abend, gehen wir doch irgendwohin, wo es gute Musik gibt.«

»Nein«, sagte sie.

Während der Fahrt bis zu dem roten Ziegelgebäude in der 60th Street, wo sie wohnte, sprachen sie kaum ein Wort.

»Steigen Sie gar nicht erst aus«, sagte sie, »hier herum ist ein Taxi nicht so leicht zu bekommen.«

»Ich werde eines bekommen«, sagte er.

Sie wohnte im zweiten Stock, der Korridor vor ihrer Wohnung war in düsterem Braun gehalten. Dann stand sie vor ihrer Wohnungstür, und er spürte, daß sie nicht eintreten wollte. »Versuchen wir's morgen abend noch einmal«, sagte er. »Selbe Zeit, selber Ort?«

»Nein«, sagte sie, »danke schön.«

Dabei sah sie ihn an, und er hatte das Gefühl, sie würde weinen, sobald sie erst allein wäre.

»So komm doch«, sagte er und beugte sich vor, um sie zu küssen, aber sie wandte sich ab und ihre Köpfe stießen zusammen. »Gute Nacht«, sagte sie und verschwand in ihrem Zimmer. Er fand sehr leicht ein Taxi

- hatte das schon vorher gewußt.

Er schlief in den Vormittag hinein und setzte sich, als er nach elf Uhr endlich aufgestanden war, mit einem Wolfshunger zu Tisch. »Dein Appetit hat sich gebessert«, stellte die Mutter erfreut fest. »Muß gestern abend recht gemütlich gewesen sein, mit all deinen alten Freunden.«

Er beschloß, Max Gross anzurufen. Schon seit zwei Jahren hatte er mit keinem Talmud-Gelehrten mehr gearbeitet und wollte nun auf diese Weise den Rest seines Urlaubs verbringen.

Als er aber zum Telephon ging, wählte er die Nummer der Zeitung und verlangte Leslie.

»Ich bin es, Michael«, sagte er, als er ihre Stimme hörte. Sie schwieg.

»Ich würde Sie heute abend sehr gern wiedersehen.«

»Was wollen Sie eigentlich von mir?« fragte sie. Ihre Stimme klang fremd. Offenbar schirmte sie die Sprechmuschel ab, damit ihre Mitarbeiter an den Nebentischen nicht mithören konnten. »Ich möchte, daß wir Freunde werden.«

»Wohl wegen der Geschichte, die ich Ihnen im Frühjahr erzählt habe?

Das ist Ihr Sozialfürsorger-Komplex. Sie sehen in mir einen lohnenden Fall.«

»Reden Sie nicht solchen Unsinn! «

»Na gut, also kein Fall. Aber leicht herumzukriegen - ist es vielleicht das, Michael? Ein kleines Verhältnis in aller Stille, bevor Sie wieder in Ihre Berge gehen?«

Er wurde wütend. »Passen Sie auf, ich spreche von Freundschaft.

Wenn Sie das nicht wollen, dann gehn Sie zum Teufel! Also, wie ist es: soll ich um fünf Uhr kommen oder nicht?«

»Kommen Sie.«

Diesmal aßen sie in einem schwedischen Restaurant zu Abend und hörten dann bei Eddie Condon's im Village Musik. Vor dem Haustor gab sie ihm die Hand, und er küßte sie auf die Wange. Der folgende Abend war der Freitagabend, und Michael ging mit seinen Eltern in die Synagoge, innerlich knirschend den ganzen oneg schabst lang, in dessen Verlauf ihn seine Mutter einem Halbdutzend Leuten, die er ohnehin schon kannte, mit »Mein Sohn, der Rabbi« vorstellte, wie in den jüdischen Witzen.

Am Samstag wollte er Leslie anrufen, aber nachdem er die ersten zwei Nummern durchgewählt hatte, hielt er plötzlich inne und fragte sich, was er denn da tue; es war wie das plötzliche Erwachen aus einem Traum.

Er setzte sich in den Wagen und fuhr lange Zeit dahin, und als er endlich um sich sah, war er in Atlantic City. Er parkte den Wagen, klappte den Mantelkragen hoch und ging die Küste bis ans Wasser hinunter. Dabei spielte er das übliche Spiel aller Strandspaziergänger, ließ das Wasser bis knapp an sich heranzischen und trat erst im letzten Moment zurück, um nicht nasse Füße zu bekommen. Dann und wann, wenn er zu lange stehenblieb, gewann das Meer. Er wußte, daß es ein törichtes Spiel war, ebenso töricht wie das eines Rabbiners, der hinter einer Pfarrerstochter her war. Beide Spiele konnte man nur gewinnen, indem man weit und auf Dauer zurücktrat. Also keine gemeinsamen Abendessen mehr, keinerlei Scherze, kein verstohlenes Studium ihres Profils mehr, noch irgendeine Begierde nach ihrem Körper. Er gelobte sich, sie nicht mehr anzurufen, nicht mehr zu sehen und zu sprechen, sie auszutilgen aus seinen Gedanken. Der Entschluß gab ihm Erleichterung, und er trat vom Wasser zurück, von traurigem Stolz erfüllt, beschleunigte seine Schritte und pumpte die salzige Luft in seine Lungen, während er über den festen Sandgrund schritt. Der Wind wehte ihm Gischttropfen ins Gesicht und drang gelegentlich auch durch seinen Mantel. So kehrte er schließlich der Küste den Rücken, betrat eines der von den üblichen Strandbesuchern besetzten Lokale und nahm eine nichtssagende Mahlzeit zu sich.

Er kreuzte weiterhin ziellos durch New Jersey, und es war kurz vor Mitternacht, als er wieder in New York eintraf, anhielt und sie von einer Telephonzelle in einem durchgehend geöffneten Drugstore anrief; als sie sich nach langem, vergeblichem Läuten meldete, fühlte er den Traum in alter Stärke wieder in sich aufleben.

»Ich habe Sie doch nicht geweckt?« fragte er. »Nein.«

»Wollen wir zusammen Kaffee trinken?«

»Ich kann jetzt nicht. Bin. gerade beim Haarewaschen. Ich habe nicht mehr geglaubt, daß Sie heute noch anrufen.«

Er schwieg. »Aber ich habe morgen frei«, sagte sie. »Wollen Sie zum Mittagessen heraufkommen?«

»Wann?«

Sie bewohnte ein großes möbliertes Zimmer. »Gargonniere nennt sich das«, sagte sie, während sie ihm den Mantel abnahm. »Es unterscheidet sich von einem Studio-Apartment nur durch die Kochnische, oder auch umgekehrt.« Sie lächelte. »Ich hätte ja etwas Besseres kriegen können, aber nur mit einem oder zwei anderen Mädchen zusammen. Und nach vier Jahren Schlafsaal bedeutet einem Alleinsein schon etwas.«

»Es ist sehr hübsch«, log er.

Es war ein düsterer Raum mit einem großen Einzelfenster, das sie durch leuchtende Vorhänge zu verschönern versucht hatte. Auf dem Boden lag ein recht abgetretener Orientteppich, dann gab es häßliche altmodische Beleuchtungskörper, einen durchgesessenen Polsterstuhl, einen lackierten Tisch und zwei unbequeme Holzsessel; schließlich einen soliden Mahagonischreibtisch, den sie wahrscheinlich selbst gekauft hatte, und zwei Bücherschränke, die Lehrbücher und eine große Anzahl moderner Romane enthielten.

Die winzige Küche bot kaum Raum genug, um auf dem zweiflammigen Gasherd kochen zu können. Der

Miniaturkühlschrank stand unter dem Spülstein. Leslie brachte Michael einen Martini, und er nahm auf der harten Couch Platz und nippte daran, während sie das Mittagessen bereitete.

»Ich hoffe, Sie essen gern reichlich«, sagte sie.

»O ia. Dann brauchen wir weniger zum Abendessen. Denken Sie nur, wieviel Geld mir das erspart.«

Es gab dänischen Käse und Salzgebäck, Tomatensaft, eine Vorspeise mit viel Anchovis, Kalbskoteletts mit Parmesan, einen Zitronenkuchen und schwarzen, türkischen Mokka. Nachher machten sie sich zusammen an die Lösung des Times-

Kreuzworträtsels, und als sie nicht weiterkamen, wusch sie das Geschirr, und er half ihr beim Abtrocknen.

Nach dem Wegräumen saß er auf der Couch, rauchte und hatte nur Augen dafür, wie ihre Brüste sich flachdrückten, während sie auf dem Bauch lag und Wort für Wort von dem Kreuzworträtsel abstrich.

Schließlich musterte er ihre Bücher. »Eine Menge Gedichte«, stellte er fest.

»Ich mag Gedichte gern. Meine Literatur- und meine Menschenkenntnis verdanke ich demselben Werk, dem Werk, das jedes Pfarrerskind kennt.«

»Der Bibel?«

»Mhm.« Sie lächelte und schloß die Augen. »Als junges Mädchen träumte ich am hellichten Tag davon, daß mein Mann mir in der Hochzeitsnacht das Lied der Lieder rezitieren würde.«

Er wünschte inständig, ihr Gesicht in seine Hände zu nehmen, ihr das Haar von den rosigen Ohren zu streichen und sie dort zu küssen.

Statt dessen griff er nach dem Aschenbecher hinter ihr und klopfte seine Pfeife aus. »Hoffentlich tut er's«, sagte er leise. Am Montag machte sie sich früh vom Büro frei; sie gingen in den Bronx Zoo und lachten viel über die Affen und das scheußliche Stinktier in seinem Käfig, bei dessen Anblick er, wie sie beschwören wollte, leicht grün im Gesicht wurde. Am Dienstag gingen sie in die Metropolitan zu

»Aida« und aßen nachher bei Luchow spät zu Abend. Sie war voll des Lobes über das dunkle Bier. »Es schmeckt wie aus Pilzen gebraut«, sagte sie. »Essen Sie gern Pilze?« »Mit Begeisterung.«

»Dann geben Sie das Rabbinat auf, und ich geb die Zeitung auf, und wir werden Bauern und züchten viele Tausende Pilze in herrlich dampfenden Mistbeeten.«

Er sagte nichts, und sie lächelte. »Armer Michael. Sie können sich nicht einmal im Spaß vorstellen, das Rabbinat aufzugeben, nicht wahr?«

»Nein«, erwiderte er.

»Das freut mich. So ist es richtig. Wenn ich einmal eine alte Frau sein werde und Sie ein großer Führer Ihres Volkes geworden sind, dann werde ich mich daran erinnern, wie ich Ihnen geholfen habe, ihren Urlaub zu verbringen, als wir beide noch jung waren.«

Er sah sie an, sah, wie sie das Glas an die Lippen setzte und das dunkle Bier schlürfte. »Sie werden eine prächtige alte Dame abgeben«, sagte er.

Am Mittwoch aßen sie früh und gingen dann ins Museum of Modern Art, schlenderten herum und schauten und redeten, bis sie nichts mehr aufnehmen konnten. Er schenkte ihr einen kleinen gerahmten Druck, der die Vorhänge im Kampf gegen die Düsterkeit ihres Zimmers unterstützen sollte: drei Flaschen in orange, Blau und Umbra von einem Künstler, den sie beide nicht kannten. In ihrer Wohnung hängten sie das Bild gemeinsam auf. Leslies Füße schmerzten, und er ließ heißes Wasser in die Badewanne rinnen, während sie nebenan Schuhe und Strümpfe auszog und dann, den Rock über die Knie gerafft, in die Wanne stieg und sich auf den Rand setzte. Sie bewegte die Zehen im warmen Wasser hin und her und gab dabei Laute so tiefen Wohlbehagens von sich, daß auch er seine Schuhe und Socken auszog, die Hosen aufkrempelte und sich neben sie setzte, während sie so lachte, daß sie sich am Wannenrand halten mußte, um nicht hineinzufallen. Seine Zehen und ihre Zehen begannen einander Unterwassersignale zu geben, und sein linker Fuß wagte sich vor, ihrem rechten Fuß zu begegnen, und ihr rechter Fuß kam ihm auf halbem Weg entgegen, und die Füße spielten miteinander wie Kinder und dann wie Liebende. Er küßte sie heftig, und dabei löste sich das hochgerollte rechte Hosenbein und glitt ins Wasser. Sie lachte noch mehr, als er ärgerlich wurde und aus der Wanne sprang, um sich die Füße zu trocknen. Nachdem auch sie herausgestiegen war, tranken sie in ihrem Zimmer Kaffee, und die ganze Zeit über spürte er, wie der feucht gewordene Hosenaufschlag an seinem Knöchel juckte.

»Wenn Sie kein Rabbiner wären«, sagte sie langsam, »hätten Sie es schon viel früher ernsthaft bei mir versucht, nicht wahr?«

»Ich bin aber Rabbiner.«

»Gewiß. Ich möchte es ja auch nur wissen. Trotz all der Schwierigkeiten mit jüdisch und christlich - hätten Sie es nicht doch versucht, wenn wir einander vor ihrem Amtsantritt kennengelernt hätten?«

»Doch«, sagte er.

»Das hab ich gewußt.«

»Sollen wir einander nicht mehr sehen?« fragte er bekümmert. »Ich war so gern mit Ihnen beisammen.«

»Aber nein, warum denn«, sagte sie. »Es war so schön. Es hat keinen Sinn, die körperliche Anziehung zu leugnen. Aber schließlich ist das eine ... chemische Reaktion..., die zwar ein gegenseitiges Kompliment bedeutet - das heißt, wenn Sie mir gegenüber irgend etwas Derartiges spüren -«

»Das tu ich.«

»Nun - dann ist das zwar ein hübscher Beweis für unser beider guten Geschmack in bezug auf das andere Geschlecht, aber es bedeutet nicht, daß wir deshalb auch schon irgendeine körperliche Beziehung haben müßten. Warum sollten wir nicht imstand sein, über den körperlichen Wünschen zu stehen und eine Freundschaft fortzusetzen, die mir jetzt schon unendlich viel bedeutet.«

»Das ist auch meine Meinung«, stimmte er eifrig zu, und sie stellten die Kaffeetassen hin und schüttelten einander die Hände. Und dann redeten sie lange und über vieles. Sein Hosenaufschlag wurde trocken, und sie beugte sich vor, um ihm besser zuhören zu können, und legte dabei die Arme auf den Tisch; er seinerseits zog, während er sprach, einer rein freundschaftlichen Zuneigung folgend, mit der Fingerspitze die schöne Linie ihrer Unterarme nach, an der Außenseite, wo die kurzen Härchen so golden schimmerten, daß sie fast durchsichtig waren, und weiter über das schmale Handgelenk, strich ihre Finger entlang, jeden einzeln, aufwärts und rundherum, und auf und ab, und auf und ab, und auf und ab, und aufwärts und herum um den Daumen, und weiter aufwärts an der weichen warmen Innenseite des Armes - und dabei begann ihr Gesicht vor Freude zu strahlen, und sie sprach und hörte zu und lachte oft über die Dinge, die er sagte.

Am Donnerstag ging er mit ihr zu Maury Silversteins Party. Er hatte den Wagen in einer Garage in Manhattan zum Service stehen, und er holte ihn ab, bevor er sie anrief. Es war noch früh, und so fuhren sie zuerst in Richtung Stadtrand, auf Morningside Heights zu; vor dem Haus, in dem die Shaarai-Shomayim- Synagoge untergebracht war, parkte Michael den Wagen und deutete auf die schul und erzählte Leslie von Max.

»Das muß ein großartiger Mensch sein«, sagte sie und schwieg dann eine Weile. »Wissen Sie, daß Sie ein wenig Angst vor ihm haben?« fragte sie schließlich.

»Nein«, sagte er. »Da haben Sie unrecht.« Und er spürte Ärger in sich aufsteigen.

»Haben Sie ihn während der letzten zehn Tage gesehen?« »Nein.«

»Meinetwegen, nicht wahr? Er wäre wohl nicht damit einverstanden, daß Sie mit mir beisammen sind?«

»Nicht einverstanden? Der Schlag würde ihn treffen. Aber er lebt in seiner Welt, und ich in der meinen.« Und er startete den Wagen.

Maurys Wohnung war klein, und die Gesellschaft war schon recht zahlreich, als Michael und Leslie eintrafen. Sie drängten sich durch ein Dickicht von Leuten, die tranken, und Leuten, die Gläser hielten, und suchten nach dem Gastgeber. Michael kannte niemanden, mit Ausnahme eines dunkelhaarigen kleinen Mannes mit einem Spitzmausgesicht, einer bekannten Stimmungskanone in Gesellschaft und Fernsehen; er stand inmitten einer Gruppe lachender Leute und hatte auf jedes auch noch so ausgefallene Stichwort prompt einen Witz zur Hand.

»Da ist er ja«, brüllte Maury und winkte Michael zu, und sie drängten sich durch die Umstehenden zu dem Gastgeber und seinem Gesprächspartner. »Na, du alter Gauner«, sagte Maury und faßte Michael mit der freien Hand am Ärmel. Er war stärker geworden, hatte Ansätze zu Tränensäcken unter den Augen, aber sein Rumpf wirkte noch immer geschmeidig und muskulös. Michael meinte zu s e h e n, wie er allabendlich nach Büroschluß auf kürzestem Weg zur Sporthalle eilte; vielleicht auch war einer der Schränke in dieser Wohnung vollgestopft mit Keulen und Hanteln, Hanteln, wie sie auch Abe Kind jahrelang benützt hatte. Michael machte Leslie mit den beiden bekannt, und Maury stellte ihnen seinen Chef vor, einen stets lächelnden Herrn namens Benson Wood, mit großflächigem Gesicht und der dicksten Hornbrille, die Michael jemals gesehen hatte. Michael war Luft für ihn, der nur Augen für Leslie hatte, ihr betrunken zulächelte und ihre Hand auch nach der Begrüßung nicht losließ. »Meines Freundes Freunde sind meine Freunde«, sagte er, jede Silbe gewichtig betonend.

»Da ist jemand, den du kennenlernen mußt-sehr begabter Bursche«, sagte Maury und zog Michael am Arm zu jener Gruppe um den spitzmausgesichtigen Kerl. »So, da wäre er, George«, wandte er sich an den Komödianten. »Der, von dem ich dir neulich erzählt hab -

der Rabbiner! «

Der Komiker machte die Augen schmal. »Rabbiner. Rabbiner. Kennen Sie den von dem Rabbiner und dem Pfarrer -«

»Kenne ich«, sagte Michael.

»- die befreundet waren, und der Pfarrer sagt zum Rabbiner, du, hör mal, sagt er, du mußt einfach diesen Schinken probieren, der ist delikat. Und der Rabbiner sagt darauf: Du, hör mal, du mußt einfach das Mädel da probieren, der Schinken da ist Dreck dagegen -« »Ja, ja, kenne ich«, sagte Michael nochmals, während die Umstehenden sich vor Lachen schüttelten.

»ja?« Der Komiker kniff die Augen zusammen und preßte die Finger an die Stirn. »Ja, ja ... Kennen Sie auch den mit dem Kerl, der eine gefällige Lady aus dem Süden ins Drive-in-Kino fährt, und dann bestürmt er sie um ihre Gunst, und als sie ja sagt, ist der Film vorüber, und er muß den Wagen nach hinten hinausfahren.« »Nein«, sagte Michael.

Abermals kniff sein Gegenüber die Augen zusammen. »Nein. Nein«, überlegte er. Michael wandte sich ab und begab sich wieder zu Leslie, die noch immer Aug in Aug mit Wood stand. »Wollen Sie lieber gehen?«

fragte Michael.

»Erst noch irgendwas trinken.« Und sie wandten sich ab und ließen Wood einfach stehen.

Als Bar diente ein an die Wand gerückter Tisch. Zwei Mädchen standen schon davor, und Michael wartete geduldig, bis sie mit dem Mixen ihrer Drinks fertig waren. Beide waren sie groß, die eine rot, die andere blond, von ausgezeichneter Figur, aber mit durchtriebenen, aufdringlich geschminkten Gesichtern. Photomodelle wahrscheinlich, oder auch beim Fernsehen, dachte er. »Nach der Bruchoperation war er ein anderer Mensch«, sagte die eine soeben.

»Hoffentlich«, gab die Rote zurück. »Sooft er im Sekretariat angerufen hat und die Hexe hat mich hinübergeschickt - sein Diktat war einfach nicht mehr auszuhalten. Ich begreife nicht, wie du das monatelang durchgestanden hast. Ich bin fast eingegangen, so lange hat er zu jedem Satz gebraucht.«

Hinter ihnen schrie eine Frau plötzlich auf, und als sie sich umwandten, sahen Michael und Leslie, wie Wood sich übergab: die Leute stießen einander in dem überfüllten Raum, bestrebt, aus seiner Reichweite zu kommen, und verschütteten die Drinks auf ihrer Flucht. Von irgendwoher tauchte Maury auf, sagte »Okay, Wood«, stützte seinen Chef und hielt ihm den Kopf. Sieht aus, als wäre er an solche Hilfeleistungen gewöhnt, dachte Michael. Das Mädchen, das aufgeschrien hatte, hielt sein Kleid vom Busen ab, mit allen Anzeichen des Ekels und der Wut.

Michael ergriff Leslies Hand und führte sie weg.

Den Drink nahmen sie später, in Leslies Zimmer. »Brrr«, machte sie und schüttelte den Kopf.

»So eine Schweinerei! Armer Maury! «

»Dieser lärmende Lümmel. Und der häßliche kleine Kerl mit den Witzen. Wenn er das nächstemal im Fernsehen erscheint, dreh ich den Apparat ab.«

»Den Star haben Sie vergessen.«

»Keineswegs. Dieses gräßliche Schwein mit dem geänderten Namen.« Er hatte das Glas an die Lippen geführt, aber er trank nicht, stellte es zurück auf den Tisch. »Geänderten Namen? Wood?« Er sah sie ungläubig an. »Sie meinen, er hat einmal so ähnlich geheißen wie Rivkind?« Sie schwieg.

Er stand auf und griff nach seinem Mantel. »Er war ein goj, meine Liebe.

Ein lauter, schmutziger, geiler goj. Ein besoffenes Schwein von einem Christen. Einer von euch.«

Sie konnte es nicht fassen, als sie die Tür hinter ihm ins Schloß fallen hörte.

Am Samstagabend blieb Michael zu Hause und spielte Casino mit seinem Vater. Abe war ein guter Kartenspieler. Er wußte immer, wie viele Pik schon gefallen waren und ob von den zehn Assen die zwei guten noch im Talon lagen. Wenn er verlor, konnte er vor Enttäuschung die Karten auf den Tisch werfen, aber mit seinem Sohn als Partner kam er selten in diese Situation.

»Ich dreh zu. Zähl deine Punkte«, sagte er und zog an seiner Zigarre.

Das Telephon läutete.

»Zwei Asse, das ist alles«, sagte Michael. »Weitere neun Punkte für dich.«

»A schmeer.«

»Michael«, rief die Mutter. »Das Telegraphenamt.«

Er stürzte zum Telephon. Die Eltern standen wartend in der Küche, während er »Hallo« sagte.

»Rabbi Kind? Ein Telegramm für Sie. Der Text lautet: >Ich schäme mich und danke Ihnen für alles. Verzeihen Sie mir Komma wenn Sie können.< Unterschrift: >Leslie.< Soll ich wiederholen?«

»Danke, ich habe verstanden«, sagte er und hängte ab.

Die Eltern folgten ihm zurück zum Spieltisch. » ?« fragte der Vater.

»Nichts Wichtiges.«

»So unwichtig, daß man dir hat telegraphieren müssen?« »Einer von meinen Jungen in Arkansas wird demnächst bar-mizwe, und die Familie ist ein bißchen nervös. Sie wollten mich nur noch an ein paar Dinge erinnern.«

»Können sie dich nicht einmal in deinem Urlaub in Ruhe lassen?«

Der Vater setzte sich an den Tisch und schob die Karten zusammen.

»Im Casino wirst du kein Meister. Wie wär's mit einem kleinen Gin?«

Um elf, nachdem die Eltern schlafen gegangen waren und Michael in seinem Zimmer war, versuchte er zu lesen, die Bibel zuerst, dann Mickey Spillane und schließlich seinen alten Aristoteles. Aber das alles half nichts, und er merkte nur, wie schadhaft und abgenützt der Einband des Aristoteles war. Er zog seinen Mantel an, verließ die Wohnung, sperrte den Wagen auf, stieg ein und fuhr, fuhr über die Queensboro Bridge statt durch den Tunnel, denn er wollte die Lichter im East River sehen.

Er kämpfte sich durch den Verkehr von Manhattan und fand dann, als gutes Omen, einen Parkplatz direkt vor ihrem Wohnhaus.

Einen Augenblick lang stand er unschlüssig in dem düsteren Flur, dann klopfte er und hörte den Schritt nackter Füße.

»Wer ist's?« »Michael.« »Mein Gott, ich kann Sie nicht hereinlassen.«

»Warum nicht?« fragte er ärgerlich.

»Ich sehe entsetzlich aus.« Er lachte. »Mach schon auf.« Sie öffnete, und er sah, daß sie einen verwaschenen grünen Pyjama trug und einen alten braunen Flanellschlafrock, dessen Ärmelkanten schon durchgewetzt waren. Die Füße waren nackt, und das Gesicht trug keinerlei Make-up.

Ihre Augen waren etwas gerötet, als hätte sie geweint. Er umarmte sie, und sie lehnte den Kopf an seine Schulter.

»Hast du meinetwegen geweint?« fragte er. »Eigentlich nicht. Mir ist so entsetzlich schlecht.« »Brauchst du irgend etwas? Einen Arzt?«

„Nein. Es ist immer dieselbe Geschichte, alle vier Wochen.« Ihre Worte, an seiner Schulter gemurmelt, waren kaum verständlich. »Ach so.«

»Gib mir deinen Mantel«, sagte sie, aber noch ehe sie ihn weghängen konnte, verzog sie ihr Gesicht. Sie ließ den Mantel fallen und begann so heftig zu weinen, daß er erschrak.

Sie legte sich auf die Couch, mit dem Gesicht zur Wand. »Geh«, sagte sie, »bitte, geh.«

Aber er hob seinen Mantel auf, warf ihn über eine Stuhllehne und stand dann neben ihr und sah sie an. Sie hatte die Knie an den Leib gezogen und machte gleichmäßige Schaukelbewegungen, als wollte sie den Schmerz in Schlaf wiegen.

»Kannst du nicht irgendwas nehmen?« fragte er. »Ein Aspirin vielleicht?«

»Kodein.«

Die Flasche stand im Apothekenkasten, und er verabreichte Leslie eine Tablette mit Wasser und setzte sich wartend ans Fußende der Couch.

Bald tat das Kodein seine Wirkung, und sie hörte zu schaukeln auf. Er berührte ihren Fuß und fand, daß er kalt war. »Du solltest Hausschuhe anziehen«, sagte er, nahm einen Fuß zwischen seine Hände und begann ihn zu kneten.

»Oh, das ist gut«, sagte sie. »Deine Hände sind so warm. Besser als eine Wärmflasche.« Er fuhr fort, ihre Füße zu massieren. »Leg deine Hand auf meinen Bauch«, sagte sie.

Er rückte näher an sie heran und ließ seine Hand unter den Schlafrock gleiten.

»Das ist angenehm«, sagte sie schläfrig.

Durch den Stoff der Pyjamahose konnte er die weiche Haut ihres Bauches spüren. Mit der Spitze des Mittelfingers stellte er tastend fest, daß ihr Nabel außergewöhnlich groß und tief war. Sie schüttelte den Kopf.

»Kitzelt.«

»Verzeih. Dein Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt.«

Sie lächelte. »Ich will ja gar nicht deine Freundin sein«, murmelte sie.

»Ich weiß.«

Er blieb bei ihr sitzen und sah sie an, noch lange nachdem sie eingeschlafen war. Schließlich nahm er seine Hand von ihrem Leib, holte eine Decke aus dem Schrank, deckte sie zu und wickelte ihre Füße gut ein. Dann fuhr er zurück nach Queens und packte seine Reisetasche.

Am nächsten Morgen teilte er seinen Eltern beim Frühstück mit, daß er dringender Gemeindeangelegenheiten wegen seinen Urlaub vorzeitig beenden müsse. Abe fluchte und bot ihm Geld an. Dorothy jammerte und packte ihm eine Schuhschachtel voll mit Hühnersandwiches und füllte ihm eine Thermosflasche mit Tee, während sie sich mit der Schürze die Augen wischte.

Er verließ die Stadt in südwestlicher Richtung und fuhr in gleichmäßigem Tempo, verzehrte ein Sandwich, wenn er hungrig wurde, hielt aber nicht an. Erst um vier aß er in einem Lokal an der Straße zu Mittag und rief Leslie an.

»Wo bist du?« fragte sie, nachdem das Klimpern der letzten Münze verklungen war.

» In Virginia. Staunton, glaub ich.«

»Läufst du davon?«

»Ich brauche Zeit zum Nachdenken.« »Was gibt's da nachzudenken?«

»Ich liebe dich«, sagte er heftig. »Aber ich bin gern, was ich bin. Ich weiß nicht, ob ich das aufgeben kann. Es ist mir sehr viel wert.«

»Ich liebe dich«, sagte sie. Dann schwiegen sie beide. »Michael?«

»Ja, ich bin da«, sagte er zärtlich.

»Wenn du mich heiratest, muß das unbedingt bedeuten, daß du deinen Beruf aufgibst?«

»Ich glaube doch. Sicher.«

»Bitte, tu noch gar nichts, Michael. Warte erst einmal.«

Wieder Schweigen. Schließlich sagte er: »Willst du mich nicht heiraten?«

»Ich will. Mein Gott, wenn du wüßtest, wie sehr ich will! Aber mir sind da ein paar Ideen gekommen, die ich mir überlegen muß. Frag mich nicht und tu jetzt nichts Voreiliges. Warte ein wenig und schreib mir jeden Tag, und ich werde das auch tun. Gut?«

»Ich liebe dich«, sagte er. »Ich ruf dich Dienstag an. Um sieben.«

»Ich liebe dich.«

Am Montagvormittag schnitt Leslie die Zeitungen von Boston und von Philadelphia aus und ging dann ins Redaktionsarchiv, wo sie sechs dicke braune Umschläge mit der Aufschrift JUDENTUM an sich nahm. Sie studierte die darin befindlichen Ausschnitte während ihrer Mittagspause, und abends nahm sie eine Auswahl davon, mit einem Gummiband zusammengehalten, in ihrer Handtasche mit nach Hause. Am Dienstagvormittag schnitt sie die Zeitungen von Chicago aus und bat dann Phil Brennan, ihren Chef, ihr zur Erledigung einiger persönlicher Angelegenheiten ein paar Stunden freizugeben.

Er nickte zustimmend, und sie nahm Hut und Mantel und fuhr im Aufzug hinunter. Am Times Square wartete sie unter dem Plakat, das wirkliche Rauchringe ausstößt, studierte die Gesichter und versuchte zu erraten, welcher ja und welcher nicht, bis der Broadway-Bus kam, und dann fuhr sie stadtauswärts bis zu dem Haus, in dem sich die komisch aussehende kleine jüdische Kirche - nein, Synagoge befand.

23

Max Gross betrachtete das elegant gekleidete Mädchen, das so schlanke Beine und so unverschämte amerikanische Augen hatte, mit einem heftigen Gefühl des Ärgers. Nur viermal während seiner ganzen Amtszeit in Schaarai Schomayim hatten gojim ihn aufgesucht mit der Bitte, sie zu Juden zu machen. jedesmal, so überlegte er, war diese Bitte so vorgebracht worden, als sei er ein Mensch, der mit einer Handbewegung die Fakten ihrer Geburt verändern und zu Rauch auflösen könnte, was sie gewesen waren. Nie hatte er sich in der Lage gefühlt, die Konversion vorzunehmen.

»Was finden Sie an uns Juden, daß Sie wünschen, zu uns zu gehören?« fragte er abweisend. »Wissen Sie nicht, daß Juden der Verfolgung und der Verlassenheit ausgeliefert sind; daß wir als einzelne von den Heiden verachtet werden und als Volk in alle Winde zerstreut sind?«

Leslie stand vor ihm und griff nach Handschuhen und Tasche. »Ich habe nicht erwartet, daß Sie mich annehmen«, sagte sie und war schon im Begriff, ihren Mantel anzuziehen.

»Warum nicht?«

Die Augen des alten Mannes waren hell und durchdringend wie die ihres Vaters. Bei dem Gedanken an Reverend John Rawlings verspürte sie Erleichterung darüber, daß dieser Rabbiner sie wegschickte. »Weil ich nicht glaube, daß ich wie eine Jüdin fühlen könnte, nicht, wenn ich tausend Jahre alt würde«, sagte sie. »Es ist unvorstellbar für mich, daß irgend jemand die Absicht haben könnte, mir ernstlich etwas zuleide zu tun, meine künftigen Kinder zu töten, mich auszusperren von der gemeinsamen Welt. Ich muß gestehen, ich habe selbst gewisse Vorurteile gegenüber den Juden gehabt. Ich fühle mich unwürdig, einem Volk anzugehören, das eine solche Last von kollektivem Haß trägt.«

»Sie fühlen sich unwürdig?«

»Ja.«

Rabbi Gross ließ sie nicht aus den Augen. »Wer hat Sie gelehrt, das zu sagen?« fragte er.

»Ich verstehe nicht.«

Er erhob sich schwerfällig und schritt zum Heiligtum, zog die blauen Vorhänge zur Seite, öffnete die Holztür und ließ Leslie die beiden in Samt geschlossenen Thora-Rollen sehen. »Diese Rollen enthalten die Gesetze«, sagte er. »Wir werben nicht um Proselyten, im Gegenteil - wir schrecken sie ab. Im Talmud steht geschrieben, was der Rabbiner dem Anhänger einer anderen Religion zu sagen hat, wenn er zu uns kommt und Jude werden will. Die Thora schreibt vor, daß der Rabbiner dem Heiden das Schicksal des Juden in dieser Welt warnend vor Augen führen muß. Die Thora ist aber noch in einer anderen Hinsicht sehr genau. Wenn der Heide sinngemäß antwortet: >Ich weiß das alles, und dennoch fühle ich mich unwürdig, Jude zu werden - dann muß er zur Bekehrung angenommen werden, und zwar unverzüglich.«

Leslie setzte sich. »Sie wollen mich also nehmen?« fragte sie leise. Er nickte. Mein Gott, dachte sie, was soll ich jetzt tun?

Jeden Dienstag und Donnerstag abends kam Leslie zu Rabbi Gross.

Er sprach, und sie hörte zu, aufmerksamer als selbst der schwierigsten Vorlesung im College, ohne müßige Fragen zu stellen und nur dann unterbrechend, wenn sie unbedingt eine Erklärung brauchte.

Er setzte ihr die Grundlagen der Religion auseinander. »Die Sprache unterrichte ich nicht«, sagte er. »Es gibt genug Hebräischlehrer in New York. Wenn Sie wollen, suchen Sie einen auf.« Auf eine Anzeige in The Times ging sie zur YMHA in der 92nd Street, und damit hatte sie auch den Mittwochabend besetzt. Ihr Hebräischlehrer war ein bekümmert aussehender junger Doktorand an der Yeshiva University. Er hieß Mr. Goldstein, und sie sah ihn allabendlich in der Cafeteria ein Stockwerk unter ihrem Klassenzimmer sein Abendessen verzehren; es war immer das gleiche: ein Käsetoast mit Oliven und eine Schale schwarzer Kaffee.

In summa: dreißig Cents. Die Manschetten seines Hemdes waren abgescheuert, und Leslie wußte, daß sein Abendessen so bescheiden war, weil er sich mehr nicht leisten konnte. Ihr eigenes wohlgefülltes Tablett erschien ihr vergleichsweise als Schlemmerei, und ein paar Wochen lang versuchte sie, ihre Mahlzeiten einzuschränken. Aber der Sprachkurs dauerte zwei Stunden, und nachher ging sie noch in eine Vorlesung über jüdische Geschichte, bei der ihr vor Hunger schwindlig wurde, wenn sie nicht ordentlich gegessen hatte.

Mr. Goldstein nahm seinen Unterricht ernst; und von den Schülern, die der Abendklasse wertvolle Freizeit opferten, hatte jeder seinen triftigen Grund für das Hebräisch-Studium. Nur eine, eine Frau in mittleren Jahren, kam nach der ersten Stunde nicht wieder. Die übrigen vierzehn Kursteilnehmer lernten die zweiunddreißig Buchstaben des hebräischen Alphabets in einer Woche. In der dritten Woche sagten sie schon einer nach dem andern die albernen kleinen Sätze her, die sie mit ihrem beschränkten Vokabular bilden konnten.

»Rabi ba«, las Leslie und übersetzte »Mein Rabbi kommt« mit solchem Jubel, daß Lehrer und Mitschüler sie verwundert ansahen.

Aber als sie das nächstemal zum Vorlesen an die Reihe kam, lautete die Aufgabe: Mi rabi? Aba rabi. »Wer ist mein Rabbi? Mein Vater ist mein Rabbi«, übersetzte sie. Eilig ließ sie sich in ihren Sessel fallen, und als sie wieder ins Buch sah, war ihr, als sehe sie durch Milchglas.

Eines Abends, als Rabbi Gross über den Götzendienst sprach und sie darauf aufmerksam machte, daß es Christen zumeist überaus schwerfalle, sich einen Gott ohne Bild vorzustellen, merkte sie plötzlich, daß er gar nicht wirklich alt war. Aber er sah aus wie ein alter Mann, und er verhielt sich so. Moses selbst konnte kaum strenger ausgesehen haben. Soeben schaute er ihr über die Schulter ins Heft, und sein Mund wurde schmal.

»Schreiben Sie den Namen Gottes niemals aus. Schreiben Sie immer nur G-t. Das ist sehr wichtig. Es ist eines der Gebote, daß Sein Name nicht eitel genannt werden soll. «

»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Es gibt so viele Vorschriften.« Ihre Augen wurden feucht. Peinlich berührt, schaute er weg, begann wieder auf und ab zu gehen und setzte seinen Vortrag fort, während die Knöchel seiner rechten Hand leise in die Handfläche der linken schlugen, die er auf dem Rücken hielt.

Nach dreizehn Wochen des Studiums teilte er ihr eines Abends mit, daß ihre Aufnahme in die jüdische Religionsgemeinschaft für den kommenden Dienstag festgesetzt sei; außer, deutete er diskret an, sie könnte an diesem Tag aus irgendeinem Grund nicht in das rituelle Tauchbad steigen.

»Schon?« fragte sie verwundert. »Aber ich habe doch gar nicht lang studiert. Ich weiß noch so wenig.«

»Junge Frau, ich habe nicht gesagt, daß Sie ein Gelehrter sind. Aber Sie wissen jetzt genug, um Jüdin zu werden. Eine ungebildete Jüdin.

Wenn Sie eine gebildete Jüdin sein wollen, dann müssen Sie sich darum mit der Zeit selber kümmern.« Sein Blick wurde weicher, und der Ton seiner Stimme veränderte sich. »Sie sind ein sehr fleißiges Mädchen. Sie haben es gut gemacht.«

Er gab ihr die Adresse der mikwe und einige vorbereitende Anweisungen. »Sie dürfen keinen Schmuck tragen, auch keinerlei Verband, nicht einmal ein Hühneraugenpflaster. Die Nägel sollen kurz geschnitten sein. Das Wasser soll jede äußere Zelle Ihres Körpers berühren. Sie dürfen nichts tragen, was es abhalten könnte, nicht einmal ein Wattetampon im Ohr.«

Schon am Freitag hatte sie anhaltende nervöse Magenbeschwerden.

Sie wußte nicht, wie lang die Zeremonie dauern würde, und beschloß daher, sich im Büro für den ganzen Tag zu entschuldigen.

»Phil«, sagte sie zu Brennan, »ich muß Sie bitten, mir den Dienstag freizugeben.«

Mit einem Blick voll Überdruß sah er zuerst sie, dann den Berg unausgeschnittener Zeitungen an. »Das fehlt gerade noch, wo uns das Wasser bis zum Hals steht.«

»Es ist wichtig.«

Er kannte all die wichtigen Gründe auswendig, mit denen weibliche Angestellte einen freien Tag zu ergattern versuchten. »Ich weiß. Das Begräbnis Ihrer Großmutter.«

»Nein. Ich werde Jüdin, und am Dienstag findet mein Übertritt statt.«

Er öffnete den Mund zu einer Antwort, brach aber dann in schallendes Gelächter aus. »Mein Gott«, sagte er, »ich war fest entschlossen, nein zu sagen, aber gegen einen Kopf mit solchen Einfällen komme ich nicht auf.«

Der Dienstag war ein grauer Tag. Sie hatte zuviel Zeit für den Weg berechnet und war um eine Viertelstunde zu früh in der Synagoge, wo die mikwe untergebracht war. Der Rabbiner, ein Mann in mittleren Jahren, trug einen Bart wie Rabbi Gross, war aber wesentlich umgänglicher und heiterer als jener. Er bot ihr einen Platz in seinem Büro an und sagte: »Ich habe gerade Kaffee gekocht. Möchten Sie nicht auch eine Tasse?«

Sie wollte ablehnen, aber dann stieg ihr der Kaffeeduft in die Nase, und er schmeckte ihr. Als Rabbi Gross kam, fand er die beiden schon in angeregtem Gespräch. Kurz darauf erschien noch ein dritter Rabbiner, ein junger, bartloser Mann.

»Wir werden Zeugen Ihres Tauchbades sein«, sagte Rabbi Gross und lachte, als er ihr Gesicht sah. »Nein, nein, wir bleiben natürlich draußen. Nur die Tür ist einen Spaltbreit offen, so daß wir es planschen hören, wenn Sie ins Wasser steigen.«

Sie führten sie hinunter in den ebenerdigen Anbau an der Hinterfront der Synagoge, wo sich die mikwe befand. Die Rabbiner ließen sie allein in einer Kammer, wo sie es sich bequem machen und auf eine Frau warten sollte, die Mrs. Rubin hieß.

Leslie hätte gern geraucht, aber sie war nicht sicher, ob das nicht unpassend wäre. Die Kammer, mit ihrem Holzboden und einer geflochtenen Matte vor einem schmalen, an die Wand gerückten Schrank, machte einen bedrückenden Eindruck. An dem Schrank war ein Spiegel befestigt, der in der rechten unteren Ecke gelb und in der rechten oberen Ecke hellblau gesprenkelt war; er zeigte Leslie ein verschwommenes und verzerrtes Bild, wie die Spiegel im Lachkabinett eines Vergnügungsparks. Sonst gab es keinerlei Einrichtung, außer einem weißgestrichenen Küchentisch und einem Küchensessel, auf den sie sich setzte. Als Mrs. Rubin endlich erschien, war Leslie in die Betrachtung der Kerben in der Tischplatte vertieft.

Mrs. Rubin war eine grauhaarige, dickliche Frau von derber Freundlichkeit. Sie trug ein Hauskleid mit blauer Schürze darüber und schwarze flache Schuhe, die über den geschwollenen Zehenballen kräftig ausgebeult waren. »Ziehen Sie sich aus«, sagte sie.

»Alles?«

»Alles«, sagte Mrs. Rubin ohne zu lächeln. »Können Sie die broches?«

»Ja. Zumindest hab ich sie vorhin noch gekonnt.«

»Ich laß Ihnen das da - Sie können sich's noch einmal ansehen.« Sie zog ein hektographiertes Blatt aus der Tasche und legte es auf den Tisch, dann verließ sie die Kammer.

Hänger gab es keine. Leslie hängte ihre Kleider über die Stuhllehne, setzte sich und wartete. Der Sitz war sehr glatt. Sie nahm den Zettel zur Hand und studierte ihn.

Gelobt seist du, Gott unser Herr, Herr der Welt, der uns geheiligt hat durch seine Gebote und uns geboten hat das Tauchbad.

Gelobt seist du, Gott unser Herr, Herr der Welt, der uns das Leben gegeben und erhalten hat und uns diese große Stunde erreichen ließ.

Amen.

Während sie noch die broches memorierte, kam Mrs. Rubin zurück und zog eine kleine Nagelschere aus ihrer Schürzentasche. »Zeigen Sie Ihre Hände«, sagte sie.

»Ich hab die Nägel schon kurz geschnitten«, sagte Leslie und zeigte sie Mrs. Rubin voll Stolz; aber die schnipselte trotzdem noch ein winziges Stückchen von jedem Nagel. Dann entfaltete sie ein frisches Leintuch, breitete es über Leslies Nacktheit, drückte ihr Seife und Badetuch in die Hand und führte sie in einen benachbarten Duschraum mit sieben Kabinen.

»Wasch dich, mein kind«, sagte sie.

Leslie hängte das Leintuch an einen Wandhaken und wusch sich, obwohl sie am Abend zuvor gründlich geduscht und erst zwei Stunden zuvor nochmals lange in der Badewanne gesessen hatte. Durch eine zweite Tür konnte sie, während sie duschte, ein Bassin sehen, dessen ruhiges Wasser, schwer wie Blei, unter dem gelben Licht einer nackten Glühbirne glänzte. Rabbi Gross hatte ihr in einem seiner Vorträge erklärt, daß die Juden das rituelle Tauchbad schon seit Jahrtausenden gepflogen hatten, ehe Johannes der Täufer diese Zeremonie übernommen hatte. Ursprünglich hatte man in Seen und Flüssen gebadet, denn das Wasser der mikwe mußte natürliches Wasser sein.

Heute, da die mikwe in Häusern untergebracht war - dem größeren Bedürfnis des modernen Menschen nach Zurückgezogenheit folgend -, sammelte man Regenwasser in Trögen auf den Dächern und leitete es in ein gekacheltes Bassin. Dieses stehende Wasser wurde schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit schal und unappetitlich. Deshalb gab es neben dem Regenwasserbassin ein zweites, das dauernd mit Frischwasser aus der städtischen Wasserleitung versorgt und auf angenehme Temperatur gebracht wurde. jedesmal, sobald dieses zweite Bassin vollgelaufen war, wurde ein kleiner Stöpsel in der Trennwand zwischen den beiden Becken herausgezogen, so daß sich die zweierlei Wasser für den Bruchteil einer Sekunde miteinander vermischen konnten. Das, versicherte Rabbi Gross seiner Schülerin, heilige das Leitungswasser, ohne seinen Bakteriengehalt zu erhöhen. Trotzdem betrachtete Leslie, während sie duschte, den Wasserspiegel voll Mißtrauen; sie mußte sich eingestehen, daß sie die Sache nicht werde durchstehen können, sollte das Wasser einen irgendwie schmutzigen Eindruck machen.

Mrs. Rubin erwartete sie schon, als sie aus der Kabine kam. Diesmal holte sie aus ihrer Schürzentasche einen kleinen Schildpattkamm hervor.

Sie ließ ihn langsam durch Leslies lange Haare gleiten und zog ein wenig, wenn er sich in einem Knoten verfing. »Nichts darf das Wasser von Ihrem Körper abhalten«, sagte sie. »Heben Sie die Arme.«

Leslie gehorchte demütig, und die Frau untersuchte ihre ausrasierten Achselhöhlen. »Kein Haar«, sagte sie, wie ein Kaufmann, der Inventur macht. Dann, mit einem eindeutigen Hinweis ihres Zeigefingers, reichte sie Leslie den Kamm.

Einen Augenblick lang verharrte Leslie ungläubig, keiner Bewegung mächtig. »Muß das wirklich sein?« fragte sie hilflos.

Mrs. Rubin nickte. Leslie handhabte den Kamm, ohne hinzusehen, und spürte das Blut in ihre Wangen und die Tränen in ihre Augen steigen.

»Kommen Sie«, sagte die Frau schließlich und hängte ihr das Leintuch wieder um die Schultern.

Über einen schwarzen Kautschukläufer ging es vom Duschraum zum Bassin. Auf der obersten der drei Stufen, die ins Wasser führten, ließ Mrs. Rubin das Mädchen warten und ging zur Tür

am anderen Ende des Beckens. Sie öffnete und steckte den Kopf hinaus. Leslie spürte einen Luftzug von der Tür her, die in den Hinterhof der Synagoge führte.

»Jetzt«, rief Mrs. Rubin. »Sie ist fertig.«

Leslie hörte die Stimmen der Rabbiner, die sich auf jiddisch unterhielten, während sie sich dem Eingang näherten. Mrs. Rubin ließ die Tür nur einen Spaltbreit offen und kam zu dem Mädchen zurück.

»Wollen Sie den Zettel mit den Gebeten haben?« »Ich kann die Gebete«, sagte Leslie.

»Sie müssen ganz untertauchen und dann die Gebete sagen. Das ist der einzige Anlaß, bei dem man die broche nach der Handlung sagt und nicht vorher. Und zwar deshalb, weil das Tauchbad Sie von jeder früheren Religion reinigt; erst nachher können Sie als Jüdin zu Gott beten. Sie werden wahrscheinlich ein paarmal untertauchen müssen, damit auch sicherlich alles gut naß wird. Sie sind doch nicht wasserscheu?«

»Ich bin nicht wasserscheu.«

»Dann ist's gut«, sagte Mrs. Rubin und nahm ihr das Leintuch ab.

Leslie schritt die Stufen hinunter. Das Wasser war warm. In der Mitte des Beckens reichte es ihr gerade an die Brust. Sie hielt inne und blickte hinein. Es schien rein und klar, und der weißgekachelte Boden schimmerte zitternd herauf. Nun schloß sie die Augen und tauchte unter, mit angehaltenem Atem, setzte sich auf den gekachelten Boden und spürte die Fugen der Kachelung auf der nackten Haut. Danach erhob sie sich prustend und sprach mit zitternder Stimme die Gebetsformeln.

»Amen«, echote Mrs. Rubin, und Leslie konnte das Amen der Rabbiner durch den Türspalt hören. Mrs. Rubin beschrieb mit beiden Armen eine Abwärtsbewegung, wie ein Sportfunktionär, der seiner Mannschaft Zeichen gibt, und Leslie tauchte erneut unter, diesmal schon gefaßter. Es war so einfach, daß sie das Lachen ankam. Da saß sie nun im Wasser, mit flutendem Haar, und fühlte sich auf wunderbare Weise um die körperliche und geistige Last erleichtert und gereinigt von der Schuld eines

zweiundzwanzigjährigen Lebens. Gewaschen im Blut des Lammes, dachte sie benommen und kam wie ein Fisch von unten herauf.

Meine lieben Kinder, dachte sie, hört zu, und ich will euch erzählen, wie eure Mama eine jüdische Seejungfrau geworden ist, und das ist eine lange Geschichte. Und sie sprach die broche diesmal schon mit mehr Selbstsicherheit. Aber Mrs. Rubin war noch immer nicht zufrieden, abermals stießen ihre Arme nach unten, und Leslie tat es ihnen nach. Beim dritten Untertauchen behielt sie die Augen offen und spähte hinauf zu der leuchtenden Glühbirne über dem Becken, und es war ihr, als schwebte Gottes Auge über den Wassern. Sie tauchte abermals auf, etwas außer Atem, spürte ihre Brustwarzen fest werden in der kalten Zugluft, die durch den Türspalt kam, hinter welchem die Rabbiner zuhörten, und diesmal sprach sie die Gebete mit froher Gewißheit.

» Masel-tow«, sagte die alte Mrs. Rubin, legte Leslie, der beim Heraussteigen das Wasser von den Hüften troff, das Leintuch wieder um und küßte sie auf beide Wangen.

Dann stand sie im Büro des Rabbiners, weggeschwemmt alles Make-up, das Haar strähnig und naßkalt im Nacken, und mit einem Gefühl, als wäre sie soeben im Davenport-Becken des Colleges zehn Längen geschwommen. Der Rabbiner, der ihr den Kaffee angeboten hatte, lächelte ihr zu.

»Willst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit all deinem Herzen, mit all deiner Seele und mit all deinem Vermögen?« fragte er. »Ja«, flüsterte sie, ernst geworden.

»Und die Gebote«, sagte er, »die ich dir nun gebe, sollen eingepflanzt sein in deinem Herzen: mit Eifer sollst du sie weitergeben deinen Kindern, sie sollen auf deinen Lippen sein, wenn du sitzest in deinem Haus und wenn du gehest auf deiner Straße, wenn du liegst zu Bett und wenn du aufstehst am Morgen.

Du sollst sie tragen als Zeichen über deiner Hand und als Siegel zwischen deinen Augen. Du sollst sie schreiben an die Pfosten deines Hauses und über seine Tore: daß ihr möget eingedenk sein all meiner Gebote und tun nach meinen Worten und geheiliget sein dem Herrn eurem Gott.«

Rabbi Gross trat auf sie zu und legte ihr die Hände auf den Scheitel.

»Du bist aufgenommen in das Haus Israel«, sprach er. »Die hier versammelten Rabbiner heißen dich willkommen und geben dir den Namen Leah bas Avrahom, mit welchem du künftig wirst gerufen werden in Israel.«

»Möge Er, der da segnete unsere Mütter Sara, Rebekka, Rachel und Lea, auch dich segnen, unsere Schwester Leah bas Avrahom, heute am Tage deiner Aufnahme in die Gemeinschaft Israels und deiner Bekehrung inmitten des Volkes unseres Herrn, der da ist der Gott Abrahams. Der Segen des Herrn sei mit dir auf allen deinen Wegen, und gesegnet sei das Werk deiner Hände, Amen.« Dann überreichte ihr der jüngste der Rabbiner die Übertrittsurkunde, und sie las: IN GEGENWART GOTTES UND DIESES RABBINISCHEN RATES

Hiemit erkläre ich, daß ich die Gesetze des Judentums anzunehmen wünsche, seinen Bräuchen und Zeremonien anhängen und dem jüdischen Volk angehören will.

Ich tue dies aus freiem Willen und in voller Kenntnis der wahren Bedeutung aller Grundsätze und Glaubensübungen der jüdischen Lehre.

Ich bete darum, daß mein Entschluß mich zeit meines Lebens führen möge, auf daß ich würdig sei der geheiligten Gemeinschaft, der ich ab heute angehören darf. Ich bete darum, stets der Rechte und Pflichten eingedenk zu sein, die meine Zugehörigkeit zum Haus Israel mir auferlegt. Ich erkläre, fest entschlossen zu sein, ein jüdisches Leben und ein jüdisches Haus zu führen.

Sollte ich mit männlichen Kindern gesegnet werden, so gelobe ich, sie dem Bunde Abrahams zuzuführen. Ich gelobe ferner, alle Kinder, mit denen Gott mich segnen möge, getreu dem jüdischen Glauben und seinen Übungen und im Sinne der jüdischen Hoffnungen und des jüdischen Lebens zu erziehen.

Höre Israel, der Herr unser Gott ist einig und einzig! Geheiliget sei sein Name in Ewigkeit.«

Und sie unterzeichnete das alles, und ihre Hand zitterte nicht mehr, als es der Anlaß erlaubte, und die Rabbiner zeichneten als Zeugen, und Mrs. Rubin küßte sie abermals und ward von ihr wiedergeküßt, und dann dankte sie den Rabbinern, und jene schüttelten ihr die Hand. Der jüngste der Rabbiner versicherte ihr noch, sie sei die hübscheste Bekehrung gewesen, an der er je gehofft hatte, teilnehmen zu können, und dann lachten sie alle, und sie dankte ihnen aufs neue und verließ die Synagoge. Draußen war es windig, und der Himmel war noch immer grau. Und obwohl sie sich nicht verwandelt fühlte, wußte sie dennoch, daß ihr Leben von Stund an ganz anders sein würde als alles, was sie jemals für sich erträumt hatte. Einen Augenblick lang, aber auch nur einen Augenblick lang, dachte sie an ihren Vater und erlaubte sich, darüber traurig zu sein, daß die Mutter nicht mehr da war. Dann aber, rasch die Straße entlangschreitend, sehnte sie sich mehr und mehr nach einer Telephonzelle, darin sie endlich ihr Schweigen brechen und ihr welterschütterndes Geheimnis offenbaren könnte.

24

Michael kam schon am nächsten Tag in New York an. Er war mit dem Kombiwagen nach Little Rock gefahren und dann in ein schaukelndes, stoßendes Verkehrsflugzeug gestiegen, das sich durch ein Frühjahrsgewitter nach La Guardia vorankämpfte. Sie erwartete ihn schon am Flughafen, und während er auf sie zustürzte, schien es ihm, daß jede Begegnung mit ihr wie das erste Mal war und daß er nie müde sein würde, ihr Gesicht anzusehen.

»Was ich nicht verstehen kann, ist die Geschichte mit der mikwe«, sagte er im Taxi, nachdem er sie genugsam geküßt hatte. »Bei einem reformierten Rabbiner hättest du dir die ganze Prozedur erspart! «

»Es war so ergreifend«, sagte sie leise. »Und ich wollte mir nichts daran ersparen, es soll doch von Dauer sein.«

Aber als sie am nächsten Nachmittag zusammen in die Schaarai-

Schomayim-Synagoge kamen, sahen sie sich einem bleichen und fassungslosen Rabbi Gross gegenüber.

»Warum haben Sie mir das nicht gesagt?« wandte er sich an Leslie.

»Hätt ich gewußt, daß Ihr Zukünftiger der Michael Kind ist, ich schwör, niemals hätt ich mich dazu hergegeben, Sie zur Jüdin zu machen.«

»Sie haben mich ja nicht gefragt«, sagte sie. »Nichts lag mir ferner, als Sie hereinzulegen.«

»Max«, sagte Michael, »ich tue nur, was auch Moses getan hat. Sie ist Jüdin. Du hast sie dazu gemacht.«

Rabbi Gross wehrte ab. »Bist du Moses? Ein Narr bist du, ein Dummkopf. Und ich hab dabei mitgeholfen! «

»Trotzdem, wir möchten von dir getraut werden, Max«, sagte Michael still. »Wir wünschen es beide von Herzen.«

Aber Rabbi Gross nahm die Bibel vom Tisch und schlug sie auf. Mit wiegendem Oberkörper und laut lesend nahm er keine Notiz mehr von ihnen, als wäre er allein in der schul.

Die hebräischen Gebetsworte verschlossen Michael die Lippen.

»Gehen wir«, sagte er zu Leslie.

Draußen auf der Straße sah sie zu ihm auf. »Sie können doch nicht...

das Ganze rückgängig machen? Oder können sie doch, Michael?«

»Du meinst deinen Übertritt? Nein, natürlich nicht.« Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. »Laß dich nicht von ihm durcheinanderbringen, Liebe.«

Während das Taxi stadtwärts fuhr, hielt sie seine Hand fest. »Wen wirst du als nächsten bitten - ich meine, die Trauung zu vollziehen?«

»Ich denke an einen meiner Studienkollegen aus dem Institut.« Er überlegte einen Augenblick lang und sagte dann: »Milt Greenfield ist Rabbiner in Bathpage.«

Noch am selben Nachmittag rief er von einer Telephonzelle in einem Drugstore der Lexington Avenue an. Die Stimme Rabbi Greenfields war voll Anteilnahme, wurde dann aber leiser und distanziert.

»Willst du das auch ganz sicher, Michael?«

»Sei nicht so dumm. Wenn ich nicht sicher wäre, würde ich dich nicht anrufen.«

»Gut, wenn das so ist - dann freue ich mich, daß du gerade mich angerufen hast, du alter Gauner«, sagte Greenfield abschließend. In der Nacht, als die Eltern schon schliefen, saß Michael in seinem altvertrauten Zimmer wach über der Modern Reader's Bible und suchte nach der Übersetzung jener Bibelstelle, die Max Gross ihm entgegengeschleudert hatte, um ihn aus der Synagoge zu jagen.

Endlich fand er sie. Sprüche 5, 3.

Denn die Lippen der Fremden sind süß wie Honigwein, und ihre Kehle ist glatter als Öl: aber hernach bitter wie Wermut und scharf wie ein zweischneidiges Schwert. Ihre Füße laufen zum Tod hinunter, ihre Gänge führen ins Grab.

Sie geht nicht stracks auf dem Wege des Lebens; unstet sind ihre Tritte, daß sie nicht weiß, wo sie geht.

Er hatte befürchtet, keinen Schlaf finden zu können. Aber noch während des Gebetes nickte er ein. Als er am anderen Tag erwachte, erinnerte er sich seiner Träume nicht.

Beim Frühstück beobachtete er seine Mutter mit Unbehagen. Leslie hatte mit ihrem Vater telephoniert und dann lange und still vor sich hingeweint. Auf Michaels Vorschlag, den Reverend John Rawlings aufzusuchen und alles durchzusprechen, hatte sie nur stumm den Kopf geschüttelt. Voll Erleichterung drang er nicht weiter in sie.

Er verspürte auch keine Lust, seine Eltern jetzt schon einzuweihen, denn er wußte, daß er damit eine Szene heraufbeschwor, und das schob er gerne hinaus.

Er war eben bei seiner zweiten Tasse Kaffee angelangt, da läutete das Telephon.

Rabbi Sher war am Apparat.

»Woher wissen Sie, daß ich in New York bin?« fragte Michael nach dem Austausch der üblichen Höflichkeitsphrasen.

»Ich habe zufällig mit Milt Greenfield gesprochen«, sagte Rabbi Sher.

Das ist ganz Milt, dachte Michael.

»Können Sie auf einen Sprung bei mir im Büro vorbeikommen?«

fragte Rabbi Sher.

»Ja, heute nachmittag.«

»Es besteht für mich kein Zweifel, daß Sie Ihren Entschluß reiflich erwogen haben«, sagte Rabbi Sher betont liebenswürdig. »Ich möchte nur sichergehen, daß Sie sich auch aller möglichen Folgen einer solchen Verbindung bewußt sind.«

»Ich heirate eine Jüdin.«

»Möglicherweise ruinieren Sie sich eine brillante Rabbinatskarriere.

Solange Sie das wissen, ist alles in Ordnung, wenn auch vielleicht ...

nicht sehr realistisch. Ich wollte nur sichergehen, daß Sie nicht vielleicht die Folgen übersehen haben in einer Anwandlung von -« er suchte nach Worten.

»Sinnloser Leidenschaft.«

Rabbi Sher nickte. »Genau das.«

»Ist es nicht so, daß wir zeit unseres Lebens angesichts der weltlichen Verirrungen drauf bestehen, daß auch Juden nur Menschen sind, und daß alle Menschen gleich sind vor Gott. Wenn wir mit unseren Kindern über die Protokolle der Weisen von Zion reden, betonen wir ausdrücklich, daß wir einzig dazu auserwählt sind, die Bürde des Bundes zu tragen. Aber tiefer unter all dem liegt jene Angst, die uns zum vorurteilsbeladensten Volk der Erde gemacht hat. Warum ist das so, Rabbi?«

Von draußen drangen ferne Hupgeräusche an ihr Ohr. Rabbi Sher trat ans Fenster und sah auf das Verkehrschaos der Fifth Avenue hinunter. Nichts als Taxis. Viel zu viele. Außer es regnet und du brauchst eines, dachte er. Er wandte sich um. »Wie sonst hätten wir fünftausend Jahre überdauert?«

»Aber das Mädchen, das ich heirate, ist Jüdin.«

»Ihr Vater ist kein Jude.«

»Aber ist Judentum eine Frage des Blutes? Oder ist es ein ethischer, ein theologischer Begriff, eine Art zu leben?«

Rabbi Sher kniff die Augen zusammen. »Bitte, Michael, keine Diskussion! So einzigartig ist Ihre Situation auch wieder nicht, das wissen Sie. Wir haben so etwas schon gehabt, und es hat immer eine Menge Schwierigkeiten damit gegeben.« Er trat vom Fenster zurück.

»Sie sind also fest entschlossen?«

Michael nickte.

»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück.« Er streckte Michael die Hand entgegen, und dieser schüttelte sie.

»Noch etwas, Rabbi«, sagte er. »Sie sollten jetzt jemand anderen für die Ozarks suchen.«

Sher nickte. »So jung verheiratet, werden Sie nicht dauernd unterwegs sein wollen.« Er legte die Finger zusammen. »Damit ergibt sich die Frage Ihrer weiteren Verwendung. Vielleicht hätten Sie Interesse an einer akademischen Laufbahn? Bei einer der Stiftungen für kulturelle Belange? Wir bekommen viele derartige Anfragen.«

Nach einer Pause setzte er hinzu: »Auf akademischem Boden ist man doch weniger engstirnig.«

»Ich will eine Gemeinde haben.« Michael wich dem Blick des anderen nicht aus.

Rabbi Sher seufzte. »Ein Gemeindeausschuß besteht aus Eltern. Wie immer Sie selbst über Ihre Heirat denken mögen - Eltern werden darin fast unvermeidlich ein schlechtes Beispiel für ihre Kinder sehen.«

»Ich will eine Gemeinde haben.«

Der Ältere hob hilflos die Schultern. »Ich werde mein möglichstes tun, Michael. Kommen Sie doch mit Ihrer Frau vorbei, wenn Sie ein bißchen Zeit haben. Ich möchte sie gern kennenlernen.« Und sie schüttelten einander nochmals die Hände.

Nachdem Michael gegangen war, ließ sich Rabbi Sher in seinen Sessel fallen, blieb eine Weile reglos sitzen und summte geistesabwesend die Toreador-Melodie aus »Carmen« vor sich hin. Dann drückte er den Summer auf seinem Schreibtisch.

»Lillian«, sagte er zu der eintretenden Sekretärin, »Rabbi Kind wird nicht mehr in die Ozarks gehen.«

»Soll ich die Karte in den Ordner Offene Stellen geben?« fragte sie.

Sie war eine verblühende Frau in mittleren Jahren, und sie tat ihm immer wieder leid.

»Bitte, tun Sie das«, sagte er. Nachdem sie gegangen war, summte er weiter den Bizet vor sich hin, alles, was ihm von den Melodien aus

»Carmen« noch irgend einfiel - dann drückte er nochmals den Summer.

»Halten Sie die Ozarks-Karte noch eine Weile zurück«, sagte er zu Lillian. »Vielleicht werden wir diesen Posten überhaupt nicht besetzen können, wenn wir nicht einen verheirateten Mann finden, der bereit ist, zu reisen.«

Ihr schneller Blick fragte, ob er nun endlich wisse, was er wolle. »Das ist aber sehr unwahrscheinlich«, sagte sie.

»Allerdings«, stimmte er zu.

Er trat ans Fenster, stützte die Hände auf die Brüstung und sah hinunter. Unten tobte der Fifth-Avenue-Verkehr wie eine Schlacht, die Hupen schrillten wie die Schreie von Verwundeten. Diese Taxis, dachte er, ruinieren die ganze Stadt.

25

Noch vor gar nicht so langer Zeit hatte es in Cypress, Georgia, keine jüdische Gemeinde gegeben. Vor dem Krieg-dem Zweiten Weltkrieg, nicht dem Bürgerkrieg - lebten in der ganzen Stadt kaum ein paar Dutzend jüdischer Familien. Ihr Oberhaupt war Dave Schoenfeld, Verleger und Herausgeber der wöchentlich erscheinenden Cypress News. Als Ururenkel des Captain Judah Schoenfeld, der unter Hood bei Peachtree Creek eine Kompanie kommandiert und dabei eine Miniékugel in den Hals bekommen hatte, war Dave mehr Südstaatler als Jude und unterschied sich kaum von irgendeinem starrköpfigen Baptisten in Cypress, höchstens dadurch, daß er einen etwas größeren Einfluß bei den Wahlen besaß.

Dave Schoenfeld befand sich als Oberstleutnant der Abwehr in Sondrestrom auf Grönland, als daheim in Cypress der erste Freitagabend-Gottesdienst gehalten wurde. Ein Militärrabbiner aus Camp Gordon, Jacobs mit Namen, brachte einen Bus voll jüdischer Infanteristen in die Stadt und zelebrierte in der First Baptist Church mit besonderer Erlaubnis der Diakone eine Jom-Kipur- Feier. Sie wurde von sämtlichen Juden der Stadt besucht und fand solchen Anklang, daß sie im darauffolgenden Jahr wiederholt wurde. Aber ein weiteres Jahr später war zu Jom-Kipur kein Rabbiner da, der den Gottesdienst hätte halten können, denn Rabbi Jacobs war nach Übersee versetzt worden und ein Ersatzmann für ihn noch nicht eingetroffen. Die hohen Feiertage kamen und gingen in Cypress ohne Gottesdienst, und dieser Mangel wurde in der Stadt bemerkt und kommentiert.

»Warum können wir nicht unseren eigenen Sabbat-Gottesdienst haben?«

regte der junge Dick Kramer an; er hatte Krebs und dachte viel über Gott nach.

Andere zeigten sich diesem Vorschlag zugänglich, und so kamen am folgenden Freitag vierzehn Juden im Hinterzimmer von Ronnie Levitts Haus zusammen. Sie rekonstruierten den Gottesdienst aus dem Gedächtnis, und Ronnie, der nach dem Ersten Weltkrieg in New York Gesang studiert hatte, bevor er nach Hause kam, um seines Vaters Terpentinfabrik zu leiten - Ronnie übernahm das Amt des Kantors. Sie sangen, was ihnen vom Ritual in Erinnerung geblieben war, begeistert und lautstark, wenn auch nicht durchaus melodisch. In der Küche im Oberstock sagte Rosella Barker, Sally Levitts Dienstmädchen, mit verklärtem Blick und breitem Grinsen zu ihrem vierzehnjährigen Bruder Mervin, der am Küchentisch Kaffee trank und darauf wartete, seine Schwester nach Hause zu begleiten:

»Diesen Leuten ist der Rhythmus angeboren, Honey. Weiße, gewiß -

aber sie haben Musik in sich, und die kommt heraus in allem, was sie tun

- schon in ihrem Gang.« Und sie freute sich im stillen über den Ausdruck auf dem Gesicht des jungen.

Dave Schoenfeld wurde vor seiner Entlassung noch in den Oberstenrang erhoben und rüstete 1945 ab. Die Armee hatte ihn um seine besten Jahre gebracht. Sein Körper hatte an Spannkraft, sein Schritt an Jugendlichkeit verloren. Sein Haar war schütter und grau und sein Prostataleiden schlimmer geworden, so daß er dauernde Pflege brauchte; die bekam er auch - bezeichnenderweise auf dem Weg über ein Verhältnis mit der attraktivsten Krankenschwester des Stützpunkts.

Zwei Wochen nach seiner Rückkehr ins Zivilleben teilte ihm ein ehemaliger Offizierskamerad mit, das Mädchen habe eine Überdosis Schlafmittel genommen und sei nach einer Magenauspumpung in die Staaten geflogen worden; sie befinde sich im Walter Reed Hospital zur psychiatrischen Beobachtung. Schoenfeld hatte den Brief in den Papierkorb geworfen, zusammen mit einem umfangreichen Bündel unbrauchbarer Bürstenabzüge und Einladungen zu sozialen Ereignissen, an denen er nicht teilzunehmen wünschte.

Cypress war um fast tausend Einwohner gewachsen. Bei seiner Rückkehr besaß die Stadt eine Sägemühle, eine kleine Fabrik, die im Lizenzverfahren Funkgeräte erzeugte, und die Zusage einer mittelgroßen Textilfirma aus Fall River, Massachusetts, demnächst mit Sack, Pack und Webstühlen hierher zu übersiedeln. Und Dave war ein reicher, gutaussehender Junggeselle von achtundvierzig Jahren, der herzlich empfangen wurde von den vielen Frauen, mit denen er in all den Jahren zu tun gehabt hatte, und den vielen Männern, denen sein politischer Einfluß ein oder das andere Mal von Nutzen gewesen war. All das trug dazu bei, daß er sich glücklich fühlte, zu Hause zu sein. Er investierte 119.000 Dollar, um die News und ihre Lohndruckerei von Buchdruck auf Offset umzustellen, ein Verfahren, dessen Vorzüge er beim Militär schätzengelernt hatte. Er änderte den Erscheinungstermin der Zeitung von wöchentlich auf zweimal wöchentlich, um von der zu erwartenden höheren Auflage entsprechend zu profitieren, und stellte einen agilen jungen Mann an, der direkt von der Henry W. Grady School of Journalism kam und den Großteil der redaktionellen Arbeit übernahm; dann zog er sich aus dem Betrieb zurück und widmete sich wieder dem Pokerspiel, zweimal die Woche, mit Richter Boswell, Nance Grant, Sunshine Janes und Sheriff Nate White.

Seit zwanzig Jahren waren diese fünf Männer dem Pokern leidenschaftlich verfallen. Insgesamt kontrollierten sie die Baumwolle, die Erdnüsse, das Gesetz, die Macht und die öffentliche Meinung in Cypress. Ihr stetig sich mehrender Aktienbesitz hatte sie schon längst zu wohlhabenden Männern gemacht.

Sie hießen den heimgekehrten Dave in ihrer Mitte willkommen. »Na, wie hat's dir da droben gefallen in Grön-Land?« fragte der Sheriff, wobei er Grönland betonte, als schriebe man es in zwei Wörtern.

»Es war zum Arschabfrieren«, sagte Dave und mischte die Karten.

Sunshine hob ab. »Genug von dem Eskimo-Kaff, wie? Muß ganz schön nach Lebertran stinken.«

»Meinst du mich?«

Sunshine platzte heraus, und auch die andern grinsten.

»Na, dann wollen wir mal sehen, wie es jetzt mit meinem Glück steht«, sagte Dave und begann zu geben.

Er hatte sehr viel photographiert, und so erhielt er sieben Wochen nach seiner Heimkehr eine Einladung, im Männerverein der Methodisten einen Lichtbildervortrag zu halten. Die Farbdias von den Gletschern und Schneeabstürzen waren ein großer Erfolg, und ebenso seine Geschichten und Anekdoten über das Zusammenleben von Eskimos und amerikanischen Soldaten. Am nächsten Tag rief ihn Ronnie Levitt an und fragte, ob er den Vortrag am Freitagabend anschließend an den oneg schabat in Levitts Wohnung wiederholen wollte. Der Andachtsraum war gedrängt voll mit frommen Juden, die er aber zum Teil nicht kannte, wie er am Freitagabend überrascht feststellte. Trotz Ronnies mangelhafter Stimmführung fielen alle begeistert in die Gesänge ein. Predigt gab es keine, und Daves nachfolgender Vortrag fand höflichen Applaus.

»Wie lang macht ihr das hier schon?« fragte er.

»Oh, schon lang«, sagte Dick Kramer voll Eifer. »Kürzlich erst haben wir Gebetbücher bestellt. Aber Sie sehen ja, was wir am dringendsten brauchen: einen passenden Versammlungsraum und einen ständigen Rabbiner.«

»Eben. Ich habe auch nicht angenommen, daß einzig ein plötzliches Interesse an Eisbären meine Einladung bewirkt hat«, bemerkte Dave trocken.

»Wir sind jetzt schon fünfzig jüdische Familien in der Stadt«, sagte Ronnie. »Wir brauchen eigentlich nur ein kleines Holzhaus, das billig zu haben ist und das wir zweckentsprechend adaptieren können. Der Rabbiner wird schon nicht soviel kosten. Seinen Beitrag kann hier jeder zahlen.«

»Könnte die Gemeinde genug aufbringen, um alles das zu finanzieren?« fragte Dave, der wohl wußte, daß sie alle miteinander dazu nicht imstande waren, denn sonst wäre er ja gar nicht erst geladen worden.

»Wir würden ein paar Geldgeber brauchen, Leute, die genügend auf den Tisch legen können, daß es für die ersten Jahre reicht«, sagte Ronnie. »Ich könnte einen Teil übernehmen. Wenn Sie sich für die andere Hälfte verpflichten, können wir anfangen.« »Wieviel?«

Levitt hob die Schultern. »Fünf- bis zehntausend.«

Dave tat, als denke er scharf nach. »Ich bin da anderer Meinung«, sagte er schließlich. »Mir gefällt diese Art Gottesdienst recht gut, und ich würde gelegentlich auch gern wiederkommen. Aber man soll nichts überstürzen. Warten wir doch lieber, bis die Gemeinde größer geworden ist, so wird sich dann keiner zurückgesetzt fühlen, weil jeder den gleichen Betrag für den Hauskauf und die Anstellung des Rabbiners bezahlt.«

Dicht gedrängt umstanden sie ihn und trugen, wie sie sich nun zögernd zum Gehen wandten, alle den gleichen Ausdruck der baren Enttäuschung auf den Gesichtern.

Samstagabend gewann Schoenfeld hunderteinunddreißig Dollar beim Pokern. »Wie wird sich die neue Fabrik auf unsere Arbeiterschaft auswirken?« fragte er.

»Überhaupt nicht«, sagte der Richter.

»Laßt sie nur noch ein paar Fabriken hier bauen, dann werdet ihr schon sehen, was die Arbeiter mit uns machen«, sagte Dave. Nance Grant biß die Spitze von einer dicken schwarzen Zigarre ab und spuckte sie auf den Boden. »Es kommt sonst keine. Wir lassen gerade so viel herein, daß wir mit den ungelernten Leuten keine Schwierigkeiten haben.«

Schoenfeld wunderte sich. »Seit wann gibt's bei uns Schwierigkeiten?

Und womit?«

Der Richter legte ihm die gepflegte Hand leicht auf den Arm. »Du warst lange auswärts, Daveyboy. Die verdammte Regierung gibt uns allerhand aufzulösen. Wird uns gar nicht schaden, Freunde um uns zu haben, die uns gegen die Sozialisten beistehen.«

»Auch unsere Spesen werden immer höher«, sagte Nance. »Wäre nur recht und billig, sie zu teilen.«

»Was für Spesen?«

»Na, Billy Joe Raye zum Beispiel, der Prediger. Mit Pech und Schwefel und Handauflegen.«

»Ein Gesundbeter?« fragte Schoenfeld. »Warum für so etwas Geld ausgeben?«

Der Sheriff räusperte sich. »Verdammt will ich sein, wenn er die Leute nicht besser für uns auf Vordermann hält als der billigste Schnaps.«

Schoenfeld lehnte einen von Nances Stumpen dankend ab und zog eine Havanna aus der Brusttasche. »Alles schön und gut«, sagte er, während er den Versammelten den Rauch ins Gesicht blies und die Asche länger wurde. »Aber ein Prediger? Das kann doch kein Haus kosten.«

Der Richter sah ihn überlegen an. »Hunderttausend.« Daves Verblüffung brachte alle zum Lachen.

»Das Zelt für seine Meetings kostet einschließlich Klimaanlage beinahe allein schon so viel«, sagte Sunshine. »Und die Sendegebühren. Und das Fernsehen.«

»Dabei zahlen wir ihm ohnehin nur einen Hungerlohn, gemessen an den Einkünften, die er aus seinen Kollekten bezieht«, sagte Nance.

»Und je stärker diese Stadt ihren Ruf als gottesfürchtige Gemeinde ausbaut, desto billiger kommen wir weg.«

»Verdammt noch mal, da gibt es nichts auszubauen«, sagte der Richter. »Das ist eine gottesfürchtige Gemeinde, wenn doch sogar schon die Juden ihre Gebetsmeetings abhalten.« Keiner erwiderte etwas. »Entschuldige, Dave«, sagte er höflich.

»Keine Ursache«, sagte Schoenfeld leichthin.

Aber noch am selben Abend rief er Ronnie Levitt an. »Die Geschichte mit dem Tempel geht mir nicht aus dem Kopf«, sagte er.

»Ich glaube, wir sollten uns noch einmal zusammensetzen und die Sache besprechen, meinen Sie nicht?«

Sie machten ein kleines Gebäude in gutem Zustand ausfindig und kauften es. Dave und Ronnie steckten je fünftausend Dollar in den Kauf des Hauses und der zwei Morgen großen Grundparzelle. Es war vereinbart, daß die jüdische Gemeinde eine Summe aufbringen werde, die für die Renovierungsarbeiten und das Gehalt des Rabbiners reichte.

Zögernd schlug Ronnie Levitt vor, den Tempel Sinai zu nennen.

zögernd stimmte Dave zu. Es wurde kein Einspruch erhoben. »Ich fahre nächsten Monat nach New York zu Besprechungen mit meinen dortigen Zeitungsleuten«, sagte Schoenfeld. »Dabei werde ich sehen, ob ich einen Rabbiner auftreiben kann.«

Vor seiner Reise korrespondierte er mit einem Menschen namens Sher, und in New York rief er dann die Union of American Hebrew Congregations an und lud den Rabbiner für den nächsten Tag zum Mittagessen ein. Erst nach dem Gespräch fiel ihm ein, daß jener als Geistlicher vielleicht nur koscher essen dürfe. Aber als sie im Büro der Union zusammentrafen, machte Rabbi Sher keinerlei diesbezügliche Andeutungen. Unten im Taxi beugte sich Dave zum Fahrer vor und sagte nur: »Voisin.« Er warf einen raschen Blick auf Rabbi Sher, aber dessen Gesicht blieb gelassen.

Im Restaurant bestellte er Hummercrêpes. Der Rabbi bestellte Huhn saute echalote, und Dave erzählte ihm grinsend, daß er sich schon Vorwürfe gemacht hatte, nicht in ein jüdisches Restaurant gegangen zu sein.

»Ich esse alles außer Muscheln und Schnecken«, sagte Sher. »Ist das Vorschrift?«

»Durchaus nicht, eine Sache der Erziehung. Jeder reformierte Rabbiner hält das, wie er will.« Während des Essens sprachen sie über den neuen Tempel.

»Wie hoch würde uns ein eigener Rabbiner kommen?« fragte Schoenfeld.

Rabbi Sher lächelte vor sich hin. Dann nannte er einen Namen, der zwei Dritteln der Juden Amerikas vertraut war. »Für ihn zahlen sie fünfzigtausend im Jahr, oder mehr. Für einen jungen Absolventen der Rabbinerschule sechstausend. Für einen älteren Rabbiner, den man in keiner Gemeinde behalten hat, auch sechs. Und für einen guten mit einigen Jahren Erfahrung auf dem Bukkel vielleicht zehn.«

»Vergessen wir den ersten. Können Sie mir aus Kategorie zwei bis vier ein bis zwei Namen nennen?«

Mit Sorgfalt brach der Rabbiner sein knuspriges Brötchen. »Ich kenne da jemand sehr guten. Er war kurze Zeit Hilfsrabbiner in einer großen Gemeinde in Florida und hat dann eine sehr weit verstreute Gemeinde in Arkansas betreut. Er ist jung, energisch, eine gute Erscheinung und ein gescheiter Mann.«

»Wo ist er jetzt?«

»Hier in New York. Er gibt Kindern Hebräischunterricht.«

Schoenfeld blickte ihn scharf an. »Hauptberuflich?«

»Ja.«

»Wieso?«

»Es ist nicht ganz leicht für ihn, eine Gemeinde zu finden. Vor einigen Monaten hat er ein bekehrtes Christenmädchen geheiratet. «

»Eine Katholikin?« »Ich glaube nicht.« »Diese Heirat wird bei uns keinen Menschen stören«, überlegte Schoenfeld. »Wir Leben mit unseren Christen in recht gutem Einvernehmen. Und solange dem Mann das Wasser bis zum Hals steht, könnten wir ihn doch für siebentausend kriegen - oder meinen Sie nicht?«

Irgend etwas, Schoenfeld wußte keinen Namen dafür, huschte über die Züge des Rabbiners. »Das müssen Sie schon mit ihm selbst ausmachen«, gab Sher höflich zurück.

Schoenfeld brachte ein in Leder gebundenes Notizbuch zum Vorschein und griff nach seiner Feder. »Wie heißt er?«

»Rabbi Michael Kind.«

26

Bei einem Autohändler in Bronx erstanden sie einen blauen Plymouth, ein zwei Jahre altes Kabriolett, aber mit fast neuen Reifen. Dann fuhren sie damit zurück zu ihrer Wohnung in West 60th Street und veranlaßten die Bahnspedition von Leslies Schreibtisch und ihrer beider Bücher.

Es gab noch ein letztes unbehagliches Abendessen bei seinen Eltern.

Der Abend zog sich hin und war beschwert mit all den gesagten und den ungesagten Dingen. (»Du Idiot! « hatte sein Vater geschrien, als er es erfahren hatte. »So was heiratet man doch nicht! « Und etwas in Abe Kinds Augen hatte dabei ein Schuldbewußtsein verraten, das seit Jahren unterdrückt gewesen war.) Den ganzen Abend lang hatten Dorothy und Leslie über Kochrezepte geredet. Als man sich schließlich zum Abschied küßte, hatte Dorothy trockene Augen und schien zerstreut. Abe weinte.

Am nächsten Morgen fuhren sie nach Hartford.

In der Hastings Congregational Church saßen sie in der Düsternis eines Korridors auf einer alten Holzbank und warteten, bis Reverend Mr.

Rawlings mit einem jungen Mann und einer jungen Frau aus seinem Büro kam.

»Hochzeiten in aller Stille sind immer am besten«, sagte er zu den beiden, sich von ihnen verabschiedend. »Die herzlichste und die würdigste Art, zu heiraten.«

Dann erblickte er das wartende Paar und sagte, ohne den Tonfall zu verändern: »Ah, Leslie.«

Michael und Leslie erhoben sich. Sie stellte ihn vor. »Wollt ihr nicht Tee trinken?«

Er führte sie in sein Büro, und da saßen sie, tranken Tee und aßen Keks, die von einer nicht mehr jungen, undurchdringlich dreinsehenden Frau aufgetragen wurden, und machten mühsam Konversation.

»Erinnerst du dich noch an die Gewürzkeks, die Tante Sally immer gebacken hat?« fragte Leslie ihren Vater, nachdem die Frau das Teegeschirr wieder hinausgetragen hatte. »Manchmal, wenn ich an die Tante zurückdenke, spüre ich den Geschmack direkt noch auf der Zunge.«

»Gewürzkeks?« sagte er, und, zu Michael gewandt: »Sally war meine Schwägerin. Eine brave Frau. Vor zwei Jahren ist sie gestorben. «

»Ich weiß«, sagte Michael.

»Sie hat Leslie tausend Dollar hinterlassen. Hast du das Geld noch, Leslie?«

»Ja«, sagte Leslie, »gewiß.«

Der Pfarrer trug eine randlose Brille; die sehr hellen Augen dahinter beobachteten Michael unablässig.

»Glauben Sie, daß Sie sich im Süden wohl fühlen werden?«

»Ich habe ein paar Jahre in Florida und in Arkansas gelebt«, sagte Michael. »Soweit ich sehen kann, sind Menschen überall Menschen.«

»Wenn man älter wird, merkt man doch einige wesentliche Unterschiede.«

Sie schwiegen. »Ich glaube, wir müssen jetzt gehen«, sagte Leslie und küßte ihren Vater auf die weiche rosige Wange. »Gib acht auf dich, Vater.«

»Das wird der Herr tun«, sagte er, sie zur Tür begleitend. »Ich bin in Seiner Hut.«

»Auch wir«, sagte Michael, aber sein Schwiegervater schien es nicht gehört zu haben.

Zwei Tage später kamen Leslie und Michael in Cypress, Georgia, an.

Es war ein heißer Nachmittag im Frühsommer, der ihnen einen Vorgeschmack von den sommerlichen Temperaturen in dieser Stadt gab. Das bronzene Reiterstandbild des Generals Thomas Mott Lainbridge auf dem Hauptplatz warf die Hitze in sichtbaren Wellen zurück. Michael brachte den Wagen am Rand des grasbewachsenen Rondeaus zum Stillstand, in dessen Mitte sich das Denkmal erhob, und sie warfen einen Blick darauf, von der Sonne geblendet. Sie konnten nur den Namen entziffern.

»Hast du je von ihm gehört?« fragte er Leslie.

Sie schüttelte den Kopf. Er lenkte zum Randstein hinüber, wo vier Burschen vor dem Drugstore im Schatten der Sonnenplane herumlungerten.

»Sir«, redete Michael den einen an, mit dem Daumen auf General Thomas Mott Lainbridge weisend, »wer war denn der Herr?« Der Junge sah seine Freunde an, und sie grinsten. »Lainbridge.«

»Den Namen wissen wir«, sagte Leslie. »Aber was hat er getan?«

Einer der Burschen löste sich träg aus dem Schatten und schlenderte zu dem Denkmal hinüber. Er brachte sein Gesicht nahe an die Tafel am Sockel und studierte sie, während seine Lippen sich lautlos bewegten. Dann kehrte er mit dem Ergebnis seiner Nachforschungen zurück. »Kommandierender General, Second Georgia Fusiliers. «

»Füsiliere waren doch Infanterie«, sagte Leslie. »Was macht er auf dem Pferd?«

»Was?«

»Danke schön«, sagte Michael. »Können Sie uns sagen, wie wir nach Piedmont Road 18 kommen?«

Nach einer Fahrt von drei Minuten hielten sie vor einem kleinen grünen Haus mit baufälliger Veranda und verwildertem Rasen davor. Die Fenster waren schmutzig.

»Sieht hübsch aus«, sagte sie unsicher.

Er küßte sie auf die Wange. »Willkommen zu Hause.« Er erhob sich und schaute die Straße hinunter, auf der ungerade numerierten Seite den Tempel suchend, der Nummer 45 hatte; aber er konnte nicht ausnehmen, welches von den Häusern da vorne wohl sein neuer Amtssitz sein mochte.

»Wart einen Augenblick«, sagte sie, stieg aus und lief die paar Stufen hinauf. Die Eingangstür war nicht versperrt. »Fahr du nur zu deinem Tempel«, sagte sie. »Schau ihn dir zuerst allein an und komm dann zurück.«

»Ich liebe dich«, versicherte er ihr.

Man hatte bei den Malerarbeiten die Nummerntafel abmontiert, und Michael fuhr an Sinai vorbei, ohne es zu merken. Aber als er am nächsten Haus eine deutliche 47 entdeckte, wendete er den Wagen und parkte an der Zufahrt zum Tempel. Kein Zeichen an der Tür -

und es hätte doch eines da sein müssen, ein kleines, geheiligtes Zeichen.

Beim Eintritt zog er die jarmulka aus der Hüfttasche und setzte sie auf.

Drinnen war es kühler. Die Trennwände waren zum Großteil niedergerissen worden, um einen großen Raum für den Gottesdienst zu schaffen. Küche und Badezimmer hatte man belassen, und neben dem Flur lagen noch zwei kleine Zimmer, in denen sich ein Büro und ein Arbeitsraum für den Rabbiner einrichten ließ. Die Böden waren frisch gestrichen. Michael schritt über einen Fußpfad aus Zeitungspapier von Zimmer zu Zimmer.

Es gab keine bema, aber ein Schrein stand an der Wand. Er öffnete ihn und sah, daß er die Thora enthielt. Ein kleines Silberetikett auf dem umhüllenden Samt informierte ihn darüber, daß die Thora von Mr, und Mrs. Ronald G. Levitt im Gedenken an Samuel und Sarah Levitt gespendet worden war. Er strich über die Rolle und küßte dann seine Fingerspitzen, wie sein Großvater es ihn vor so vielen Jahren gelehrt hatte.

»Hab Dank für meinen ersten Tempel«, sagte er laut. »Ich will versuchen, ihn wahrhaft zu einem Haus Gottes zu machen.« Seine Stimme widerhallte hohl von den kahlen Wänden. Alles roch nach Farbe.

Das Haus Piedmont Road 18 war nicht getüncht und auch schon lange nicht mehr gereinigt worden. Überall lag Staub. Über die Decke krochen kleine rote Spinnen, und das Mittelfenster war besudelt mit weißem eingetrocknetem Vogelmist.

Leslie hatte einen Eimer gefunden und ihn, voll mit Wasser, auf den Gasherd gestellt; aber sie mühte sich vergeblich, das Gas anzuzünden.

»Es gibt kein heißes Wasser«, sagte sie. »Wir brauchen einen Mop und eine Reibbürste und Seife. Ich schreibe wohl am besten auf, was wir alles brauchen.«

Ihre Stimme war allzu ruhig und ließ ihn das Schlimmste erwarten, noch ehe er durch das Haus gegangen war. Die Einrichtung war die eines Sommerhauses und benötigte mehr als nur einen frischen Farbanstrich. Die Stühle waren wacklig, einem fehlte eine Sprosse, einem anderen ein Teil der Lehne. Im Schlafzimmer waren die fleckigen braunen Matratzen aufgestellt, so daß man die rostigen und eingesunkenen Sprungfedern sehen konnte. Die Tapete schien noch aus Vorkriegszeiten zu stammen.

Als er in die Küche zurückkam, konnte er ihr nicht in die Augen sehen. Sie hatte eben ihr letztes Streichholz an den Versuch gewendet, die Gasstichflamme anzuzünden.

»Zum Teufel«, sagte sie, »was ist los mit dem Ding? Die Zündflamme ist in Ordnung.«

»Wart einen Augenblick«, sagte er. »Hast du eine Nadel?«

Die einzige, die sie finden konnte, befand sich am Verschluß einer Gemmenbrosche, aber er verwendete sie dazu, die kleinen Löcher des Gasbrenners zu säubern. Dann riß er eines von seinen Streichhölzern an, und das Gas zündete mit einem Knall und brannte mit ruhiger blauweißer Flamme.

»Bis du mit der Seife zurückkommst, wird das Wasser heiß sein«, sagte sie.

Aber er drehte das Gas ab. »Heute abend werden wir beide arbeiten.

Aber vorher gibt es was zu essen.« Als sie ins Auto stiegen, wußten sie beide, wie erleichtert der andere war, aus dem schäbigen, schmutzigen Haus draußen zu sein.

Am Abend schrubbten sie im Schweiß ihres Angesichts Möbel und Wände. Als sie nach Mitternacht endlich fertig waren, wuschen sie einander gegenseitig, in der Badewanne stehend, sauber. Die Dusche funktionierte, aber Vorhang gab es keinen; Leslie drehte den Kaltwasserhahn zu voller Stärke auf und kümmerte sich nicht darum, daß die von ihren Körpern abspringenden Tropfen das ganze Badezimmer naß machten.

»Laß es trocknen«, sagte sie müde. Sie ging nackt ins Schlafzimmer und stöhnte. »Es gibt keine Leintücher.«

Sie wies auf die fleckigen Matratzen, und zum erstenmal zitterten ihre Lippen.

„Darauf kann ich nicht schlafen.«

Michael fuhr in seine Hosen und ging barfuß und ohne Hemd zum Wagen, in dessen Kofferraum sich zwei blaue, in einem Überschußgüter-Laden erstandene Navy-Decken befanden. Die trug er ins Haus und spannte sie über die Matratzen, und Leslie drehte das Licht ab. Sie lagen im Dunkel nebeneinander, und er, der sie wortlos zu trösten versuchte, wußte nichts Besseres, als den Arm um sie zu legen und ihren nackten Körper an sich zu ziehen; aber sie antwortete nur mit einem leisen kehligen Ton, der halb Stöhnen, halb Seufzer war.

»Heiß«, sagte sie.

Er küßte sie auf die Stirn und rückte von ihr ab. Es war das erstemal, daß sie sich ihm verweigert hatte. Er zwang sich, an anderes zu denken, an den Tempel, seine erste Predigt, an die geplante Hebräisch-Schule. Die Hitze lastete auf ihnen, die Wolldecken waren rauh; irgendwie schliefen sie ein.

Am Morgen erwachte Michael als erster. Er lag da und betrachtete seine schlafende Frau: ihr Haar, das von der gestrigen Dusche und der Feuchtigkeit glatt und strähnig war; ihre Nasenflügel, die sich bei jedem Ausatmen wie nachzitternd fast unmerklich bewegten; das braune Muttermal unter ihrer rechten Brust, aus dem ein einzelnes goldenes Haar wuchs; ihre Haut, die weiß und weich war unter der feuchten Hitze. Endlich schlug sie die Augen auf. Lange sahen sie einander an. Dann zupfte sie ihn an den Haaren auf seiner Brust und sprang aus dem Bett.

»Stehen Sie auf, Rabbi, wir haben einiges vor. Ich möchte aus diesem Misthaufen eine Wohnung machen.«

Sie duschten wieder und entdeckten erst nachher, daß die frischen Handtücher noch im Kofferraum ihres Wagens lagen. So fuhren sie, tropfnaß, wie sie waren, in die Wäsche, und ließen sich von der Luft trocknen, während sie ein Frühstück aus Milch und Cornflakes aßen, die sie am vergangenen Abend gekauft hatten.

»Als erstes solltest du Leintücher besorgen«, sagte Leslie.

»Ich hätte gern auch ein ordentliches Bett. Und ein paar Möbel für die Eßnische «

»Sprich zuerst mit dem Eigentümer. Schließlich haben wir das Haus möbliert gemietet. Vielleicht wechselt er ein paar Stücke aus.« Sie zog überlegend die Brauen hoch. »Wieviel haben wir noch auf der Bank?

Für das Haus müssen wir neunzig Dollar im Monat zahlen, ihrem Brief zufolge.«

»Wir haben genug«, sagte er. »Ich rufe jetzt Ronald Levitt an, den Gemeindevorsteher, und frage ihn nach den jüdischen Geschäften hier in der Stadt. Schließlich kann ich das, was wir brauchen, auch bei den Leuten kaufen, die mein Gehalt bezahlen.«

Er rasierte sich, so gut es mit kaltem Wasser möglich war, zog sich an und küßte sie zum Abschied.

»Kümmere dich heute nicht um mich«, sagte sie. »Kauf ein, was wir brauchen, und laß es im Wagen, während du im Tempel zu tun hast.

Ich werde drüben auf dem Hauptplatz zu Mittag essen.« Nachdem er gegangen war, holte sie ihre alten Jeans und eine ärmellose Bluse aus dem Koffer und zog sie an. Sie strich ihr Haar mit einer Hand zurück und faßte es mit einem Gummiband zu einem Pferdeschweif zusammen. Dann machte sie Wasser heiß und kniete sich barfuß hin, um den Boden zu schrubben.

Im Badezimmer fing sie an, dann kam das Schlafzimmer an die Reihe, dann das Wohnzimmer. Sie war eben mit dem Küchenboden beschäftigt, als sie, mit dem Rücken zur Tür kniend, spürte, daß sie beobachtet wurde, und über die Schulter zurückblickte. Der Mann stand auf der hinteren Veranda und lächelte sie an. Sie ließ die Bürste in den Eimer fallen, stand auf und wischte sich die Hände an ihren Jeans ab.

»Bitte?« sagte sie unsicher. Er trug blau-weiß-gestreifte Leinenhosen, ein kurzärmeliges weißes Hemd, Krawatte und einen Panamahut, aber kein Jackett. Ich muß es Michael sagen, dachte sie, offenbar ist es hier ganz in Ordnung, ohne Rock zu gehen.

»Ich bin David Schoenfeld«, sagte er. »Ihr Vermieter.« Schoenfeld.

Sie erinnerte sich, daß er zum Gemeindeausschuß gehörte. »Kommen Sie weiter«, sagte sie. »Entschuldigen Sie, ich war so beschäftigt, daß ich Sie nicht klopfen gehört habe.«

Er lächelte, als er eintrat. »Ich habe nicht geklopft. Sie haben so hübsch ausgesehen, wie Sie so eifrig bei der Arbeit waren, ich wollte Ihnen einfach ein wenig zuschauen.«

Sie musterte ihn vorsichtig, spürte wie mit unsichtbaren Antennen, was da an männlicher Bewunderung auf sie zukam, aber sein Lächeln war freundlich und sein Blick distanziert.

In der Küche setzten sie sich. »Ich kann Ihnen leider nichts anbieten«, sagte sie. »Wir sind noch keineswegs eingerichtet.«

Er machte eine kleine abwehrende Geste mit der Hand, die den Hut hielt. »Ich wollte nur Sie und den Rabbiner in Cypress willkommen heißen. Wir sind Neulinge in diesen Dingen, wissen Sie.

Wahrscheinlich hätten wir ein Komitee bestellen sollen, das alles für Sie vorbereitet. Brauchen Sie irgend etwas?«

Sie lachte. »Ein anderes Haus. Dieses gehört zweifellos gründlich überholt.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte er. »Ich war vor dem Krieg das letztemal hier herinnen. Während ich in der Armee war, hat sich ein Gebäudemakler darum gekümmert. Ich habe Sie nicht so früh erwartet, sonst wäre alles fix und fertig gewesen.« Er betrachtete ihren Nacken, auf dem Schweißperlen standen. »Es gibt hier in der Gegend genug farbige Mädchen, die Ihnen diese Arbeit abnehmen können. Nachmittag schicke ich Ihnen eine her.« »Danke, das ist nicht notwendig«, sagte sie.

»Ich bestehe darauf. Ein Präsent des Hausherrn, zum Einstand.«

»Vielen Dank, aber ich bin wirklich beinahe fertig«, sagte sie mit Nachdruck.

Er wandte den Blick ab und lachte. »Na gut«, sagte er und rüttelte ein wenig an seinem Sessel, »dann lassen Sie mich wenigstens dieses Klappergestell auswechseln. Ich will sehen, was wir sonst noch in Sachen Möbel tun können.«

Er erhob sich, und sie begleitete ihn zur Tür. »Ja, noch etwas, Mr.

Schoenfeld«, sagte sie.

»Nun?«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch die Matratzen auswechseln könnten.«

Seine Lippen lächelten nicht - aber sie war froh, als er die Augen von ihrem Gesicht wandte.

»Mit Vergnügen«, sagte er, an seinen Hut greifend.

Am nächsten Tag schien ihnen die Zukunft schon nicht mehr unerträglich, auch nicht in ihren verschwiegenen Gedanken. Michael hatte Ronnie Levitt gegenüber das Fehlen einer bema erwähnt, und tags darauf erschien im Tempel ein Tischler, um nach den Angaben des Rabbiners an einem Ende des Raumes ein niedriges Podium zu zimmern. Klappstühle für den Betsaal und Möbel für das Büro wurden geliefert. Michael hängte seine gerahmten Diplome an die Wand und überlegte lange, wie er sein Arbeitszimmer einrichten sollte.

Vor dem Haus fuhr ein Möbelwagen vor, zwei Neger trugen den Großteil des alten Krams hinaus und ersetzten ihn durch ansprechende neue Stücke. Während Leslie eben Anweisungen für das Aufstellen der Möbel gab, erschien Sally Levitt zu einem Antrittsbesuch, und fünf Minuten später läuteten zwei weitere Damen der Gemeinde. Alle drei kamen mit Geschenken: einem Ananaskuchen, einer Flasche kalifornischem Sherry, einem Strauß Blumen.

Diesmal war Leslie schon bereit, Gäste zu empfangen. Sie bot den Sherry an, sie brachte geeisten Tee und schnitt den Kuchen auf. Sally Levitt war klein und dunkelhaarig, eine Frau mit üppigem Mund und jugendlich straffem Körper, den die Krähenfüße um ihre Augen Lügen straften. »Ich kann Ihnen eine Spinnerei sagen, wo Sie herrliche Vorhänge bekommen«, sagte sie zu Leslie, während sie den Raum mit Kennerblick taxierte. »Aus dieser Wohnung läßt sich was Großartiges machen.«

»Das glaube ich allmählich selber«, sagte Leslie und lächelte. Abends, als sie eben beim Kochen war, kamen ihr Schreibtisch und die Bücher aus New York.

»Michael«, rief Leslie, nachdem sie die Bücher ausgepackt und auf die Regale gestellt hatten, »hoffentlich können wir unser Leben lang hierbleiben!«

In dieser Nacht, auf den neuen Matratzen, liebten sie einander zum erstenmal in dem neuen Haus.

Am folgenden Sonntag wurde der Tempel Sinai feierlich seiner Bestimmung übergeben. Richter Boswell hielt die Festansprache und redete lang und wortreich über das jüdisch-christliche Erbe, die gemeinsame Ahnenreihe von Moses und Jesus und über den demokratischen Geist in Cypress, »der wie edler Wein die friedliche Luft von Georgia erfüllt und die Menschen als Brüder miteinander leben läßt, welcher Kirche sie auch angehören mögen«. Während er sprach, sammelte sich auf der anderen Straßenseite eine Gruppe farbiger Kinder, die kichernd herüberwiesen oder mit großäugig schweigender Neugier die weißen Leute auf dem gegenüberliegenden Gehsteig anstarrten.

»Ich betrachte es als ein Glück und eine Ehre«, schloß der Richter, »daß meine jüdischen Nachbarn mich eingeladen haben, an der Taufe ihres neuen Gotteshauses teilzunehmen.« Es folgte ein Augenblick der Stille, in dem er merkte, daß irgend etwas nicht ganz stimmte, aber dann setzte der Applaus ein, den der Redner strahlend entgegennahm. Während der Festakt noch seinen Lauf nahm, war Michael die Wagenkolonne aufgefallen, die langsam und stetig am Tempel vorbeifuhr. Aus Höflichkeit hatte er den Blick nicht vom Gesicht des Redners gewandt, und zum Abschluß der Feierlichkeit war es an ihm, den Segen zu sprechen. Aber als er damit zu Ende war, schaute er, gegen die blendende Sonne blinzelnd, über die Köpfe der sich zerstreuenden Menge. Die Wagenkolonne riß noch immer nicht ab.

Da kamen Fahrzeuge aller Marken und Modelle, manche mit Alabama-oder Tennessee-Kennzeichen, neue und alte Wagen, Laster und gelegentlich ein Cadillac oder ein Buick.

Ronnie Levitt steuerte auf ihn zu. »Rabbi«, sagte er, »die Damen haben drinnen für Kaffee gesorgt. Der Richter bleibt auch noch hier. Das ist eine gute Gelegenheit für ein Gespräch zwischen Ihnen beiden.«

»Was ist mit all diesen Autos los?« fragte Michael. »Wohin faren die?«

Ronnie lächelte. »Zur Kirche. Findet im Zelt statt. Ein Prediger hält ein Gebetsmeeting fünf Kilometer außerhalb der Stadt. Aus der ganzen Gegend strömen die Leute hin.«

Michael konnte den Blick nicht von den Wagen wenden, die immer noch am einen Ende der Straße auftauchten und am anderen verschwanden. »Der muß seine Sache aber verstehen«, sagte er und versuchte vergeblich, den Neid nicht erkennen zu lassen.

Ronnie zuckte die Schultern. »Ich glaube, manche von denen wollen einfach auch einmal auf dem Bildschirm sein«, sagte er. An diesem Freitagabend war der Tempel Sinai voll von Menschen, was Michael freute, aber nicht überraschte. »Heute werden sie kommen, weil es etwas Neues ist«, hatte er zu Leslie gesagt. »Aber wirklich zählen wird erst der Alltag.«

Sie begrüßten die Sabbat-Braut mit Inbrunst. Er hatte als seinen ersten Text eine Strophe aus dem »Lied des Vertrauens« gewählt, Psalm 11, 4.

Der HERR ist in seinem heiligen Tempel, des HERRN Stuhl ist im Himmel, seine Augen sehen darauf, seine Augenlider prüfen die Menschenkinder.

Er hatte die Predigt sorgfältig vorbereitet. Als er mit ihr zu Ende war, wußte er, daß seine Gemeinde ihm mit Anteilnahme gefolgt war. Dann sangen sie das Ain Kailohainu, und er hörte die Stimme seiner Frau aus allen anderen Stimmen heraus, und singend lächelte sie zu ihm auf von ihrem Platz in der ersten Reihe.

Nach dem Segen umdrängten sie ihn und sprachen ihm ihr Lob und ihre Glückwünsche aus. Die Frauen kochten in der Küche Tee und Kaffee und arrangierten Sandwiches und kleine Kuchen; der oneg schabat verlief ebenso erfolgreich wie der Gottesdienst. Ronnie Levitt dankte in einer kurzen Ansprache dem Rabbiner und den verschiedenen Komitees, die an der Gründung und feierlichen Eröffnung des Tempels mitgewirkt hatten. Er wies auf den mit Blumen bedeckten Tisch im Vorraum und sagte: »Unsere christlichen Nachbarn haben uns dies als Zeichen ihrer Freundschaft gesandt. Ich glaube, es wäre nun an uns, ihnen zu zeigen, daß wir ihre Freundschaft erwidern. Ich widme deshalb hundert Dollar pro Jahr für die Anfertigung von zwei Ehrenzeichen, die alljährlich von der Gemeinde des Tempels Sinai an zwei würdige Männer verliehen werden sollen.«

Applaus.

Dave Schoenfeld stand auf. »Ich möchte Ron meine Anerkennung für einen schönen Gedanken und eine großmütige Geste aussprechen und zugleich die ersten Anwärter für das Ehrenzeichen unserer Gemeinde vorschlagen: Richter Harold Boswell und Reverend Billy Joe Raye.«

Rauschender Applaus.

»Was haben sie für die Gemeinde getan?« fragte Michael die neben ihm sitzende Sally Levitt.

Sie senkte die langen Wimpern über die Augen, und ihr Flüstern klang rauh vor Bewunderung: »O Rabbi, das sind die zwei großartigsten Männer, die ich kenne! «

27

Nach dem Wunsch der Gemeinde sollte der Hebräisch-Unterricht nur am Sonntagvormittag stattfinden. Aber Michael bestand auf Kursstunden auch am Montag- und Mittwochnachmittag anschließend an den Pflichtschulunterricht, und nach schwacher Gegenwehr gab die Gemeinde nach. Das war die einzige Meinungsverschiedenheit, die Michael mit ihnen hatte, und sein bescheidener Sieg gab ihm ein Gefühl der Sicherheit.

Das soziale Leben der Kinds entwickelte sich überaus zufriedenstellend.

Sie versuchten es eher einzuschränken, da Michael oft auch abends und auf Abruf beschäftigt war. Sie lehnten die Mitgliedschaft von drei Bridgeclubs ab, und Leslie begann am Mittwochabend, während Michael ein Männer-Seminar über Judaismus hielt, mit Sally Levitt und sechs anderen Frauen Contract zu spielen.

Auf einer Cocktailparty, die Larry Wolfson anläßlich des Besuches seiner Schwester und seines Schwagers aus Chicago gab, wurde Leslie gefragt, was sie vor ihrer Ehe gemacht habe, und sie erzählte von ihrer Redaktionsarbeit.

»Wir könnten bei den News jemanden brauchen, der ordentlich schreiben kann«, sagte Dave Schoenfeld, während er von einem Tablett, das eben herumgereicht wurde, flink einen Gibson nahm. »New Yorker Honorare können wir natürlich nicht zahlen, aber es wäre nett, wenn Sie es versuchen wollten.«

»Ich nehme Sie beim Wort«, sagte sie. »Worüber darf man bei Ihnen nicht schreiben?«

»Sie können über alles schreiben, nur nicht über verfrühte Schwangerschaften und die Rolle der Schwarzen in den United Nations«, sagte er.

»Zu viele Tabus für mich«, sagte sie.

»Kommen Sie morgen vormittag in die Redaktion«, sagte er beim Weggehen. »Wir werden Ihren ersten Auftrag besprechen.«

Später, als sie zu Bett gingen, erzählte sie Michael von diesem Gespräch.

»Klingt nicht schlecht«, sagte er. »Wirst du's machen?«

»Ich glaube schon«, sagte sie. »Aber ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde. Sie sind hier so verdammt empfindlich in der Negerfrage.

Neulich beim Bridge haben sie sich eine halbe Stunde darüber den Mund zerrissen, wie unmöglich die Schwarzen seit dem Krieg geworden sind. Und es wäre ihnen nicht eingefallen, aus Rücksicht auf Lena Millmans Dienstmädchen leiser zu sprechen. Das arme Mädchen hat im Nebenzimmer weitergearbeitet, mit völlig unbewegtem Gesicht, als würden sie Hindostani sprechen.«

»Oder Jiddisch«, seufzte er. »Dabei haben einige von unseren Mitgliedern eine sehr anständige Einstellung in Rassenfragen.« »Privat.

Ganz privat. Sie sind so eingeschüchtert, daß sie sich nur darüber zu sprechen trauen, wenn alle Fenster zu sind. Sag einmal, Lieber - müßtest du diese Dinge nicht früher oder später von der Kanzel herab zur Sprache bringen?«

»Lieber später«, sagte er und schloß die Badezimmertür hinter sich.

Er hatte in der Frage der Rassenbeziehungen schon eine Niederlage hinnehmen müssen.

In einer schul in Brooklyn hätte ein frommer alter Jude den Posten des Gemeindedieners bekleidet und sein Amt als Vorwand für ein Leben in Gebet und Studium verwendet; der schamess des Tempels Sinai aber war ein feister Neger namens Joe Williams. Michael hatte von Anfang an bemerkt, daß der Abfalleimer nie ausgeleert, das Messing nie geputzt, der Boden nie aufgewaschen und gewachst war, wenn er es nicht ausdrücklich und wiederholt verlangte. Auch in anderen Dingen war Williams eher nachlässig, wie der säuerliche Geruch, den er verströmte, ebenso bewies wie die salzgeränderten Flecken, die sein Hemd unter den Achseln zierten.

»Wir sollten ihn hinauswerfen und uns jemanden anderen suchen«, hatte Michael dem Vorstand des Wirtschaftsausschusses, Saul Abelson, wiederholt vorgeschlagen.

Abelson lächelte nachsichtig. »Die sind einer wie der andere, Rabbi«, sagte er. »Der nächste wird genauso wenig taugen. Man muß jedem auf die Finger schauen.«

»Aber Sie können doch nicht abstreiten, daß man Tag für Tag bei uns auf der Straße saubere, freundliche und aufgeweckte Neger sieht.

Warum versuchen wir nicht, so jemanden zu finden?« »Sie verstehen das noch nicht«, sagte Abelson geduldig. »Wenn Joe faul gewesen ist, dann muß ich eben mit ihm sprechen.« Eines Tages hatte sich Michael wieder darüber geärgert, daß die silbernen Geräte nicht poliert waren, und er beschloß, den schamess in seiner Behausung aufzusuchen.

Der Keller war düster, es roch nach Feuchtigkeit und verrottetem Zeitungspapier.

Er fand Joe Williams in trunkenem Schlaf auf einer schmutzigen Armeedecke und schüttelte ihn. Der Mann murmelte etwas und leckte sich die Lippen, aber er wachte nicht auf. Neben dem Schlafenden lagen ein Heft und ein Bleistiftstummel. Michael hob das Heft auf. Er las nur eine einzige Zeile, die auf die erste Seite gekritzelt war: Der Nigger ist ein Meter achtzig groß, die Welt wie ein Zimmer von nur ein Meter zwanzig Höhe.

Er legte das Heft zurück auf seinen Platz und machte Joe Williams nie wieder einen Vorhalt.

Statt dessen sperrte er sich nun jeden Freitagnachmittag für eine halbe Stunde in seinem Arbeitszimmer ein, breitete Zeitungspapier über seinen Schreibtisch und machte sich mit Lappen und Putzmittel daran, den Silberkelch für den Sabbatwein rechtzeitig vor dem abendlichen Gottesdienst zu polieren. Und manchmal, während er verbissen sein Silber polierte und dabei das graue Putzmittel unter die Nägel bekam, hörte er aus dem Keller einen Schlag oder gelegentlich auch einen Fluch, die bewiesen, daß der schamess Joe Williams noch am Leben war.

Leslie schrieb für jede Nummer der News eine Story, leichte, humoristische Beiträge oder etwas Historisches mit allgemeinmenschlichen Aspekten. Sie erhielt dafür je sieben Dollar fünfzig Cents und sah ihren Namen gedruckt, was ihr Mann mit einem gewissen Respekt betrachtete.

Mit der Zeit wurde ihr Leben alltäglich, und sie waren es zufrieden. Die gewohnte Routine war so vorhersagbar geworden wie das Fallen der Blechenten in einer Schießbude, und beiden schien es, als wären sie schon immer miteinander verheiratet gewesen. Sie begann einen voluminösen Pullover für ihn zu stricken, ein Geschenk zu ihrem ersten Hochzeitstag, das er bald in einem leeren Schrank versteckt entdeckte und von Stund an geflissentlich übersah.

Mit dem Wechsel der Jahreszeit wechselten auch die Blätter die Farbe, aber sie brachten es nicht zu der leuchtenden Buntheit der Bäume am Hudson oder am Charles, nur zu einem zerknitterten Braun oder einem bleichsüchtigen Gelb. Dann kamen, an Stelle des Schnees ihres letzten Winters, die Regen - ungewohnte Regen für Michael und Leslie.

Eines Abends setzte der Regen sturzflutartig ein, als Leslie auf ihrem Weg in die Redaktion eben am Denkmal des Generals vorbeiging. Sie begann zu laufen und erreichte tropfnaß und atemlos das Zeitungsgebäude. In dem kleinen Redaktionszimmer war nur mehr Dave Schoenfeld anwesend, im Begriff, die Lichter abzudrehen und, wie seine Angestellten, nach Hause zu gehen. »Haben Sie nicht schwimmen gelernt?« sagte er grinsend.

Sie saß auf einem Schreibtisch, hielt den Kopf zur Seite geneigt und wand das Wasser aus ihren Haaren. »Der gesamte Atlantik ist soeben in fünfcentgroßen Stücken aus dem Himmel heruntergekommen«, sagte sie.

»Gute Nachricht«, erwiderte er. »Leider nach Redaktionsschluß. Wir werden uns das für Donnerstag aufheben müssen.«

Sie schlüpfte aus ihrem durchnäßten Mantel und rettete das Manuskript aus der Tasche. Ein paar Seiten waren naß geworden.

Sie strich sie auf einem Aktenschrank glatt und begann den Durchschlag einzurichten. Die Geschichte handelte von einem Mann, der dreißig Jahre lang als Bremser auf der Atlantic Coast Line gefahren war. Nach seiner Pensionierung, so hatte er ihr anvertraut, war er drei Monate lang betrunken gewesen und hatte unter der Obhut von treuen ehemaligen Kollegen in einem ausrangierten Küchenwagen auf einem Abstellgleis außerhalb von Macon gehaust.

»Aber das schreiben Sie bitte nicht«, hatte er sehr würdevoll erklärt,

»schreiben Sie einfach, daß ich drei Monate lang mit meinem Eisenbahnerausweis in der Weltgeschichte herumgefahren bin.« Und Leslie hatte es ihm versprochen, obwohl sie das dunkle Gefühl hatte, damit gegen die journalistischen Berufsnormen zu verstoßen.

Wieder nüchtern geworden, hatte der alte Mann aus purer Langeweile zu einem Stück Föhrenholz und einem Taschenmesser gegriffen und zu schnitzen begonnen. jetzt verkauften sich seine amerikanischen Adler schneller, als er sie produzieren konnte, und mit seinen achtundsiebzig Jahren war er immer noch in der Lage, etwas auf die Bank zu tragen.

Es war eine gute Story, und sie dachte ernsthaft daran, sie an Associated Press oder an North American Newspaper Alliance zu verkaufen und Michael mit dem Scheck zu überraschen. Sie korrigierte sehr sorgfältig und stöhnte leise, als der Bleistift das Durchschlagpapier an einer feuchten Stelle durchstieß.

Dave Schoenfeld trat herzu und blickte ihr einige Minuten lang mitlesend über die Schulter. »Das ist ja eine recht ordentliche Sache«, sagte er, und sie nickte.

»Unser Rabbiner ist jetzt abends oft außer Haus, nicht wahr?«

Sie nickte, immer noch lesend.

»Ein bißchen einsam, was?«

Sie hob die Schultern. »Habe ich mehr Zeit, solche Sachen zu schreiben.«

»Irn vorletzten Absatz ist ein Tippfehler«, sagte er. »Meißel, nicht Meißle.«

Sie nickte wieder und besserte es aus. Sie war so in ihre Arbeit vertieft, daß sie seine Hand erst nach einer Weile spürte. Aber da hatte er sich schon über sie gebeugt und verschloß ihr den Mund mit dem seinen. Sie stand völlig erstarrt, die Lippen aufeinandergepreßt, in den Händen noch immer den Bleistift und eine Manuskriptseite, bis er zurücktrat. »Nur keine Angst«, sagte er.

Sie suchte sorgfältig ihr Manuskript zusammen und ging zum Anzeigenschalter, wo ihr nasser Mantel lag. Nachdem sie ihn angezogen hatte, steckte sie die Story in die Tasche.

»Wann können wir uns treffen?« fragte er. Sie sah durch ihn hindurch.

»Du wirst dir's schon noch überlegen. Ich kann dir Sachen beibringen, an die du denken wirst.«

Sie wandte sich um und ging zur Tür.

»Von mir wird niemand was erfahren«, sagte er. »Aber deinen kleinen jüdischen Pfaffen, den kann ich fertigmachen auf eine Art, von der du dir nichts träumen läßt.«

Draußen ging sie sehr langsam durch den Regen. Sie glaubte nicht zu weinen, aber ihr Gesicht war plötzlich so naß, daß sie dessen nicht sicher war. Hätte sie die Story doch in der Redaktion gelassen!

Nun würde der arme Alte mit dem Taschenmesser und dem Schnitzholz vergeblich auf seinen Namen und sein Bild in der Zeitung warten.

Ihr Hochzeitstag fiel auf einen Sonntag, und sie mußten früh aufstehen, weil Michael um neun Uhr Unterricht im Tempel hatte.

So beschenkten sie einander beim Frühstück; er zog den neuen Pullover an, und sie war sehr glücklich mit den zur Gemmenbrosche passenden Ohrgehängen, die er schon vor Monaten für sie gekauft hatte.

Nach dem Mittagessen nahm Michael einen Rechen und begann die Beete im Vorgarten zu harken, wobei er kübelweise die welken Blätter entfernte. Ein Beet war schon gesäubert, das andere zur Hälfte, als die Autoprozession begann. Da er diesmal einen günstigen Platz und genügend Zeit hatte, ließ er die Blätter Blätter sein, lehnte sich auf den Rechen und sah zu. Meist saßen die Kranken im Fond.

Viele von ihnen hatten Krücken. Manche Wagen führten auf dem Verdeck oder im Kofferraum Rollstühle mit. Ab und zu kam auch ein gemieteter Krankenwagen vorüber.

Schließlich hielt er es nicht länger aus. Er ließ sein Werkzeug fallen und ging ins Haus. »Jetzt möchte ich einen Fernseher haben«, sagte er zu Leslie. »Nur um zu sehen, was an dem Kerl dran ist, daß er Sonntag für Sonntag solch einen Zulauf hat.«

»Es ist ja nur ein paar Kilometer«, sagte sie. »Warum fährst du nicht hinaus und schaust ihn dir an?«

»An unserem ersten Hochzeitstag?«

»So fahr doch«, sagte sie, »mehr als zwei Stunden wird es ja nicht dauern.«

»Ich tu's wirklich«, sagte er.

Er wußte zwar nicht, wo das Gebetsmeeting stattfand, aber es war leicht zu finden. Er wartete die erste Verkehrslücke ab und reihte sich mit seinem Wagen ein. Der Kurs führte über die kurvenreiche Straße, überquerte den Hauptplatz und führte zur anderen Stadtseite, durch das Negerviertel mit seinen baufälligen Häusern und abblätternden Hütten und hinauf auf die Autobahn. Dort traf er auf eine andere Autokolonne, die aus der Gegenrichtung herankam. In ihr bemerkte Michael nicht nur Georgia-Kennzeichen, sondern auch solche aus South und North Carolina. Schon lange bevor das geräumige Zelt in Sicht kam, bogen die Wagen von der Straße ab und holperten über die Äcker, eingewiesen von halbwüchsigen Negern oder weißen Farmerjungen mit Strohhüten, die neben ihren selbstgemachten Hinweistafeln standen und eine um so höhere Parkgebühr einhoben., je näher man dem Zelt kam: PARKING C 50.

PARK YOUR CAR C 75. PARK HERE $ 1,00

Einige Wagen, und Michael mit ihnen, fuhren auf der Autobahn weiter, bis sie zu der rotlehmigen Parkfläche kamen, die mit Bulldozern rund um das Kirchenzelt ausgepflügt worden war. Man fuhr durch eine schmale Öffnung ohne Seilsperre, gerade so breit wie ein Wagen; an der Sperre stand ein kahlköpfiger Mann in spiegelnden schwarzen Hosen, weißem Hemd und schwarzer Baumwollkrawatte.

»Der Herr segne Ihren Eingang, Bruder«, sagte er zu Michael. »Guten Tag.«

»Das macht zwei Dollar fünfzig.« »Zwei fünfzig - nur fürs Parken?«

»Wir tun unser Bestes, um diesen Platz für die Lahmen und Bresthaften freizuhalten. Und so heben wir zweieinhalb Dollar pro Wagen ein. Das Geld fließt der Predigerschaft der Heiligen Fundamentalisten zu, damit das Werk Gottes gefördert werde.

Wenn's Ihnen aber zuviel ist, dann können Sie zurückfahren und den Wagen im Acker parken.«

Michael warf einen Blick zurück. Die Straße hinter ihm wär total verstopft. »Ich bleibe«, sagte er. Dann fühlte er nach dem Geld in der Tasche und holte zwei Dollarnoten und ein Fünfzig-Cent-Stück heraus.

»Der Segen des Herrn sei mit Ihnen«, sagte der Mann, immer noch lächelnd.

Michael stellte den Wagen ab und machte sich auf den Weg zum Zelt. Gerade vor ihm lehnte ein kleiner magerer Junge mit teigigem Gesicht an einem Kotflügel und gab gurgelnde Laute von sich.

»Also paß auf, Ralphie Johnson, jetzt ist Schlug damit«, sagte eine Frau mittleren Alters, während sie sich über ihn beugte. »Da fahren wir nun so weit, und du fängst nur ein paar Schritte vor dem Heiligen Mann schon wieder mit deinen Dummheiten an! Sofort kommst du mit; hörst du! «

Das Kind begann zu weinen. »Kann nicht«, stammelte er. Seine Lippen hatten einen bläulichen Schimmer, als wäre er zu lange im Wasser gewesen.

Michael blieb stehen. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Wenn Sie ihn hineintragen könnten?« fragte die Frau zögernd. Als Michael ihn aufhob, schloß der Kleine die Augen. Das Zelt war beinahe schon voll. Michael setzte seine Last auf einem der hölzernen Klappstühle ab.

»Bedank dich schön bei dem guten Onkel«, sagte die Frau nachdrücklich. Aber die bläulichen Lippen regten sich nicht. Die Augen blieben geschlossen.

Michael nickte der Frau zu und ging.

Die vordersten Reihen waren komplett besetzt. So nahm er in der Mitte einer noch leeren Reihe im hinteren Drittel des Zeltes Platz.

Drei Minuten später war auch diese Reihe besetzt. Unmittelbar vor ihm saß ein fettes Weib, deren Kopf in krampfhaftem Rhythmus hin und her schaukelte, als würde er an einem Strick gezogen.

Links neben ihm saß ein Blinder in mittleren Jahren, ein Sandwich in seinen großen, von Arthritis deformans zu Klauen verkrümmten Händen.

Rechts von ihm saß eine gutgekleidete attraktive Frau, die normal und gesund wirkte, sich aber unablässig über die Brust strich. Jetzt wischte sie auch über Michaels Schulter.

»Joy«, sagte besänftigend die Frau neben ihr. »Laß doch den Herrn in Ruhe! «

»Aber die Ameisen!« sagte sie. »Er ist doch voller Ameisen.« »Aber laß doch, er hat Ameisen gern.«

Die Frau schnitt ein Gesicht. »Aber i c h nicht«, sagte sie, strich sich abermals über die Brust und schüttelte sich.

Das Zelt wurde nun sehr schnell voll. Ein vor Gesundheit strotzender Mann in weißem Leinenanzug kam den Mittelgang nach vorne. Ihm folgten zwei Neger mit einer Tragbahre, auf der ein gelähmtes, etwas zwanzigjähriges blondes Mädchen lag.

Ein Ordner stürzte auf sie zu. »Stellen Sie sie gleich im Mittelgang neben den Sitzen ab und bleiben Sie daneben sitzen. Die Eckplätze sind für diesen Zweck reserviert«, sagte er. Die Neger setzten die Bahre ab und entfernten sich. Der Mann griff in die Tasche und zog eine Banknote heraus.

»Der Herr segne Sie.«

An der Stirnseite des Zelts war eine Bühne mit Vorhang errichtet, und eine Rampe führte von der Bühne in den Zuschauerraum. Jetzt wurden zwei Fernsehkarren von Kameraleuten herausgefahren, die wie Jockeis auf ihnen ritten. Nachdem sie sie richtig eingestellt hatten, schwenkten sie damit über die Sitzreihen, und schon schwammen wie Schwärme von Fischen die Gesichter über die Bildschirme. Und die Leute sahen sich selber zu. Manche von ihnen pfiffen oder gestikulierten. Der Blinde lächelte. »Was ist denn da los?« fragte er, und Michael sagte es ihm. Jetzt trat ein hübscher dunkelhaariger junger Mann durch den Vorhang, eine Trompete in der Hand. Er trug kein Jackett, aber sein weißes Hemd war gestärkt, und seine blaue Seidenkrawatte war zum festen Windsorknoten gebunden. Das pomadisierte Haar war sorgfältig an die Schläfen geklebt, und seine Zähne strahlten nur so, wenn er lachte. »Ich heiße Cal Justice«, sagte er in das Mikrophon. »Manche von Ihnen werden mich besser kennen unter dem Namen Trompeter Gottes.« Beifall rauschte auf. »Billy Joe wird in wenigen Minuten hier sein. Bis dahin möchte ich Ihnen gern eine kleine Melodie vorspielen, die Sie alle kennen und lieben.«

Er spielte »The Ninety and Nine«, und er konnte spielen. Zunächst klang es langsam und melancholisch, aber in der Wiederholung wurde er schneller, und jemand begann, mit den Händen den Takt dazu zu schlagen, und schon klatschte und sang das ganze Zelt mit, ein Sklave der wilden, goldenen Führung dieser Trompetenstimme, die sich hoch über ihre eigenen Stimmen erhob. Das fette Weib vor Michael war zum menschlichen Metronom geworden, so perfekt schaukelte ihr Kopf im Takt des Händeklatschens.

Der Trompeter hatte starken und anhaltenden Applaus, der aber noch stärker wurde, als ein zweiter Mann in Hemdsärmeln durch den Vorhang auf die Bühne trat. Er war groß, breitschultrig, mit großem Kopf und schweren Händen; die Nase war fleischig, der Mund breit, die Augen waren von schweren Lidern bedeckt.

Der Trompeter verließ die Bühne. In ihrer Mitte stand nun der große Mann und lächelte, während das Volk unter ihm in die Hände klatschte und mit Geschrei sein Lob verkündete.

Jetzt hob er beide Hände zum Himmel, mit gespreizten Fingern. Der Lärm verstummte. Von oben senkte sich an seinem Galgen das Mikrophon herab, senkte sich, bis es vor dem Gesicht des Mannes war, nahe genug, daß der heisere übermenschliche Atem das ganze Zelt erfüllte.

»Halleluja«, sagte Billy Joe Raye. »Der Herr ist mit euch.« »Halleluja«, sprach das ganze Zelt ihm nach.

»A-men«, stammelte der Blinde.

»Der Herr ist mit euch«, sagte Billy Joe nochmals. »Sprecht es nun dreimal mit mir: Der Herr ist mit mir.«

»DER HERR IST MIT MIR.« »DER HERR IST MIT MIR.« »DER

HERR IST MIT MIR.« »So ist es gut«, sagte Billy Joe und nickte strahlend.

»Ich weiß, meine Brüder und Schwestern, weshalb ihr bierhergekommen seid. Ihr seid hierhergekommen, weil ihr krank seid an Leib und an Geist und an Seele, und weil ihr der heilenden Liebe Gottes bedürftig seid.« Stille und ein tiefes Aufatmen.

»Aber wißt ihr auch, weshalb i c h hier stehe?« fragte der Mund des Predigers von der Bühne, und mit ihm fragten zwei Dutzend Predigermünder aus zwei Dutzend Fernsehmonitoren.

»Um uns zu heilen! « schrie es neben Michael. »Um mich wieder gesund zu machen! «

»Um meinem Jungen das Leben zu retten«, kreischte eine Frau, stieß ihren Stuhl zurück und fiel auf die Knie.

»A-men«, sagte der Blinde.

»O nein«, sagte Billy Joe, »ich kann euch nicht heilen.« Eine Frau begann zu schluchzen.

»Sag das nicht! « schrie eine andere. »Das darfst du nicht sagen, hörst du! «

»Nein, Schwester, ich vermag dich nicht zu heilen«, sagte Billy Joe abermals. Noch mehr Leute begannen zu weinen.

»Aber GOTT ist es, der euch zu heilen vermag. Durch diese meine Hände.« Und er hielt sie empor, sämtliche Finger gespreizt, so daß jeder sie sehen konnte.

Da erwachte die Hoffnung von neuem in einem Sturm von Hosiannas.

»Denn der Herr ist allmächtig. Sprecht es mir nach«, sagte Billy Joe.

»DER HERR IST ALLMÄCHTIG.« »Er kann auch dich heilen.«

»ER KANN AUCH MICH HEILEN.« »Denn der Herr ist mit dir.«

»DENN DER HERR IST MIT MIR.«

»A-men«, flüsterte der Blinde, während ihm Tränen in die blicklosen Augen stiegen.

Tief und mit elektronisch verstärktem Gestöhn atmete Billy Joe auf.

»Auch ich war ein todgeweihtes Kind«, sagte er.

Abermals kam aus den Verstärkern der Radioatem, diesmal schwer und bekümmert.

»Schon streckte der Teufel die Klauen nach meiner Seele, schon machten die Würmer sich fertig, in meinem Fleische Verstecken zu spielen. An meinen Lungen zehrte die Schwindsucht, die Anämie zersetzte mir das Blut, und Mutter und Vater wußten, daß ich sterben würde. Auch ich wußte es, und ich fürchtete mich sehr.« Nun war es der Atem eines zu Tode gehetzten Hirsches, der zum letztenmal die Luft einzieht.

»Mein Pfad war der Pfad der Sünde gewesen, ich hatte mich dem billigen Schnaps, ja dem Spiele ergeben, wie weiland die Söldner, die da würfelten um die Gewänder des Herrn. Unzucht hatte ich getrieben mit liebestollen und kranken Weibern, die so geil waren wie die Große Hure Babylon. Aber eines Tages, als ich darniederlag in meinem Bett voll von Verzweiflung, fühlte ich, wie etwas Seltsames in mir geschah. Tief drinnen in mir begann sich etwas zu regen, sacht wie ein Küken, wenn es fühlt, daß die Zeit gekommen ist, die harte Eierschale zu durchbrechen.

Es prickelte in meinen Fingerspitzen und in meinen Zehen, und wo ich die ersten Regungen verspürt hatte, breitete sanfte Wärme sich aus, wie kein von Menschen gebrannter Whisky sie geben kann, und ich fühlte das Licht Gottes ausbrechen aus meinen Augen, und ich sprang aus meinem Bett und rief laut in all meiner Seligkeit und WUNDERBAREN GESUNDHEIT:

>MAMMI! PAPPI Der Herr hat mich berührt! ICH BIN

GERETTET!<«

Ein Beben der Hoffnung und des Glücks ging durch das Zelt, und die Menschen hoben die Augen zu ihrem Gott und dankten ihm.

Neben dem fetten Weib saß ein junger Mann, dessen Wangen naß von Tränen waren. »Bitte, lieber Gott«, sprach er vor sich hin. »Bitte.

Bitte. Bitte. Bitte. Bitte. Bitte.«

Michael hatte den jungen Mann erst jetzt bemerkt, und mit einem Gefühl dumpfer Unwirklichkeit erkannte er in ihm Dick Kramer, ein Mitglied der Gemeinde des Tempels Sinai.

Gütig blickte Billy Joe von seiner Bühne auf die Zuhörer herab. »Von diesem Tag an predigte ich das Wort Gottes, obwohl ich damals noch ein Knabe war. Zuerst auf Meetings landauf und landab, später, wie einige von euch guten Leuten wissen, als Seelsorger der Heiligen Kirche der Fundamentalisten in Whalensville.

Und bis vor zwei Jahren dachte ich nicht daran, daß ich noch irgend etwas anderes sein könnte als ein Prediger des heiligen Wortes.

Damals planierten einige von unseren Männern auf einem Stück Grund hinter der Kirche ein Baseballfeld für die Kinder der Sonntagsschule. Und Bert Simmons war aus purer Herzensgüte mit seinem leichten Traktor gekommen und ebnete die Erdhügel ein.

Plötzlich bockte der Traktor vor einem Stein, nicht größer als ein Bienenstock, kippte um und begrub Bruder Simmons' Hand unter seinem schrecklichen Gewicht.

Als sie mich aus der Kirche holten, sah ich Blut aus seinem Arbeitshandschuh strömen. Wir hoben den Traktor weg, und ich brauchte nur den zerquetschten und flachgedrückten Handschuh anzuschauen, um zu wissen, daß man Bert die Hand werde abnehmen müssen. Da kniete ich nieder in der frisch aufgeworfenen Erde und hob meine Augen zum Himmel und sprach: >O Herr, muß dieser treue Diener dafür bestraft werden, daß er geholfen hat bei Deinem Werk?< Und plötzlich zuckte es in meinen Händen, und ich fühlte Kraft in ihnen, Wellen und Funken schossen aus meinen Fingerspitzen, als wären sie mit Elektrizität geladen, und ich nahm Bruder Simmons' zerschmetterte Hand in meine Hände, und ich sprach: >Herr, heile diesen Mann!<

Und als Bruder Simmons seinen Handschuh auszog, war seine Hand heil und unverletzt, und ich konnte nicht leugnen, daß ein Wunder geschehen war.

Und ich glaubte die Stimme Gottes zu hören, die zu mir sprach:

>Mein Sohn, einst habe ich dich geheilt. Gehe nun hin und trage meine Heilkraft zu allen Menschen.<

Und seit damals hat der Herr Tausende durch meine Hände geheilt.

Durch seine Güte machte er die Lahmen gehen, die Blinden sehend und befreite die Leidenden von der Last ihrer Schmerzen.«

Billy Joe neigte das Haupt.

Eine Orgel begann leise zu spielen. Er blickte wieder auf.

»Ich bitte nun jeden in diesem Raum, die Lehne des vor ihm stehenden Stuhls zu berühren und das Haupt zu beugen.

Los, herunter mit den Köpfen, ihr alle.

Jetzt möge jeder, der in seinem Herzen Jesus Christus zu empfangen wünscht, die Hand erheben. Laßt die Köpfe unten, aber hebt die Hand.«

Michael sah vielleicht fünfundzwanzig erhobene Hände. »Jubelt und freuet euch, meine Brüder und Schwestern«, sprach Billy Joe.

»Hunderte von Händen weisen in diesem Zelt aufwärts zu Gott. Nun steht alle auf, die ihr die Hand erhoben habt. Wer die Hand erhoben hat, steht jetzt auf, schnell.

Tretet jetzt vor, und wir sprechen ein besonderes Gebet.«

Zwölf oder fünfzehn Leute, Männer, Frauen, drei halbwüchsige Mädchen und ein Junge, traten vor zur Bühne. Sie wurden von einem Helfer des Predigers hinter einen Vorhang geführt.

Dann schritt Billy Joe, von Orgelklängen begleitet, im Mittelgang auf und ab und betete über den Kranken auf den Bahren. Inzwischen reichte eine Gruppe von Ordnern die Sammelteller herum, während eine andere Karten an jene ausgab, die den Wundertäter zu sprechen wünschten. Überall im Zelt begannen die Leute, diese Karten zu unterschreiben.

Der Blinde bat: »Können Sie mir bitte zeigen, wo«, und während er unterschrieb, las Michael die Karte. Damit erteilte der Unterzeichnete die Genehmigung, sein Bild in Zeitschriften oder über das Fernsehen zu publizieren.

Cal Justice und der unsichtbare Organist spielten noch »The King of Love My Shepherd Is« und »Rock of Ages«, dann stand Billy Joe wieder auf der Bühne. »Jetzt bitte ich Sie, sich im Mittelgang aufzustellen und geduldig zu warten, bis Sie an die Reihe kommen«, sagte er. »Wir werden gemeinsam zu Gott beten um Erlösung von allen Ihren Leiden.«

Überall im Zelt erhoben sich die Leute.

Auch Dick Kramer stand auf. Er schaute um sich und wartete, ob nicht auch andere aus seiner Reihe vortreten würden; dabei begegnete sein Blick dem des Rabbiners.

Einen Augenblick lang sahen sie einander an, und irgend etwas an dem Gesichtsausdruck des jungen Mannes ließ Michaels Atem stocken. Dann drängte Dick sich blindlings durch zum Mittelgang, wobei er mit dem Ellbogen das dicke Weib in die Seite stieß.

Indigniert setzte sie sich wieder hin.

»Dick! « rief Michael ihm nach. »Warten Sie auf mich! « Er bahnte sich nun selbst seinen Weg zum Mittelgang und entschuldigte sich nach allen Seiten bei den in seiner Reihe sitzenden Leuten.

Schließlich aber war ihm der Weg durch die Bahre des gelähmten Mädchens verstellt. Der Mann in weißem Leinenanzug beugte sich über sie. »Verdammt noch mal, Evelyn«, murmelte er mit hilflos schlaffen Lippen, »beweg dich doch. Du kannst, wenn du nur willst.«

Bebend wandte er sich an den Ordner. »Gehen Sie zu Mr. Raye und sagen Sie ihm, er soll, zum Teufel, sofort kommen und noch ein bißchen beten.«

28

An einem Herbstmorgen in den Föhrenwäldern bei Athens hatte Dick Kramer zum erstenmal gemerkt, daß er vielleicht doch nicht mit heiler Haut davongekommen war. Er und sein Cousin Sheldon hatten mit ihren Hunden systematisch die Hügel durchstreift. Die beiden gehörten zu den besten Schützen der Universität und waren daher vom Hauskomitee ihrer Studentenverbindung von weniger beliebten Pflichten befreit worden, um für die Küche der Verbindung Schnepfen und Wachteln zu jagen. Die beiden jungen Leute waren seit langem Jagdkonkurrenten, und zur Zeit fühlte sich Dick besonders gut in Form. Er hatte aus der Richtung, in der er Sheldon vermutete, bis jetzt nur drei Schüsse gehört, und er wußte, daß er weit im Vorsprung war, selbst wenn jeder Schuß einen Treffer bedeutet haben sollte. Es war sein erster Versuch mit einem neuen Zwanziger-Browning; seine frühere Waffe war ein Sechzehner gewesen, und er hatte gefürchtet, er werde mit dem kleineren Kaliber Schwierigkeiten haben. Aber schon trug er ein Schnepfenpaar und zwei Wildtauben in seiner Jagdtasche, und während er sich noch im Gedanken daran erwärmte, flatterte eine weitere Taube mit schwerem Flügelschlag vor ihm auf gegen den blauen Himmel, und er hob das Schießeisen genau im richtigen Augenblick an die Schulter, drückte präzis auf den Abzug, spürte den Rückstoß und sah den aufsteigenden Vogel innehalten und dann wie einen Stein zu Boden fallen. Der Hund holte die Taube, und Dick nahm sie ihm ab und tätschelte den Hund und langte in seine Tasche. Seine Hand - die rechte - umfaßte ein Stück Zucker, aber als er sie aus der Tasche zog, wollten sich die Finger nicht öffnen, um Red seinen Lohn zu geben.

Sheldon kam über den Hügel herangeschlendert, ärgerlich dreinblickend und gefolgt von der keuchenden und geifernden alten Bessie. »Du Halunke«, sagte er. »Das reicht, die Burschen werden ein paar Bohnendosen aufmachen müssen.« Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn. »Ich hab nur zwei. Und du?« Dick hielt noch immer die Taube in der Hand, die er dem Hund soeben aus dem Maul genommen hatte. Er glaubte zu antworten: »Die da und noch vier.« Aber sein Cousin sah ihn mit verständnislosem Grinsen an.

»Wie?«

Er wiederholte den Satz, und das Grinsen wich von Sheldons Gesicht. »Hallo, Dick, was ist denn, fehlt dir was, mein Junge?«

Er sagte noch irgend etwas, und Sheldon faßte ihn am Ellbogen und schüttelte ihn ein wenig. »Was ist denn los, Dickie?« sagte er. »Du bist weiß wie ein Leintuch. Jetzt setz dich einmal, aber sofort.«

Er setzte sich auf die Erde, und der Hund kam und beschnüffelte sein Gesicht mit seiner kalten Nase, und nach ein paar Minuten konnte er die Finger wieder öffnen und dem Hund den Zucker geben. Die Hand blieb merkwürdig gefühllos, aber davon sagte er Sheldon nichts. »Ich glaube, es geht schon wieder«, behauptete er.

Sheldon schien erleichtert, als er Dicks Stimme hörte. »Ist dir wirklich besser?« fragte er.

»Ja.«

»Trotzdem«, sagte Sheldon, »gehen wir lieber nach Hause.«

»Warum so früh?« protestierte Dick. »Es geht mir ausgezeichnet.«

»Sag, Dickie - vor ein paar Minuten, wie dein Gesicht so bleich geworden ist -, kannst du dich erinnern, daß du da etwas zu mir gesagt hast?«

»Ja. Ich glaube schon. Warum?«

»Weil es ... völlig unverständlich war. Ohne Zusammenhang.« Er spürte einen Anflug von Angst, kaum merklich, wie ein lästiges Insekt, das er mit einem Lachen verscheuchte. »Hör auf, du willst mich ins Bockshorn jagen, nicht wahr?«

»Nein, im Ernst.«

»Na schön, jetzt geht's mir wieder gut«, sagte er. »Und du hast mich ja schließlich verstanden.«

»Du hast keine Beschwerden gehabt in letzter Zeit - oder?« fragte Sheldon.

»Herr Gott, nein! « sagte Dick ungeduldig. »Jetzt sind es fünf Jahre seit dieser Operation. Ich bin gesund wie ein Roß, und du müßtest das eigentlich wissen. Wann wollt ihr endlich aufhören, mich als Kranken zu behandeln?«

»Ich möchte, daß du zum Arzt gehst«, sagte Sheldon.

Er war ein Jahr älter als Dick, fast so etwas wie ein großer Bruder.

»Wenn dir davon leichter wird, na bitte«, sagte Dick. »Schau dir das an.« Er streckte den rechten Arm aus: nicht das geringste Zittern.

»Nerven aus Stahl«, sagte er mit einem Grinsen. Aber während er mit Sheldon und den Hunden durch den Wald zum Wagen ging, merkte er, daß die Taubheit in den Fingern immer noch anhielt.

Am nächsten Morgen suchte er den Arzt auf und erzählte dem alten Doktor, was passiert war.

»Sonst haben Sie keine Beschwerden gehabt?«

Er zögerte, während der Doktor ihn abschätzend ansah. »Sie haben abgenommen, nicht wahr? Steigen Sie auf die Waage.« Neun Pfund weniger. »Sonstige Schmerzen haben Sie keine gehabt?«

»Vor ein paar Monaten ist mir der Knöchel angeschwollen, aber das hat nur ein paar Tage gedauert. Und auch Schmerzen hier herum«, und er zeigte auf die rechte Leistengegend. »Wahrscheinlich zu fleißig bei den Mädchen gewesen«, sagte der Arzt, und beide grinsten. Trotzdem griff er zum Telephon und meldete Dick im Emory University Hospital in Atlanta zur Untersuchung und Beobachtung an.

»Ausgerechnet am Tag vom Alabama-Match! « jammerte Dick. Aber der Doktor nickte nur.

Im Krankenhaus vermerkte der aufnehmende Arzt für die Krankengeschichte, der Patient sei ein gutentwickelter zwanzigjähriger Mann von etwas bleicher Gesichtsfarbe, mit rechtsseitiger Facialschwäche und stockender Sprechweise. Er erwärmte sich für den Fall, als er feststellte, daß die Krankengeschichte interessant war. Es ging aus ihr hervor, daß an dem Patienten im Alter von fünfzehn Jahren eine Probeexzision vorgenommen worden war, die zur Entdeckung eines Pankreaskarzinoms führte. Der Zwölffingerdarm, der distale Teil des Gallenganges und der obere Teil der Bauchspeicheldrüse waren entfernt worden.

»Man hat Ihnen schon als Kind ein bißchen Bauchweh herausgeschnitten, nicht?« sagte er. Dick nickte lächelnd.

Die Hand des Patienten war nicht mehr gefühllos. Außer einem rechtsseitigen Babinski ergab die neurologische Untersuchung nichts.

»Komme ich hier noch rechtzeitig weg, um das Spiel zu sehen?« fragte Dick.

Der Doktor zog die Stirn kraus. »Das kann ich jetzt noch nicht sagen«, meinte er. Mit dem Stethoskop war ein leichtes systolisches Nebengeräusch zu hören. Er forderte den Patienten auf, sich hinzulegen, und tastete dann seinen Bauch ab. »Glauben Sie, daß wir Alabama heuer schlagen werden?« fragte er.

»Der kleine Stebbins wird sie ganz schön fertigmachen«, sagte Dick.

Die Finger des Arztes lokalisierten ein festes, unregelmäßiges Gebilde zwischen Nabel und Brustbein, etwas links von der Mitte, das die Aorta zu überlagern schien; denn mit jedem Herzschlag pulsierte auch dieses Gebilde, als schlügen zwei Herzen in dem Körper unter den Händen des Arztes.

»Ich würde das Match selber gern sehen«, sagte er.

Sheldon besuchte ihn, auch ein paar Kollegen von der Universität kamen, und Betty Ann Schwartz in einem enganliegenden weißen Angorapullover. Da während ihres Besuchs gerade niemand anderer da war, mußte er sie immerzu anschaun, und ihr Anblick erregte ihn.

»Laß dir nichts einreden«, sagte er, »man kriegt hier nichts in den Kaffee.«

Eigentlich hatte er erwartet, daß sie diese Bemerkung überhören werde, aber sie sah ihm direkt in die Augen und lächelte, als hätte ihr sein Ausspruch gefallen. »Vielleicht wäre da eine Krankenschwester das Richtige«, sagte sie, und er nahm sich vor, sich gleich nach seiner Entlassung mit ihr zu verabreden.

Am fünften Abend seines Krankenhausaufenthalts kam Onkel Myron zu Besuch.

»Wozu hat Sheldon dich herzitiert?« fragte Dick verärgert. »Ich fühle mich doch sauwohl.«

»Das ist auch kein Krankenbesuch«, sagte Myron, »sondern eine geschäftliche Besprechung.« Viele Jahre lang hatten Myron Kramer und sein Bruder Aaron das gleiche Geschäft in verschiedenen Städten betrieben - sie erzeugten Speisezimmereinrichtungen in Hartholz. Aber da Myron in Emmetsburgh und Aaron in Cypress arbeitete, konnten sie als Brüder, doch ohne voneinander geschäftlich abhängig zu sein, aus Ersparungsgründen dieselben Entwürfe verwenden und ihre Erzeugnisse durch einen gemeinsamen Vertreter auf der nationalen Möbelmesse lancieren lassen. Nachdem Aaron vor zwei Jahren einem Herzinfarkt erlegen war, hatte Myron die Leitung der Firma übernommen, im Hinblick darauf, daß Dick nach Abschluß seiner Universitätsstudien seine Eigentümerrechte antreten werde.

»Ist etwas nicht in Ordnung mit dem Geschäft, Onkel Myron?« fragte Dick.

»Aber nein, alles ist in Ordnung«, sagte der Onkel, »das Geschäft geht ausgezeichnet.« Und sie unterhielten sich über Fußball, wovon Kramer der Ältere so gut wie nichts verstand.

Myron Kramer suchte vor seiner Abreise aus Atlanta den Arzt seines Neffen auf. »Seine Mutter starb, als er noch klein war. Krebs.

Mein Bruder ist vor ein paar Jahren dahingegangen. Herz. Ich bin also der einzige nahe Verwandte. Ich bitte Sie, mir zu sagen, wie es um den Jungen steht.«

»Ich fürchte, wir haben es mit einer Neubildung zu tun.« »Erklären Sie mir bitte, was das bedeutet«, sagte Myron geduldig. »Ein Gewächs in der Brusthöhle, hinter dem Herzen.«

Myron verzog das Gesicht und schloß die Augen. »Können Sie ihm helfen?«

»Ich weiß nicht, wie weit - bei einem Tumor dieser Art«, sagte der Arzt vorsichtig. »Und möglicherweise ist das nicht der einzige.

Vorgeschrittener Krebs tritt nur selten an einer einzigen Stelle auf.

Wir müssen vorerst feststellen, ob noch andere Neubildungen im Körper vorhanden sind.«

»Werden Sie es ihm sagen?«

»Nein, zumindest jetzt noch nicht. Wir werden zuwarten und ihn beobachten.«

»Und wenn wirklich noch ... andere Dinge da sind?« fragte Myron.

»Wie wollen Sie das feststellen?«

»Wenn es sich wirklich um Metastasen handelt«, sagte der Arzt,

»dann wird sich das nur zu bald herausstellen, Mr. Kramer.« Am neunten Tag wurde Dick aus dem Krankenhaus entlassen. Zuvor versorgte ihn der Arzt noch mit größeren Mengen verschiedener Vitamintabletten und Pankreasfermente. »Die werden Sie wieder auf die Beine bringen«, sagte er. Dann gab er ihm noch ein Fläschchen voll rosa Kapseln. »Das ist Darvon. Wenn Sie Schmerzen haben, nehmen Sie eines davon. Alle vier Stunden.«

»Ich habe keine Schmerzen«, sagte Dick.

»Ich weiß«, sagte der alte Doktor. »Aber es ist gut, sie bei der Hand zu haben, für alle Fälle.«

Dick hatte sechs Vorlesungstage versäumt und eine Menge nachzuholen. Vier Tage lang büffelte er unaufhörlich, aber dann ging ihm der Atem aus. Am Nachmittag rief er Betty Ann Schwartz an, aber sie war schon verabredet.

„Wie wär's mit morgen abend?«

»Das tut mir aber leid, Dick, ich hab auch für morgen schon eine Verabredung.«

»Na schön, kann man nichts machen.«

»Dick, das ist keine Abfuhr, wirklich nicht. Ich möchte so gern mit dir ausgehen. Wie wär's mit Freitag, da hab ich noch gar nichts vor.

Da können wir alles unternehmen, was du magst.«

»Alles?«

Sie lachte. »Fast alles.«

»Ich halte mich an die erste Aussage. Abgemacht.«

Am nächsten Nachmittag war er zu unruhig, um zu lernen. Obgleich er wußte, daß er sich das nach einer versäumten Woche nicht leisten konnte, schwänzte er zwei Vorlesungen und fuhr hinaus zum Angel-und Jagdklub, wo ein Tontauben-Schießen stattfand. Zum erstenmal verwendete er sein neues Schießeisen in einem Wettbewerb und traf achtundvierzig von den fünfzig Tontauben, stand im warmen Sonnenlicht und knallte sie eine nach der andern ab und holte sich den ersten Preis. Auf der Heimfahrt stellte er fest, daß irgend etwas fehlte, und er fragte sich irritiert, was es wohl sein könnte.

Schließlich fand er mit einem traurigen Lachen heraus, was es war: die gehobene Stimmung, die sonst immer mit einem Sieg verbunden gewesen war. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich nicht gehoben, sondern niedergeschlagen. In der rechten Leistengegend machte sich ein leises Pochen bemerkbar.

Bis zwei Uhr früh hatte es sich zu einem Schmerz ausgewachsen. Er stand auf, holte die Flasche mit den rosa Kapseln aus der Schreibtischlade, betrachtete das eine Darvon in seiner Hand. »Geh zur Hölle«, sagte er, tat die Kapsel in die Flasche zurück und verräumte die Flasche in seinen Kasten, unter die Unterhosen. Er nahm zwei Aspirin, und der Schmerz hörte auf.

Zwei Tage später kam er wieder.

Am Nachmittag ging er mit dem Hund in die Wälder auf Vogeljagd, aber er kehrte unverrichteterdinge zurück, weil seine Hände so gefühllos wurden, daß er nicht laden konnte.

In der Nacht nahm er ein Darvon.

Freitag früh ging er ins Spital. Betty Ann Schwartz besuchte ihn am Abend, aber sie konnte nicht lange bleiben.

Der alte Arzt sagte ihm so zartfühlend wie möglich die Wahrheit.

»Werden Sie operieren, wie schon einmal?« fragte Dick.

»Die Sache liegt jetzt anders«, sagte der Arzt. »Es gibt etwas Neues, womit sie schon einigen Erfolg gehabt haben. Gelbkreuz, das Zeug, das man im Gaskrieg verwendet hat. Jetzt setzt man es gegen den Krebs ein, nicht gegen Soldaten.«

» Wann wollen Sie mit der Behandlung beginnen?« »Sofort.«

»Hat es Zeit bis morgen?«

Der alte Arzt zögerte einen Augenblick und sagte dann lächelnd: »Aber natürlich. Machen Sie einen Tag Urlaub.«

Dick verließ das Krankenhaus vor dem Mittagessen und fuhr fast hundert Kilometer bis Athens. Vor einer Imbißstube hielt er an, aber er war nicht hungrig und ging, statt zu bestellen, direkt in die Telephonzelle, um Betty Ann Schwartz im Haus ihrer Studentenverbindung anzurufen. Er mußte warten, bis man sie aus dem Speisesaal geholt hatte. Ja, sagte sie, sie sei am Abend frei, und mit Vergnügen.

Er wollte keinem seiner Kollegen begegnen, und er hatte den ganzen Nachmittag totzuschlagen. So ging er ins Kino. Es gab drei Kinos für Weiße in Athens, und zwei davon zeigten Horror-Filme. Im dritten spielte man The Lost Weekend, was er schon gesehen hatte. Trotzdem ließ er es noch einmal über sich ergehen, aß kaltes fettes Popcorn und verkroch sich im Dunkel in den muffig riechenden Plüschsessel.

Beim erstenmal hatte ihm der Film gefallen, aber beim zweitenmal erschienen ihm die dramatischen Stellen trivial, und er fand Ray Milland lächerlich, wie er da mit der Suche nach versteckten Schnapsflaschen die Zeit verschwendete, in der er Jane Wyman hätte umlegen und Stories für The New Yorker hätte schreiben können.

Nach dem Kino war es immer noch zu früh. Er kaufte eine Flasche Bourbon, fühlte sich dabei wie Milland, und fuhr dann aus der Stadt hinaus. Er suchte bedachtsam und fand einen idealen Parkplatz im Wald, mit Blick über den Oconee River, und da hielt er an und blieb einfach sitzen. Der Schmerz war jetzt sehr arg, und er fühlte sich elend und schwach. Das kam davon, sagte er sich, daß er nichts als das blödsinnige Popcorn im Magen hatte, und er ärgerte sich darüber, daß er manchmal so ein gottverdammter Idiot war.

Als er Betty Ann schließlich abholte, führte er sie zunächst in ein gutes Restaurant, das sich Max's nannte, und sie tranken erst einige Aperitifs und aßen dann zu zweit einen köstlichen Nierenbraten. Nachher gab es Brandy. Vom Restaurant fuhr er geradenwegs zu dem Parkplatz am Fluß. Er holte den Bourbon hervor, und sie hatte nichts dagegen, daß er die Flasche öffnete. Sie nahm einen langen Schluck und reichte ihm die Flasche, und er tat es ihr nach. Er schaltete das Radio ein, fand Musik und stellte den Apparat auf leise, und sie nahmen noch einen Schluck. Dann begann er sie zu küssen und fand keinen Widerstand bei ihr, nur Entgegenkommen. Er spürte ihre kleinen saugenden Küsse auf Gesicht und Nacken und wußte plötzlich mit ungläubigem Staunen, daß es das war, worauf er gewartet hatte, daß es endlich geschehen sollte - aber als es soweit war, reagierte er nicht, wie er erwartet hatte und wie von ihm erwartet wurde. Nichts geschah, und schließlich gaben sie ihre Versuche auf.

»Ich glaube, du solltest mich jetzt nach Hause bringen«, sagte sie und zündete eine Zigarette an.

Er ließ den Motor an, legte aber keinen Gang ein. »Ich möchte es dir erklären«, sagte er.

»Du brauchst gar nichts erklären«, sagte sie.

»Es ist etwas nicht in Ordnung mit mir«, sagte er.

»Das habe ich bemerkt.«

»Nein, etwas Ernstes. Ich habe Krebs.«

Sie schwieg und rauchte. Dann sagte sie: »Willst du mich frotzeln? Ist das eine neue Masche?«

»Es wäre sehr wichtig für mich gewesen. Vielleicht wärest du die einzige geblieben - wenn ich sterbe.«

»Mein Gott«, sagte sie leise.

Seine Hand griff zum Schalthebel, aber ihre Fingerspitzen berührten ihn zart. »Willst du's noch einmal versuchen?«

»Ich glaube nicht, daß es was nützen würde«, sagte er. Aber er stellte den Motor ab. »Ich würde gern wissen, wie eine Frau wirklich aussieht«, sagte er. »Darf ich dich sehen?«

»Es ist dunkel«, flüsterte sie, und er schaltete die Armaturenbrett-Beleuchtung ein.

Sie hob die Beine auf den Sitz und lehnte sich zurück, mit fest geschlossenen Augen. »Rühr mich nicht an«, sagte sie.

Nach einer Weile startete er neuerlich, und als sie spürte, daß der Wagen sich zu bewegen begann, nahm sie die Beine wieder herunter. Sie hielt die Augen geschlossen, bis sie schon auf halbem Weg nach Hause waren, und wandte sich ab von ihm, während sie sich fertig ankleidete.

»Magst du Kaffee trinken?« fragte er bei einem Restaurant. »Nein, danke«, sagte sie.

Als sie zu dem Studentenhaus kamen, in dem sie wohnte, versuchte er nochmals zu sprechen, aber sie hörte nicht zu. »Leb wohl«, sagte sie. »Viel Glück, Dick.« Sie öffnete die Wagentür und schlüpfte hinaus, und er blieb sitzen und sah ihr nach, wie sie auf das Haus zulief, über die Stufen und durch die geräumige Veranda, sah ihr nach, bis die Tür hinter ihr zuschlug.

Er hatte keine Lust, in sein Studentenheim zu gehen, und es wäre zu dumm gewesen, in einem Hotel zu übernachten; so fuhr er zurück ins Krankenhaus.

Dort blieb er die nächsten zehn Tage.

Eine hübsche kleine Krankenschwester mit wildem dunklem Haar spritzte ihm das Medikament intravenös. Am ersten Tag hatte er mit ihr gescherzt und nur Augen für ihren schönen Körper gehabt und gehofft, daß sein Versager vom vergangenen Abend eine einmalige Schwäche gewesen sei, eine vorübergehende psychisch bedingte Störung und nicht eine Begleiterscheinung seiner Krankheit. Am dritten Tag merkte er nicht einmal mehr, ob sie im Zimmer war.

Das Gelbkreuz verursachte ihm Durchfall und elende Übelkeit im Magen.

Der alte Arzt kam und verordnete eine neue Dosierung, aber auch von der geringeren Dosis wurde ihm übel.

Onkel Myron kam dreimal die Woche abends nach Atlanta und saß nur an seinem Bett, ohne viel zu reden.

Einmal kam auch Sheldon. Er schaute Dick unentwegt an, stotterte schließlich etwas von bevorstehenden Prüfungen, ging und kam nicht wieder.

Am Abend des zehnten Tages wurde er entlassen. »Sie müssen zweimal die Woche zur ambulanten Behandlung kommen«, sagte der Alte.

»Er wird bei mir wohnen«, sagte Onkel Myron.

»Nein«, sagte Dick. »Ich gehe zurück an die Universität.« »Ich fürchte, das kommt jetzt nicht in Frage«, sagte der Arzt. »Bei dir wohnen kommt aber auch nicht in Frage«, erklärte er Myron. »Dann gehe ich nach Cypress. Ich laß mich nicht als Kranken behandeln.«

»Was ist los mit dir? Was denkst du dir eigentlich?« fragte Myron.

»Warum mußt du so eigensinnig sein?«

Aber der Doktor verstand ihn. »Lassen Sie ihn in Ruhe. Er wird es ganz gut allein schaffen - wenigstens noch für kurze Zeit«, sagte er zu Myron.

Dick packte seine Sachen am späten Vormittag, als das Haus fast menschenleer war. Nicht einmal von Sheldon verabschiedete er sich.

Er verstaute seine Koffer im Wagen und den Hund auf den Koffern und das Schießeisen auf einer Decke unten hinter dem Fahrersitz, dann fuhr er noch ein paar Runden um das Universitätsgelände. Die Blätter begannen sich schon zu verfärben. Vor einem der Studentinnenhäuser war eine Schar Mädchen mit Malerbürsten und Eimern am Werk, um den Wänden einen neuen Anstrich zu geben.

Um sie drängte sich eine Horde johlender und pfeifender Jungen.

Dick fuhr über die Autobahn. Innerhalb weniger Minuten hatte er den Tachometer auf hundertzwanzig Stundenkilometer hinaufgejagt, der kleine blaue Sportwagen ging kreischend in die Kurven und schoß in der Geraden dahin, während der Hund winselte und Dick dauernd darauf wartete, daß der Wagen aus einer Kurve getragen oder an einen Baum, eine Mauer oder einen Telephonmast geschleudert würde. Aber nichts geschah, der Tod griff nicht ein, nicht einmal ein Polizist hielt ihn mit einem Strafmandat wegen zu schnellen Fahrens auf, und so jagte er, wie in einer Rakete, durch halb Georgia.

Er richtete sich wieder im Haus seines Vaters ein und stellte zum Aufräumen und Kochen eine Negerin an, die Frau eines Lastwagenfahrers, der die Möbellieferungen für das Geschäft durchführte. Am zweiten Nachmittag seines Aufenthalts zu Hause erschien er im Betrieb, wo zwei Männer ihm versicherten, wie entsetzlich schlecht er aussehe, und einer ihn nur wortlos anstarrte.

Von da an blieb er der Möbelfabrik fern. Manchmal ging er mit dem Hund in die Wälder, und der winselte und tänzelte, wenn er Wachteln oder Wildtauben entdeckte, aber Dick unternahm keinen Jagdversuch mehr. Es gab Tage, an denen er es gekonnt hätte, Tage, an denen sich die Taubheit in den Fingern und der Schmerz nicht meldeten. Aber ihm war nicht mehr nach Töten zumute. Zum erstenmal kam ihm zu Bewußtsein, daß er Leben ausgelöscht hatte, wenn er Vögel vom Himmel herunterholte, und nun schoß er nicht mehr, nicht einmal auf Tontauben. Zweimal in der Woche unternahm er die lange Fahrt nach Atlanta ins Krankenhaus, aber er fuhr langsam, fast träge, und versuchte nicht mehr, irgend etwas zu übereilen.

Es wurde kälter. Die Maulwurfsgrillen auf dem Feld hinterm Haus verschwanden. Waren sie wirklich fort, dachte Dick, oder hatten sie sich irgendwo vergraben, um im Frühling wieder lebendig zu werden?

Er begann, über Gott nachzudenken.

Er begann zu lesen. Er las die ganze Nacht lang, wenn er nicht schlafen konnte, und er las unter Tags, bis er endlich gegen Abend über einem Buch einschlief. In den Cypress News las er, daß ein jüdischer Gottesdienst stattfinden sollte, und er nahm daran teil.

Als die Gottesdienste zu einer allfreitäglichen Einführung wurden, zählte er zu den regelmäßigen Besuchern. Er kannte fast alle Leute dort, und jeder wußte, daß er krankheitshalber von der Universität nach Hause gekommen war. Sie waren taktvoll, und die Frauen flirteten tapfer mit ihm und bemutterten ihn und fütterten ihn beim oneg schabat.

Aber er fand keine Antwort im Gottesdienst. Vielleicht, dachte er, wenn sie ein religiöses Oberhaupt hätten, einen Rabbiner, der ihm helfen könnte, die Antwort auf seine Fragen zu finden. Ein Rabbiner müßte ihm doch zumindest sagen können, was er als Jude nach dem Tod zu erwarten hatte.

Als aber der Rabbiner nach Cypress kam, stellte Dick fest, daß Michael Kind jung war und selbst etwas unsicher aussah. Obwohl er weiterhin getreulich jedem Gottesdienst im Tempel beiwohnte, wußte er doch, daß er von einem so gewöhnlichen Mann das Wunder nicht erwarten konnte, das er brauchte.

An einem Sonntag, als er vor dem Fernsehapparat auf den Beginn der Sportschau wartete, sah Dick die letzten zehn Minuten der Übertragung von Billy Joe Rayes Show. Im weiteren Verlauf des Programms sah er Fischer, die im zugefrorenen Michigansee Weißfische fingen, dann bronzebraune Männer und goldbraune Mädchen, die sich in katalanischer Brandung tummelten, und er gestattete seinen Gedanken nicht, dem vorangegangenen religiösen Programm nachzuhängen. Doch am folgenden Sonntag rasierte und kleidete er sich mit Sorgfalt und reihte sich, statt vor dem Bildschirm zu sitzen, ohne viel Überlegen in die Wagenkolonne ein, die dem Zelt des Wuntertäters zustrebte.

Auf Billy Joes Frage nach jenen, die ihren Frieden mit Jesus zu machen wünschten, hatte er die Hand nicht erhoben, aber er hatte die Karte genommen und unterschrieben, mit der die Gläubigen um ein persönliches Gespräch mit dem Wundermann ansuchten.

Während er in der langsam auf die Bühne sich zubewegenden Reihe stand, beobachtete er die Leute, die das Podium verließen. Ein Mann und nach ihm eine Frau warfen unter Triumphgeheul ihre Krücken von sich, ja die Frau tanzte sogar durch den Mittelgang.

Andere stiegen verkrüppelt, verfallen oder irr die Stufen hinauf und verließen die Bühne am anderen Ende, allem Augenschein nach unverändert. Eine Frau tat zwei zögernde Schritte und warf dann leuchtenden Blickes ihre Krücken von sich; wenige Minuten später war sie zu Boden gefallen und kroch zu ihren Krücken hin, und ihr Gesicht war verwüstet von Verzweiflung. Aber weder sie noch einen der anderen Enttäuschten behielt Dick in Erinnerung. Er hatte das Wunder von Billy Joes Händen gesehen, und er sah immer neue Beweise.

Unmittelbar vor ihm stand ein etwa zehnjähriges taubes Mädchen.

Nachdem Billy Joe für sie gebetet hatte, bedeutete er ihr, sich mit dem Gesicht zur Menge zu drehen, und sprach, da sie seine Lippen nicht mehr sehen konnte:

»Sprich mir nach: Ich liebe dich, mein Gott.« »Ich liebe dich, mein Gott«, sagte das Mädchen.

Billy Joe umfaßte ihren Kopf mit beiden Händen. »Sehet, was Gott gewirkt hat«, sprach er feierlich zu der jubelnden Menge. Nun war Dick an der Reihe. »Was fehlt dir, mein Sohn?« fragte der Wuntertäter, und Dick nahm die Linse wahr, die wie ein anklagendes Auge auf ihn gerichtet war, und einen kleinen Hebel an der einen Seite der Kamera, der sich unablässig drehte und drehte.

»Krebs.«

»Knie nieder, mein Sohn.«

Er sah die Schuhe des Mannes, feine braune Schweinslederschuhe, die braunen- Seidensocken, deren straffer Sitz Sockenhalter verriet, die Aufschläge beigefarbiger Leinenhosen, die maßgeschneidert aussahen. Die großen Hände des Mannes legten sich über Dicks Augen, über sein Gesicht. Die Fingerspitzen gruben sich in seine Wangen, in seine Kopfhaut, und die Handflächen, die nach dem Schweiß anderer Gesichter rochen, so daß Dick leicht schwindlig wurde, drückten auf seine Nase und seinen Mund und beugten seinen Kopf zurück.

»O Herr«, sagte Billy Joe, während er Dicks Augen zudrückte, »die bösen Geister der Fäulnis fressen an diesem Mann, sie verschlingen ihn, Zelle um Zelle.

Herr, zeig diesem Mann, daß Du ihn liebst. Rette sein Leben, auf daß er mir helfe, Dein Werk zu tun. Gebiete Einhalt der Zerstörung, die seinen Körper befallen hat. Tilge aus das Übel mit dem eisernen Besen Deiner Liebe und behüte diesen Mann vor weiterem Unheil durch Krebs, Tumor und andere teuflische Krankheit. Herr -« Die Finger, die groß wie Würste und voll der Stärke waren, strafften sich zu Krallen und umklammerten schmerzhaft Dicks Gesicht.

»HEILE!« befahl Billy Joe.

Zu seiner Verwunderung spürte Dick an diesem Abend und auch am nächsten Tag keine Schmerzen. Das kam freilich zuweilen vor, und er wagte noch nicht, zu hoffen. Aber ein weiterer Tag verging, eine weitere Nacht, es vergingen noch zwei Tage und zwei Nächte der schmerzfreien Pause.

In dieser Woche fuhr er zweimal nach Atlanta, erschien zur festgesetzten Stunde im Krankenhaus, ließ sich vom diensthabenden Arzt eine Kanüle in die Ader einführen und wartete, während das Gelbkreuz in seinen Blutkreislauf tropfte - tropfte - tropfte. Am Sonntag darauf fuhr er wieder zum Zelt, um Billy Joe Raye zu sehen, und am folgenden Dienstag fuhr er nicht ins Krankenhaus, auch am Donnerstag nicht. Obwohl er kein Gelbkreuz bekommen hatte, hielt die Schmerzfreiheit an, und er begann, sich wieder kräftig zu fühlen. Er betete viel. Vor dem Feuer liegend und den Hund zwischen den Ohren kraulend, gelobte er Gott, im Falle seiner Errettung ein Jünger von Billy Joe Raye zu werden. Viele Stunden lang träumte er davon, wie er selbst ein Gebetsmeeting leiten würde - mit Hilfe des Trompeters Gottes und eines Mädchens. Das Gesicht des Mädchens veränderte sich von Traum zu Traum, ebenso wie ihre Haarfarbe. Aber immer war sie wohlgestaltet und schön, ein Mädchen, das auch von Billy Joe gerettet worden war und das nun gemeinsam mit Dick das Glück eines Lebens für Gott genoß.

Am Sonntag nach dem Meeting wandte sich Dick an einen Ordner. »Ich möchte gern auf irgendeine Art helfen«, sagte er. »Mit einer Spende vielleicht.«

Der Mann führte ihn in ein kleines Büro hinter einer Trennwand; dort wartete er als dritter in einer Reihe, bis ein dicker Mann mit freundlichem Gesicht ihm zeigte, wo er zu unterschreiben hatte, um Freund der Gesundheit durch Glauben zu werden; gleichzeitig verpflichtete er sich zu einer Zahlung von sechshundert Dollar im Laufe der nächsten zwölf Monate.

Inzwischen hatte der Arzt schon mehrmals mit Onkel Myron telephoniert und ihm mitgeteilt, daß Dick die Behandlung abgebrochen habe. Myron erschien im Haus seines Neffen, und es gab eine häßliche Szene. Dick überstand sie unerschüttert, indem er sich sagte, daß es sich ja schließlich um seine Rettung handelte. Am Samstagnachmittag wurde er ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, war auch der Schmerz wieder da, schlimmer als zuvor. Am Sonntag wurde es noch ärger. Etwas in seiner Brust schien nach außen zu drängen, gegen die Lungen vielleicht, so daß es ihm schwer wurde, voll durchzuatmen, und er merkte, wie er kleinmütig wurde.

Er fuhr hinaus zum Zelt und saß auf einem der harten hölzernen Klappstühle und betete.

Als er aufstand, um sich den an Billy Joe vorbeiziehenden Besuchern anzureihen, wurde er gewahr, daß in der Reihe hinter ihm der Rabbiner saß.

Zur Hölle mit ihm, dachte er, aber noch im Denken sah er sich aus dem Zelt rennen und weiter über den riesigen Parkplatz, die Ellbogen krampfhaft gegen die schmerzenden Rippen gepreßt, mit bleischweren Armen und Beinen. Und nirgends ein Ort, wo er sich verstecken konnte!

Als Michael vor dem Haus des jungen Mannes anhielt, fand er es verschlossen. Es war ein hübsches Haus, altmodisch zwar, aber solid.

Vernachlässigt wirkte es nicht, eher unbenützt: eines von jenen Häusern eben, die erst durch eine große Familie zum Leben erwachen.

Er ließ sich auf den Eingangsstufen nieder und blieb sitzen, bis nach einer Weile ein magerer irischer Setter, der irgendwie an einen traurigen Löwen erinnerte, um die Hausecke auf ihn zukam. »Hallo«, sagte Michael.

Der Hund verharrte reglos und blickte ihn an, schien aber dann den Fremden zu akzeptieren, denn er kam näher und legte sich quer auf eine der Stufen, die rotbraune Schnauze an Michaels Knie gelehnt. So verharrten die beiden, der Rabbi unablässig die Ohren des Hundes kraulend, bis der blaue Sportwagen in der Zufahrt erschien.

Minutenlang blieb Dick Kramer im Wagen sitzen und starrte die beiden an. Endlich stieg er aus und kam über den Rasen auf das Vorhaus zu.

»Der alte Lump hat das gern«, sagte er. Er zog den Schlüsselbund aus der Tasche, schloß die Tür auf, und Rabbi wie Hund traten hinter ihm ins Haus, ohne erst eine Einladung abzuwarten. Das Wohnzimmer war geräumig und gemütlich eingerichtet, wirkte aber mit seinen Geweihen über dem großen gemauerten Kamin und dem verglasten Gewehrschrank eher wie das Innere einer Jagdhütte.

»Trinken Sie etwas?« fragte Dick. »Mit Ihnen gern«, sagte Michael. »Und ob ich trinken werde! Man hat mir gesagt, daß ein gelegentlicher Schnaps meinen Nerven guttut. Es ist Bourbon. Wasser dazu?«

»Gern.«

Sie gossen es hinunter und saßen dann schweigend, die geleerten Gläser in der Hand, bis Dick sie nachgefüllt hatte.

»Wollen Sie sich's von der Seele reden?«

»Wenn ich das gewollt hätte, dann wäre ich, verdammt noch mal, längst schon zu Ihnen gekommen. Haben Sie sich das nicht denken können?«

»Doch, doch, natürlich.« Er erhob sich. »Nun, dann ist es wohl besser, ich gehe jetzt. Und danke für den Schnaps.«

Aber an der Tür rief ihn Dick zurück. »Es tut mir leid, Rabbi. Bleiben Sie doch da.«

Michael kehrte um und nahm Platz. Der Hund machte sich's leise ächzend zu Füßen seines Herrn bequem. Michael griff nach seinem Glas und tat einen langen Zug. Dann, nach einer kleinen Pause, begann Dick Kramer zu reden.

Als er geendigt hatte, schwiegen sie wieder eine Weile. »Warum sind Sie denn nicht zu mir gekommen?« fragte Michael schlicht.

»Sie hatten mir nichts zu geben«, sagte Dick. »Zumindest nicht das, was ich suchte. Billy Joe schon. Und eine Zeitlang schien es auch, als hätte er Erfolg gehabt. Und ich hätte einfach alles für ihn getan, wenn es wahr gewesen wäre.«

»Wenn Sie mich fragen, so sollten Sie jetzt schleunigst wieder zu Ihrem Arzt gehen«, sagte Michael. »Das ist wohl das wichtigste.« »Und nicht zu Billy Joe Raye. Sie raten mir davon ab?«

»Das müssen Sie schon mit sich selbst abmachen«, sagte Michael.

»Wissen Sie, wenn ich wirklich an ihn hätte glauben können, dann, glaube ich, hätte ich's geschafft. Aber meine jüdische Skepsis hat das nicht zugelassen.« Dick Kramer lächelte traurig.

»Schieben Sie nicht die Schuld auf Ihr Judentum. Die Wunderheilung ist ein altes jüdisches Konzept. Auch Christus gehörte zu den Essenern, das waren jüdische Heilige, die ihr Leben dem Heilen menschlicher Leiden verschrieben hatten. Und noch vor ein paar Jahren haben kranke Juden in Europa und Asien alle möglichen Reisestrapazen auf sich genommen, nur um von einem Wunderrabbi berührt zu werden, dem Heilkraft nachgerühmt wurde.« Kramer griff nach Michaels Rechter, die das Glas umfaßt hielt. Er hob sie empor und musterte sie. »Berühren Sie mich«, sagte er. Aber Michael wehrte ab. »Bei mir funktioniert das leider nicht«, sagte er. »Ich habe keinen heißen Draht zu Gott.«

Der Junge lachte und schob die Hand des Rabbi von sich, wobei etwas von dem Glasinhalt über den Rand spritzte.

»Und wie sonst können Sie mir helfen?«

»Sie müßten versuchen, keine Angst zu haben.«

»Es ist mehr als Angst. Zugegeben, ich habe Angst. Aber weit mehr ist es das Wissen um all das, was ich nie werde tun können. Ich habe noch nie eine Frau gehabt, habe noch nie eine große Reise gemacht. Ich habe der Welt noch nichts zu hinterlassen, nichts getan, was die Welt besser gemacht hätte, als sie vor meiner Zeit gewesen ist.«

Michael suchte nach einer Antwort und bedauerte, getrunken zu haben.

»Haben Sie jemals für einen Menschen Liebe empfunden?«

»Gewiß.«

»So haben Sie das Gute vermehrt in der Welt, und zwar um Unermeßliches. Und was die Abenteuer betrifft - wenn das, wovor Sie Angst haben, wahr ist, dann werden Sie bald das größte Abenteuer erleben, das dem Menschen bevorsteht.«

Dick schloß die Augen.

Michael dachte daran, daß heute sein Hochzeitstag war und daß Leslie zu Hause auf ihn wartete. Aber er konnte nicht aufstehen. Er ertappte sich beim Studium all der Gewehre in dem Waffenschrank und besonders des einen, das in der Kaminecke lehnte und dem ein fettiger Putzlappen aus der einen Mündung heraussah. Plötzlich fiel ihm die Nacht in Miami Beach wieder ein und die deutsche Armeepistole in der Hand des kleinen verzweifelten Mannes. Aber als er aufsah, begegnete er den Augen des lächelnden Dick.

»So nicht«, sagte er.

»Das glaube ich Ihnen«, sagte Michael.

»Da muß ich Ihnen etwas erzählen«, sagte Dick. »Vor zwei Jahren sollte ich hinunter ins Sumpfgebiet, mit einer Handvoll Burschen, die da unten eine Jagdhütte haben. Es war zu Beginn der Hochwildjagd. Aber mir kam eine scheußliche Erkältung dazwischen, und ich gab ihnen Bescheid, mit mir nicht zu rechnen.

Doch am Tag des Jagdbeginns litt es mich nicht länger, und ich stand zeitig auf, nahm mein Gewehr und ging in den Wald. Und nur vierhundert Meter von hier, wo wir beide jetzt sitzen, kaum drei Schritte von der Straße entfernt, sah ich ein Prachtstück von einem jungen Bock und erlegte ihn mit dem ersten Schuß.

Er lebte noch, als ich bei ihm angelangt war, und so griff ich nach dem Jagdmesser und schnitt ihm die Kehle durch. Aber das Vieh war nicht kaputtzukriegen und starrte mich an mit seinen großen braunen Augen und hielt das Maul offen und gab blökende Laute von sich wie ein altes Schaf. Schließlich setzte ich ihm die Mündung an den Kopf und drückte ab. Aber noch immer war es nicht aus, und ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. Ich hatte ihn aufs Blatt getroffen, ihm den Kopf durchschossen und die Gurgel durchschnitten. Ich konnte ihn doch nicht aufbrechen und abhäuten, solange noch Leben in ihm war. Und wie ich noch dasaß und überlegte, raffte er sich auf und verschwand zwischen den Bäumen. Es begann zu regnen, und ich brauchte zwei Stunden, um den Platz zu finden, wo er endlich im Unterholz zusammengebrochen war. Damals hab ich mir beinah eine Lungenentzündung geholt.

Ich habe viel über dieses zähe Vieh nachgedacht«, fügte er hinzu.

Michael wartete noch, bis die Negerin da war, die für Dicks Abendessen sorgte. Dann erst verließ er ihn, der da mit dem Hund weiter vor dem kalten Kamin saß und seinen Bourbon trank.

Die Luft draußen war schärfer als bei seinem Kommen und roch süßlicher. Langsam fuhr er nach Hause, im Fahren betend und im Beten in sich aufnehmend all die Schatten, all die wie mit dem Zeichenstift umrissenen Formen und all die Varianten und Schattierungen der herbstlichen Farben. Wieder zu Hause, schlang er die Arme um die über den Herd gebeugt stehende Leslie, umfaßte mit den Händen ihre Brüste und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.

Sie ließ ihn eine Weile gewähren, wandte sich schließlich herum, küßte ihn, und er drehte die Gasflamme ab und zog sie zur Schlafzimmertür.

»Verrückter Kerl«, sagte sie zwischen Lachen und Ärger. »Und was soll aus dem Abendessen werden?« Aber er schob sie weiter vor sich her und auf das Bett zu.

»So laß mich doch wenigstens noch -«, sagte sie mit einem Blick auf die Schreibtischlade, wo sie das Pessar aufbewahrte.

»Nicht heute.«

Das überraschte sie so freudig, daß sie allen Widerstand aufgab.

»Jetzt wird's ein Kind«, sagte sie, und ihre Augen glänzten im Widerschein des Lichtes aus der Küche.

»Ein König der Juden«, sagte er und griff nach ihr. »Ein Salomon. Ein Saul. Ein David.«

Sie hob sich ihm entgegen und sagte etwas unter seinen Küssen.

»Nur keinen David«, sagte sie. Zumindest klang es so.

29

Die diesjährigen Ehrenmedaillen der Bruderschaft vom Tempel Sinai kamen per Post aus Atlanta. Es waren zwei hübsche Holzplaketten mit Silberauflage, und Michael wurde im Arbeitsausschuß aufgefordert, unverzüglich die Verleihungsrede auszuarbeiten.

»Mir gibt diese nationale Epidemie zu denken: überall sind wir Juden darauf aus, den gojim jüdische Auszeichnungen zu verleihen«, sagte Michael nachdenklich. »Warum bekommt kein Jude eine Auszeichnung von den gojim, oder, noch besser, warum bekommt kein Jude eine Auszeichnung von Juden?«

Die Ausschußmitglieder blickten ein wenig ratlos, bevor sie zu lachen begannen.

»Erst einmal setzen Sie diese Ansprache auf, Rabbi«, sagte Dave Schoenfeld. »W i r geben denen Schnaps und ein gutes Essen für den Bauch, Sie rühren ihnen mit Ihrer Rede das Gemüt, und ich überreiche dann die Orden für die Brust.« Und dann kam man überein, daß die Veranstaltung an einem Sonntagabend in sechs Wochen stattfinden sollte.

Zwei Tage später bekam Michael, der gerade in seinem Büro saß und an seiner Predigt für die kommende Woche herumfeilte, Besuch.

Es war Billy Joe Raye, der verlegen auf seinem Sessel herumwetzte, die Füße linkisch auf dem Boden und den Hut auf den Knien. Er strahlte. »Ich dachte, es sei reichlich an der Zeit, Ihnen einen gutnachbarlichen Besuch abzustatten, Rabbi«, sagte er. »Ich habe Ihnen auch eine Kleinigkeit mitgebracht.«

Es war das Neue Testament auf hebräisch.

»Ich habe es speziell für unsere jüdischen Freunde drucken lassen.«

»Sehr schön«, sagte Michael. »Ich danke Ihnen.«

»Neulich habe ich da einen Ihrer jungen Freunde auf der Straße getroffen, den jungen Richard - wie heißt er nur gleich?« »Kramer?«

»Genau den. Er hat mir gesagt, daß er nicht mehr zu mir kommen möchte. Sie hätten ein langes Gespräch mit ihm geführt.« »Stimmt.«

»Ein netter, sauberer Bursche. Schade um ihn.« Kopfschüttelnd blickte er vor sich hin. »Natürlich liegt mir daran, daß Sie nicht etwa glauben, ich hätte ihn zu meinen Meetings gelockt. Ich hab ihn zum erstenmal gesehen, als er zu mir ins Zelt kam.«

»Das ist mir bekannt«, sagte Michael.

»Natürlich. Der Himmel sei mein Zeuge, daß Leute wie Sie und ich gerade genug zu tun und es nicht nötig haben, einander was wegzuschnappen. Wie zwei hühnerzüchtende Nigger.« Er lachte vor sich hin, und auch Michael lächelte bedächtig, als er ihn zur Tür geleitete.

Drei volle Wochen vergingen, bevor er sich wieder überwand, an die Ehrenplaketten zu denken. Innerhalb der nächsten zehn Tage schrieb er drei Fassungen seiner Verleihungsansprache. Es ging ihm nur langsam und schwer von der Hand, und jeden dieser Entwürfe zerriß er schließlich und warf ihn weg.

Zwei Tage vor dem Festmahl setzte er sich hin und schrieb die Rede rasch und fast ohne Korrekturen nieder. Kurz, aber treffend, dachte er, während er sie las. Und außerdem wahr, erkannte er mit einem plötzlichen Gefühl der Beklemmung.

Nachdem die Dessertteller und Kaffeetassen weggeschoben waren, erhob sich Michael und begrüßte die Anwesenden - die Mitglieder seiner Synagoge und die zu Ehrenden, die prominenten Christen, am Kopfende der Tafel.

»Wenn ein Geistlicher neu in eine fremde Stadt kommt, so macht er sich Sorgen über das religiöse Klima. Und ich muß zugeben, daß auch ich mir Sorgen gemacht habe, als ich hierher nach Cypress kam. Was habe ich hier angetroffen? Ich habe eine Gemeinde vorgefunden, in der die verschiedenen Bekenntnisse einander in bemerkenswert zivilisierten Formen gegenüberstehen.«

Richter Boswell blickte auf Nance Grant, lächelte und nickte. »Ich habe eine Gemeinde vorgefunden, in der die Baptisten den Juden ihr Gotteshaus zur Verfügung stellen und die Methodisten Eintrittskarten für die geselligen Veranstaltungen der Baptisten kaufen.

Ich habe eine Gemeinde vorgefunden, in der die Anhänger der Episkopalkirche die Kongregationalisten respektieren und Lutheraner mit Presbyterianern friedlich zusammenarbeiten.

Eine Gemeinde, die den Sabbat achtet und ihm einen hohen Wert zuerkennt. Eine Gemeinde, die jedermann dazu ermutigt, in seiner eigenen Art Gott zu dienen.«

Richter Boswell zog die Brauen hoch, nickte Dave Schoenfeld besinnlich und voll Anerkennung zu und schob die Unterlippe etwas vor, wie er im Gerichtssaal zu tun pflegte, wenn er dem Wahrspruch der Geschworenen lauschte.

»Ich habe in Cypress eine Gemeinde angetroffen, in der die Gefühle der Brüderlichkeit nicht haltmachen an den Grenzen der verschiedenen Glaubensbekenntnisse, sondern frei dahinströrnen wie frisches, gottgegebenes Wasser, dem Menschenwerk verbindende Kanäle geschaffen hat«, sagte Michael.

»Doch ich fand noch etwas sehr Merkwürdiges.

Dieses Gefühl der Brüderlichkeit, hinströmend durch ober- und unterirdische Kanäle, verbindet an die sechzig Prozent der Bevölkerung dieser Gemeinde.«

Richter Boswell hatte lächelnd ein Wasserglas an die Lippen gehoben. Als er es wieder hinstellte, war das Lächeln noch auf seinem Gesicht, wie aufgemalt. Es welkte langsam dahin, einer sich schließenden Blume gleich.

» In Cypress ist das Gefühl der Brüderlichkeit wie eine trennscharfe chemische Substanz: es löst sich in nichts auf, wenn es mit einer farbigen Haut in Berührung kommt«, sagte Michael. »Dies wäre also mein Eindruck von dem Makrokosmos dieses Gemeinwesens.

Der Mikrokosmos besteht für mich aus meiner eigenen Gemeinde, mit der ich vertraut bin. So laßt uns also die dreiundfünfzig Familien betrachten, die dem Tempel Sinai von Cypress, Georgia, angehören.

Drei Mitglieder dieser Gemeinde sind Eigentümer von Geschäften, in denen an Männer, Frauen oder Kinder, deren Haut nicht weißer ist als die Haut vom Weib des Moses war, weder Speise noch Trank verkauft wird.

Zwei Mitglieder dieser Gemeinde sind Eigentümer von Geschäften, in denen farbigen Personen weder Herberge noch Unterkunft gewährt wird.

Mehrere Mitglieder unserer Gemeinde verkaufen an Neger minderwertige Ware auf Kredit, nach einem Ratensystem, das die Kundschaft zu Schuldnern macht.

Eines unserer Gemeindemitglieder ist Inhaber einer Zeitung, die jedermann mit Miss, Missus oder Mister tituliert- es sei denn, er oder sie sei farbig.

Die gesamte Gemeinde benützt eine Autobuslinie, in deren Fahrzeugen Neger die Rücksitze einnehmen oder stehen müssen, während in den vorderen Abteilen noch Sitze frei sind.

Diese meine Gemeinde lebt in einer Stadt, in deren Negerviertel viele der vermieteten Häuser aus Gesundheitsgründen abgerissen und neu gebaut werden sollten.

Sie unterstützt ein Erziehungssystem, das Negerkinder in elende Schulen verbannt - Schulen, in denen kein aufgeweckter Verstand sich entwickeln kann.«

Er machte eine Pause.

»Was, zum Teufel, soll das alles?« sagte Sunshine Janes zum Sheriff.

»Wir sind heute hier zusammengekommen, um zwei hervorragende Bürger dieser Stadt für ihre Brüderlichkeit auszuzeichnen«, fuhr Michael fort. »Aber steht es uns zu, solche Auszeichnungen zu verleihen?

Durch die Verleihung implizieren wir, daß wir selbst in einem Zustand der Brüderlichkeit leben.

Ich sage euch aber in ernster Sorge, daß dem nicht so ist. Und ich glaube nicht, daß wir die Brüderlichkeit anderer richtig zu erkennen und anzuerkennen imstande sind, solange es uns nicht gelingt, sie in uns selbst zu verwirklichen.

Ich begrüße die Absicht, in der wir uns heute hier zusammengefunden haben. Aber weil dieses Unternehmen auf die größte Gefahr verweist, die unseren menschlichen Seelen in den kommenden Tagen und Jahren droht, sehe ich mich zu ernster Warnung gezwungen.

Solange wir nicht fähig sind, einen Neger anzuschauen und einen Menschen zu sehen, tragen wir alle das Zeichen Kains.

Es kann keine Brüderlichkeit geben, solange wir nicht wirklich, in unserem tatsächlichen Handeln, jedes Menschen Bruder sind, sagt Dostojewskij.«

Zwei Dinge nahm er wahr, als er die bema verließ: den Ausdruck in Richter Boswells Augen und den lauten, einsamen Applaus seiner Frau, der ihm wie ein Klangsignal den Weg nach Hause wies.

Zwei Abende später durchbrachen Ronnie und Sally Levitt die Mauer des Schweigens, mit der die Gemeinde die Kinds umgeben hatte.

»Ich muß zugeben«, sagte Ronnie Levitt, »daß ich bis vor ein paar Stunden die Meinung aller anderen geteilt habe. Schließlich hab ich diese verdammten Auszeichnungen mit meinem eigenen Geld gekauft und bezahlt. Sie dürfen nicht vergessen, daß Cypress nicht New York ist. Und es ist auch nicht Atlanta oder New Orleans. In solchen großen Städten kann man vielleicht die Leute vor den Kopf stoßen und trotzdem durchkommen. Aber hier? Wenn wir uns hier von der Mehrheit absondern, können wir gleich unsere Geschäfte zusperren. Und wir werden nicht zugeben, daß Sie unsere Existenz ruinieren.«

»Das hab ich auch nicht von Ihnen erwartet, Ronnie«, sagte Michael.

»Hören Sie zu. Ich nehme an, daß sich die Aufregung legen wird, wenn Sie nur ein bißchen geschickt sind. Ich bin, im Gegensatz zu einigen von unsren Leuten, nicht der Meinung, daß Sie sich entschuldigen sollen. Das würde die Dinge nur schlimmer machen.

Wir werden einfach privat erklären, daß Sie jung sind und aus dem Norden kommen und daß Sie von nun an Ihre Zunge besser im Zaum halten werden; und damit wird die ganze Geschichte schließlich einschlafen.«

»Nein, Ronnie«, sagte Michael freundlich. Sally Levitt brach in Tränen aus.

Sie ließen fast alles zurück und nahmen nur leichtes Gepäck mit.

»Es wäre zu mühsam, die ganze Strecke im Auto zu fahren«, sagte Michael. Sie hatten etwas Geld gespart, und Leslie war einverstanden. So fuhren sie also im Wagen nach Augusta und flogen von dort nach New York.

Rabbi Sher seufzte, nachdem er die Geschichte gehört hatte. »Wie schwer Sie doch uns allen das Leben machen«, sagte er. »Wenn Sie wenigstens unrecht hätten!« Er untersagte Michael, seine Unterrichtstätigkeit wiederaufzunehmen. »Wenn Sie nicht achtgeben, werden Sie lebenslang kleinen Kindern Hebräischunterricht geben«, sagte er. »Und wie entsetzlich friedlich wäre dann jedermann außerhalb Ihres Klassenzimmers.«

Die Vorverhandlungen dauerten drei Wochen, und schließlich flog Michael nach Kalifornien, um dort eine Gastpredigt zu halten. Er bekam den Posten als Rabbiner am Tempel Isaiah in San Francisco.

»Dort unten sind sie alle Nonkonformisten, und es ist schließlich fast fünftausend Kilometer von hier«, sagte Rabbi Sher. »Wenn Sie nur dort blieben bis zu Ihrem seligen Ende als hochbetagter Mann.«

Sie flogen zurück nach Augusta und fuhren in ihrem blauen Plymouth wieder in Cypress ein, genau elf Monate und sechzehn Tage nach ihrem ersten Eintreffen in dieser Stadt.

In ihrem Haus in Piedmont Road fanden sie alles unverändert vor, wie sie es vor drei Wochen verlassen hatten.

Gemeinsam packten sie ihre Bücher. Michael rief Railway Express an und ließ Schreibtisch und Bücher per Schiffsfracht nach Kalifornien transportieren. Sie hatten einen Teppich und eine Lampe gekauft, und nach langem Hin und Her verfrachteten sie auch den Teppich und ließen die Lampe zurück.

»Ich muß in meinem Arbeitszimmer im Tempel noch Ordnung machen«, sagte er zu Leslie.

Er parkte den Wagen an der Zufahrt zum Tempel Sinai und bemerkte sogleich die Reste des Kreuzes auf dem Rasen. Lange stand er davor und betrachtete es, ehe er die Tür aufsperrte.

Williams, der schamess, war nirgends zu sehen; überdies nahm Michael als gegeben an, daß es wohl kaum nach seinem Geschmack sein würde, die Spuren des Klans oder ihm nahestehender Gruppen zu beseitigen. Im Geräteschuppen fand er einen Rechen und einen Spaten, und er harkte die Asche und die verkohlten Holzstücke sorgfältig zusammen, lud alles auf einen Schubkarren und stopfte es in die schon überquellende Abfalltonne im Hinterhof. Dann kehrte er in den Vorgarten zurück und untersuchte, was übriggeblieben war. Der oberste Teil des Kreuzes war offensichtlich schon in Flammen aufgegangen, bevor das ganze Feuerzeichen umgestürzt war und auf der Erde zu Ende gebrannt hatte. Das Ergebnis war ein T-förmiger, schwarz in den Rasen geätzter Fleck, jeder T-Balken an die zwölf Fuß lang. Michael stieß den Spaten in die Erde und begann den Rasen die Brandlinien entlang umzustechen. Es war ein alter Rasen mit tiefreichenden, verfilzten Wurzeln, die wie ein Schwamm nachgaben, ehe der Spaten sie durchstechen konnte.

Michael geriet bald in Schweiß.

Ein grüner Chevrolet, ein Vorkriegsmodell, aber sauber und glänzend, fuhr langsam vorbei. Drei Häuser nach dem Tempel hielt der Fahrer an und schob im Retourgang zurück. Ein sehr dunkler Neger stieg aus, setzte sich auf den vorderen Kotflügel des Wagens und rollte die Ärmel seines blauen Arbeitshemdes auf. Er war groß und mager, das schon sehr schüttere Haar war graumeliert. Ein paar Minuten lang beobachtete er Michael schweigend, dann räusperte er sich.

»Das Pech ist«, sagte er, »daß man frisch säen muß, dort, wo Sie jetzt umstechen. Das wächst dann heller nach als der übrige Rasen.

Das Kreuz wird man immer noch sehen.«

Michael hielt inne und lehnte sich an seinen Spaten. »Sie haben recht«, sagte er stirnrunzelnd und blickte nieder auf das schon halb umgestochene T. »Könnte ich nicht einfach die Ecken verbinden?«

überlegte er. »Dann wäre nur mehr ein grünes Dreieck da. «

Der Mann nickte. Er griff durch das Wagenfenster und zog den Zündschlüssel ab, ging dann zum Kofferraum und holte einen Spaten heraus. Er kam heran und trieb das halbmondförmige Blatt in den Rasen, an der Stelle, wo sie das Kreuz verbrannt hatten. Sie arbeiteten schweigend, bis das Dreieck umgestochen war. Auf dem Gesicht des Negers hatten sich kleine Schweißperlen gebildet, sein Schädel glänzte dunkel. Er zog ein großes Taschentuch heraus und wischte sich bedächtig über Gesicht und Nacken, trocknete auch seine Glatze und den Haarkranz und schließlich seine Handflächen.

»Ich heiße Lester McNeil«, sagte er.

Auch Michael stellte sich vor, und sie schüttelten einander kräftig die Hände.

»Ich heiße Michael Kind.« »Ich weiß, wer Sie sind.« »Dank für Ihre Hilfe«, sagte Michael. »Sie haben ein prächtiges Stück Arbeit geleistet.«

Der Mann wehrte ab. »Muß ich wohl. Bin Gärtner von Beruf.« Er blickte nieder auf das Dreieck. »Wissen Sie, was«, sagte er. »Wir brauchen hier nur drei kleine Ecken dazuzumachen, dann wird draus so einer von euren Sternen.«

»Richtig«, sagte Michael. »Ein Davidstern.« Sie begannen wieder zu arbeiten, und bald waren sie soweit.

McNeil ging noch einmal zu seinem Kofferraum und kam mit einem Pappkarton voll Samenpäckchen zurück. »Zum Selbstkostenpreis«, sagte er. »Was Großartiges wird ja nicht daraus werden. Viele werden gar nicht aufgehen, aber einige doch. Was für Blumen wollen wir setzen?«

Sie säten Verbenen in die Mitte des Sterns und blaues Alyssum in seine Ecken. »Ein bißchen spät, sie jetzt auszusäen«, sagte McNeil.

»Aber wenn Sie gut gießen, werden sie schon noch kommen.«

»Ich werde nicht mehr da sein«, sagte Michael.

»Wir haben so was reden gehört«, sagte McNeil. »Na, vielleicht wird's genug regnen. « Er verstaute Spaten und Samen wieder im Kofferraum. »Wissen Sie, was«, sagte er, »ich werde hin und wieder vorbeikommen, ihnen an Ihrer Statt was zu trinken geben.«

»Das wäre nett«, sagte Michael und fühlte sich plötzlich sehr wohl.

»Vielleicht könnten wir das einführen: Wo ein Kreuz verbrannt wurde, werden Blumen gepflanzt.«

»Wäre gut für's Geschäft«, sagte McNeil. »Weil wir grad von Trinken reden - hätten Sie was? Die Arbeit macht meine Kehle trocken wie ein Beet ohne Wasser.«

»Kommen Sie«, sagte Michael.

Im Eisschrank in der Küche fand er nichts als eine halbvolle Flasche Orangensoda, die von einer bar-mizwe vor sechs Wochen übriggeblieben war, und auch das war schal geworden.

»Ich fürchte, wir werden uns mit Wasser zufriedengeben müssen«, sagte er und schüttete die abgestandene Limonade in den Ausguß.

»Ich trinke nichts Moussierendes, außer einer Flasche Bier jeden Abend nach der Arbeit, zum Staubwegschwemmen«, sagte McNeil.

Sie ließen das Wasser rinnen, bis es kalt war, und dann trank Michael zwei Glas davon und McNeil deren vier.

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte Michael. Er ging zur be ma, schob den schwarzen Samtvorhang hinter dem Pult zur Seite und holte eine halbvolle Flasche Portwein hervor.

Davon schüttete er etwas in die beiden Gläser, und sie stießen an und lachten einander zu. »L'chajem«, sagte Michael.

»Was immer das heißen mag - dasselbe von mir«, sagte McNeil. Sie stießen nochmals an und schütteten drei Finger hoch warmen Manischewitz, pur, hinunter.

Als die Zeit zur Abreise gekommen war, rief Leslie Sally Levitt an.

Sally kam herüber, und die beiden Frauen umarmten einander, weinten und versprachen, einander zu schreiben. Ronny kam nicht, und auch sonst niemand von der Gemeinde. Michael wußte niemanden, den er noch zu sehen wünschte, außer Dick Kramer, und so fuhren sie, als sie die Stadt verließen, an seinem Haus vorbei. Tür und Fenster waren verschlossen. Ein Zettel am Eingang teilte mit, daß Post an die Adresse von Myron Kramer, 29 Laurel Street, Emmetsburgh, Ga., nachzusenden sei.

Leslie saß am Steuer, während sie vorbei an General Thomas Mott Lainbridges von Tauben besudeltem Denkmal fuhren, durch das Negerviertel, auf die Autobahn, vorbei an Billy Joe Rayes Zelt und hinaus über die Stadtgrenze.

Michael lehnte sich zurück und schlief. Als er erwachte, hatten sie Georgia schon hinter sich gelassen, und er schaute lange Zeit schweigend hinaus in die Landschaft von Alabama, die langsam vorüberzog.

»Ich hab es falsch angepackt«, sagte er schließlich. »Denk nicht mehr dran. Es ist vorüber«, sagte sie.

»Ich hätte die Sache nie so direkt angehen dürfen. Hätte ich es mit mehr Takt angefangen, dann hätte ich dort bleiben und langsam im Lauf der Jahre eine Bresche schlagen können.«

»Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, was gewesen wäre, wenn«, sagte sie. »Es ist vorüber. Du bist ein guter Rabbiner, und ich bin stolz auf dich.«

Ein paar Kilometer lang fuhren sie schweigend, dann begann sie zu lachen. »Ich bin froh, daß wir nicht geblieben sind«, sagte sie und erzählte ihm, wie sich Dave Schoenfeld am Abend des Wolkenbruchs ihr gegenüber benommen hatte.

Michael schlug mit der flachen Hand auf das Armaturenbrett. »Dieser schlechte Kerl von einem mamser«, sagte er. »Nie hätte er das bei der Gattin des Rabbiners versucht, wenn du eine jüdische Frau wärest.«

»Ich bin eine jüdische Frau.«

»Du weißt, was ich meine«, sagte er nach einer Weile.

»Nur zu gut«, gab sie kurz zur Antwort.

Aber die Verstimmung blieb zwischen ihnen, ein ungeladener und widerwärtiger Mitreisender, und fast zwei Stunden lang sprachen sie wenig und nur das Nötigste miteinander. Dann hielten sie an einer Tankstelle außerhalb von Anniston, um Leslie die Gelegenheit zu geben, die Toilette aufzusuchen, und nun setzte sich Michael ans Steuer. Als sie wieder auf der Straße waren, legte er den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.

Nach einer Weile sagte sie ihm, daß sie ein Kind erwarte, und die nächsten dreißig Kilometer fuhren sie wieder schweigend dahin. Aber diesmal war es ein anderes Schweigen, das sie einhüllte: Michael spürte, wie sein Arm schwer wurde, aber noch immer hielt er Leslies Schultern umfaßt, während ihre Hand leicht auf seinem Schenkel ruhte, eine Gabe der Liebe.