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Drittes Buch. Die Wanderung

Woodborough, Massachusetts Dezember 1964

30

Die Wärterin Miss Beverly war ein munteres Mädchen, zart und zäh; sie arbeitete im Krankenhaus, um sich ihre Ausbildung am Institut für Leibeserziehung der Bostoner Universität zu verdienen. Da sie von der heilsamen Wirkung körperlicher Bewegung überzeugt war, hatte sie von Dr. Bernstein die Erlaubnis erwirkt, mit Leslie und einer Patientin namens Diane Miller einen langen Spaziergang zu machen. Sie hatten einander sogar an den Händen gefaßt und waren ein bißchen gelaufen. So kamen sie durchfroren und vergnügt ins Spital zurück und freuten sich auf die heiße Schokolade, die Miss Beverly zu machen versprochen hatte.

Leslie war eben im Begriff gewesen, ihren Mantel auszuziehen, als sich die Serapin, fauchend wie eine Katze, auf Mrs. Birnbaum stürzte. Sie sahen, wie die Rasende zweimal den Arm hob und fallen ließ, sahen die winzige Klinge in ihrer Hand im trüben gelblichen Licht aufblitzen, und dann sahen sie, wie es unfaßbar rot auf den Boden tropfte, und hörten einen häßlichen Laut: Mrs. Birnbaums Stöhnen.

Miss Beverly hatte Mrs. Serapins Hand am Gelenk erfaßt und zurückgerissen und hielt sie hoch wie ein Schwergewichtsringer im Fernsehen, aber da Mrs. Serapin die weitaus Größere war, konnte ihr die Wärterin das Messer nicht aus der Hand winden. So rief Miss Beverly schließlich um Hilfe, und schon kamen sie von allen Seiten herbeigerannt. Die Nachtschwester Rogan stürzte mit einer zweiten Wärterin aus dem Schwesternzimmer, und von draußen aus der Vorhalle kam Schwester Peterson mit bleichem Gesicht und schreckgeweiteten Augen.

Mrs. Birnbaum weinte noch immer und rief nach einem Menschen namens Morty, und Mrs. Serapin hörte nicht auf zu schreien, und in dem Handgemenge mit ihr war irgend jemand in die Blutlache getreten, so daß der Boden jetzt allenthalben mit roten Fußspuren bedeckt war.

Leslie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Sie wandte sich um und ging auf die Tür zu, die Schwester Peterson angelehnt gelassen hatte. An der Tür machte sie noch einmal halt. Nur Diana Miller starrte sie an. Leslie lächelte ihr beruhigend zu, ging aus der Abteilung und schloß die Tür hinter sich.

Sie ging durch die Vorhalle, vorbei an dem leeren Schalter, wo Schwester Peterson hätte sitzen und ihre Fernsehillustrierte lesen sollen, trat in den kleinen Windfang zwischen innerer Tür und Eingangstor. Da stand sie im Dunkeln, sog den Duft der kalten, frischen Luft ein, die durch den Spalt der Außentür drang, stand und wartete darauf, daß jemand käme und ihr sagte, daß sie hier nichts zu suchen hätte.

Aber es kam niemand.

Nach ein paar Minuten öffnete sie die Außentür und trat ins Freie.

Sie wollte noch einen Spaziergang machen, diesmal allein - so glaubte sie.

Sie schritt die lange, gewundene Auffahrt hinunter, ging durch das Gittertor, vorbei an den zwei sitzenden Steinlöwen mit den schmiedeeisernen Ringen in den Nasen. Sie atmete tief, ein durch die Nase und aus durch den Mund, wie es Miss Beverly von ihnen verlangt hatte.

Sie fühlte sich jetzt wohl, aber sie war müde von der körperlichen Bewegung am Nachmittag und der darauffolgenden Aufregung, und als sie zur Autobushaltestelle kam, setzte sie sich, um zu rasten, auf die von der Busgesellschaft dort aufgestellte Bank.

Nach einer Weile kam ein Auto heran und hielt, und eine sehr freundliche Frau kurbelte das Fenster neben dem Beifahrersitz herunter und fragte, ob sie Leslie vielleicht vor dem Erfrieren retten könnten.

Sie stieg ein, und die Frau erzählte ihr, sie kämen aus Palmer, und auch bei ihnen, wo sich die Füchse gute Nacht sagten, stünde es natürlich mit den Autobusverbindungen nicht zum besten. Sie würden Leslie gern in der Stadt absetzen, sagte die Frau.

Es war Viertel vor elf, als sie aus dem Wagen stieg. Um diese Stunde war die Main Street von Woodborough keineswegs mehr strahlend erleuchtet. Maneys Bar & Grill und das Soda Shop hatten noch offen, über dem Fenster der YWCA' brannte ein Licht, und der Bus-Bahnhof war erleuchtet; aber die Schaufenster zu beiden Seiten der Straße waren finster und leer.

Sie betrat das Soda Shop und bestellte einen Kaffee. Die Jukebox dröhnte, und in der Nische hinter ihr saßen drei jungen, die den Takt der Musik mit den Händen auf der Tischplatte mitklopften. »Ruf sie an, Peckerhead«, sagte einer der jungen soeben.

»Fällt mir nicht ein.«

»Wahrscheinlich wartet sie jetzt gerade auf dich.«

Los, Peckerhead, dachte sie, ruf sie an, mach einem kleinen Mädchen einen hübschen Abend. Sie waren kaum älter als Max.

Der Kaffee wurde serviert, in einer Tasse wie die im Spital; sogar die Farbe war die gleiche. Sie dachte daran, mit einem Taxi zurückzufahren, aber sie bekam Angst bei dem Gedanken, daß sie davongelaufen war. Sie fragte sich, was Dr. Bernstein wohl sagen würde.

»Ruf sie an, Peckerhead. Sei nicht feig.«

»Ich bin nicht feig.«

»Also, dann ruf sie an.«

»Hat jemand einen Zehner?«

Anscheinend hatte er die Münze bekommen, denn Leslie hörte, wie der junge hinter ihr die Nische verließ. Es gab nur ein Telephon im Laden, und er hing noch immer daran, als sie mit ihrem Kaffee schon fertig war. Aber draußen vor dem Lokal der Young Women's Christian Association (YWCA) gab es einen Automaten, auf den sie zuging, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß sie Kleingeld bei sich hatte, um Michael anzurufen.

Im letzten Augenblick besann sie sich anders und ging, statt in die Telephonzelle, in das YWCA-Lokal.

Am Empfangspult saß ein Mädchen mit Haaren, die wie eine braune Beatle-Perücke aussahen; sie saß über ein sehr großes Buch gebeugt, das seinem Format nach nur ein College-Lehrbuch sein konnte, und kratzte sich den Kopf mit dem Radiererende eines gelben Bleistifts.

»Guten Abend«, sagte Leslie. »Hi.«

»Ich hätte gern ein Zimmer. Nur für diese Nacht.«

Das Mädchen schob ihr ein Anmeldeformular hin, und Leslie füllte es aus. »Macht vier Dollar.«

Sie öffnete ihr Portemonnaie. Im Spital pflegten die Patienten mit Kupons zu zahlen, die direkt über das Verpflegungsbüro abgerechnet wurden. Von Zeit zu Zeit hatte Leslie von Michael ein paar Dollar in Bargeld bekommen, für den Kaffeeautomaten und für Zeitungen. Ihr Portemonnaie enthielt drei Dollar und zweiundsechzig Cents. »Kann ich das morgen früh mit Scheck bezahlen?«

»Natürlich. Vielleicht könnten Sie ihn gleich jetzt ausschreiben. «

»Das kann ich nicht. Ich habe mein Scheckbuch nicht bei mir.« »Ach so.« Das Mädchen wandte den Blick ab. »Ja dann ... ich weiß nicht.

So was ist mir noch nie passiert.«

»Ich bin YWCA-Mitglied. Voriges Jahr war ich in Mrs. Bosworths Schlankheitsturnen«, sagte Leslie und fügte lächelnd hinzu: »Ich bin wirklich eine durchaus seriöse Person.« Sie kramte in ihrer Tasche und fand die Mitgliedskarte.

»Das glaube ich Ihnen schon.« Das Mädchen studierte die Karte. »Es handelt sich nur darum, daß sie mich hinauswerfen, wenn Sie zu zahlen vergessen, verstehen Sie, oder daß ich den Fehlbetrag ersetzen muß, was ich mir wirklich nicht leisten kann.«

Aber sie langte hinter ihr Pult und legte Leslie einen mit Nummernmarke versehenen Schlüssel hin.

»Danke schön«, sagte Leslie.

Das Zimmer war klein, aber sehr sauber. Sie hängte ihre Kleider in den Schrank und legte sich in der Unterwäsche zu Bett, erfüllt von dankbaren Gefühlen für das Mädchen am Empfangspult. Morgen würde sie gleich Michael anrufen müssen, dachte sie schläfrig.

Aber am nächsten Morgen blieb alles still; die üblichen frühmorgendlichen Spitalsgerüche fehlten, die sie alltäglich geweckt hatten, und so schlief sie bis gegen neun Uhr.

Als sie die Augen aufgeschlagen hatte, blieb sie noch eine Weile reglos im warmen Bett liegen und dachte, wie angenehm es doch sei, keinen Elektroschock bekommen zu haben, der, wie sie wohl wußte, an diesem Morgen im Krankenhaus fällig gewesen wäre. Eine Frau in mittleren Jahren mit freundlichen Augen und blaugetöntem Haar saß am Empfangspult, als sie ihren Schlüssel abgab. Draußen rief sie ein Taxi an und gab dem Fahrer statt der Krankenhaus- ihre Wohnadresse.

Ich bin auf der Flucht, dachte sie beim Einsteigen. Der Gedanke hätte sie erschrecken sollen, aber er war so absurd, daß er sie lächeln machte.

Das Haus lag still und verlassen. Sie fand die Reserveschlüssel am gewohnten Platz auf dem kleinen Sims über der Hintertür. Sie trat ein, putzte sich die Zähne und nahm ein ausführliches Schaumbad.

Als sie damit fertig war und sich frisch angekleidet hatte, bereitete sie sich ein Frühstück mit Eiern und Brötchen und Kaffee und aß alles auf bis auf den letzten Bissen.

Sie wußte, daß sie kurz vor der Entlassung aus dem Krankenhaus stand, daß sie jetzt zurückkehren mußte, aber der Gedanke daran war ihr widerwärtig.

Für Patienten, die eine längere Behandlung brauchen, sollten einwöchige Urlaube vorgesehen sein, dachte sie.

Je länger sie diese Idee überlegte, um so besser gefiel sie ihr. Im dritten Fach ihres Schrankes, unter ihren Schlüpfern, fand sie das Bankbuch über das Konto, auf dem Tante Sallys Geld lag. Sie packte eine kleine Reisetasche, schrieb »Ich liebe dich« auf ein Stück Papier und legte es in Michaels Schrank auf den Stapel seiner weißen Hemden.

Dann rief sie abermals ein Taxi und ließ sich in die Stadt fahren; nachdem sie bezahlt hatte, blieben ihr noch elf Cents übrig, doch von der Bank hob sie nahezu sechshundert Dollar ab.

Bei YWCA erfuhr sie, daß das Mädchen vom Nachtdienst Martha Berg hieß, und hinterlegte für sie einen Briefumschlag mit zehn Dollar darin.

Dann fiel ihr noch ein, daß die Nachricht, die sie Michael zurückgelassen hatte, nicht allzu beruhigend sein mochte, und sie machte bei Western Union halt, um ein Telegramm an ihn aufzugeben.

Der nächste Bus, der vom Bahnhof abging, fuhr nach Boston, und sie stieg ein und bezahlte die Gebühr. Sie verspürte eigentlich nicht den Wunsch, nach Boston zu fahren, aber sie hatte diese Sache noch nicht durchgedacht und wußte nicht genau, wohin sie fahren wollte. Es war ein alter roter Autobus, und sie saß auf der linken Seite zwei Sitze hinter dem Fahrer und versuchte, sich zwischen Grossinger und einem Flug nach Miami zu entscheiden.

Als der Bus aber in Wellesley hielt, stand sie beim Ausstieg und zog die Schnur. Der Fahrer sah sie verdrießlich an, als sie ihm ihren Fahrscheinabschnitt gab. »Bezahlt bis Boston«, sagte er. »Wenn Sie was zurückhaben wollen, müssen Sie an die Gesellschaft schreiben.«

»Ist schon in Ordnung.« Sie stieg aus, schlenderte langsam über die Hauptstraße und freute sich an den Schaufenstern. Als sie an die Bahnstation kam, war ihr Arm schon sehr müde, und sie trat ein und verwahrte ihre Reisetasche in einem Fünfundzwanzig-Cents-Schließfach.

Dann machte sie sich unbeschwert auf den Weg zum Universitätsgelände.

Vieles war dort neu und unvertraut für sie, aber manches war noch genauso wie vor Jahren. Sie ging weiter, bis sie vor Severance House stand, und trat ein, obwohl sie sich dabei ein wenig närrisch vorkam.

Nur wenige Mädchen waren zu sehen; um diese Tageszeit hatten fast alle irgendwo Vorlesungen. Im zweiten Stockwerk fand sie ohne Zögern die richtige Tür, als wäre sie erst vor einer halben Stunde weggegangen, um die Bibliothek aufzusuchen.

Sie hatte fast nicht erwartet, daß ihr Klopfen eine Antwort finden werde, und als das Mädchen öffnete, stand sie einen Augenblick lang sprachlos da, nach Worten suchend.

»Hello«, sagte sie schließlich. »Hello?«

»Entschuldigen Sie die Störung. Ich habe vor vielen Jahren in diesem Zimmer gewohnt - ich hätte es gern wieder gesehen. « Es war ein chinesisches Mädchen. Sie trug ein kurzes Nachthemd, und ihre kräftigen, muskulösen Beine wirkten wie Säulen aus Elfenbein.

»Bitte, kommen Sie herein«, sagte sie, und als Leslie der Einladung folgte, nahm sie einen Schlafrock aus dem Schrank und zog ihn über.

Natürlich war das Zimmer anders möbliert, und auch die Farben waren völlig verändert. Es sah aus, als wäre es gar nicht mehr dasselbe Zimmer.

Sie ging zum Fenster und schaute hinaus - und die Aussicht versetzte sie nun wirklich wieder zurück. Lake Waban war derselbe geblieben. Er war zugefroren und verschneit. Nahe dem Ufer war der Schnee entfernt worden, und die Mädchen liefen Schlittschuh auf dem Eis.

»Wie lange haben Sie hier gewohnt?« fragte das Mädchen höflich.

»Zwei Jahre.« Sie lächelte. »Sind die Toiletten noch immer so leicht verstopft?«

Das Mädchen schien verwundert. »Nein. Die Installationen dürften hier sehr ordentlich sein.«

Plötzlich kam Leslie sich völlig verrückt vor. Sie schüttelte dem Mädchen die Hand und ging zur Tür.

»Möchten Sie nicht noch auf einen Kaffee bleiben?« fragte das Mädchen, aber Leslie konnte ihr ansehen, daß sie froh war, den ungebetenen Besuch loszuwerden. Sie bedankte sich und verließ das Zimmer und das Haus.

Die alte Schule, dachte sie, brrr.

Sie entdeckte ein neues Gebäude, das Jewett Arts Center, und sie ging hinein und besichtigte die Galerie, die gut war. Es gab einen kleinen Rodin und einen kleinen Renoir und einen Baudelaire-Kopf aus hellem Stein mit großen, blicklosen Augen, der ihr gefiel. Sie stand lange vor einem heiligen Hieronymus von Hendrik van Somer. Der Heilige war ein alter Mann mit runzligen Wangen, kahlem Kopf und einer Hakennase, einem langen Bart und wilden Augen, den wildesten Augen, die sie je gesehen hatte, und plötzlich fiel ihr ein, wie Michael ihr seinen Großvater beschrieben hatte.

Sie verließ das Gebäude auf der anderen Seite, und sobald sie aus dem Tor trat, wußte sie genau, wo sie sich befand.

Da war der alte Galen Turm und der Hof und die Bäume und die steinernen Bänke, die meisten von ihnen jetzt schneebedeckt, aber eine blankgefegt. Sie setzte sich und hatte Severance Hill vor sich, wo ein einsamer Schifahrer am Hang zappelte und schließlich stürzte. Sie erinnerte sich an den Hügel im Mai, an den Tree Planting Day und an Debbie Marcus in einer Art Leintuch, als Vestalin verkleidet.

Ein Mann in schwarzem Überzieher und eine Frau in grauem Mantel mit Fuchskragen kamen aus dem Verwaltungsgebäude. Leslie hielt ihn auf Grund seiner roten Gesichtsfarbe für einen Trinker, ohne auch nur das geringste über ihn zu wissen. »Das ist offenbar die einzige schneefreie Bank«, sagte die Frau zu ihrem Mann.

»Es ist Platz genug«, sagte Leslie, zur Seite rückend. Der Mann setzte sich ans andere Ende der Bank, die Frau in die Mitte. »Wir besuchen unsere Tochter«, sagte sie. »Eine Überraschung.« Sie musterte Leslie.

»Besuchen Sie auch eines von den Mädchen hier?«

»Nein«, sagte Leslie. »Ich war eben im Museum.« »Wo ist denn das Museum?« fragte der Mann. Sie wies auf das Gebäude.

»Lauter so modernes Zeug?« fragte der Mann. »Arrangements vom Schuttablagerungsplatz und gerahmte Fetzen?«

Noch ehe Leslie antworten konnte, kam ein Mädchen auf sie zugelaufen, ein blühendes dunkelhaariges Ding in Blue jeans und Windjacke. »Was ist los mit euch?« sagte sie und küßte die Frau, die, ebenso wie ihr Mann, aufgestanden war, auf die Wange.

»Wir wollten dich überraschen«, sagte die Frau.

»Das ist euch gelungen.« Sie entfernten sich von der Bank. »Die Sache ist nur die, ich habe Besuch unten im Gasthof, nur bis morgen. Jack Voorsanger, der junge Mann, von dem ich euch geschrieben habe.«

»Hab nie was von einem Jack Voorsanger gehört«, sagte der Mann.

»Können wir denn nicht alle beisammen sein?«

»Aber ja, natürlich können wir das«, sagte das Mädchen herzlich. Sie entfernten sich weiter, das Mädchen hastig redend und die Eltern mit ihr zugeneigten Köpfen lauschend.

Leslie schaute zum Turm auf und erinnerte sich des Glockenspiels, das jedesmal vor dem Gottesdienst und vor und nach dem Abendessen erklungen war. Immer hatte es mit demselben Lied geendet - was war es nur gewesen? Es fiel ihr nicht mehr ein. Sie blieb noch eine Weile sitzen und hoffte, es würde erklingen. Dann stand sie auf, plötzlich eingedenk der Worte jenes Jungen, von dem sie den ersten Kuß ihres Lebens bekommen hatte; ein großer, sehr belesener Junge, Musterschüler aus der Sonntagsschule ihres Vaters; nachdem sie sich bei ihm beklagt hatte, daß sie das Küssen weder besonders unangenehm noch besonders angenehm hatte finden können, hatte er ärgerlich gesagt: »Was hast du dir erwartet? Ein Glockenspiel?«

Sie ging zurück zum Bahnhof, holte ihre Reisetasche und löste eine Karte, und etwa zwanzig Minuten später fuhr der New England States ein und sah fast genauso aus wie damals, als er sie in den Ferien nach Hause gefahren hatte, nur ein bißchen schäbiger, wie alle Züge heutzutage.

Gleich nachdem sie dem Schaffner ihre Karte gegeben hatte, schlief sie ein. Sie schlummerte mit kurzen Unterbrechungen, und als sie das letztemal erwachte, waren es nur noch acht Minuten bis Hartford, und mit einem leichten Triumphgefühl erinnerte sie sich nun auch wieder des Liedes: »The Queen's Change« hatte es geheißen.

Als der Vater auf ihr Läuten die Tür öffnete, sahen sie einander erstaunt an. Er wunderte sich darüber, daß sie da war, und sie wunderte sich über seinen Aufzug. Er trug ein marineblaues Leibchen und zerknitterte schwarze Hosen voll grauweißer Streifen und Klümpchen von irgend etwas, vielleicht von Wachs. Sein weiches weißes Haar war in Unordnung.

»Ach, du bist's«, sagte er. »Komm doch herein. Bist du allein?« »Ja.«

Sie ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer. »Neue Möbel«, sagte sie.

»Hab sie selbst gekauft.« Er nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn in den Schrank. Einen peinlichen Augenblick lang standen sie da und sahen einander an.

»Was machst du denn eigentlich?« fragte sie mit einem neuerlichen verwunderten Blick auf seinen Anzug.

»Ach, du meine Güte! « Er wandte sich um und stürzte hinaus in die Küche. Leslie hörte, wie er die Kellertür öffnete und die Stiegen hinunterging. Sie folgte ihm.

Der Keller war warm und trocken, und es war auch hell, denn der Vater hatte alle Lichter eingeschaltet. In einem großen gußeisernen Topf glühte ein Kohlenlager, und darin stand ein kleinerer Topf, in dem eine dickliche Masse kochte und brodelte. »Man muß dabeibleiben«, sagte er. »Wenn man nicht aufpaßt, kann man sich damit das Haus über dem Kopf anzünden. « Er nahm eine Handvoll Kerzenstummel aus einem braunen Papiersack und warf sie in den kleineren Topf. Begierig schaute er zu, wie sie schmolzen, dann fischte er die auftauchenden Dochte mit einer langen Bratgabel heraus.

Senilität? fragte sie sich und beobachtete ihn aufmerksam.

Zweifellos irgendeine Art von Persönlichkeitsveränderung.

»Was machst du denn damit?« fragte sie.

»Alles mögliche. Meine Kerzen mach ich selbst. Abgüsse von allerhand Dingen. Soll ich einen Abguß von deinen Händen machen?«

»Ja. «

Er schien erfreut und nahm das geschmolzene Wachs mit zwei Topfhaltern vom Feuer. Dann holte er einen Tiegel voll Vaseline aus einer Schublade und paßte genau auf, während sie, seinen Anweisungen folgend, Hände und Unterarme mit dem dicklichen Gelee bestrich. Dabei beobachtete er andauernd mit besorgten Seitenblicken den Wachstopf. Schließlich nickte er. »Jetzt tauch die Hände ein. Wenn es einmal zu kühl geworden ist, kannst du's gleich bleibenlassen.«

Mißtrauisch betrachtete sie das heiße Wachs. »Verbrennt man sich da nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Dazu ist ja die Vaseline da. Ich laß dich schon nicht so lange drin bleiben, bis es brennt.«

Sie atmete tief ein und tauchte die Hände in das Wachs, nur für einen Augenblick; dann zog sie die Hände wieder heraus und hielt sie hoch: sie trugen dicke wächserne Handschuhe.

Das Wachs war noch immer heiß, aber Leslie spürte, wie es auskühlte und hart wurde, während die Vaseline zur gleichen Zeit sich erwärmte und schmolz: es war das seltsamste Nebeneinander widerstreitender Empfindungen. Sie war neugierig, wie er die Wachshaut unbeschädigt von ihren Händen ziehen würde, und sie lachte leise vor sich hin. »Das paßt so gar nicht zu dir«, sagte sie, und er lächelte ihr zu.

»Wahrscheinlich hast du recht. Wenn ein Mensch alt wird, braucht er so merkwürdige Beschäftigungen.« Er füllte einen Eimer mit Wasser, wobei er Heiß und Kalt sorgfältig austarierte und die Wassertemperatur im Eimer mit den Fingerspitzen prüfte.

»Das hätten wir machen sollen, als ich ungefähr acht Jahre alt war«, sagte sie, und ihr Blick suchte den seinen. »Damals wäre ich davon begeistert gewesen.«

»Jetzt -« Er steckte ihre Hände ins Wasser und wartete voll Spannung. »Die Temperatur ist das wichtigste. Wenn das Wasser zu kalt ist, bricht das Wachs, wenn es zu heiß ist, schmilzt es.« Das Wasser war warm. Das Wachs wurde elastisch genug, daß es sich über ihrem Handgelenk dehnen ließ, so daß sie die Hände herausziehen konnte. Mit der Linken tat sie es zu hastig, und das Wachs riß.

»Gib doch acht«, sagte er ärgerlich. Sie zog die Rechte sehr langsam heraus, und ein makelloser Wachshandschuh war das Ergebnis.

»Soll ich die Linke noch einmal machen?« fragte er.

Aber sie wehrte ab. »Morgen«, sagte sie, und er nickte.

Sie ließen die Gußform in kaltem Wasser liegen und gingen hinauf.

»Wie lange willst du bleiben?« fragte der Vater auf der Stiege. »Ich weiß noch nicht«, sagte sie. Sie merkte jetzt, daß sie nicht zu Abend gegessen hatte. »Könnte ich eine Tasse Kaffee haben, Vater?«

»Natürlich«, sagte er. »Aber wir müssen ihn selbst machen. Die Frau von drüben kommt zum Abendessenkochen und zum Aufräumen.

Für das Frühstück sorge ich selbst, und mittags esse ich auswärts.« Er saß auf dem Küchenstuhl und sah ihr zu, während sie Kaffee und Toast zubereitete. »Hast du Streit gehabt mit deinem Mann?«

»Nein, nicht den geringsten«, sagte sie. »Aber du hast irgendwelche Sorgen.«

Sie fand es unendlich rührend, daß er sie hinlänglich verstand, um das zu bemerken; sie hatte es nicht für möglich gehalten. Schon wollte sie ihm das sagen, da sprach er wieder - »Zu mir kommen Tag für Tag Leute, die Sorgen haben.« - und sie war froh, daß sie nichts gesagt hatte.

Er tat Saccharin in den Kaffee, den sie ihm hingestellt hatte, und kostete. »Möchtest du mit mir darüber sprechen?«

»Ich glaube nicht«, sagte sie. »Wie du willst.«

Sie fühlte einen ersten Anflug von Zorn in sich aufsteigen. »Vielleicht möchtest du nach meinem Mann und meinen Kindern fragen. Sie sind schließlich deine Enkel.«

»Wie geht's deiner Familie?«

»Gut.«

Ein paar Minuten lang sprachen sie nichts, bis sie mit dem Kaffee und dem Toast fertig waren und für Hände und Mund keine Beschäftigung mehr hatten.

Dann versuchte sie es nochmals. »Ich muß Max und Rachel zeigen, wie man Wachshände macht«, sagte sie. »Besser wär's noch, wenn ich sie herbringen könnte, und du zeigst es ihnen.« »Gut«, sagte er mit wenig Begeisterung. »Wann habe ich sie zum letztenmal gesehen?

Vor zwei Jahren?«

»Vor achtzehn Monaten. Im vorigen Sommer. Der letzte Besuch war kein schönes Erlebnis für sie, Vater. Sie lieben ihren Großvater Abe sehr, und sie könnten dich genauso lieben, wenn du ihnen die Möglichkeit geben wolltest. Es hat sie sehr erschüttert, euch beide miteinander sprechen zu hören.«

»Dieser Mensch!« sagte ihr Vater eigensinnig. »Ich verstehe noch immer nicht, wie du auf die Idee kommen konntest, ich hätte irgendein Interesse daran, ihn bei mir zu Gast zu haben. Wir haben nichts gemeinsam. Nichts.«

Sie schwieg und erinnerte sich eines grauenhaften Nachmittags, an dem jeder verstört und zutiefst verletzt gewesen war.

»Kann ich in meinem alten Zimmer schlafen?« fragte sie ihren Vater schließlich.

»Nein, nein«, wehrte er ab. »Das ist voll mit Schachteln und allerhand Kram. Geh ins Gästezimmer. Wir sehen darauf, daß dort immer frisch bezogen ist.«

»Gästezimmer?«

»Zweite Tür links, wenn du die Stiege hinaufkommst.« Tante Sallys Zimmer.

»Im Wäscheschrank findest du frische Handtücher«, sagte der Vater.

»Danke.«

»Brauchst du ... hm ... geistlichen Beistand?« Handtücher und geistlicher Beistand dankend abgelehnt, dachte sie.

»Nein, danke, Vater.«

»Es ist niemals zu spät. Niemals und für nichts - durch Jesus. Ganz gleich, wie weit und wie lange wir in die Irre gegangen sind.«

Sie sagte nichts und machte nur eine kleine bittende Geste - so verhalten, daß er sie vielleicht gar nicht bemerkt hatte.

»Auch jetzt noch, nach so langer Zeit. Es ist mir gleichgültig, wie lange du mit ihm verheiratet gewesen bist. Das Mädchen, das in diesem Haus aufgewachsen ist, kann Christus nicht verleugnen - das kann ich nicht glauben.«

»Gute Nacht, Vater«, sagte sie erschöpft. Sie stand auf, trug ihre Reisetasche hinauf, schaltete das Licht ein und verschloß die Zimmertür hinter sich. Sie lehnte dann lange mit dem Rücken an der Tür, ins Zimmer blickend, das sie so gut in Erinnerung hatte aus vielen Nächten, in denen sie sich im Bett ihrer Tante verkrochen hatte und eingeschlafen war, an den ausgetrockneten, altjüngferlichen Körper geschmiegt. Sie wußte noch genau, wie der Körper der Tante sich angefühlt hatte, ja selbst den Geruch wußte sie noch - eine Mischung von Körpergeruch und abgestandenem Rosenduft, wahrscheinlich von einer parfümierten Seife, die Tante Sally im geheimen verwendet hatte.

Sie zog ihr Nachthemd an und fragte sich, ob man wohl noch immer das Gas anzünden mußte, wenn man genügend heißes Wasser für das Bad haben wollte, aber sie war zu müde, um es auszuprobieren. Sie hörte, wie er die Stiegen heraufkam, hörte sein zögerndes Klopfen.

»Du läufst davon, wenn ich mit dir zu sprechen versuche.«

»Ich bin müde«, sagte sie, ohne zu öffnen.

»Kannst du behaupten, daß du dich wirklich als zu ihnen gehörig fühlst?« fragte er.

Sie schwieg.

»Bist du Jüdin, Leslie?« Aber sie gab keine Antwort. »Kannst du mir sagen, daß du Jüdin bist?«

Geh weg, dachte sie, auf dem Bett sitzend, in dem ihre Tante gestorben war.

Nach einer Weile hörte sie, wie er in sein Zimmer ging, und sie langte nach der Schnur, um das Licht zu löschen. Doch statt gleich ins Bett zu gehen, saß sie noch lange beim Fenster auf dem Fußboden, preßte die Brust ans Fensterbrett und das Gesicht an die kalte Scheibe, wie sie es in der Kindheit getan hatte, und schaute durch das Dunkel des Glases hinunter auf die Straße, die einmal zu ihrem Gefängnis gehört hatte.

Als sie einander am Morgen beim Frühstück begegneten, taten beide, als wäre am vergangenen Abend nichts geschehen. Sie briet für ihn Schinken mit Eiern, und er aß mit Appetit, ja beinahe mit Gier. Als sie ihm Kaffee eingoß, sagte er mit einem kleinen Räuspern: »Leider habe ich heute vormittag in der Kirche eine Besprechung nach der anderen.«

»Dann ist es wohl besser, wenn ich mich gleich jetzt von dir verabschiede, Vater«, sagte sie. »Ich habe mich entschlossen, mit einem frühen Zug zu fahren.«

»Ja? Nun gut«, sagte er.

Bevor er aus dem Haus ging, kam er noch einmal in ihr Zimmer und überreichte ihr zwei gelbe Kerzen. »Ein kleines Geschenk«, sagte er.

Nachdem er gegangen war, rief sie telephonisch ein Taxi herbei und ließ sich zum Bahnhof fahren. Dort kaufte sie eine Taschenbuchauswahl von Robert Frost und las darin zwanzig Minuten lang. Fünf Minuten vor Einfahrt des Zuges hob sie ihre Reisetasche auf die Warteraumbank, öffnete sie und nahm die gelben Kerzen heraus, um Platz für das Buch zu schaffen; dabei zerbrach ihr die eine in der Hand, das gelbe Wachs bröckelte ab und ließ den Fehler sichtbar werden: einen uneingeschmolzenen weißen Wachskern im Innern der Kerze. Angewidert säuberte sie die Reisetasche, so gut sie konnte, von den Wachskrümeln und warf diese zusammen mit der zerbrochenen Kerze in den Abfallkorb. Im Zug begann sie darüber nachzudenken, was sie mit der verbleibenden anfangen könnte; schließlich, während sie Stamford durchfuhren, holte sie die Kerze aus ihrer Tasche und ließ sie in den Spalt zwischen Armlehne und Waggonwand unter dem Fenster fallen. Danach war ihr etwas wohler, ohne daß sie genau wußte, warum.

Nun näherten sie sich allmählich New York, und Leslie sah die Bilder am Fenster vorüberziehen wie eine TV-Sendung für Stadtplanung. Aus dem Schnee neben den Gleisen stieg Nebel in grauen Schwaden, und sie dachte an viele Morgen in San Francisco, da sie, aus dem Fenster blickend, die Erde wüst und leer gesehen hatte, und Finsternis war über dem Antlitz der Tiefe gelegen, und der Geist Gottes war aufgestiegen über dem Antlitz der Erde und dem Antlitz des Wassers, aufgestiegen als perlmutterfarbener Nebel.

San Francisco, Kalifornien Januar 1948

31

Das Haus, ein schmales zweigeschossiges graues Steinhaus mit einem weißen Zaun rundum, klammerte sich mit seinen Fundamenten an den Abhang eines sehr steilen Berges über der San Francisco Bay. Der Mann - untersetzt, vierschrötig und in mittleren Jahren - stand mit einem Fuß auf dem Trittbrett seines schwarzen, mit Seilen, Leitern und farbverkrusteten Kübeln beladenen Lieferwagens. Er machte einen etwas bärbeißig-rechthaberischen Eindruck und trug einen sauberen, aber farbbespritzten weißen Arbeitsanzug und eine Malerkappe, auf der DUTCH BOY geschrieben stand.

»So«, sagte er in volltönendem Baß, mit Befriedigung, aber ohne Lächeln, »Sie haben es also geschafft. Glück, daß Sie mich zu Hause getroffen haben. Ich wollte gerade zur Arbeit fahren.« »Können Sie uns sagen, wie wir zu unserer neuen Wohnung kommen, Mr. Golden?«

fragte Michael.

»Das finden Sie nie. Es ist sehr weit. Ich fahre mit dem Lieferwagen voraus, und Sie bleiben hinter mir.«

»Ich will Sie aber nicht in Ihrer Arbeit stören«, sagte Michael. »Ich laß mich Tag für Tag von diesen Tempel-Geschäften in meiner Arbeit stören. Sonst würde doch hier überhaupt nichts geschehen. Haben Sie schon einmal erlebt, daß einer von den Machern was tut, von den großen Herren, die immer nur reden und reden und reden? Die Arbeit bleibt immer an unsereinem hängen.« Er öffnete die Wagentür und stieg ein. Sein Tritt aufs Gaspedal war schwer; der Motor sprang heulend an. »Fahren Sie mir nach«, sagte er.

Sie fuhren ihm nach und dankten Gott, daß sie es konnten, denn Michael hatte Schwierigkeiten mit den Verkehrsampeln, die für einen Oststaatler an den unmöglichsten Stellen angebracht waren. Die Fahrt dauerte sehr lange. »Geht das so weiter bis Oregon?« fragte Leslie, wobei sie ihre Stimme dämpfte, als säße Mr. Golden im Fond ihres Wagens und nicht vorn in seinem eigenen. Aber schließlich bogen sie doch in eine Straße voll niedlicher Reihenhäuser hinter ganz kurz gestutztem Rasen ein. »Michael«, sagte Leslie, »da ist ja eines wie das andere.« Straße um Straße die gleichen Häuser, auf gleiche Weise in gleich große Parzellen gesetzt.

»Die Farben sind verschieden«, meinte Michael.

Das Haus, vor dem Mr. Golden anhielt, war grün und stand zwischen einem weißen zur rechten und einem blauen zur linken Seite.

Es umschloß drei Schlafräume, ein geräumiges Wohnzimmer, eine Eßnische, eine Küche und ein Badezimmer. Die Räume waren teilweise möbliert.

»Es ist ja recht nett«, sagte Leslie, »aber rundherum hundertmal dasselbe ...«

»Eine große Siedlung eben«, sagte Mr. Golden. »Alles Massenproduktion. So kriegt man mehr für sein Geld.« Er ging zur Wand und strich darüber. »Ich habe da selber ausgemalt. Das ist wirklich gute Arbeit. Da können Sie lange suchen, bis Sie schönere Wände finden.«

Er musterte Leslie kritisch. »Wenn Sie's nicht nehmen, können wir's auch jemand anderem vermieten. Aber so günstig kriegen Sie's nirgends. Die Gemeinde hat es unserem letzten Rabbiner abgekauft.

Kaplan hat er geheißen, jetzt ist er am B'nai Israel Tempel in Chicago.

Das Haus ist steuerfrei, es gehört einer Glaubensgemeinschaft. Das ist auch für Sie billiger.«

Er trat auf die Straße.

»Vielleicht könnten wir etwas in einem dieser alten überladenen Häuser finden. Oder ein Apartment an einem der Hänge«, flüsterte Leslie.

»Ich habe gehört, Wohnungen in günstiger Lage sind in San Francisco jetzt kaum zu kriegen«, sagte Michael. »Außerdem sollen sie sehr teuer sein, und wir tun der Gemeinde einen Gefallen, wenn wir das da nehmen.«

»Und die Schablonen rundherum?«

Er verstand sie sehr gut. »Trotzdem ist es ein nettes kleines Haus. Und wenn uns das Wohnen in einer Siedlung nicht behagt, können wir uns immer noch in Ruhe um etwas anderes umschauen.« »Okay«, sagte sie, trat auf ihn zu und küßte ihn gerade in dem Moment, als Phil Golden wieder ins Zimmer kam. »Wir sind eben dabei, das Haus zu nehmen«, sagte sie.

Golden nickte. »Wollen Sie jetzt den Tempel sehen?« fragte er sie.

Sie stiegen ins Auto und fuhren bis zu einem gelben Ziegelbau, den Michael zum ersten und einzigen Mal anläßlich seiner Einführungspredigt gesehen hatte. Bei Tag sah er älter und schäbiger aus.

»War früher eine Kirche. Katholisch. St. Jerry Myer. Ein jüdischer Heiliger«, sagte Phil.

Das Innere wirkte geräumig, aber düster, und es war Michael, als röche es nach vergangener Zeit und heiliger Beichte. Erst jetzt erinnerte er sich wieder all dieser Häßlichkeit. Er suchte die aufsteigende Enttäuschung zu bemeistern. Nicht das Haus, die Menschen machten den Tempel. Und trotzdem, so wünschte er leidenschaftlich, wollte er irgendwann einmal einen hellen, luftigen Tempel haben, der schön war und dem Wunder bereit.

Den Rest des Nachmittags verbrachten sie damit, Möbel auszuwählen, wobei sie mehr ausgaben, als sie vorgesehen hatten, und damit ihr Bankkonto gründlich durcheinanderbrachten.

»Laß mich doch die tausend Dollar von Tante Sally hernehmen«, sagte sie.

Aber das Gesicht ihres Vaters vor Augen, sagte er: »Nein.« Sie blieb ganz ruhig. »Warum?«

»Ist das so wichtig?«

»Eigentlich ja. Sehr sogar«, sagte sie.

»Heb sie auf und warte, bis du unseren Kindern etwas dafür kaufen kannst, was sie sich wirklich wünschen«, sagte er und hatte damit das Richtige getroffen.

Das Haus war tadellos sauber, und diesmal hatten sie auch an Bettwäsche und Handtücher gedacht. Trotzdem lagen sie dann schlaflos im Dunkel des ungewohnten Zimmers, und Leslie wälzte sich von einer Seite auf die andere.

»Was hast du denn?« fragte er.

»Ich mag diese Weiber nicht sehen.« »Was meinst du?« fragte er belustigt. »Was ich meine? Das weißt du nicht? Ich hab's durchgemacht, diese ... jentes.. ., gackern herein in den Tempel, aber nicht etwa, um zu beten, nicht einmal, um den neuen Rabbi zu sehen - aber die schiksse!«

»Mein Gott«, sagte er bedrückt.

»So ist es doch. Von Kopf bis Fuß messen sie einen.

>Seit wann sind Sie verheiratet?< fragen sie, und:>Haben Sie schon was Kleines?< Und du siehst förmlich, wie es arbeitet hinter ihren Visagen, wie sie ausrechnen, ob ihr neuer Rabbi nicht etwa heiraten mußte.«

»Ich hab nicht gewußt, daß es so schwer für dich ist«, sagte er.

»Aber jetzt weißt du's.«

Keiner sagte etwas. So lagen sie nebeneinander. Aber gleich darauf drehte sie sich zu ihm und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. »Ach, laß doch, Michael«, sagte sie. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich habe.«

Er wollte sie in die Arme nehmen, aber sie machte sich plötzlich los, glitt aus dem Bett und lief ins Badezimmer. Er horchte und ging ihr dann nach.

»Ist dir nicht gut?« fragte er und schlug an die Tür. »Geh ins Bett«, würgte sie hervor. »Bitte, geh!«

Er legte sich wieder hin und preßte das Kissen gegen die Ohren, ohne damit das quälende Geräusch ihres Erbrechens ganz auslöschen zu können. Und er fragte sich, wie oft er das schon friedlich verschlafen hatte.

Das hat uns noch gefehlt, dachte er. Schwangerschaftserbrechen.

Ach.

Ihr schöner Leib wird aufgehen wie ein Ballon.

Das mit den Weibern wird sich ganz anders abspielen, dachte er, dafür wird schon die Schwangerschaft sorgen. Jeden Freitagabend wird sie in der ersten Reihe sitzen, und die Weiber werden von ihrem Bauch auf mich schauen und von mir auf ihren Bauch, und mit dem Mund werden sie lächeln, und mit den Augen werden sie sagen: Hund, das hast du uns angetan.

Und man wird es bald sehen. Oj, und ich liebe sie.

Ob das jetzt heißt, daß wir nicht mehr dürfen?

Dann, als sie wieder im Bett lag, erschöpft, schweißgebadet und nach Mundwasser riechend, legte er den Arm um sie und strich ihr vorsichtig über den Leib, aber seine tastenden Finger fanden ihn flach und hart und unverändert.

Prüfend sah er sie an im dämmernden Schimmer des Morgens, aber da war keine Spur mehr von Übelkeit, und plötzlich lächelte sie wie eine befriedigte Frau und schien stolz auf ihr

Schwangerschaftserbrechen. Als er seine Arme um ihren Körper und seine Wange an die ihre legte, rülpste sie ihm ins Ohr, aber anstatt sich zu entschuldigen, brach sie in Tränen aus. Ende der Flitterwochen, dachte er, strich ihr übers Haar und küßte sie auf die feuchten, erschlafften Lider.

Es folgten zwei Tage der Kontaktaufnahme, vor allem mit den führenden Mitgliedern der Gemeinde. Die Sekretärin seines Vorgängers hatte sich verheiratet und wohnte nun in San José, so daß er einen großen Teil seiner Zeit dazu brauchte, um sich überhaupt zurechzufinden. Dabei stieß er auf eine Mitgliederliste und begann einen Besuchsplan auszuarbeiten, um auch mit den weniger aktiven Gemeindemitgliedern bekannt zu werden.

Am zweiten Tag zu Mittag kam Phil Golden in den Tempel. »Essen Sie gern chinesisch? Die Straße hinunter gibt's ein Lokal mit einem wahren Wunder an chinesischer Küche. Gehört einem von unseren Leuten.«

Golden verzog das Gesicht. »Hören Sie mich an«, sagte er auf dem Weg zum Restaurant. »Früher, wie ich noch jung war, hab ich geschuftet wie ein Pferd. Nichts wie malen. Für das nackte Leben. Na, mit der Zeit hab ich mit meiner Frau vier Söhne gehabt, alle unberufen groß und gesund. Und alle haben sie bei mir das Malerhandwerk gelernt. Immer hab ich davon geträumt, ein Unternehmer zu sein, und meine Söhne werden für mich arbeiten. Und was ist passiert? Heute sind meine Söhne Unternehmer, und ich selber bin der Chef vom Familienbetrieb. Aber das ist auch schon alles. Ein Familienbetrieb.

Einen Malerpinsel krieg ich nur mehr in die Hand, wenn was für den Tempel zu tun ist.«

Er lachte in sich hinein. »Ist ja gar nichtwahr. So zirka alle halben Jahr halt ich's nicht mehr aus, und da stehl ich mich weg und geh pfuschen.

Da nehm ich mir einen Mexikanerjungen, der kriegt das ganze Geld.

Aber daß Sie ja nichts meinen Söhnen erzählen! «

»Ich schweige wie ein Grab.«

Das Restaurant nannte sich »Moy Sche«. »Morris da?« fragte Golden den chinesischen Kellner, der das Essen servierte.

»Er ist einkaufen«, sagte der Kellner. Sie hatten Hunger, und das scharf gewürzte Mahl schmeckte ihnen. So sprachen sie nur wenig, bis Phil Golden sich zurücklehnte und eine Zigarre ansteckte. »Na, und wie kommen Sie zurecht?« fragte er.

»Ich glaube, ich gewöhne mich hier recht gut ein.« Der Altere nickte unverbindlich.

»Etwas ist mir aufgefallen«, sagte Michael. »Ich habe jetzt mit einer ganzen Reihe von Leuten gesprochen und von vier verschiedenen Seiten dieselbe Warnung erhalten.«

Golden paffte. »Und das war?«

»>Hüten Sie sich vor Phil Golden. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen.<«

Golden betrachtete die Asche seiner Zigarre. »Ich könnt Ihnen jetzt die vier Namen nennen. Und was haben Sie gesagt?« »Daß ich mich hüten werd.«

Goldens Miene blieb ausdruckslos, nur seine Augen lachten. »Daß Sie sich besser hüten können, Rabbi: Ich seh Sie und Ihre Frau morgen bei mir zum schabess ze nacht.«

Um den Speisezimmertisch waren elf Leute versammelt. Nebst Phil und Rhoda Golden waren da zwei ihrer Söhne, Jack und Irving, weiters Jacks Frau Ruthie und Irvings Frau Florence sowie drei Enkelkinder von Phil zwischen drei und elf Jahren.

»Henry, das ist unser dritter verheirateter Sohn, wohnt drüben in Sausalito«, erläuterte Phil. »Zwei Kinder und ein nettes Haus. Er hat ein armenisches Mädchen geheiratet, und jetzt haben sie miteinander zwei kleine William Saroyans mit großen braunen Hundeaugen und mit Nasen, noch größer als ein echter Jud sie zustande bringt. Wir sehen uns nicht oft. Sie haben sich in Sausalito draußen vergraben, weiß Gott, was sie dort machen, Daumendrehen vielleicht.«

»Phil! « sagte Rhoda Golden.

Phil hatte gar nicht an Leslie gedacht und fühlte sich nun zu einer Erklärung verpflichtet. »Er ist bei seinem Glauben geblieben, sie bei ihrem, und die Kinder glauben überhaupt nichts. Sagen Sie selber, ist das in Ordnung?«

»Ich glaube nicht«, sagte sie.

»Wie heißt ihr vierter?« fragte Michael.

»Aj - Babe«, sagte Ruthie, und alle anderen grinsten.

»Stellen Sie sich vor, Rabbi«, sagte Florence - eine gutgebaute, aber hagere Blondine - »stellen Sie sich vor einen hübschen Burschen von siebenunddreißig, noch im vollen Schmuck seiner Haare, macht Geld wie Heu, die Sanftmut in Person, schaut aus wie gemalt, alle Kinder rennen ihm nach, dabei sehr männlich; wenn er durch die Stadt geht, sind die Straßen mit gebrochenen Herzen gepflastert - und was tut er?

Er heiratet nicht! «

»Ach, dieser Babe! « sagte Rhoda kopfschüttelnd. »Auf seiner Hochzeit mächt ich tanzen, und wenn's auf armenisch wär. Ist der Fisch zu stark gepfeffert?«

Der Fisch war vorzüglich, ebenso wie die Suppe, das Brathuhn, die zweierlei kuglen und das Kompott. Auf dem Pianino im Nebenzimmer brannten in Messingleuchtern die Sabbatlichter. Es war genau die Art Wohnung, die Michael so gut kannte und schon so lange nicht mehr betreten hatte. Nach dem Essen gab es noch einen Schnaps, die Frauen spülten unterdessen das Geschirr, und anschließend sagten die beiden jüngeren Paare gute Nacht und zogen mit ihren schläfrigen Kindern heimwärts ab. Vor dem Weggehen verabredete sich Florence Golden mit Leslie noch für ein Mittagessen und einen anschließenden Besuch im De Young Memorial-Museum am nächsten Tag. So kam das Gespräch auf Bilder und über die Bilder auf Photos. Rhoda brachte ein riesiges Photoalbum zum Vorschein und schleppte es mit Leslie in die Küche, aus der nun gelegentlich Lachsalven herüber ins Wohnzimmer tönten, wo Michael und Phil schon bei dem nächsten Schnaps saßen.

»Na also, jetzt sind Sie ein Kalifornier«, sagte Phil. »Und ein alteingesessener dazu.«

Golden grinste. »Heißt sich alt«, sagte er. »Ich bin das, was man einen alten Kalifornier nennt. Bin schon als Kind hierher gekommen, mit Vater und Mutter von New London in Connecticut drüben. Mein Vater war Reisender in Schiffsbedarf - Eisenwaren. Hat immer einen Musterkoffer von hundertvier Pfund mit sich herumgeschleppt.

Gleich nach unserer Ankunft haben wir eine schul nach der andern im alten jüdischen Viertel rund um die Fillmore Street ausprobiert. Die jidden sind damals noch zusammengekrochen wie heut die Chinesen.

Natürlich hat das bald aufgehört. Heutzutag kennen sie kaum mehr den Unterschied zwischen einem Juden, einem Katholiken und einem Protestanten. Das macht die gute kalifornische Luft. Drei Züge davon genügen, und alle Unterschiede verschwinden. Ach, Rabbi-damals hat es noch was bedeutet, ein Jude zu sein - aber heute?«

»Wie meinen Sie das?«

Golden stieß die Luft durch die Nase. »Nehmen Sie nur die bar-

mizwe. Was war das für eine Sache für einen Jungen. Zum erstenmal im Leben wird er zur bema gerufen, singt einen Abschnitt aus der Thora auf hebräisch, wie durch Zauber wird er plötzlich zum Mann, vor Gott und seinen Mitjuden. Und aller Augen hängen nur an ihm, nicht wahr?

Dagegen heute: es handelt sich nicht mehr um den Jungen, sondern um die Show - mehr Bar als mizwe. Was sich da in Ihrem Tempel versammelt, ist eher eine Cocktailgesellschaft: junge moderne Amerikaner. Was wissen die noch von der alten Fillmore Street?« Er schüttelte den Kopf.

Michael blickte ihn nachdenklich an. »Und vor Ihnen hat man mich gewarnt.«

»Ich bin der Scharfmacher in dieser Gemeinde«, sagte Phil. »Ich bestehe darauf, daß der Tempel, wenn man schon einen hat, für den Gottesdienst da ist, und daß man jüdisch sein soll, wenn man Jude ist. Und so was hört man nicht gern im Tempel Isaiah.«

»Warum sind sie dann noch dabei?«

»Ich werd Ihnen sagen, wie's ist«, sagte er. »Meine Jungen sind beigetreten. Sie sind nicht besser als die andern, aber ich sage, daß eine Familie als Familie zum Gottesdienst gehen soll. Wenn Sie mich fragen, wird es den andern schon nichts schaden, mit einem altmodischen jiddel im selben Tempel zu sitzen, wenn sie zur Jahrzeit hinkommen.«

Michael lächelte. »So schlimm wird es schon nicht sein.« »Glauben Sie?« Golden lachte in sich hinein. »Vor acht Jahren haben sie die Tempelgemeinde Isaiah gegründet. Und warum? Die andern reformierten haben ihnen zuviel Zeit weggenommen, haben sie persönlich zu stark beansprucht. Die Leute möchten zwar Juden sein, aber nicht in einem Ausmaß, das auch nur im geringsten ihre Freizeit beschneidet, denn um die zu genießen, sind sie ja nach Kalifornien gekommen. Jom-Kipur und Rosch-Haschana - aber auch nicht mehr, mein Lieber.

Nun glauben Sie aber nur nicht«, sagte er, die große Hand wie ein Verkehrspolizist erhebend, »daß die Leute nicht bereit wären, für dieses Vorrecht zu zahlen. Unsere Beiträge sind ziemlich hoch, aber wir sind eine junge blühende Gemeinde. Die Zeiten sind gut. Sie verdienen Geld, und sie zahlen ihren Betrag, und dafür ist es dann die Aufgabe des Rabbiners, an ihrer Statt ein guter Jude zu sein.

Wenn Sie für irgendeine Gemeindeangelegenheit innerhalb vernünftiger Grenzen Geld brauchen, werden Sie es bekommen, das kann ich Ihnen heute schon sagen. Nur eines dürfen Sie nicht erwarten: daß viele Leute zu Ihren Gottesdiensten kommen. Sie müssen wissen, daß Sie Feinde haben, Rabbi: die vielen Reihen von leeren Plätzen.«

Michael bedachte alles, was der andere gesagt hatte: »Und der KuKlux-Klan macht Ihnen hier nicht zu schaffen?«

Golden hob die Schultern und verzog das Gesicht zu einem Ausdruck, der etwa zu fragen schien: Bist m'schuge?

»Dann zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die leeren Plätze.

Wir werden schon dazu sehen, daß sie besetzt werden.«

Phil lächelte.

»Da müßten Sie Wunder wirken können«, sagte er ruhig und griff nach der Flasche, um Michael nachzuschenken. »Ich habe niemals Schwierigkeiten mit dem Rabbiner. Mit dem Ausschuß, ja. Mit einzelnen Mitgliedern, ja. Aber nicht mit dem Rabbiner. Ich werd da sein, wenn Sie mich brauchen, aber ich werd Ihnen nicht andauernd in den Ohren liegen. Schließlich handelt es sich um Ihr Kind.«

»Erst in sechs Monaten«, scherzte Michael, das Thema wechselnd, da Leslie und Rhoda ins Zimmer kamen.

Tags darauf wurden einige Möbel geliefert. Michael saß in einem neuen Stuhl vor dem Fernsehapparat, der früher Rabbi Kaplan gehört hatte.

In der Wochenschau von CBS waren arabische Streitkräfte zu sehen, Repräsentanten eines 40.000.000-Mann-Heeres von sechs Staaten, die ihren vereinigten militärischen Haß gegen 650.000 Juden richteten. Der Film zeigte zerstörte kibbuzim und Leichen und israelische Frauen, die, in Olivenhainen versteckt, das jordanische Feuer mit langen Salven von Leuchtspurmunition erwiderten. Michael verfolgte die Wochenschau aufmerksam. Seine Eltern hatten jetzt nur selten Nachricht von Ruthie.

Sie antwortete ausweichend auf ihre Fragen, wie weit sie in die Kämpfe verwickelt sei. Meist schrieb sie nur, daß es Saul und den Kindern gutgehe und daß es ihr gutgehe. War das seine Schwester Ruthie, dachte Michael, die Frau, die dort hinter einem gefällten Olivenbaum lag und einen Eindringling mit einem Feuerstoß zu treffen versuchte?

Er rührte sich den ganzen Tag lang nicht vom Fernsehschirm weg.

Leslie genoß ihren Nachmittagsausflug mit Florence Golden und kam mit der Adresse eines ausgezeichneten Geburtshelfers und mit einem gerahmten Druck von Thomas Sullys The Torn Hat zurück. Lange suchten Michael und sie nach einem geeigneten Platz dafür und standen dann vor dem endlich aufgehängten Bild, einander umschlungen haltend und ganz in den Anblick des süßen, ernsten Knabengesichts versunken.

»Hängt dein Herz daran, daß es ein Sohn wird?« fragte sie.

»Nein«, log er.

»Mir ist es wirklich egal. Ich kann nur daran denken, daß aus unserer Liebe ein Menschenwesen wird. Das ist das einzig Wichtige. Ob es einen Penis hat oder nicht, ist völlig gleichgültig.«

»Wenn's ein Bub wird, wär mir schon lieber, er hätte einen«, sagte Michael.

In dieser Nacht träumte er von Arabern und Juden, die einander abschlachteten, und er sah Ruthies toten Körper im Traum. Am Morgen stand er zeitig auf und trat barfuß hinaus in den Hinterhof.

Der Nebel war dick und klebrig, und Michael atmete ihn tief ein und schmeckte den scharfen Fischgeruch des sechs Kilometer entfernten Pazifiks.

»Was machst du denn da?« fragte Leslie, die ihm schlaftrunken gefolgt war.

»Leben«, sagte er. Und sie sahen, wie die Sonne, gleich einem Windschutzscheiben-Defroster, den Nebel durchschnitt.

»Ich möchte hier einen kleinen Garten anlegen und ein paar Tomaten pflanzen«, sagte er. »Vielleicht auch einen Orangenbaum. Oder sind wir zu weit im Norden für einen Orangenbaum?«

»Ich fürchte«, sagte sie.

»Ich glaub's nicht«, sagte er eigensinnig.

»Dann pflanz ihn«, sagte sie. »Ach, Michael, das wird sehr gut. Es gefällt mir hier. Hier sollten wir bleiben.«

»Ganz wie du willst, Baby«, sagte er, und sie gingen ins Haus; er, um Eier in die Pfanne zu schlagen und Kaffee zu kochen, und sie, um sich ihrem Schwangerschaftserbrechen hinzugeben.

32

An diesem ersten schabess im neuen Tempel ergriff ihn die triumphierende Erkenntnis, daß Phil Golden unrecht hatte. Seine Predigt war kurz, glänzend und klug gewesen und hatte die Wichtigkeit der Identifikation aller Mitglieder mit der Gemeinde zum Thema gehabt. Vier Fünftel aller Plätze waren besetzt. Die Zuhörer folgten aufmerksam, und nach dem Gottesdienst streckten sich freundliche Hände ihm entgegen und er hörte herzliche Worte, die ihn der Unterstützung, ja selbst der beginnenden Zuneigung versicherten. Er war sicher, daß sie alle wiederkommen würden.

Und sie kamen auch fast alle am folgenden Freitag.

Am dritten Freitag war seine Zuhörerschaft schon etwas kleiner geworden.

Nach Ablauf seiner ersten sechs Wochen als Rabbiner am Tempel Isaiah waren die leeren Sitze von der bema aus schon recht deutlich zu sehen. Ihre polierten Rückenlehnen warfen die Lichter zurück wie viele spöttische gelbe Augen.

Er versuchte, sie zu übersehen und sich auf die anwesenden Gläubigen zu konzentrieren. Aber ihre Anzahl wurde von Wothe zu Woche geringer, und die Anzahl der leeren Sitze nahm zu, so viele Rückenlehnen starrten ihn mit ihren gelben Augen unverwandt an, daß er sie nicht länger übersehen konnte, bis er schließlich Phil Golden recht geben mußte. Seine Feinde.

Michael und Leslie fanden es einfach, Kalifornier zu werden. Sie gewöhnten sich ab, die steilen Hänge im Auto hinaufzufahren. Sie besuchten Golden Gate Park an einem Sonntagnachmittag, an dem die Luft die Farbe von Blütenstaub hatte, und sie saßen im Gras und riskierten Flecken in ihren Kleidern und sahen den Liebespaaren zu, die vorbeigingen und Zärtlichkeiten austauschten, während rund um sie Kinder spielten und lachten und schrien.

Leslie wurde dicker, aber nicht so häßlich und aufgebläht, wie Michael befürchtet hatte. Ihr Bauch begann sich zu wölben wie eine große Knospe aus Fleisch und Blut, nach außen getrieben von dem wachsenden Leben. Nachts schlug er jetzt manchmal die Decken zurück, schaltete die Bettlampe ein und betrachtete sie, während sie schlief. Er lächelte vor sich hin und atmete schwerer, wenn er sah, wie ihr Bauch leise erbebte unter den Bewegungen des Kindes.

Schreckliche Gedanken verfolgten ihn, Gedanken an Fehlgeburten und Blutstürze und Steißgeburten und verkrüppelte Hände und fehlende Füße und Schwachsinn, und er betete in langen schlaflosen Nächten, daß Gott sie vor all dem behüten möge.

Der Geburtshelfer hieß Lubowitz. Er war ein dicker Großvater und ein alter Praktiker, der genau wußte, wann er freundlich und wann er streng zu sein hatte. Er verschrieb Leslie Spaziergänge und Turnübungen, die zu einem raubtierhaften Appetit führten, und setzte sie dann auf eine Diät, bei der sie nie satt wurde. Michael redete mit ihr so wenig wie möglich über Gemeindeangelegenheiten, je weiter die Schwangerschaft fortschritt, denn er wollte sie nicht beunruhigen. Er selbst wurde unruhig genug, und das in steigendem Ausmaß.

Seine Gemeinde gab ihm zu denken.

Phil Goldens Familie und eine Handvoll anderer Leute erschienen verläßlich und regelmäßig zu jedem Gottesdienst. Aber mit der großen Mehrzahl der Leute, die zu seinem Tempel gehörten, hatte Michael so gut wie keinen Kontakt.

Täglich ging er in die Krankenhäuser auf der Suche nach kranken Juden, um sie zu trösten und zugleich auch kennenzulernen. Er fand auch welche, aber nur selten gehörten sie zu seiner Gemeinde.

Bei Hausbesuchen fand er die Mitglieder seines Tempels höflich und freundlich, aber merkwürdig distanziert. Ein Ehepaar namens Sternbane zum Beispiel, das in einem Patio-Apartment auf Russian Hill wohnte, sah ihn verlegen an, nachdem er sich vorgestellt hatte.

Oscar Sternbane importierte orientalische Kunstgegenstände und besaß einen kleinen Anteil an einem Kaffeehaus in Geary Street.

Celia, seine Frau, gab Gesangunterricht. Sie hatte schwarzes Haar und rosige Haut und trug ihr Aussehen mit hochmütiger Bewußtheit zur Schau: den Sängerinnenbusen im unförmigen

Rollkragenpullover, die Hüften, die es verdienten, von blauen Pucci-Slacks umschmeichelt zu werden, die Nasenflügel, die sechshundert Dollar pro Stück wert waren.

»Ich versuche die Gemeinde zu reorganisieren«, sagte Michael zu Oscar Sternbane. »Ich dachte, wir könnten mit einem Sonntagsfrühstück im Tempel den Anfang machen.«

»Lassen Sie mich aufrichtig sein, Rabbi«, sagte Sternbane. »Wir sind glücklich, der Tempelgemeinde anzugehören. Unser kleiner junge kann jeden Sonntagvormittag Hebräisch und allerhand aus der Bibel lernen. Das ist sehr hübsch und gehört zur Kultur. Aber bejgl und lokschen - nein. Wir waren froh, bejgl und lokschen losgeworden zu sein, als wir aus Teaneck, New Jersey, hierherkamen.«

»Lassen Sie das Essen einmal aus dem Spiel«, sagte Michael.

»Die Gemeinde besteht aus Menschen. Kennen Sie die Barrons?«

Oscar hob die Schultern, und Celia schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, die würden Ihnen gefallen. Die und noch andere. Die Pollicks zum Beispiel. Die Abelsons.«

»Freddy und Jane Abelson?«

»Oh«, sagte er erleichtert, »Sie kennen die Abelsons?« »ja«, sagte Celia.

»Wir waren einmal bei ihnen, und sie waren einmal bei uns«, sagte Oscar. »Sie sind sehr nett, aber ... um ehrlich zu sein, Rabbi, sie sind ein bißchen spießig. Es fehlt ihnen« - er hob die Hand und drehte sie langsam, als schraubte er eine unsichtbare Glühbirne ein - »es fehlt ihnen der gewisse Schwung, den wir gern haben. Verstehen Sie?« Dann fuhr er in freundlichem Ton fort: »Schauen Sie, wir haben jeder unseren eigenen Freundeskreis,

unsere eigenen Interessen, und die sind nun einmal nicht um den Tempel konzentriert. Aber um welche Zeit soll denn das Frühstück stattfinden? Ich werde versuchen, es einzurichten.«

So sagte er. Aber er tat es nicht. Am ersten Sonntagvormittag erchienen schließlich acht Leute, und vier von ihnen hießen Golden. Am zweiten Sonntag kam nur mehr Phil mit seinen Söhnen. »Vielleicht könnte man es mit einer Tanzveranstaltung probieren«, regte Leslie an, nachdem er sich eines Abends, nach dem Genuß von drei Martinis vor dem Essen, endlich entschlossen hatte, mit ihr über seine Schwierigkeiten zu sprechen.

Sie verbrachten fünf Wochen mit den Vorbereitungen: sie setzten ein Flugblatt auf, verschickten zwei Postwurfsendungen, brachten die Sache als Aufmacher in den Tempelmitteilungen, engagierten eine Combo, bestellten ein kaltes Büffet und sahen schließlich am Abend der Veranstaltung gezwungen lächelnd zu, wie ganze elf Paare sich in der geräumigen Tempelvorhalle im Tanz drehten.

Michael setzte seine Krankenhausbesuche fort. Auch wandte er viel Zeit an die Vorbereitung seiner Predigten, als würden sich die Leute um die Plätze in seinem Tempel reißen. Dennoch blieb ihm viel freie Zeit, und da es zwei Blocks weiter eine Leihbücherei gab, löste er dort eine Karte und begann Bücher zu entlehnen. Zunächst wandte er sich wieder den Philosophen zu, doch bald ließ er sich von den Umschlägen der Romane verlocken, was schließlich zu gegenseitigem augenzwinkerndem Einverständnis mit den weiblichen Bibliotheksangestellten führte.

Auch mit Talmud und Thora beschäftigte er sich wieder, nahm allmorgendlich einen Abschnitt daraus vor, den er allabendlich mit Leslie rekapitulierte. An den stillen Nachmittagen, in der lautlos lastenden Luft des menschenleeren Tempels, begann er mit der mystischen Theosophie der Kabbala zu experimentieren, ganz wie ein kleiner Junge die Zehenspitzen in das gefährlich tiefe Wasser taucht.

St. Margaret, die katholische Pfarre, innerhalb derer die Kinds wohnten, baute an einer neuen Kirche. Eines Morgens, als er am Bauplatz vorbeikam, blieb Michael minutenlang in zweiter Spur stehen, um zuzusehen, wie ein Dampfbagger große Erd- und Felsbrocken aus der Baugrube förderte.

Tag für Tag kehrte er wieder. Es wurde ihm zur Gewohnheit, sooft er Zeit hatte, an der Baustelle vorbeizukommen, um den behelmten Männern bei ihrer Arbeit zuzusehen. Es war irgendwie erholsam, auf die aus Abfallbrettern gezimmerte Absperrung gestützt, den lärmenden Maschinengiganten und der wettergegerbten Baubelegschaft zuzusehen.

So konnte es nicht ausbleiben, daß er eines Tages den Pfarrer von St.

Margaret traf, Reverend Dominic Angelo Campanelli, einen alten Geistlichen mit verhangenem Blick und einem Feuermal auf der rechten Wange, als hätte Gott selbst ihn gezeichnet.

»Tempel Isaiah?« sagte er, als Michael sich vorgestellt hatte. »Das müßte doch das alte Sankt Jeremiah sein. In dieser Pfarre bin ich aufgewachsen.«

»Tatsächlich?« sagte Michael.

Dann mußte der Tempel ja noch gut zehn Jahre länger stehen, als er geschätzt hatte.

»Ich war damals Ministrant bei Pater Gerald X. Minehan, der dann später Weihbischof in San Diego geworden ist«, sagte Pater Campanelli.

Er schüttelte das Haupt. »St. Jeremiah! Ich habe meinen Namen in den Glockenturm jener Kirche geschnitten.« Er sah gedankenverloren ins Weite. »Ja, ja«, sagte er. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.« Und er wandte sich und schritt davon, ein Schwarzrock mit ruhelosen Fingern, welche mit den hundertfünfzig Perlen der Kordel um seine Mitte spielten.

Noch am selben Nachmittag leerte Michael den Inhalt einer alten Schuhschachtel auf seinen Schreibtisch und ging all die an ihren Schlüsseln hängenden Schilder durch, so lange, bis er jenen mit der Aufschrift Glockenturm gefunden hatte.

Die enge Tür öffnete sich mit dem erwarteten Knarren. Drinnen herrschte Düsternis, und eine der wenigen Holzstufen knackte beunruhigend unter Michaels Tritt. Wie peinlich, dachte er, hier durchzubrechen und mit kaputten Knochen dazuliegen. Wie hätte man das den Gemeindemitgliedern erklären sollen?

Die Holzstufen führten zu einem Treppenabsatz; im trüben Licht, das durch hohe, verschmutzte Fenster einfiel, war der auf kleinen runden Schalen an allen vier Wänden ausgelegte Rattenköder zu erkennen.

Eine eiserne Wendeltreppe führte zu einer Falltür in der Decke, die sich zwar unter Geknarr, aber ohne Schwierigkeiten öffnen ließ. Vögel stoben auf, als er hindurchkletterte. Der Gestank verschlug ihm den Atem. Die Wände waren weiß von Vogelmist. In drei kotverkrusteten Reisignestern hockte die unglaublich häßliche Taubenbrut: nackt, faustgroß und mit weit aufgerissenen Schnäbeln.

Die Glocke hing noch an ihrem Platz. Eine große Glocke. Mit dem Mittelfinger klopfte er dagegen, was ihm außer einem klanglosen Laut nur einen gebrochenen Fingernagel eintrug. Als er sich dann aus dem Turm beugte, sorgfältig darauf bedacht, seine Kleidung nicht mit dem besudelten Geländer in Berührung zu bringen, fiel die Stadt unter ihm ins Weite und dünkte ihn älter und wissender denn je zuvor. Zwei der Taubeneltern kamen zurück, umflatterten angstvoll und mit aufgeregtem Gegurre den Turm.

»Okay«, rief er ihnen zu, schritt vorsichtig durch all den aufgehäuften Mist, zog die Falltür wieder über sich zu und stieß erleichtert die Luft aus, in dem Versuch, den Gestank wieder aus der Nase zu bekommen.

Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und hielt näher Umschau. An der Wand hing noch immer die alte Gasleuchte. Er drehte den winzigen Hahn und war überrascht, daß Gas ausströmte. »Hier wird man etwas tun müssen«, murmelte er, während er den Hahn wieder schloß.

Es war zu dunkel, als daß man die Initialen des Priesters an der Wand hätte finden können. So zog er seine Streichhölzer hervor und riß eines an, nachdem er etwas ausgeströmtes Gas mit fächelnden Handbewegungen zerstreut hatte.

Im flackernden Licht eines Streichholzes zeigte sich ein in die Mauer geritztes Herz. Es war ziemlich groß, und in seiner Mitte standen tatsächlich die drei Buchstaben D. A. C.

»Dominic Angelo Campanelli«, sagte er laut und belustigt. Unter dem D.

A. C. war ein weiteres Monogramm gestanden, aber die Buchstaben waren mit dickem tiefschwarzem Bleistift unkenntlich gemacht worden.

An ihrer Statt war nun das Wort JESUS in das Herz mit Dominic Campanellis Initialen gekritzelt. Das Streichholz verbrannte ihm die Finger, und er ließ es mit einem unwilligen Laut fallen. Er steckte die Fingerspitzen in den Mund, bis der Schmerz geschwunden war, und fuhr dann die unleserlich gemachten Buchstaben nach: die Gravur war noch immer zu spüren. Der erste Buchstabe war zweifellos ein M. Dann folgte ein C oder auch ein O, das ließ sich nicht so genau sagen.

Wie mochte sie geheißen haben? Maria? Myra? Marguerite?

Er stand da und sann darüber nach, ob der junge Dominic Cainpanelli wohl geweint hatte, als er ihre Initialen ausstrich.

Dann stieg er den Kirchturm vollends hinab, verließ seinen Tempel und machte sich auf den Weg nach Hause, um dort seines Weibes geschwollenen Leib zu betrachten.

In der ersten Morgenfrühe begannen Michael und der Pfarrer miteinander zu reden; sie standen über den Absperrzaun gelehnt, bliesen den Rauch ihrer Pfeifen in den Morgennebel und sahen dem riesigen Dampfbagger zu, wie er sich den Abhang hineinfraß. Sorgsam vermieden sie alle religiösen Themen. Über Sport redete sich's leichter.

Eingehend diskutierten sie den derzeitigen Tabellenstand der Seals und die noch ausstehenden Teamspiele gegen Los Angeles. Und während sie über »averages« und »clutch hitters« sprachen, über die Katzengewandtheit von Williams und das Draufgängertum von DiMaggio, sahen sie die Baugrube Gestalt annehmen und später die Grundmauern wachsen.

»Interessant«, sagte Michael, als der Grundriß deutlich zu werden begann: ein Rechteck, das in einen großen Kreis mündete.

Pater Campanelli ging nicht weiter darauf ein. »Mal was anderes«, sagte er, während seine Blicke unwillkürlich die Straße hinauf zu der alten St.-

Margarets-Kirche wanderten, wie sie da, alt und viel zu klein, aus roten Ziegeln in einfachen, aber schönen Proportionen errichtet, in efeuüberwachsener Würde sich erhob. Dabei strichen seine langen dürren Finger über das Mal, das sein Habichtsgesicht verunzierte.

Michael kannte diese Geste schon: sie erfolgte immer dann, wenn unangenehme Dinge zur Diskussion gestanden waren - zum Beispiel ein Formtief der »Seals«, Williams' steifer Finger, der seiner Größe bei den Fans Abbruch tat, ein in hoffnungsloser Liebe zu Marilyn Monroe dahinwelkender DiMaggio.

An einem Sonntag, als er mit Leslie in den sinkenden Nachmittag der Monterey-Halbinsel hineinfuhr, sah er einen Tempel auf einer Felsklippe über dem Pazifik.

Die Lage war herrlich, nicht so das Bauwerk. Ganz aus Rotholz und Glas, schien es dem Fehltritt eines Blockhauses mit einem Eispalast entsprungen zu sein.

»Scheußlich, was?« fragte er Leslie. »Mhm.«

»Wie wird erst die neue Kirche bei uns drinnen aussehen!« Verschlafen zuckte sie die Schultern.

Nach einer Weile streckte sie sich und sah ihn an. »Wenn dir ein Architekt einen Tempel entwerfen müßte, was würdest du dir wünschen?«

Jetzt war es an ihm, die Schultern zu zucken. Aber die Frage ging ihm lange nicht aus dem Sinn.

Anderntags, nach der Talmudlektüre, saß er kaffeetrinkend in seinem Arbeitszimmer und machte sich daran, den idealen Tempel zu planen.

Es machte mehr Spaß als das Lesen, entdeckte er, und befriedigte dennoch so wenig wie eine Schachpartie gegen sich selbst. Er hantierte mit Papier und Bleistift, machte Entwurfskizzen, die er prompt wieder wegwarf, Aufstellungen, die er wieder und wieder erwog und umschrieb.

Er ging in die Bücherei und verlangte dort Werke über Architektur. Und immer wieder fand er sich in einer Sackgasse, die ihn zwang, seine Vorstellung von dem, was ein Tempel zu sein hätte, zu revidieren, so oft zu revidieren, daß er schließlich ein ganzes Aktenfach in seinem Arbeitszimmer für all diese Notizen und Bücher und Planskizzen frei machen mußte, deren Verfertigung ihm nun die langen Stunden seiner Freizeit unschwer füllte, wenngleich das Ganze nicht mehr war als eine Art Gesellschaftsspiel, eine rabbinische Version, Patiencen zu legen.

Gelegentlich gab es Störungen. Eines Morgens kam da ein betrunkener Handelsmatrose herein, unrasiert und mit angeschlagenem Auge.

»Ich möchte beichten, Hochwürden«, sagte er, indem er sich schwer und mit geschlossenen Augen in einen der Stühle fallen ließ.

»Leider...«

Der Matrose öffnete das eine Auge. »Ich bin kein Pfarrer.«

»Wo ist er?«

»Das ist keine Kirche.«

»Mach mir nichts vor, Kumpel, hab im Krieg x-mal hier gebeichtet.

Kann mich genau dran erinnern.«

»Früher einmal war's eine Kirche.« Und er wollte eben zu erklären beginnen, was mit der Kirche geschehen war, aber der Seemann schnitt ihm das Wort ab.

»Ja, Herrgott noch mal«, sagte er, »Herrgott noch mal«, während er schwankend aufstand und davonging, »wenn das keine Kirche ist, was, zum Teufel, hast du dann hier verloren?«

Michael saß da und starrte auf die Tür, durch welche der Mann in die Helle des Tages geschlurft war.

»Ich mach dir gar nichts vor, Kumpel«, sagte er schließlich vor sich hin.

»Ich weiß es selbst nicht genau.«

33

Eines Abends, als er heimkam, traf er Leslie mit rotgeweinten Augen an.

»Ist etwas passiert?« fragte er und dachte schon an Ruthies Familie, an seine Eltern, an ihren Vater.

Aber sie hielt ihm ein Päckchen entgegen. »Ich hab's aufgemacht, obwohl es für dich war.«

Er las den Absender: Union of American Hebrew Congregations. Das Päckchen enthielt ein hebräisches Gebetbuch, in schwarzes, abgegriffenes Steifleinen gebunden. Ein Brief lag bei in spinnenhafter, altmodischer Handschrift.

Mein lieber Rabbi Kind, leider muß ich Ihnen mitteilen, daß Rabbi Max Gross gestorben ist. Mein geliebter Gatte ist am 17. Juli in der Synagoge, während er die minche sprach, einem Schlaganfall erlegen.

Rabbi Gross war zeit seines Lebens ein schweigsamer Mann, aber von Ihnen hat er mir erzählt. Er hat mir einmal gesagt, daß er sich gewünscht hätte, unser Sohn, wäre er am Leben geblieben, sollte sein wie Sie - nur orthodox.

Ich erlaube mir, Ihnen den beigeschlossenen ssider zu übersenden. Es ist jener, den er für seine täglichen Andachten verwendet hat. Ich weiß, er hätte ihn gern in Ihren Händen gesehen, und es wird mir ein Trost sein, zu wissen, daß das Gebetbuch meines Mannes weiter verwendet wird.

Ich hoffe, daß Sie und Mrs. Kind wohlauf sind und sich wohl fühlen in einer so schönen Gegend wie Kalifornien, mit einem so wunderbaren Klima.

Herzlichst Ihre Mrs. Leah M. Gross

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Michael«, sagte sie. Aber er wehrte ab, wollte nicht darüber sprechen. Er konnte nicht weinen wie Leslie. Er hatte nie über den Tod weinen können. Aber er saß den ganzen Abend allein über dem ssider, ging ihn Seite um Seite durch, im Gedenken an Max.

Schließlich ging er zu Bett, fand aber keinen Schlaf neben seiner Frau und betete für Max Gross und für alle, die noch am Leben waren.

Nach geraumer Zeit berührte ihn Leslie bittend an der Schulter.

»Darling«, sagte sie. Er sah auf den Wecker. Es war zwei Uhr fünfundzwanzig.

»Laß nur, schlaf«, sagte er beruhigend. »Wir helfen ihm nichts mehr.«

»Darling«, sagte sie nochmals, diesmal mit einem Stöhnen.

Er richtete sich auf. »Ach, du lieber Gott«, sagte er, aber diesmal war es kein Gebet.

»Reg dich nicht auf«, sagte sie. »Es ist kein Grund dazu.«

»Sind es die Wehen?«

»Ich glaube, jetzt ist es soweit.«

»Ist es schlimm?« fragte er und zog schon die Hosen an. »Ich glaube, es sind erst die Vorwehen.«

»Wie oft?«

»Zuerst alle vierzig Minuten. Jetzt schon alle zwanzig.«

Er rief Dr. Lubowitz an, trug dann ihren Koffer hinunter, kam zurück und half ihr in den Wagen. Draußen war dicker Nebel, und Michael merkte, wie nervös er war. Er war nicht imstande, tief zu atmen, und fuhr ganz langsam, den Kopf über das Lenkrad gebeugt, fast bis an die Windschutzscheibe.

»Womit lassen sich diese Wehen vergleichen?« fragte er.

»Ich weiß nicht recht, es ist fast wie bei einem sehr langsam fahrenden Lift. Sie steigen an, bleiben eine Weile auf dem Höhepunkt und sinken dann wieder ab.«

»Wie beim Orgasmus?«

»Nein«, sagte sie. »Herr Jesus! «

»Sag das nicht! « fuhr es ihm heraus.

»Soll ich Moses sagen? Ist das besser?« Sie schüttelte den Kopf, schloß die Augen. »Für einen so gescheiten Mann kannst du unglaublich dumm sein.«

Er gab keine Antwort und fuhr durch die nebligen Straßen, mit der Hoffnung, sich noch nicht verirrt zu haben.

Sie strich ihm über die Wange.

»Es tut mir leid, Lieber. Oh -jetzt fängt's schon wieder an.«

Sie nahm seine rechte Hand vom Lenkrad und legte sie auf ihren Bauch.

Während sie die Hand dort festhielt, wurden die schlaffen Muskeln fest, dann verkrampft, dann ließ der Krampf unter seinen Fingerspitzen allmählich wieder nach. »Innen spür ich's genauso«, flüsterte sie. »Alles zieht sich zusammen zu einer harten Kugel.« plötzlich merkte er, daß er zitterte. Er hielt den Wagen hinter einem am Straßenrand unter einer Laterne parkenden Taxi an. »Ich habe mich verfahren, verdammt noch mal«, sagte er. »Kannst du in das Taxi umsteigen?«

»Natürlich.«

Der Fahrer war kahl, trug Leinenhosen und ein zerknittertes Buschhemd. Sein rotes irisches Gesicht war verquollen von Schläfrigkeit.

»Lane Hospital«, sagte Michael.

Der Fahrer nickte und gähnte ausgiebig, während er den Motor startete.

»Es ist an der Webster, zwischen Clay und Sacramanto«, sagte Michael.

»Ich weiß schon, wo's ist.«

Michael musterte Leslies Gesicht und sah, wie ihre Augen sich weiteten.

»Du kannst mir nicht erzählen, daß das noch Vorwehen sind«, sagte er.

»Nein, jetzt sind's die Wehen.«

Zum erstenmal sah der Fahrer sie richtig an, jetzt plötzlich hellwach.

»Heiliger Strohsack«, sagte er, »warum sagen Sie denn nichts! « Er trat aufs Gaspedal und fuhr nun doppelt vorsichtig, aber viel schneller.

Nach einigen Minuten begann Leslie zu stöhnen. Sie war sonst nicht wehleidig. Ihr Stöhnen hatte etwas Tierisches, Fremdes, und es erschreckte Michael.

»Wie sind die Intervalle jetzt?« fragte er, aber sie reagierte nicht. Ihr Blick war glasig.

»Oh - Jesus«, sagte sie leise. Er küßte sie auf die Wange. Abermals stöhnte sie, und es erinnerte ihn an das Klagen einer kalbenden Kuh im Stall. Er sah auf die Uhr, und bald danach löste sich neuerlich diese tierische Klage von den Lippen seiner Frau. Er sah abermals auf die Uhr.

»Mein Gott, das kann doch nicht stimmen«, sagte er. »Nur vier Minuten.«

»Beine zusammenhalten, Lady«, rief ihr der Fahrer zu, als stünde sie auf der anderen Straßenseite.

»Was machen wir, wenn's im Wagen passiert?« fragte Michael, sah auf den Boden und unterdrückte einen Schauder.

Auf der Gummimatte lag eine dicke, durchnäßte, zertretene Zigarre und sah aus wie ein Stück Kot.

»Hoffentlich nicht«, sagte der Fahrer erschrocken. »Wenn ihr hier das Wasser bricht, dann kann ich sechsunddreißig Stunden lang nicht fahren, weil das Taxi desinfiziert werden muß. Sanitätsvorschrift.« Er flitzte um die Kurve. »Gleich sind wir da, Lady«, rief er.

Leslie preßte ihre Füße jetzt gegen den Vordersitz. Mit jeder Wehe glitt sie tiefer, die Schultern gegen die Rücklehne und die Füße gegen den Vordersitz gepreßt, stöhnend und das Becken im Krampf nach oben gewölbt. Dabei drückte sie jedesmal den Fahrersitz nach vorn und drängte damit den Chauffeur ans Lenkrad. »Leslie«, sagte Michael, »so kann er nicht fahren.«

»Ist schon gut«, sagte der Mann. »Wir sind da.« Er würgte den Motor ab und ließ die beiden in dem noch schütternden Wagen sitzen, während er in das rote Backsteinhaus rannte. Gleich darauf kam er mit einer Schwester und einem Krankenwärter zurück, und sie setzten Leslie in einen Rollstuhl und griffen nach ihrem Koffer und karrten sie davon, ohne Michael zu beachten, der neben dem Fahrer am Straßenrand stand.

Er lief ihr nach und küßte sie auf die Wange.

»Die meisten Frauen sind da wie eine Frucht vor dem Aufplatzen«, sagte der Fahrer, als Michael zurückkam. »Der Doktor wird ein bißchen quetschen, und schon platscht das Baby heraus wie reifer Samen.«

Der Taxameter zeigte zwei Dollar und neunzig Cent an. Der Mann hatte sich beeilt, dachte Michael, und er hatte sich alle blöden Witze über werdende Väter verkniffen. So gab er ihm sechs Dollar.

»Sympathieschmerzen?« fragte der Fahrer, während er die Scheine in seine Geldtasche stopfte.

»Nein«, sagte Michael.

»Den Vätern ist auch noch nie was passiert«, sagte der Mann und stieg grinsend in seinen Wagen.

Die Aufnahmekanzlei des Krankenhauses war menschenleer.

Ein Mexikaner in mittleren Jahren führte Michael im Aufzug hinauf in die Entbindungsabteilung.

»Ist das Ihre Frau, die sie eben hereingebracht haben?« »ja«, sagte Michael.

»Wird nicht lange dauern. Sie ist fast soweit«, sagte er.

In der Entbindungsabteilung kam ihm ein junger Arzt mit Bürstenhaarschnitt durch die Schwingtür entgegen. »Mr. Kind?« Michael nickte. »Scheint recht gut zu gehen. Sie liegt schon im Kreißsaal.« Er strich sich mit der flachen Hand über den kurzbehaarten Schädel.

»Wenn Sie wollen, können Sie nach Hause gehen und ein wenig schlafen. Wir rufen Sie an, sobald es etwas Neues gibt.«

»Ich kann genausogut hier warten«, sagte Michael.

Der Arzt runzelte die Stirn. »Es kann lange dauern, aber wenn Sie wollen

-bitte.« Und erzeigte ihm den Weg zum Warteraum. Es war ein kleines Zimmer mit glänzend gewachstem braunem Linoleumboden, das ihn an das Heim erinnerte, in dem sein Großvater gestorben war. Auf der rohrgeflochtenen Sitzbank lagen zwei Illustrierte, eine drei Jahre alte Nummer von Time und eine ein Jahr alte Nummer von Yachting. Die einzige Lampe im Raum hatte eine zu schwache Birne.

Michael ging zum Aufzug und drückte auf den Knopf. Der mexikanische Liftwärter lächelte noch immer.

»Kann ich hier irgendwo einen Drink für Sie bekommen?« fragte Michael.

»Nein, Sir. Ich kann während der Arbeit ohnedies nicht trinken. Aber wenn Sie Zigaretten und Zeitungen und so wollen, zwei Blocks geradeaus ist ein Drugstore, der die ganze Nacht offen hat.«

Als sie unten angelangt waren, hielt er Michael, der eben aussteigen wollte, noch einen Augenblick zurück. »Sagen Sie, daß ich Sie hingeschickt hab, dann hab ich bei ihm nächstens was zu Rauchen gut.«

Michael grinste. »Wie heißen Sie?« »Johnny.«

Langsam und unterwegs betend ging er durch die neblige Dunkelheit zum Drugstore, kaufte drei Pakete Philip Morris, einen Oh Henry und einen Clark Bar, eine Zeitung, Life, The Reporter und einen Taschenbuchkrimi.

»Johnny hat mich hergeschickt«, sagte er zum Verkäufer, während er auf das Wechselgeld wartete. »Vom Krankenhaus.« Der Mann nickte. »Was raucht er für Zigaretten?« fragte Michael. »Johnny? Ich glaube, der raucht überhaupt keine Zigaretten. Zigarillos.« Er kaufte drei Päckchen Zigarillos für Johnny. Auf dem Rückweg war der Nebel immer noch dicht, aber das erste Licht brach schon hervor. Mein Gott, sagte er stumm, laß sie gut durchkommen. Das Baby auch, aber wenn nur einer durchkommen kann, dann laß es sie sein, ich bitte dich, Gott, Amen. Johnny war entzückt von den Zigarillos. »Ihr Doktor ist schon gekommen. Und die Blase ist gesprungen«, sagte er. Zweifelnd betrachtete er all die Dinge, die Michael mitgebracht hatte. »So lange werden Sie wahrscheinlich gar nicht hierbleiben«, sagte er.

»Der junge Arzt hat aber gesagt, es kann lange dauern«, sagte Michael.

»Ist eben jung«, sagte Johnny. »Er ist seit acht Monaten hier. Ich bin hier seit zweiundzwanzig Jahren.« Der Summer ertönte, und er schloß die Aufzugtür.

Michael entfaltete die Zeitung und versuchte, Herb Caens Artikel zu lesen. Schon nach wenigen Minuten war der Aufzug wieder da. Johnny kam ins Wartezimmer und nahm nahe der Tür Platz, wo er den Summer hören konnte. Er brannte eine der Zigarillos an.

»Und was machen Sie?« fragte er. »Als Beruf?« »Ich bin Rabbiner.«

»Was, wirklich?« Er blies nachdenklich den Rauch aus. »Vielleicht können Sie mir da Auskunft geben. Ist das wahr, daß sie eine Party geben, wenn ein jüdischer junge ein gewisses Alter erreicht hat, und damit wird er zum Mann?«

»Die bar-mizwe. Ja, mit dreizehn.«

»Aha. Und ist es auch wahr, daß alle andern Juden zu dieser Party kommen und Geld für den jungen mitbringen, damit er ein Geschäft eröffnen kann?«

Michael mußte lachen, und noch ehe er soweit war, daß er hätte antworten können, stand eine Schwester in der Tür und fragte: »Mr.

Kind?«

»Er ist Rabbiner«, sagte Johnny.

»Schön, dann meinetwegen Rabbi Kind«, sagte sie müde. »Meinen Glückwunsch, Ihre Frau hat soeben einen Sohn geboren.«

Als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, benahm ihm der Äthergeruch fast den Atem. Ihr Gesicht war gerötet, sie hatte die Augen geschlossen und sah aus, als wäre sie noch nicht bei Bewußtsein. Aber sie schlug die Augen auf und lächelte ihm zu, und als er ihre Hand ergriff, hielt sie die seine fest.

»Hast du ihn gesehen?« fragte sie. »Noch nicht.«

.,Oh, er ist schön«, flüsterte sie. »Und er hat einen Penis. Zur Sicherheit hab ich den Doktor gefragt.«

»Wie fühlst du dich?« fragte er, aber sie war schon eingeschlafen. Bald darauf erschien Doktor Lubowitz, noch in dem Kittel, den er im Kreißsaal getragen hatte. »Wie geht's ihr?« fragte Michael. »Gut. Beiden geht es gut. Das Baby wiegt vier Pfund. Der Teufel soll diese Weiber holen«, sagte er. »Sie werden es nie lernen, daß es einfacher ist, die Kinder klein auf die Welt zu bringen und draußen großzuziehen, wo genug Platz zum Wachsen ist. Und der Doktor kann sich plagen wie ein Vieh.« Er schüttelte Michael die Hand und ging.

»Wollen Sie ihn sehen?« fragte die Schwester. Er wartete vor dem Babyzimmer, während die Schwester die richtige Wiege suchte; als sie ihm dann das Neugeborene an die Glasscheibe hielt, stellte er mit einem Schock fest, daß es sehr häßlich war, mit rot verschwollenen Augen und einer breiten, flachgedrückten Nase. Wie soll ich ihn jemals lieben können, dachte er, und das Baby gähnte, öffnete die Lippen, zeigte einen winzigen rosigen Zahnfleischansatz und begann dann zu schreien - und Michael liebte es.

Als er das Krankenhaus verließ, stand die Sonne am Himmel. Er wartete am Gehsteigrand, und bald kam ein Taxi vorbei, das er anrief. Eine dicke grauhaarige Frau saß am Steuer des sehr saubergehaltenen Wagens. An der Rückseite des Fahrersitzes war eine Vase mit würzig riechenden Blumen befestigt. Zinnien, dachte Michael.

»Wohin, Mister?« fragte die Frau.

Er sah sie mit albernem Gesichtsausdruck an, lehnte sich dann zurück, lachte und hörte erst auf, als er ihren erschrockenen Blick bemerkte.

»Ich weiß nicht, wo ich meinen Wagen stehengelassen habe«, erklärte er.

34

Als er am Nachmittag ins Krankenhaus zurückkam, war Leslie schon wach. Sie hatte frisches Make-up aufgelegt, trug ein spitzenbesetztes Nachthemd und ein blaues Band im gutfrisierten Haar.

»Wie sollen wir ihn nennen?« fragte er und küßte sie. »Wie wär's mit Max?«

»Das ist ein Name aus dem schtetl, was Häßlicheres und weniger Assimiliertes hätte uns nicht einfallen können«, wandte er überglücklich ein.

»Mir gefällt er.«

Er küßte sie wieder.

Eine Schwester brachte das Baby ins Zimmer. Leslie hielt es behutsam.

»Er ist so schön«, flüsterte sie, während Michael sie voll Mitleid betrachtete. Doch im Verlauf der nächsten Tage änderte sich das Aussehen des Babys. Die Schwellung seiner Lider ging zurück, und die Augen, die nun allmählich zum Vorschein kamen, waren groß und blau.

Die Nase sah bald weniger flachgedrückt und mehr wie eine Nase aus.

Das häßliche Rot am ganzen Körper wich einem zarten Rosa.

Eines Abends bereitete Michael seiner Frau Kopfschmerzen mit der ihr unverständlichen überraschten Feststellung: »Er ist doch überhaupt nicht häßlich.«

Der Plymouth wurde schließlich mit polizeilicher Hilfe an genau der Stelle gefunden, wo er ihn damals in der Nacht geparkt hatte. Nichts fehlte als die Radkappen. Diesen Schaden, ebenso wie die fünfzehn Dollar Strafe, die er drei Tage später für verbotenes Parken auf einem Taxistandplatz zu bezahlen hatte, schrieb Michael leichten Herzens auf Geburtsspesen ab.

Abe und Dorothy Kind konnten nicht rechtzeitig zur Beschneidung ihres Enkels nach Kalifornien kommen. Aber wenn sie schon den briss versäumten, das pidjon haben versäumten sie nicht. Dorothy wollte nicht fliegen. So nahmen sie ein Abteil im City of San Francisco, und Dorothy strickte auf der quer durchs Land führenden Reise von drei Nächten und zwei Tagen drei Paar Babyschuhe und eine kleine Mütze.

Abe blätterte inzwischen Illustrierte durch, trank Scotch, unterhielt sich mit einem sommersprossigen Schlafwagenschaffner namens Oscar Browning über das Leben und die Politik und betrieb mit Interesse und Bewunderung Verhaltensstudien an einem Korporal der Air Force, der zwei Stunden nach der Abfahrt aus New York im Speisewagen neben einer hochmütigen Blondine zu sitzen kam und sich bis zur Einfahrt in San Francisco bereits im Schlafwagenabteil der Dame eingerichtet hatte.

Dorothy geriet beim Anblick ihres Enkels in Verzückung. »Er sieht aus wie ein kleiner Filmstar«, sagte sie.

»Er hat Ohren wie Clark Gable«, stimmte Abe zu. Der Großvater hatte sogleich das Amt übernommen, Max nach dem Trinken zum Aufstoßen zu bringen, wobei er sich sorgfältig eine saubere Windel über Schulter und Rücken breitete, um sich vor dem Angespucktwerden zu schützen, und regelmäßig am Ende der Prozedur einen großen nassen Fleck in der Ellbogengegend auf seinem Ärmel hatte. »Pischerke«, nannte er das Baby, ein Name, der Liebe und Mißbilligung im gleichen Maß ausdrückte.

Abe und Dorothy blieben zehn Tage in Kalifornien. Sie wohnten zwei Freitagabend-Gottesdiensten bei, wobei sie steif links und rechts von ihrer Schwiegertochter saßen, während alle drei so taten, als existierten rund um sie keine leeren Sitze. »Er hätte Radiosprecher werden sollen«, flüsterte Abe nach dem ersten Gottesdienst Leslie zu.

Am Abend vor ihrer Rückkehr nach New York machten Michael und sein Vater einen Spaziergang. »Kommst du mit, Dorothy?« fragte Abe.

»Nein, geht nur allein. Ich bleibe bei Leslie und Max«, sagte sie und griff sich unruhig mit der Hand an die Brust.

»Was ist los?« fragte er, die Stirn runzelnd. »Dieselbe Geschichte? Soll ich einen Doktor holen?«

»Ich brauch keinen Doktor«, sagte sie. »Geht nur.«

»Was heißt >dieselbe Geschichte<?« fragte Michael, als sie auf der Straße waren. »Ist sie krank gewesen?«

»Ah«, seufzte Abe. »Sie kwetscht herum. Ich kwetsch herum. Unsere Freunde kwetschen herum. Und weißt du, was es ist? Wir werden alt.«

»Älter werden wir alle«, sagte Michael und fühlte sich etwas unbehaglich. »Aber Mama und du, ihr seid doch nicht alt. Ich wette, du stemmst immer noch deine Hanteln im Schlafzimmer.«

»Tu ich«, sagte Abe und schlug demonstrierend auf seinen flachen Bauch.

»War hübsch, daß du hier warst, Pop«, sagte Michael. »Ist mir gar nicht recht, daß du wieder wegfährst. Wir sehen einander viel zu selten.«

»Wir werden einander jetzt öfter sehen«, sagte Abe. »Ich verkaufe das Geschäft.«

Die Mitteilung überraschte Michael mehr, als am Platz gewesen wäre.

»Nein, das ist ja großartig«, sagte er. »Was wirst du anfangen?«

»Reisen. Das Leben genießen. Deiner Mutter ein bißchen Freude machen.« Abe schwieg eine Weile. »Du weißt, unsere Ehe ist erst recht spät wirklich eine Ehe geworden. Wir haben lange gebraucht, bis wir draufgekommen sind, was der eine am anderen hat.« Er hob die Schultern. »Jetzt mächt ich, daß sie noch etwas hat von ihrem Leben. Im Winter Florida. Im Sommer ein paar Wochen bei euch. Alle paar Jahre eine Reise nach Israel, zu Ruthie, wenn uns die verdammten Araber nur lassen.«

»Und wer kauft Kind Foundations?«

»Ich hab in den letzten Jahren Angebote von zwei großen Konfektionsfirmen gehabt und werd an den Meistbietenden verkaufen.«

»Ich freu mich für dich«, sagte Michael. »Das klingt sehr gut.« »Ja, ich hab mir's gut ausgerechnet«, sagte Abe. »Sag nur deiner Mutter noch nichts davon. Es soll eine Überraschung werden. « Am nächsten Morgen gab es eine Diskussion darüber, ob Michael sie zum Zug bringen sollte oder nicht. »Ich kann diese langen Bahnhofsabschiede nicht leiden«, sagte Dorothy. »Gib mir hier einen Kuß, wie es sich für einen guten Sohn gehört, und dann nehmen wir ein Taxi, wie jeder vernünftige Mensch.«

Aber Michael setzte seinen Willen durch. Er fuhr sie zum Bahnhof und kaufte Illustrierte und Zigarren für den Vater und Bonbons für die Mutter. »Oi, ich kann das doch nicht einmal essen«, sagte sie. »Ich muß Diät halten.« Sie gab ihm einen zärtlichen Stoß. »Du geh jetzt nach Hause«, sagte sie, »oder in deinen Tempel. Aber verschwind von hier.«

Er sah sie an und meinte schließlich, es wäre besser, ihr nachzugeben.

»Lebt wohl, ihr beide«, sagte er und küßte die Eltern auf die Wangen.

Dann schritt er schnell davon.

»Warum hast du das gemacht?« fragte Abe ärgerlich. »Er hätte noch gute zehn, fünfzehn Minuten bei uns bleiben können.«

„Weil ich nicht auf einem Bahnhof zu weinen anfangen will, deshalb«, sagte sie und fing an zu weinen.

Als sie dann in den Zug stiegen, hatte sie sich einigermaßen gefaßt. Sie strickte und redete nur wenig bis zum Mittagessen. Auf dem Weg zum Speisewagen stellte Abe fest, daß Oscar Browning, der sommersprossige Schlafwagenschaffner, wieder im Zug war.

»Hallo, Mr. Kind«, sagte Browning. »Das freut mich, daß Sie auch die Rückreise wieder mit uns machen.«

»Wieviel Trinkgeld hast du dem bei der Hinfahrt gegeben?« fragte Dorothy, als sie im nächsten Waggon angelangt waren. »Das übliche.«

»Wieso erinnert er sich dann an dich?«

»Wir haben uns lang miteinander unterhalten. Er ist ein intelligenter Mensch.«

»Ja, sicher«, sagte sie. Dann schloß sie die Augen. Um ihren Mund zeigte sich ein weißer Strich. »Mir ist nischt gut. Übel im Magen. Das macht dieser Zug, er rüttelt so.«

»Ich hab dir gleich gesagt, wir sollten fliegen«, meinte er. Er beobachtete sie gespannt. Nach einer Weile verschwand der weiße Strich, und ihr Gesicht bekam wieder Farbe. »Geht's dir besser?« »Ja.«

Sie lächelte ihm zu und tätschelte seine Hand. Der Kellner kam und stellte die Speisen auf den Tisch, und Dorothy schaute Abe beim Essen zu.

»Jetzt krieg ich Hunger«, sagte sie.

»Magst du ein Steak?« fragte er erleichtert. »Oder etwas von dem da?«

»Nein«, sagte sie. »Bestell mir bitte eine Portion Erdbeeren.« Er bestellte, und während sie gebracht wurden, aß er seinen Rinderbraten auf.

»Immer fällt mir dieser Einkaufskorb und die Seilrolle ein, wenn ich dich Erdbeeren essen sehe«, sagte er.

»Weißt du's noch, Abe?« sagte sie. »Du hast mir den Hof gemacht, und wir sind immer mit dieser Helen Cohen ausgegangen, die nebenan wohnte, und mit ihrem Freund, wie hat er nur geheißen?«

»Pulda. Hermann Pulda.«

»Richtig, Pulda. Herky haben sie ihn genannt. Später sind sie dann auseinandergegangen, und er ins Fleischgeschäft. Sixteenth Avenue und Fifty-Fourth Avenue. Nicht koscher. Aber damals habt ihr beide uns jeden Abend einen Korb voll Obst gebracht, nicht nur Erdbeeren, auch Kirschen, Pfirsiche, Birnen, Ananas, jeden Abend was anderes.

Ihr habt gepfiffen, und wir haben den Korb an diesem Seil vom Fenster im dritten Stock hinuntergelassen. Oi, hab ich Herzklopfen gehabt.«

»Das war von deinem Schlafzimmerfenster.«

»Manchmal auch von Helens Fenster. Sie war so hübsch, daß einem die Sprache wegblieb, damals.«

»Aber nein, sie konnte sich doch mit dir nicht vergleichen. Nicht einmal heute.«

»Ach, heute! Schau mich doch nur an.« Sie seufzte. »Es kommt einem vor, als wär es gestern gewesen, aber schau mich doch an: graue Haare und schon das vierte Enkelkind.«

»Schön.« Unter dem Tisch legte er seine Hand auf ihre Schenkel.

»Du bist eine sehr schöne Frau.«

»Hör doch auf«, sagte sie, aber er merkte wohl, daß sie keineswegs ärgerlich war, und kniff sie noch einmal, bevor er seine Hand zurückzog.

Nach Tisch spielten sie Gin-Rummy, bis sie zu gähnen begann.

»Weißt du, was ich möchte?« sagte sie. »Ein Schläfchen machen. «

»Tu's doch«, sagte er.

Sie streifte die Schuhe ab und streckte sich auf dem Sitz aus. »Wart einen Augenblick«, sagte er. »Ich werd Oscar sagen, daß er dir das Bett machen soll.«

»Das brauch ich nicht«, sagte sie. »Dann mußt du ihm wieder ein Trinkgeld geben.«

»Ich geb ihm auf jeden Fall ein Trinkgeld«, sagte er ungeduldig. Sie nahm zwei Bufferin-Tabletten, während Oscar die Koje für sie zurechtmachte, und dann zog sie Kleid und Mieder aus, schlüpfte unter die Decken und schlief, bis zum letzten Abendessen gerufen wurde. Abe weckte sie so sanft, wie er nur irgend konnte. Nach dem Schlaf war sie ausgeruht und hungrig. Sie bestellte Brathuhn und Apfelkuchen und Kaffee zum Abendessen, aber in der Nacht war sie unruhig und drehte sich hin und her, so daß auch er nicht schlafen konnte.

»Was ist denn los?« fragte er.

»Ich sollte nichts Gebratenes essen. Jetzt hab ich Sodbrennen«, sagte sie. Er stand auf und gab ihr ein Alka-Seltzer. Gegen Morgen wurde es besser. Sie gingen zeitig in den Speisewagen und tranken Juice und schwarzen Kaffee. Dann kehrten sie in ihr Abteil zurück, und Dorothy nahm ihre Strickerei wieder auf, die an einem riesigen blauen Garnknäuel hing.

»Was machst du jetzt?« fragte er. »Einen Strampelanzug für Max.«

Er versuchte zu lesen, während sie strickte, aber er war nie ein großer Leser gewesen, und jetzt war er des Lesens müde. Nach einer Weile unternahm er einen Spaziergang durch den hin und her schwingenden Zug und machte schließlich im Vorraum zu den Herrenwaschräumen halt, wo Oscar Browning Handtücher stapelte und kleine Seifenstücke abzählte.

»Jetzt müssen wir doch bald nach Chicago kommen, nicht wahr?«

fragte er und nahm neben dem Schaffner Platz.

»Noch zwei Stunden ungefähr, Mr. Kind.«

»Dort hab ich eine Menge Kundschaften gehabt«, sagte er. »Marshai Field, Carson, Pirie and Scott. Goldblatt. Imponierende Stadt.«

»Das stimmt«, sagte der Schaffner. »Ich bin dort zu Hause.« »So«, sagte Abe. Dann dachte er eine Weile nach. »Haben Sie Kinder?«

»Vier.«

»Muß schwer sein, immer so herumzureisen.«

»Ja, es ist nicht leicht«, sagte der Schaffner. »Aber wenn ich nach Hause komm - Chicago ist eben Chicago.«

»Und warum suchen Sie sich nicht einen Job in Chicago?«

»Die Eisenbahn bezahlt mir mehr, als ich dort verdienen könnte.

Und ich komm lieber einmal in der Zeit zu meinen vier Kindern nach Haus und bring Geld für neue Schuhe mit, als daß ich sie tagtäglich seh und kein Geld für neue Schuhe hab. Stimmt's nicht?«

»Stimmt«, sagte Abe, und sie grinsten einander an. »Sie müssen eine Menge zu sehen kriegen bei diesem Job. So ein Zug, vollgestopft mit Männern und Weibern - da muß sich doch allerhand abspielen.«

»Ja, manche Leute beginnt's zu jucken, sobald sie auf Reisen sind.

Und in einem Zug ist das ärger als auf einem Schiff. Man kann ja nicht viel anderes anfangen.« Und eine Zeitlang erzählten sie einander Geschichten, Schlafwagengeschichten und Geschichten aus der Miederbranche. Dann gingen Oscar die Handtücher und die Seifen aus, und Abe kehrte in sein Abteil zurück.

Der Garnknäuel war bis zur Tür gerollt, nachdem er ihr vom Schoß gefallen war. »Dorothy?« fragte Abe. Er hob den Knäuel auf und trat näher. »Dorothy?« sagte er nochmals und schüttelte sie, aber er wußte es augenblicks und drückte mit aller Kraft den Knopf des Summers nieder, der den Schaffner herbeirief. Man hätte glauben können, sie schliefe, wären ihre Augen nicht offen gewesen, blicklos auf die kahle grüne Wand gegenüber gerichtet. Oscar kam durch die Tür, die Abe offengelassen hatte.

»Ja, Sir, Mr. Kind?« fragte er. Dann erfaßte er, was geschehen war.

»O du lieber Gott«, sagte er leise.

Abe legte ihr den Garnknäuel in den Schoß.

»Mr. Kind«, sagte Oscar, »setzen Sie sich doch lieber hin, Sir.« Er faßte Abe am Ellbogen, aber der schüttelte seine Hand ab. »Ich hole einen Arzt«, sagte der Schaffner unsicher.

Abe lauschte seinen sich entfernenden Schritten, dann fiel er auf die Knie. Durch den Teppich spürte er das Vibrieren der Schienen und die Spannung und Schwingung des Zuges. Er griff nach ihrer Hand und drückte sie an seine nasse Wange. »Ich zieh mich aus dem Geschäft zurück, Dorothy«, sagte er.

35

Ruthie kam erst zehn Stunden nach dem Begräbnis. Sie saßen auf ihren Hockern im Wohnzimmer der Kinds, als es läutete. Ruthie kam herein und ging von einem zum andern und umarmte Abe, den ein tiefes, keuchendes Schluchzen zu schütteln begann.

»Ich weiß nicht, warum ich geläutet hab«, sagte sie, und dann begann sie leise zu weinen, den Kopf an der Schulter ihres Vaters vergraben.

Nachdem sich alle etwas beruhigt hatten, küßte Ruthie ihren Bruder, und Michael machte sie mit Leslie bekannt. »Wie geht's deiner Familie?« fragte er.

»Gut.« Sie schneuzte sich und blickte um sich. Auf Abes Wunsch waren alle Spiegel verhangen worden, obwohl Michael das für überflüssig erklärt hatte. »Es ist vorüber, nicht wahr?« Michael nickte. »Ja, heute vormittag. Ich fahre morgen mit dir hinaus.«

»Gut.« Ihre Augen waren verschwollen und rot vom Weinen. Sie war tief gebräunt, ihr schwarzes Haar von Grau durchzogen. Der Kontrast von Bräune und ergrauendem Haar war sehr attraktiv, aber sie hatte Übergewicht und mehr als die Andeutung eines Doppelkinns. Und die Beine waren dicker geworden. Michael stellte bestürzt fest, daß sie nicht mehr seine geschmeidige, so amerikanisch aussehende Schwester war.

Nach und nach erschienen die Trauergäste.

Um acht Uhr abends war die Wohnung voll von Menschen. Die Frauen bauten allerhand Eßbares auf dem Tisch auf. Michael ging in sein früheres Schlafzimmer, um Zigaretten zu holen. Zwei Geschäftsfreunde seines Vaters saßen mit dem Rücken zur Tür auf dem Messingbett und tranken Scotch.

»Rabbiner-und hat eine schiksse geheiratet! Jetzt sagen Sie mir, wie das zusammenpaßt! «

»Mein Gott, was für eine Zusammenstellung! « Michael zog die Tür leise wieder zu, kehrte ins Wohnzimmer zurück, setzte sich neben Leslie, faßte nach ihrer Hand und hielt sie fest.

Um ein Uhr nachts, nachdem alle Gäste sich verabschiedet hatten, saßen sie schließlich allein in der Küche und tranken Kaffee.

»Warum gehst du nicht zu Bett, Ruthie?« bat Abe. »Du hast diesen langen Flug hinter dir. Du mußt doch völlig erschöpft sein.« »Und was wirst du anfangen, Papa?« fragte sie.

»Anfangen?« sagte er. Seine Finger zerkrümelten ein Stück eines Kuchens, den die Frau eines seiner Zuschneider gebacken hatte.

»Kein Problem. Meine Tochter und ihr Mann und ihre Kinder werden von Israel hierher übersiedeln, und wir werden alle sehr zufrieden sein. Ich verkaufe Kind Foundations. Geld wird genug dasein, Saul kann sich als gleichberechtigter Partner an jedem Geschäft beteiligen, das ihm Spaß macht. Oder, wenn er unterrichten will - soll er nochmals aufs College gehen und noch ein Diplom machen. Es gibt wirklich genug Kinder hier, die Lehrer brauchen.«

»Aber, Papa«, sagte sie, schloß die Augen und schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?« fragte er.

»Du müßtest in Israel kein Pionier mehr sein. Du könntest leben wie Rockefeller. Wenn du mit mir hinüberkommst, kannst du ein Haus in unserer Nähe haben, mit einem kleinen Hof zwischen weißgetünchten Mauern, im Schatten von Olivenbäumen«, sagte sie.

»Du kannst einen Garten haben. Du kannst im Sonnenschein mit deinen Hanteln trainieren. Deine Enkel werden jeden Tag zu Besuch kommen, und du wirst von ihnen Hebräisch lernen.«

Abe lachte, aber er lächelte nicht.

»Das hat man davon, wenn man seine Tochter einen Fremden heiraten läßt.« Er sah sie an. »Ich würde viele Briefe schreiben. Zu viele Briefe.

Es würde zehn Tage brauchen, bis ich weiß, ob die Yankees Red Sox geschlagen haben oder ob Red Sox die Yankees geschlagen hat. Und manchmal gibt's zwei Spiele an einem Tag.

Ich könnte da drüben nicht einmal Women's Wear Daily kaufen. Ich weiß es, ich hab es probiert, als ich das letztemal mit Mama -« Er stand auf und ging schnell ins Badezimmer. Sie hörten die Wasserspülung, sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

In ihr Schweigen fragte Michael: »Und wie steht's jetzt mit der Kanalisation dort drüben?«

Ruthie lächelte nicht, und er merkte, daß sie sich nicht erinnerte und dann doch erinnerte. »Das kümmert mich jetzt nicht mehr«, sagte sie.

»Ich weiß nicht, ob es daran liegt, daß die Toiletten besser geworden sind oder daß ich erwachsen geworden bin.« Sie schaute zur Tür hin, durch die ihr Vater verschwunden war, und schüttelte den Kopf. »Was wißt ihr schon hier herüben«, sagte sie leise. »Was wißt ihr schon wirklich. Wenn ihr es wüßtet, dann wäret ihr dort und nicht hier.«

»Pop hat dir die Antwort gegeben«, sagte Michael. »Wir sind Amerikaner.«

»Eben. Meine Kinder sind Juden, so wie ihr Amerikaner seid«, sagte sie.

»Sie haben gewußt, was man zu tun hat, als die Flieger herüberkamen.

Sie sind wie der Teufel in den nächsten Unterstand gerannt und haben hebräische Lieder gesungen.«

»Gott sei Dank, daß keiner von euch verletzt worden ist«, sagte Michael.

»Hab ich das gesagt?« fragte sie. »Nein, sicher nicht. Ich hab gesagt, wir sind wohlauf, und das sind wir auch -jetzt. Saul hat einen Arm verloren.

Den rechten.«

Leslie hielt unwillkürlich den Atem an, und Michael fühlte sich müde und elend. »Wo?« fragte er.

»Am Ellbogen.«

Er hatte wissen wollen, wo es geschehen war, und als er nichts erwiderte, merkte sie ihr Mißverständnis und sagte: »Bei einem Ort, der Petach Tikwah heißt. Er war bei der Irgun Zwi Leumi.« Leslie räusperte sich. »Bei den Terroristen? Ich meine, waren die nicht eine Art Untergrundbewegung?«

»Ja, am Anfang, noch unter den Engländern. Später, während des Krieges, wurden sie ein Teil der regulären Armee. In der Zeit war auch Saul dabei. Nur sehr kurz.«

»Unterrichtet er wieder?« fragte Leslie.

»Natürlich, schon seit langem. Durch seine Verwundung hat er es sehr leicht, Disziplin zu halten. Die Kinder sehen in ihm einen großen Helden.«

Sie drückte ihre Zigarette aus und lächelte ihnen zu, aber ihr Lächeln war ohne Zärtlichkeit.

Am Morgen nach der schiwe fuhren Abe und Michael mit Ruthie nach Idlewild.

»Aber zu Besuch wirst du doch wenigstens kommen?« sagte sie und küßte Abe zum Abschied.

»Wir werden sehen. Vergiß das Datum nicht -vergiß nicht, jahrzeit zu sagen.« Sie klammerte sich an ihn. »Ich komm sicher«, sagte er.

»Es ist ein Jammer«, sagte sie, als sie Michael knapp vor dem Einsteigen umarmte. »Ich kenne dich und deine Familie nicht, und du kennst mich und meine Familie nicht. Dabei hab ich das Gefühl, daß wir einander alle sehr gern haben könnten.« Und sie küßte ihn auf den Mund.

Sie warteten noch, bis das Flugzeug der EL AL ihren Blicken entschwand, und gingen dann zurück zum Wagen.

»Und was jetzt?« fragte Michael, während sie fuhren. »Wie wär's mit Kalifornien? Du bist bei uns jederzeit willkommen, das weißt du.« Abe lächelte. »Denk an deinen sejde. Nein. Aber ... danke.« Michael hielt den Blick auf den Verkehr gerichtet. »Also was dann? Florida?«

Sein Vater seufzte. »Ohne sie ist das nichts. Ich könnte es nicht. Ich werd nach Atlantic City gehen.«

Michael seufzte. »Und was hast du dort?«

»Ich kenne Leute, die sich dorthin zurückgezogen haben. Andere, die sich noch nicht zurückgezogen haben, aber ihren Sommerurlaub dort verbringen. Leute aus der Branche - Leute von meiner Art. Fahr morgen mit mir hin. Hilf mir, etwas zu finden, was mir zusagt.«

»Einverstanden«, sagte Michael.

»Ich hab das Meer gern. Und all den gottverdammten Sand.«

In einem kleinen, aber guten Villenhotel in Ventnos, nur zwei Blocks vom Strand entfernt, mieteten sie für ihn ein Schlafzimmer mit Kitchenette, Wohnzimmer und Bad, alles möbliert. »Es ist zwar teuer«, sagte Abe, »aber-wenn schon.« Er lächelte. »Deine Mutter ist in den letzten vier, fünf Jahren ein bißchen knauserig geworden, hast du das gewußt?«

»Nein.«

»Willst du das Zeug aus der Wohnung haben?« fragte Abe. »Hör zu -«

sagte Michael.

»Ich will es nicht. Kein einziges Stück davon. Wenn du magst, nimm es dir. Die Wohnung soll dann ein Agent verkaufen.« »Okay«, sagte Michael nach einer Weile. »Vielleicht das Messingbett vom sejde.« Er war ärgerlich, ohne zu wissen warum. »Nimm alles. Was du nicht brauchen kannst, gib weg.«

Nach dem Mittagessen machten sie einen langen Spaziergang, sahen eine Zeitlang einer Ramschauktion zu, auf der schnokes zum dreifachen Preis ihres Wertes verkauft wurden, und saßen in Strandstühlen unter der blendenden Nachmittagssonne und betrachteten den Menschenstrom, der auf der Strandpromenade unaufhörlich an ihnen vorüberflutete.

Fünfzehn Meter von ihnen entfernt lieferten einander zwei beiderseits eines Bierstandes postierte Wanderhändler einen Wettstreit in Sexualsymbolik. Der eine, in Hemdsärmeln und mit Strohhut, pries heiße Würstchen an. »DIE GRÖSSTEN FRANKFURTER DER WELT, NUR HIER, WIRKLICH HEISS, EINEN HALBEN METER LANG, JEDER ZENTIMETER EIN GENUSS«, brüllte er.

»BALLONS IN ALLEN FARBEN, GROSS, RUND, PRALL, DICK UND SCHÖN«, antwortete ein kleiner, italienisch aussehender Mann in abgetragenen Hosen und verwaschenem blauem Pullover.

Ein schwitzender Neger schob in einem Rollstuhl eine sehr dicke Dame mit einem nackten Baby im Arm vorbei.

Dann folgte eine Horde College-Mädchen in Badeanzügen, die mit den untauglichen Mitteln ihrer dürren Teenager-Figuren den rührenden Versuch unternahmen, es dem wollüstigen Hüftenschwingen ihrer angebeteten Hollywood-Stars gleichzutun. Der Salzwind trug das Gemurmel einer fernen Menschenmenge an ihr Ohr, die sich vielleicht einen Kilometer weiter unten auf der Strandpromenade angesammelt hatte, untermischt mit leisen erschrockenen Schreien.

»Das Weib auf dem Pferd ist mitten in den jam hineingeritten«, stellte Abe mit Befriedigung fest. Er atmete tief.

»A m'chaje. Wirklich, ein Vergnügen«, sagte er.

»Bleib hier«, sagte Michael. »Aber wenn's dir langweilig wird, denk dran, daß wir in Kalifornien auch einen Strand haben.« »Ich komm sicher auf Besuch«, sagte Abe und brannte eine Zigarre an. »Aber vergiß nicht, hier kann ich jederzeit, wenn mir danach zumut ist, in den Wagen steigen und ihr Grab besuchen. Das kann ich in Kalifornien nicht.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Wann fährst du zurück?« fragte er.

»Wahrscheinlich morgen«, sagte Michael. »Schließlich hab ich mich um eine Gemeinde zu kümmern. Ich kann nicht für zu lange wegbleiben.«

Nach einer Pause setzte er hinzu: »Das heißt natürlich, wenn du soweit in Ordnung bist.«

»Ich bin schon in Ordnung.«

»Pop, geh nicht zu oft zu ihrem Grab.« Der Vater gab keine Antwort.

»Das hilft doch niemandem. Ich weiß, wovon ich spreche.«

Abe sah ihn lächelnd an. »In welchem Alter müssen Väter eigentlich anfangen, ihren Söhnen zu gehorchen?«

»Überhaupt nicht«, sagte Michael. »Aber ich hab mit dem Tod zu tun, manchmal ein halbes dutzendmal in der Woche. Ich weiß, daß es den Lebenden nichts hilft, sich aufzuopfern. Du kannst die Uhr nicht zurückdrehen.«

»Ist dieses Amt nicht manchmal bedrückend für dich?« Michaels Blick folgte einem schwitzenden Dicken: er trug einen Fez, der zu klein für seinen Kahlkopf schien, und hatte den Arm um eine kleine, frech aussehende Rothaarige gelegt, die kaum älter als sechzehn sein mochte.

Im Gehen blickte sie zu ihm auf. Vielleicht ist er ihr Vater, dachte Michael mit einem schwachen Anflug von Hoffnung. »Manchmal schon«, antwortete er auf die Frage seines Vaters.

»Die Leute kommen zu dir mit Tod und Krankheit. Ein Junge kommt mit dem Gesetz in Konflikt. Ein Mädchen wird hinter der Scheune geschwängert.«

Michael lächelte. »Nicht mehr, Pop. Heute passiert so etwas nicht mehr hinter Scheunen, sondern in Autos.«

Der Vater maß diesem Unterschied kein Gewicht bei. »Wie hilfst du diesen Leuten?«

»Ich tu, was ich kann. Manchmal gelingt es mir, zu helfen, oft gelingt es nicht. Manchmal kann nur die Zeit und Gott helfen.« Abe nickte. »Ich bin froh, daß du das weißt.«

»Aber ich höre immer zu. Das ist immerhin etwas. Ich kann ein Ohr sein, das hört.«

»Ein Ohr, das hört.« Abe blickte hinaus aufs Meer, wo ein Fischdampfer scheinbar reglos stand, ein schwarzer Punkt auf blauem Horizont. »Nimm an, es kommt ein Mann zu dir und erzählt dir, daß er bis zu den Knien im Dreck gelebt hat-was würdest du ihm sagen?«

»Ich müßte mehr von ihm hören«, sagte Michael.

»Nimm an, ein Mann hätte den Großteil seines Lebens wie ein Vieh gelebt«, sagte er langsam. »Wie ein Hund um jeden Dollar gerauft.

Wie ein Kater hergewesen hinter dem Geruch einer Frau. Gerannt wie ein Rennpferd ohne Jockei, noch eine Runde und noch eine und noch eine.

Und nimm an«, fuhr er leise fort, »der Mann wacht eines Morgens auf und entdeckt, daß er alt ist und daß es keinen Menschen gibt, der ihn wirklich liebt.«

»Pop! «

»Ich meine, wirklich, so daß er für diesen andern der wichtigste Mensch auf der Welt wäre.« Michael wußte nichts zu sagen. »Du hast mich einmal in einer Situation gesehen, die für dich recht häßlich war«, sagte sein Vater.

»Fang nicht wieder damit an.«

»Nein, nein«, sagte der Vater und redete schnell weiter. »Ich wollte dir nur sagen, es war nicht das erstemal während meiner Ehe mit deiner Mutter, daß ich eine andere Frau hatte. Auch nicht das letzte.

Auch nicht das letzte.«

Michael umklammerte die Lehne seines Stuhls. »Warum glaubst du eigentlich, daß du mir das antun mußt?«

»Ich möchte, daß du verstehst«, sagte Abe. »An irgendeinem Punkt hat das alles aufgehört.« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht waren es die Hormone, vielleicht eine Änderung in meiner Lebenseinstellung. Ich kann mich an mindestens ein halbes Dutzend hübscher Gelegenheiten erinnern. Aber ich hab damit aufgehört und mich in deine Mutter verliebt. - Du hast ja nie eine Möglichkeit gehabt, sie zu kennen, wirklich zu kennen. Weder du noch Ruthie.

Aber für mich ist es jetzt noch schlimmer. Sehen Sie das ein, Rabbi?

Können Sie das verstehen, m'lamed, mein gescheiter Sohn? Ich hab sie lange Zeit nicht gehabt, und dann hatte ich sie, aber nur für eine kleine Weile, und jetzt ist sie fort.«

»Pop! « sagte Michael.

»Nimm meine Hand«, sagte sein Vater. Michael zögerte, und Abe langte hinüber und nahm die Hand seines Sohnes in die seine. »Was ist los?« fragte er mit rauher Stimme. »Hast du Angst, sie werden uns für verrückt halten?«

»I c h liebe dich, Pop«, sagte Michael.

Abe drückte seine Hand. » Scha«, sagte er.

Möwen zogen ihre Kreise. Die Menge flutete vorüber. Es gab viele Männer mit Fez darunter, eine ganze Gemeinde von Muslims. Nach und nach verschwand der kleine schwarze Fischdampfer hinter dem Horizont. VIELE BEWERBEN SICH UM DEN TITEL, ABER NUR HIER GIBT ES DIE ECHTEN UND WIRKLICH GRÖSSTEN FRANKFURTER DER WELT.

Das Mädchen auf dem Pferd war anscheinend wieder ins Meer gesprungen, denn sie hörten die Menge in der Ferne leise aufschreien. Ihre Schatten vor ihnen im Sand wurden länger und verschwommener.

Als es Zeit zum Gehen war, zog Abe seinen Sohn zum Bierstand und bestellte, indem er zwei Finger hob. Hinter dem Tisch stand ein junges braunhaariges Mädchen mit gelangweiltem Gesichtsausdruck, ein recht gewöhnliches Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren, leidlich hübsch, aber mit schadhaften Zähnen und unreinem Teint.

Abe sah ihr zu, wie sie die Becher nahm und nach dem Hahn griff.

»Ich heiße Abe.«

»Ja?«

»Und Sie?«

»Sheila.« Sie hatte ein Grübchen in der Wange.

Er prüfte es mit Daumen und Zeigefinger, ging dann zu dem Luftballonverkäufer hinüber und erstand einen knallroten, den er dem Mädchen ans Handgelenk band, so daß er wie ein großes blutunterlaufenes Auge über ihnen schwebte. »Der Bursche da ist mein Sohn. Von ihm laß die Hände, er ist ein verheirateter Mann.«

Gleichgültig nahm sie das Geld und gab heraus. Aber als sie von der Kasse zurückkam, lachte sie und ließ ihre Kurven beim Gehen mehr spielen als zuvor, und der Ballon schwankte über und immer ein Stückchen hinter ihr. Abe schob ihm eine Stange Bier zu. »Für die Fahrt«, sagte er.

36

Michael begann zu verstehen, daß das Leben aus einer Reihe von Kompromissen bestand. Sein Rabbinat am Tempel Isaiah hatte sich nicht so entwickelt, wie er es hoffte, mit Scharen von Menschen, die zu seinen Füßen saßen, um seinen blendenden modernen Interpretationen talmudischer Weisheit zu lauschen. Seine Frau war jetzt Mutter, und er suchte verstohlen in ihren Augen nach den Augen des Mädchens, das er geheiratet hatte, des Mädchens, das erschauert war, wenn er sie mit dem bestimmten wissenden Blick angesehen hatte. Jetzt stieß sie ihn manchmal nachts mitten in der Liebe von sich, wenn ein dünnes Weinen aus dem Nebenzimmer sie zum Baby rief, und dann lag er im Dunkel und haßte das Kind, das er liebte.

Die hohen Feiertage kamen, und der Tempel quoll über von Menschen, die sich plötzlich daran erinnerten, daß sie Juden waren, und meinten, es wäre an der Zeit, so viel Reue zu zeigen, daß es wieder für ein Jahr reichte. Der Anblick des von Menschen überfüllten Gotteshauses erregte ihn und erfüllte ihn mit neuer Hoffnung und dem festen Vorsatz, nicht aufzugeben und sie am Ende doch für sich zu gewinnen.

Er entschloß sich zu einem neuen Versuch, solange ihnen der Jom-Kipur-Gottesdienst noch frisch im Gedächtnis war. Einer seiner früheren Lehrer, Dr. Hugo Nachmann, unterrichtete für einige Zeit am Rabbinischen Institut in Los Angeles. Dr. Nachmann war Experte in den Schriftenfunden vom Toten Meer. Michael lud ihn ein, nach San Francisco zu kommen und im Tempel einen Vortrag zu halten.

Zu der Veranstaltung erschienen ganze achtzehn Zuhörer, von denen, wie Michael feststellte, mehr als die Hälfte nicht Mitglieder seiner Gemeinde waren. Zwei entpuppten sich als Journalisten, die Dr.

Nachmann über die archäologischen Aspekte der Pergamentenfunde interviewen wollten.

Dr. Nachmann machte es den Kinds nicht schwer. »Sie wissen doch, das ist nichts Ungewöhnliches«, sagte er. »Die Leute haben einfach an manchen Abenden keine Lust auf einen Vortrag. Ja, wenn Sie zu einer Tanzveranstaltung eingeladen hätten ... ! «

Am nächsten Morgen, als er mit Pater Campanelli an dem Absperrzaun vor der halbfertigen Kirche lehnte, begann Michael spontan darüber zu sprechen. »Immer wieder mache ich es falsch«, sagte er. »Ich kann es anstellen, wie ich will, ich krieg die Leute nicht in den Tempel.«

Der Pfarrer betastete das Mal auf seiner Wange. »So manchen Morgen bin ich dankbar für die Pflichtfeiertage«, sagte er still. Ein paar Wochen später rekelte sich Michael eines Morgens im Bett, etwas niedergeschlagen bei der Vorstellung, wieder einen Tag beginnen zu müssen. Er wußte genug über die Psychologie persönlicher Verluste, um zu erkennen, daß diese Stimmung eine Nachwirkung vom Tod seiner Mutter war, aber dieses Wissen half ihm nicht, wie er da gedankenverloren in seinem Bett lag, in der Wärme seines Weibes Trost suchte und zu einem Sprung in der Schlafzimmerdecke emporstarrte.

Der Tempel Isaiah hatte wenig zu bieten, was ihn aus dem Bett getrieben hätte; nicht einmal einen sauberen Fußboden, dachte er.

Ausgerechnet vor den Feiertagen hatte der Tempeldiener, ein zahnlückiger Mormone, der drei Jahre lang das Haus peinlichst rein gehalten hatte, mitgeteilt, daß er sich nun zu seiner verheirateten Tochter nach Utah zurückziehe, um dort seine Ischias zu pflegen und seinen Geist wieder aufzurichten. Der Wirtschaftsausschuß, der nur selten zusammentrat, hatte sich wenig angestrengt, den Posten neu zu besetzen. Während Phil Golden schäumte und schalt, wurden Silber und Messing stumpf, und die Böden verloren ihren Glanz. Freilich hätte Michael einen Tempeldiener anstellen und sicher sein können, daß dessen Gehalt auf Wunsch des Rabbiners ausbezahlt würde. Aber schließlich war das Sache des Wirtschaftsausschusses. Wenigstens das werden sie für den Tempel tun müssen, dachte Michael erbittert.

»Steh auf«, sagte Leslie und stieß ihn mit der Hüfte an. »Warum?«

Aber siebzig Minuten später parkte er seinen Wagen vor dem Tempel. Zu seiner Verwunderung fand er das Tor unversperrt.

Drinnen hörte er das Kratzen einer Scheuerbürste auf Linoleum und fand, da er dem Geräusch stiegenabwärts folgte, den Mann im farbbespritzten weißen Arbeitszeug kniend den Flurboden säubern.

»Phil«, sagte Michael.

Golden strich sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. »Ich hab vergessen, Zeitungspapier mitzubringen«, sagte er. »Wie Sie noch ein Kind waren, hat Ihre Mutter da auch am Donnerstagnachmittag alle Fußböden aufgewaschen und nachher Zeitungspapier aufgebreitet?«

»Am Freitag«, sagte Michael. »Freitag vormittag.« »Nein, am Freitag vormittag hat sie tscholent gebacken.«

»Aber was treiben Sie denn? Ein gebrechlicher alter mamser wie Sie wird doch nicht Böden reiben! Wollen Sie einen Herzanfall kriegen?«

»Ich hab ein Herz wie ein Stier«, sagte Golden. »Ein Tempel muß rein sein. Ein schmutziger Tempel - so was darf es nicht geben. «

»Dann sollen die einen Tempeldiener anstellen. Oder stellen Sie selbst jemanden an.«

»Die werden noch eine Weile herumkrechzn. Man muß anfangen, an ihrer Statt was zu tun. Die werden sich nie um den Tempel kümmern. Inzwischen werden die Böden sauber sein.« Michael schüttelte den Kopf. »Phil, Phil.« Und er wandte sich auf dem Absatz um und ging hinauf in sein Büro. Dort zog er seine Jacke aus, band die Krawatte ab und krempelte die Hemdsärmel auf.

Dann durchsuchte er mehrere Schränke, bis er noch einen Eimer samt Bürste fand.

»Sie nicht«, protestierte Golden. »Ich brauch keine Hilfe. Sie sind der Rabbi.«

Aber Michael kniete schon und ließ die Bürste im seifigen Wasser kreisen. Seufzend wandte sich Golden wieder seinem eigenen Eimer zu. So arbeiteten sie beide vor sich hin. Das Geräusch der beiden Bürsten klang freundlich. Golden begann mit kurzatmiger Grunzstimme Opernfragmente zu singen.

»Um die Wette bis zum Ende vom Vorraum«, sagte Michael. »Wer verliert, holt Kaffee.«

»Keine Wettrennen«, sagte Phil. »Keine Spielereien. Einfach arbeiten, und das gut.«

Golden erreichte das Ende des Korridors als erster und ging trotzdem um Kaffee. Bald darauf saßen sie in einem leeren Klassenzimmer, in dem sonst Hebräisch unterrichtet wurde, tranken langsam ihren Kaffee und betrachteten einander.

»Diese Hosen«, sagte Michael. »Die dürfen Sie aber die rebezen nicht sehen lassen.«

»Sieht sie höchstens, daß ich endlich was arbeite für mein Geld.«

»Sie arbeiten jeden Tag für Ihr Geld.«

»Nein, Phil, reden Sie mir doch nichts ein.« Er schwenkte den Kaffee in seinem Becher herum und herum und herum. »Ich studiere den Talmud, und das nahezu als Tagesbeschäftigung. Ich sitze Tag für Tag bei den Büchern und suche Gott.«

»So, was ist schlecht dran?«

»Wenn ich Ihn finde, wird meine Gemeinde davon erst zum nächsten lom-Kipur erfahren.«

Golden lachte in sich hinein und seufzte dann. »Ich hab versucht, es Ihnen zu erklären«, sagte er. »Diese Gemeinde ist nun einmal so.«

Er legte die Hand auf Michaels Arm. »Dabei hat man Sie gern. Sie werden es wahrscheinlich nicht glauben, aber die Leute haben Sie wirklich sehr gern. Sie wollen Ihnen einen langfristigen Vertrag anbieten. Mit einer ordentlichen jährlichen Gehaltssteigerung.«

»Wofür?«

»Dafür, daß Sie hier sind. Daß Sie ihr Rabbi sind. Sicher, was die eben darunter verstehen - aber schließlich doch ihr Rabbi. Ist es für einen Rabbiner so schlecht, finanziell gesichert zu sein und den Großteil seiner Zeit dem Studium widmen zu können?«

Er nahm Michael den Kaffeebecher aus der Hand und warf ihn, zusammen mit seinem eigenen, in den Papierkorb. »Lassen Sie mich zu Ihnen sprechen, als wären Sie einer von meinen Söhnen«, sagte er. »Das hier ist kein schlechter Platz. Geben Sie Ruh - und gönnen Sie sich Ruh. Sammeln Sie ein bißchen Wohlstand an. Lassen Sie Ihren Kleinen mit den feinen Pinkeln hier aufwachsen und schicken Sie ihn nach Stanford - und wollen wir hoffen, daß er was Gutes draus macht.«

Michael schwieg.

»In ein paar Jahren wird diese Gemeinde Ihnen einen Wagen kaufen. Später wird sie Ihnen ein Haus kaufen.«

»Mein Gott.«

»Arbeiten wollen Sie?« sagte Golden. »Los, scheuern wir noch ein paar Böden.« Sein Lachen klang wie Trommelschläge. »Ich garantiere Ihnen, wenn ich diesem lausigen Wirtschaftsausschuß erzähle, wer ihnen diesmal die Dreckarbeit gemacht hat, dann haben die morgen einen Tempeldiener angestellt.«

Tags darauf spürte er seine Muskeln als Folge der ungewohnten körperlichen Arbeit. Er hielt vor St. Margaret's, beugte sich über den Absperrzaun und sah den Arbeitern im Stahlhelm zu, die an dem Neubau beschäftigt waren, während er sich durch die Sehnenschmerzen in seinen Oberschenkeln auf eine neue Art mit den Arbeitern aller Welt verbunden fühlte. Pater Campanelli war nicht da. Der Pfarrer erschien jetzt nur mehr selten auf dem Bauplatz; meist blieb er hinter den roten Ziegelmauern seiner alten Kirche, die schon bald dem Abbruch zum Opfer fallen sollten.

Michael konnte ihm das nicht übelnehmen. Die neue Kirche hatte ein häßliches Betondach und Wände aus getönten Glasplatten, die stark abgeschrägt nach innen verliefen, so daß das Gebäude von dieser Seite wie ein riesiger, nach unten sich verjüngender Kegelstumpf aus Eiscreme aussah. Ein Korridor aus Aluminium und Glas führte zu einem Rundbau, der so geistlich wie ein Industriekraftwerk wirkte. Auf dem Dach dieses Bauwerks waren Arbeiter damit beschäftigt, ein glänzendes Aluminiumkreuz aufzurichten.

»Wie schaut's aus?« rief einer der Männer vom Dach.

Ein neben Michael stehender Mann schob seinen Stahlhelm aus der Stirn und visierte Kreuz und Dach. »Gut«, brüllte er.

Gut, dachte Michael.

Jetzt konnte wenigstens jedermann das Ding von einem Würstchenstand unterscheiden.

Er wandte sich ab und wußte, daß er nicht wiederkommen würde -

aus demselben Grund, der den Pfarrer veranlaßt hatte, nicht länger zuzusehen. Es war ein geschmacklos errechnetes Haus der Andacht.

Und jedenfalls gab es nichts weiter zu sehen; es war zu Ende. Zu Ende war auch Michael mit seinen Studien über Tempelarchitektur.

Er hatte einen Text niedergeschrieben, der, wie ihm schien, ein vernünftiges Grundkonzept für den Bau eines modernen Gotteshauses enthielt. Da die ehemalige St.-Jeremiah-Kirche den bescheidenen Ansprüchen der Gemeinde vom Tempel Isaiah mit Leichtigkeit genügen konnte, wußte Michael mit dem Resultat seiner Studien nichts Besseres anzufangen, als es zu publizieren. Er schrieb einen Artikel, den er dem Blatt der Zentralkonferenz Amerikanischer Rabbiner einreichte und der dort auch erschien. Er schickte je eine Nummer der Zeitung an seinen Vater in Atlantic City und an Ruthie und Saul in Israel, dann packte er all seine Notizen in einen Pappkarton, führte ihn nach Hause und verstaute ihn auf dem winzigen Dachboden in der Kommode aus der elterlichen Wohnung, die zu verkaufen er und Leslie sich nicht hatten entschließen können.

Nun, da diese Arbeit abgeschlossen war, hatte er noch mehr unausgefüllte Zeit als zuvor. Eines Nachmittags kam er um halb drei Uhr nach Hause. Leslie war eben damit beschäftigt, ihre Einkaufsliste zusammenzustellen.

»Post ist gekommen«, sagte sie.

Es war der neue Vertrag, den Phil Golden ihm angekündigt hatte.

Bei seiner Durchsicht stellte Michael fest, daß er äußerst großzügig war, über fünf Jahre lautete und eine beträchtliche Steigerung seines Einkommens mit dem Beginn jedes neuen Jahres vorsah. Michael wußte, daß er nach Ablauf der fünf Jahre einen Vertrag auf Lebensdauer bekommen würde.

Er legte das Schriftstück achtlos auf den Tisch, und Leslie las es, ohne einen Kommentar abzugeben.

»Es ist so gut wie eine Jahresrente«, sagte er. »Vielleicht fange ich an, ein Buch zu schreiben. Zeit hab ich ja genug.«

Sie nickte und beschäftigte sich wieder mit ihrer Einkaufsliste. Er unterschrieb den Vertrag nicht, sondern verwahrte ihn vorläufig im obersten Fach seines Schlafzimmerschranks unter der Schachtel mit den Manschettenknöpfen.

Er kam zurück in die Küche, setzte sich zu Leslie an den Tisch, rauchte und sah ihr zu.

»Ich werde die Einkäufe für dich besorgen«, sagte er.

»Das kann ich doch machen. Du hast sicher etwas anderes zu tun.«

»Ich habe gar nichts zu tun.«

Sie musterte ihn mit einem schnellen Blick und setzte zu einer Antwort an, besann sich aber dann anders.

»Gut«, sagte sie.

Ein paar Tage später kam der Brief:

23 Park Lane Wyndham, Pennsylvania 3. Oktober 1953

Rabbi Michael Kind Tempel Isaiah

2103 Hathaway Street San Francisco, Kalifornien Lieber Rabbi Kind,

der Geschäftsführende Ausschuß des Tempels Emeth in Wyndham hat mit nicht geringem Interesse Ihren programmatischen Artikel in dem neu gegründeten und ganz ausgezeichneten CCAR Journal gelesen.

Tempel Emeth ist eine seit einundsechzig Jahren bestehende reformierte Gemeinde in der Universitätsstadt Wyndham, fünfunddreißig Kilometer südlich von Philadelphia. Der Zuwachs in den letzten Jahren brachte es mit sich, daß unser fünfundzwanzig Jahre alter Tempel nun wirklich zu klein geworden ist. Da wir vor der Notwendigkeit stehen, über einen Neubau zu beschließen, war uns Ihr Artikel besonders wichtig. Er wurde hier zum Gegenstand zahlreicher Diskussionen.

Rabbi Philip Kirschner, der sechzehn Jahre lang unser geistliches Oberhaupt war, zieht sich am 15. April 1954 zu wohlverdientem und, wie wir hoffen, zufriedenem Ruhestand in seiner Heimatstadt St. Louis, Mo., zurück. Wir möchten seinen Posten gern mit einem Mann besetzen, der uns sowohl ein mitreißendes geistliches Oberhaupt sein kann, als auch darüber nachgedacht hat, wie ein jüdischer Tempel im modernen Amerika beschaffen sein müßte.

Wir würden die Gelegenheit begrüßen, dies mit Ihnen zu besprechen.

Ich werde vom 15. bis 19. Oktober in Los Angeles sein, um am Kongreß der Gesellschaft für moderne Sprachen an der University of California teilzunehmen. Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie auf Kosten des Tempels Emeth während dieser Zeit per Flug nach Los Angeles kommen könnten. Sollte dies unmöglich sein, würde ich trachten, nach San Francisco zu kommen. Ich habe den Besetzungsausschuß der Union of American Hebrew Congregations von unserer Absicht unterrichtet, mit Ihnen über die bevorstehende Vakanz an unserem Tempel zu verhandeln.

Ihrer Antwort sehe ich mit großem Interesse entgegen und verbleibe Ihr ergebener Felix Sommers,

Ph. D. Präsident des Tempels Emeth

»Wirst du fahren?« fragte Leslie, als er ihr den Brief zeigte. »Es kann wohl nichts schaden, hinzufliegen«, sagte Michael.

In der Nacht seiner Rückkehr aus Los Angeles betrat er das Haus leise, in der Erwartung, sie schliefe schon. Sie lag jedoch auf dem Sofa und sah dem Spätabend-Programm zu.

»Nun?« fragte sie.

»Es wären um tausend Dollar weniger, als ich jetzt verdiene. Vertrag nur für ein Jahr.«

»Aber du kannst die Berufung bekommen, wenn du sie willst?«

»Sie würden die übliche Gastpredigt verlangen. Aber ich könnte die Berufung bekommen, wenn ich will.«

»Und, was wirst du tun?«

»Was möchtest denn du, daß ich tun soll?« fragte er.

»Das mußt du selbst entscheiden«, sagte sie.

»Du weißt, wie es Rabbinern ergeht, die eine Reihe kurzfristiger Verträge hinter sich haben? Man fängt an, sie herumzustoßen. Nur die problematischen Gemeinden ziehen sie mehr in Betracht, und mit den Mindestbezügen. So wie in Cypress, Georgia.«

Sie schwieg.

»Ich habe schon zugesagt.«

Sie wandte plötzlich ihr Gesicht ab, so daß er nur mehr ihren Hinterkopf sehen konnte. Seine Hand berührte ihr Haar.

»Was ist los?« fragte er.

»Hast du Angst vor einer neuen Schar von Weibern? Vor den jentes?«

»Zum Teufel mit den jentes«, sagte sie. »Es wird immer Leute geben, für die wir beide ein Greuel sind. Die zählen nicht.« Sie wandte sich schnell ihm zu und umarmte ihn. »Nur eines zählt: daß du mehr tun wirst, als bloß eine fette Jahresrente einzustreifen und daß du nicht mehr nur dem Namen nach Rabbiner sein wirst. Du kannst mehr als das - du weißt es doch.«

Er spürte ihre nasse Wange an seinem Hals, und Staunen erfüllte ihn.

»Du bist der bessere Teil meiner selbst«, sagte er. »Mein Bestes bist du.«

Seine Umarmung, die sie zunächst nur davor bewahren sollte, von dem schmalen Sofa hinunterzufallen, wurde enger.

Ihre Finger verschlossen ihm die Lippen.

»Nur eines zählt: daß du tust, was du wirklich tun willst.«

»Ich will«, sagte er, sie berührend.

»Ich spreche von Pennsylvania«, sagte sie nach kurzem Schweigen, aber schon überließ sie sich seinen Armen und hob ihr Gesicht voll Erwartung ihm entgegen.

Später, im Bett, berührte sie ihn an der Schulter, während er schon im Einschlafen war.

»Hast du ihnen von mir erzählt?« fragte sie. »Was meinst du?«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ach so.« Er blickte empor ins freundliche Dunkel ihres Zimmers. »Ja, ich hab es ihnen erzählt.«

»Dann ist's gut. Gute Nacht, Michael.« »Gute Nacht«, sagte er.

37

Er fuhr allein nach Wyndham, um seine Gastpredigt zu halten, und das Empfangskomitee, das ihn vom Bahnhof abholte und vor dem Gottesdienst zum Abendessen in Dr. Sommers' Haus brachte, gefiel ihm. Die Stadt war klein und, wie die meisten Universitätsstädte, von trügerischer Ruhe erfüllt, wenn man sie vom Auto aus sah. Es gab vier Buchhandlungen, eine grüne Plakatwand inmitten des Hauptplatzes, auf der die Konzerte und Ausstellungen in der Umgebung angezeigt waren, und überall sah man junge Leute. Die Luft knisterte von herbstlicher Kälte und der Vitalität der Studenten. Der Teich im Universitätsgelände trug eine dünne Eisschicht. Die majestätischen Bäume mit ihren schon kahlen Ästen waren nackt und schön.

Beim Abendessen setzten ihm die leitenden Herren der Gemeinde mit Fragen zu und wollten vielerlei über den geplanten Neubau wissen. In den langen Wochen einsamer Studien hatte er sich mehr an Wissen angeeignet, als er nun verwenden konnte, und die unverhohlene Bewunderung der Herren machte, daß Michael das Essen voll Selbstvertrauen verließ und alle Voraussetzungen für eine blendende Predigt mitbrachte. Er sprach darüber, wie eine alte Religion all die Dinge überdauern könne, die in der Welt am Werk waren, sie zu vernichten.

Als er Wyndham am folgenden Nachmittag verließ, wußte er, daß die Berufung ihm sicher war, und als sie kaum eine Woche später tatsächlich eintraf, war er nicht verwundert.

Im Februar flogen er, Leslie und das Baby für fünf Tage nach Wyndham. Den Großteil der Zeit verbrachten sie mit Gebäudemaklern. Am vierten Tag fanden sie ein Haus, einen schwarzroten Ziegelbau im Kolonialstil mit restauriertem grauem Schieferdach. Der Agent sagte, es wäre in ihrer Preislage, weil die meisten Leute mehr als zwei Schlafzimmer haben wollten. Es hatte auch noch andere Nachteile: die Räume waren hoch und schwer sauberzuhalten. Es gab weder Müllschlucker noch Geschirrspülmaschine, wie sie in ihrem Haus in San Francisco vorhanden gewesen waren. Die Installationen waren veraltet, die Rohre gaben gurgelnde und stöhnende Geräusche von sich. Aber der Eichenboden war großzügig im Zuschnitt und mit Sorgfalt verlegt. Es gab einen Ziegelkamin im größeren Schlafzimmer und einen Marmorkamin mit einer schönen alten gemauerten Feuerstelle im Wohnzimmer. Von dem hohen, achtteiligen Vorderfenster aus überblickte man das Universitätsgelände.

»O Michael«, sagte Leslie, »wie schön! Hier können wir zu Hause sein, bis die Familie größer geworden ist. Max könnte von hier aus ins College gehen.«

Diesmal war er schon zu gewitzt, um zu nicken, aber er lächelte, als er den Scheck für den Gebäudemakler ausschrieb.

Seine Tage in Wyndham waren von Anfang an ausgefüllt mit Arbeit und Menschen. Sowohl Hillel als die Intercollegiate Zionist Federation of America verfügten über Studentengemeinden an der Universität, und beide hatte Michael zu betreuen. Gelegentlich unternahm er kleine Reisen mit Leuten vom Bauausschuß, um neue Tempel in anderen Gemeinden zu besichtigen. Leslie inskribierte als außerordentliche Hörerin für semitische Sprachen, und zweimal in der Woche lernte er mit ihr und einigen ihrer Kollegen. Tempel Emeth war eine intellektuelle Gemeinde in einer intellektuellen Stadt, und bald verbrachte Michael viel Zeit mit ähnlichen Studiengruppen und Forumsdiskussionen an der Universität. Er fand, daß die Cocktailparties den leidenschaftlichen Diskussionsabenden alter Talmudisten glichen, mit dem einzigen Unterschied, daß diese ihre modernen Schüler sich zumeist über Propheten wie Teller oder Oppenheimer oder Herman Kahn erhitzten. Die Studenten- und Studentinnen-Verbindungen erfüllten wichtige soziale Funktionen, und die Kinds hatten an den verschiedensten Veranstaltungen teilzunehmen. So fungierten sie eines Winterabends als Anstandspersonen bei der Schlittenpartie einer Jugendgruppe und hofften, während sie über den Schnee dahinglitten und einander unter der Decke an den Händen hielten, daß all das Lachen und Geschnatter rund um sie in der Dunkelheit nichts sei als der Ausdruck unschuldigen Vergnügens.

Die Wochen vergingen so schnell, daß Michael erstaunt war, als die Ausschußmitglieder des Tempels mit einem neuen Vertrag bei ihm erschienen und er gewahr wurde, daß ein Jahr vergangen war. Dieser neue Vertrag lautete über zwei Jahre, und er unterschrieb ihn ohne Zögern. Tempel Emeth war sein Tempel. Der Gottesdienst war jeden Freitagabend gut besucht, und Michaels Predigten lösten beim oneg schabat lebhafte Diskussionen aus. Zu Rosch-Haschana und Joni-Kipur mußte er jeweils zwei Gottesdienste abhalten. Während des zweiten am letzten Tag von Jom-Kipur erinnerte er sich plötzlich daran, wie einsam und nutzlos er sich in San Francisco gefühlt hatte.

Er betrieb Eheberatung, aber so wenig wie möglich. Es stellte sich heraus, daß er selbst ein Eheproblem zu bewältigen hatte. Nach ihrer Obersiedlung hatten er und Leslie gefunden, Max sei nun alt genug, einen Bruder oder eine Schwester zu bekommen. Sie verwendeten also keine Schutzmittel mehr, zuversichtlich hoffend, daß der schon einmal vollzogene Zeugungsakt sich mühelos wiederholen ließ. Leslie packte das Pessar in Talkumpuder und legte die kleine Schachtel in die Zedernkiste zu den Reservedecken. So ergaben sie sich zwei- bis dreimal pro Woche mit großen Erwartungen der Liebe, aber nach einem Jahr mußte Michael erleben, daß er jedesmal nachher noch wach lag, während sie ihm den Rücken zukehrte und, auf jedes Nachspiel verzichtend, schon eingeschlafen war. Er hingegen starrte dann ins Dunkel und sah dort die Gesichter seiner ungeborenen Kinder und fragte sich, warum sie so schwer zum Leben zu erwecken waren. Er betete zu Gott um Beistand und ging dann oftmals barfuß ins Zimmer seines Sohnes, wo er beunruhigt die Decke zurechtschob, so daß sie Max bis an das kindliche Kinn reichte. Er sah auf die magere Gestalt hinunter, die so wehrlos vor ihm im Schlaf lag, ledig aller Revolver, ledig auch der Oberzeugung, man könne jedem Übel schon durch einen Schlag in den Magen begegnen. Und abermals betete er um Leben und Glück seines Kindes.

So vergingen viele seiner Nächte.

Die Leute starben, und er übergab sie der wartenden Erde. Er predigte, er betete, die Leute verliebten sich, und er machte ihre Liebe rechtskräftig und segnete sie. Der Sohn des Mathematikprofessors Sidney Landau ging mit der blonden Tochter des schwedischen Leichtathletiktrainers Jensen durch. Und während Mrs. Landau ihren Kummer mit Schlafmitteln betäubte, begab sich Michael mit ihrem Mann noch in der Nacht zu Mr. und Mrs. Jensen und ihrem Geistlichen, einem Lutheraner namens Ralph Jurgen. Am Ende eines unerfreulichen Abends schritten Michael und Professor Landau über das ausgestorbene Universitätsgelände.

»Die machen sich genau solche Sorgen wie wir«, sagte Landau. »Sie haben genau solche Angst.«

»Gewiß.«

»Werden Sie mit den jungen Leuten reden, wenn sie zurückkommen?«

»Das wissen Sie doch.«

»Es wird zu nichts führen. Die Eltern des Mädchens sind fromm.

Sie haben ja den Pastor gesehen.«

»Nur nichts vorwegnehmen, Sidney. Erst abwarten, bis sie zurückkommen. Geben Sie ihnen eine Chance, sich zurechtzufinden.« Und nach einer Weile: »Ich bin recht vertraut mit ihrem Problem.«

»Das kann ich mir denken«, sagte Professor Landau. »Ich hätte mit Ihrem Vater reden sollen, nicht mit Ihnen.«

Michael schwieg. Professor Landau sah ihn an. »Kennen Sie die Geschichte von dem gramgebeugten jüdischen Vater, der zum Rabbi kommt und ihm sein Leid klagt: der Sohn sei mit einer schiksse davongelaufen und habe sich taufen lassen?«

»Kenn ich nicht«, sagte Michael.

»>Rabbi<, sagt der Mann, >Rabbi, was soll ich tun, mein Sohn ist geworden ein goj.<

Der Rabbi schüttelt das Haupt. >Wem sagst du das? Ich hab auch einen Sohn gehabt, und er hat genommen eine schiksse und ist geworden ein goj.<

>Und was hast du getan?< Antwortet der Rabbi: >Ich bin gegangen in den Tempel und hab gebetet. Und plötzlich ist da eine gewaltige Stimme. <

>Und was hat Er gesagt, Rabbi?<

>Was willst du? Ich hab auch einen Sohn gehabt ...<«

Sie lachten beide, aber es klang nicht froh. An seiner Straßenecke angelangt, war Professor Landau sichtlich erleichtert, sich verabschieden zu können. »Gute Nacht, Rabbi.«

»Gute Nacht, Sidney. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen.«

Im Weggehen hörte Michael ihn leise vor sich hinweinen. So vergingen viele seiner Tage.

38

Michael stand auf dem gekiesten Bahnsteig, und während er Max an der Hand hielt, sahen die beiden der Einfahrt des Vier-Uhr-Zwei-Zuges aus Philadelphia zu. Als die Lokomotive vorbeidonnerte, verstärkte Max seinen Griff.

»Erschrocken?« fragte Michael. »Es zischt so schrecklich.«

»Wenn du erst größer bist, erschrickst du nicht mehr«, sagte Michael gegen jede Überzeugung.

»Nein, dann nicht mehr«, sagte der Junge, ließ aber die Hand seines Vaters nicht los.

Leslie wirkte müde, als sie aus dem Waggon stieg und ihnen entgegenkam. Nachdem sie die beiden mit einem Kuß begrüßt hatte, stiegen sie in den grünen Tudor Ford, der den blauen Plymouth schon lange ersetzte. »Na, wie war es?« fragte Michael.

Sie hob die Schultern. »Dr. Reisman ist ja sehr nett. Er hat mich gründlich untersucht, hat alle Befunde studiert und hat dann gemeint, es müßte einfach klappen, wenn wir beide zusammenkommen. Und dann hat er mir Mut gemacht und mir zugeredet, ich sollte es nur weiter versuchen, und dann habe ich seiner Ordinationshilfe unsere Adresse gegeben, damit sie dir die große Rechnung schicken kann.«

»Ausgezeichnet.«

»Und außerdem hat er mir einiges gesagt, was wir machen sollen.«

»Was denn?«

»Das werden wir später üben«, sagte sie, während sie Max an sich zog und ihn zärtlich umarmte. »Dich haben wir doch wenigstens, Gott sei Dank«, murmelte sie, das Gesicht im Haar ihres Jungen vergraben.

Und dann: »Du, Michael, machen wir doch ein paar Tage Urlaub.«

Genau das, was auch ich will, schoß es ihm durch den Kopf. »Wir könnten Vater in Atlantic City besuchen«, sagte er.

»Dort waren wir doch erst. Nein, ich wüßte was Besseres. Wir nehmen uns einen Babysitter und ziehen los, wir beide ganz allein!

Fahren auf zwei, drei Tage in die Poconos hinauf.«

»Wann?«

»Warum nicht gleich morgen?«

Aber am Abend, Max wurde eben von Leslie gebadet, läutete das Telephon, und Michael führte ein längeres Gespräch mit Felix Sommers, dem Vorsitzenden des Bauausschusses. Sie waren soeben von einer Informationsreise zurückgekommen.

»Haben Sie auch den neuen Tempel in Pittsburgh besichtigt?«

fragte Michael.

»Ein sehr schöner Tempel«, sagte Professor Sommers. »Nicht gerade das, was wir uns vorstellen, aber wirklich sehr, sehr schön. übrigens, der dortige Rabbiner kennt Sie und läßt Sie grüßen. Rabbi Levy.«

»joe Levy. Netter Kerl. -Übrigens, Felix, wie viele Tempel haben wir uns jetzt schon angesehen?«

»Achtundzwanzig. Meine Güte! «

»Na also. Und wann hören wir damit auf und überlegen, was sich daraus machen läßt?«

»Deshalb rufe ich Sie an«, sagte Sommers. »Wir haben mit dem Architekten gesprochen, der den Tempel in Pittsburgh gebaut hat.

Paolo Di Napoli heißt er. Wir glauben, daß er eine wirkliche Größe ist. Sie sollten hinfahren und sich seine Entwürfe ansehen.«

»Gemacht«, sagte Michael. »Setzen Sie den Tag fest.«

»Das ist es ja. Er hat nur an zwei Tagen Zeit. Morgen oder erst am nächsten Sonntag.«

»Beides nicht günstig für mich«, sagte Michael. »Wir müssen einen anderen Tag finden.«

»Aber das ist es ja, sag ich. Er fährt nach Europa und bleibt drei Monate drüben.«

»Nächsten Sonntag hab ich eine Trauung«, überlegte Michael. »Und morgen -« Er seufzte. »Na schön, machen Sie's für morgen fix«, sagte er. Sie verabschiedeten sich, und dann ging Michael zu Leslie, um ihr zu eröffnen, daß ihr Urlaub geplatzt war.

Am Morgen des nächsten Tages fuhr er mit Felix Sommers nach Philadelphia. Da sie zeitig aufgebrochen waren, frühstückten sie unterwegs.

»Was mich stört, ist die Tatsache, daß Di Napoli kein Jude ist«, sagte Michael, als sie in dem Restaurant saßen.

Wortlos brach Sommers seine Semmel auseinander, dann meinte er:

»Daß gerade S i e das sagen.«

Aber Michael gab nicht nach. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Christ das richtige Gefühl für den Entwurf eines Tempels aufbringt. Er kann sich nicht hineindenken, hat keine Beziehung dazu. Dem Ganzen wird das fehlen, was mein Großvater den jiddischen kwetsch genannt hat.«

»Was ist denn d a s wieder, der jiddische kwetsch?« »Haben Sie Perry Como jemals Eli, Eli singen gehört?« Sommers nickte.

»Und wissen Sie auch noch, wie Al Jolson es gesungen hat?« »Was weiter?«

»Sehen Sie, der Unterschied - das ist der jiddische kwetsch.« »Wenn Paolo Di Napoli den Auftrag übernimmt, kommt etwas Besseres dabei heraus als bei so manchem jüdischen Architekten. Ein großer Mann, sag ich Ihnen.«

»Man wird sehen«, erwiderte Michael.

Aber als sie in Di Napolis Büro standen, war es Sympathie auf den ersten Blick. Er wirkte nicht im mindesten arrogant, obwohl er seine Blätter ohne viel Erläuterungen zeigte. Er saß ganz ruhig da, sog an seiner kurzen Bruyere-Pfeife und beobachtete die beiden, wie sie sich über die Entwürfe beugten. Er hatte kräftige Handgelenke, melancholische braune Augen unter dichtem grauem Haar, und auf seiner Oberlippe sträubte sich ein buschiger Schnurrbart - ein Schnurrbart, so schien es Michael, der allein schon seinem Träger in jedem Beruf Bedeutung verliehen hätte. Beim Durchblättern der Arbeiten fanden sich vier wirklich außergewöhnliche Tempelentwürfe, weiters ein Halbdutzend Kirchen sowie ein bezaubernder Entwurf für die Kinderbücherei einer Stadt des Mittelwestens. All das gingen die beiden durch und verweilten schließlich über den Tempelskizzen.

Auf jedem der Tempelpläne war im Osten, der Tempelfassade gegenüber, eine winzige Sonne zu sehen.

»Wozu diese Sonnen?« fragte Michael.

»Eine private Marotte. Mein persönlicher Versuch, eine vage Verbindung herzustellen mit Zeiten, die lange tot sind.« »Können Sie uns das nicht näher erklären?« sagte Sommers. »Als der Tempel Salomonis vor einigen dreitausend Jahren auf dem Berge Moria gebaut wurde, war Jahve ein Sonnengott. Und der Tempel war so orientiert, daß die Strahlen der aufgehenden Sonne über den Gipfel des Olivenberges durch das Haupttor ins Innere fielen. Zweimal im Jahr, zu den Aequinoktien, konnte so die Sonne durch das Osttor direkt in den Tempel scheinen, bis an die westlichste Wand, ins Allerheiligste.«

Die Lippen unter dem buschigen Schnurrbart schürzten sich.

»Außerdem ergab sich die geostete Lage in diesen vier Fällen aus der Lage des Baugrunds. Ich bestehe aber nicht darauf, den Tempel zu osten, falls Ihr Grund das nicht zuläßt.«

»Mir gefällt der Gedanke«, sagte Michael. » >Tut auf eure Flügel, ihr Tore... O tuet sie auf, ihr ewigen Tore, auf daß der Herr einziehe durch euch in all seiner Herrlichkeit!<« Er wechselte einen Blick mit Sommers, wobei sie grinsten - Jiddischer kwetsch. »Haben Sie Ihre spezielle Wunschliste mit, um die ich Sie gebeten habe?« wandte sich Di Napoli an Sommers.

Sommers zog ein Blatt aus seiner Brieftasche. Der Architekt studierte es lange. »Manches davon läßt sich aus Gründen der Sparsamkeit zusammenlegen, ohne daß die Gesamtkonzeption darunter leidet«, sagte er schließlich.

»Es soll ein Ort des Gebetes sein«, sagte Michael. »Diese Forderung steht über allem.«

Di Napoli trat an einen Aktenschrank und kam mit der glänzenden Reproduktion einer Architekturzeichnung zurück. Die Basis des skizzierten Gebäudes war eingeschossig, langgestreckt und wuchtig und erinnerte an einen Pyramidenstumpf, über welchem sich der kleinere Komplex des zweiten Geschosses in parabolischen Bogenschwüngen erhob; sie kulminierten in einem Dach, das körperhaft und dennoch schwerelos aufzusteigen schien und nicht weniger nachdrücklich zum Himmel wies, als es die spitzen Kirchtürme Neu-Englands tun.

»Was ist das?« fragte Sommers schließlich.

»Eine Kathedrale für New Norcia in Australien. Der Entwurf stammt von Pier Luigi Nervi«, sagte Di Napoli.

»Und Sie könnten für uns etwas machen, das ebenso vom Geist Gottes erfüllt ist?« fragte Michael.

»Ich will es versuchen«, sagte Di Napoli. »Aber dazu müßte ich erst den Baugrund sehen. Haben Sie schon einen?«

»Nein.«

»Von der Lage des Baugrundes hängt aber sehr vieles ab. Wissen Sie -

ich persönlich bevorzuge das Schaffen in strukturierten Formen. Ich arbeite gern mit Rohziegelflächen, rauhem Beton und mit freundlichen Farben, die einem Bau Leben verleihen.«

»Und wann werden Sie uns einen Vorentwurf zeigen können?« fragte Michael.

»In drei Monaten. Ich werde mich in Europa damit befassen.« Felix Sommers räusperte sich. »Und - der Kostenpunkt?«

»Wir werden mit unserem Entwurf innerhalb der möglichen finanziellen Grenzen bleiben«, sagte der Architekt vage.

»Den Hauptteil der Baukosten müssen wir erst auftreiben«, sagte Michael. »Denken Sie nur an das, was Ihnen vorschwebt. Ökonomisch, aber trotzdem künstlerisch. Es soll ein Heiligtum werden wie Nervis Kathedrale. Wieviel würde so etwas kosten?« Paolo Di Napoli lächelte.

»Rabbi Kind«, sagte er, »Sie sprechen da von einer halben Million Dollar.«

39

Einige Wochen später wurde ein schönes großes weißes Schild im Rasen vor dem Tempel Emeth aufgepflanzt, das mit großen blauen Buchstaben verkündete: WIR HABEN UNS AUFGEMACHT UND

BAUEN. Nehemia 2,2o.

Daneben prangte ein dreieinhalb Meter hohes schwarzes Thermometer, dessen Gradeinteilung die Bausumme nach Tausendern angab. Der oberste Teilstrich trug die Bezeichnung: Gesamtsumme $ 450.000, während der aktuelle Stand recht weit unten, zwischen fünfundvierzig-und fünfzigtausend, angezeigt war.

Michael bedrückte der Anblick dieses Schildes, denn das Thermometer erinnerte ihn an jenes Basalthermometer, das Dr. Reisman Leslie gegeben hatte und das sie nun allabendlich vor dem Zubettgehen unter die Zunge schob, wobei sie an das Kissen gelehnt dasaß, unter der angeknipsten Bettlampe ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß, das Thermometer wie ein Lutschbonbon zwischen den Lippen, während Michael an ihrer Seite die Entscheidung über die nächste Viertelstunde abwartete.

98,2 oder darüber hieß, daß er sich schlafen legen konnte. 97,2 bis 97,4 zeigte an, daß das Tor für zwölf Stunden geöffnet war, worauf er sich zu ermannen hatte, um mit stoßenden Lenden die Gelegenheit wahrzunehmen.

Nein, dachte er, während er, schon im Pyjama, in der Küche saß und wartete, daß seine Frau aus dem Bad käme, damit er seine Pflicht täte: wie ein gelangweilter Arzt, der eine Injektion verabreicht, ein Milchmann, der stur seine Ware abliefert, ein Briefträger, der die Post einwirft, eine Arbeitsbiene, die sich müht, ihren Pollen abzustreifen - in einer unbequemen Lage, die Dr. Reisman Schenkelspreizstellung nannte, wobei Michael, die sanft gebräunten Beine Leslies auf den Schultern, in die nach oben sich öffnende Vagina hineinstoßen durfte, in einer Lage, die größtmögliche Empfängnischancen garantierte.

Garantierte! Nach Dr. Reisman und der Zeitschrift Good House keeping.

Nachdenklich trat er an den Küchentisch und sah die heutige Privatpost durch. Nichts als Rechnungen. Und dazwischen Felix Sommers' erster Spendenaufruf. Michael goß sich ein Glas Milch ein und setzte sich wieder an den Tisch.

Liebes Gemeindemitglied,

fast siebenhundert Gründe sprechen dafür, daß die Gemeinde des Tempels Emeth eine neue Heimstätte bekommen soll. Sie und Ihre Familie sind einer davon.

Die Zahl dieser Gründe nimmt ständig zu, und ihr Wachstum wird sich in naher Zukunft vervielfachen.

Innerhalb eines Zeitraumes von wenig mehr als drei Jahren hat die Zahl unserer Gemeindemitglieder sich verdoppelt. In zwölf Nachbargemeinden, die keinen Tempel ihr eigen nennen, entstehen zur Zeit Hunderte neuer Wohnungen. Bei Aufnahme auch nur eines Bruchteils der heute noch abseits stehenden Familien ist zweifellos mit einem ähnlich starken Wachstum während der kommenden Jahre zu rechnen ...

Im Badezimmer wurde die Brause abgedreht. Das Klicken der Metallringe verriet Michael, daß der Vorhang zurückgeschoben wurde. Dann hörte er Leslie aus der Wanne steigen.

... Nun liegen die Dinge leider aber so, daß wir gegenwärtig nicht einmal den Bedürfnissen unserer derzeitigen Mitglieder Rechnung tragen können.

Unserer Hebräischen Schule ermangelt einfach alles, was eine Erziehungsanstalt erst zu einer solchen macht. Unser Gotteshaus ist nichts als eine große Halle ohne Betbänke und muß uns für Bankette ebenso dienen wie als Vortragssaal, als Karnevalsdiele und als Unterrichtsraum. Die hohen Feiertage zwingen uns dazu, täglich zwei Gottesdienste abzuhalten und dadurch gerade bei den feierlichsten Anlässen Verwandte von Verwandten zu trennen. Viel zu viele Familien- ssimchess wie Trauungen und bar-mizwes müssen außerhalb des Tempels stattfinden. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Unsere Speiseräume sind zu klein und zu schäbig; die Küche ist eng und mangelhaft ausgestattet; die Helfer sind dadurch in der Arbeit gehindert.

Aus all dem geht klar hervor, daß wir ein neues Haus brauchen. Ein Architekt ist schon beauftragt, es für uns zu entwerfen. Damit aber unser Traum Gestalt annehme, bedarf es des Opfers jedes einzelnen. Wollen nicht auch Sie sich Gedanken machen über die angemessene Höhe Ihres persönlichen Beitrages? Ein Mitglied des Bauausschusses wird Sie in den nächsten Tagen besuchen. Wenn Sie geben, denken Sie daran, daß es nicht für Fremde ist, sondern für uns und unsere Kinder.

Ihr ergebener Felix Sommers m. p., Vorsitzender des Bauausschusses

Dem Brief lag eine Pappskala mit kleinem Schiebefenster bei, das die Aufschrift »Ihr Jahreseinkommen« trug. Michael schob das Fenster bis zur Elftausender-Marke und mußte so erfahren, daß ihm bei seinem Einkommen dreieinhalbtausend Dollar zugemutet wurden. Unangenehm überrascht, warf er den Brief auf den Tisch.

Gleichzeitig hörte er Leslie ins Schlafzimmer eilen; gleich darauf knarrte das Bett.

»Michael«, rief sie leise.

Nein, man konnte von niemandem ein Drittel des Einkommens verlangen. Wie viele Gemeindemitglieder würden da mitmachen können? Offensichtlich verlangte man mehr, als man erwartete, um dadurch die tatsächlichen Spenden über das normale Ausmaß zu steigern.

Das machte ihm Sorgen; es ist kein guter Start, dachte er. »Michael«, rief Leslie von nebenan.

»Jawohl«, sagte er.

»Es geht nur so«, erklärte Sommers ihm anderntags, als Michael gegen den Wortlaut des Spendenaufrufs protestierte. »Auch andere Gemeinden haben diese Erfahrungen gemacht.«

»Nein«, sagte Michael. »Das gehört sich nicht, Felix. Machen wir uns nichts vor.«

»Jedenfalls, wir haben einen Spezialisten dafür aufgenommen, dessen Beruf es ist, Baukapitalien auf reelle Weise zu beschaffen.

Ich glaube, wir sollten ihm dabei völlig freie Hand lassen.« Michael nickte erleichtert.

Am übernächsten Tag erschien der Experte im Tempel Emeth.

Seine Geschäftskarte wies ihn als Archibald S. Kahners aus, von der Firma Hogan, Kahners & Cantwell, Kapitalbeschaffung für Kirchen-, Synagogen- und Spitalsbau, 1611, Industrial Banker Building, Philadelphia, Pennsylvania, 10133.

Nachdem er den Einlaßknopf gedrückt hatte, machte er sich ans Ausladen dreier großer Kisten, die im Gepäcksraum des neuen schwarzen Buick-Kombi verstaut waren. In drei Etappen wurden sie ins Haus geschafft. Die Packen waren schwer, und nach der dritten Tour war man in Schweiß geraten. Sobald alle Kisten in Michaels Büro standen, ließ Kahners sich in einen Stuhl fallen und schloß die Augen. Wie ein aus den Fugen gegangener Lewis Stone, dachte Michael: grauhaarig, mit rötlichem Gesicht und ein wenig zu dick, so daß der Hals schon etwas zu sehr über den Kragen des gutgeschnittenen Hemdes hinaustrat. Schuhe und grauer Tweedanzug - bestes Material - sollten betont englisch wirken.

»Was wir auf keinen Fall wollen, ist eine Hochdruck-Kampagne, Mr.

Kahners«, sagte Michael. »Wir wollen die Gemeindemitglieder nicht vor den Kopf stoßen.«

»Mein lieber Rabbi - äh -«, sagte Kahners, woraus Michael ersah, daß jener seinen Namen vergessen hatte.

»Kind.«

»Natürlich - Kind. Mein lieber Rabbi Kind, darf ich Ihnen sagen: die Firma Hogan, Kahners & Cantwell hat schon die Kapitalien für den Bau von zweihundertdreiundsiebzig katholischen und protestantischen Kirchen beschafft, und für dreiundsiebzig Spitäler, und für hundertdreiundneunzig Synagogen und Tempel. Schauen Sie, es ist unser Geschäft, große Beträge zu beschaffen, und wir haben todsichere Methoden entwickelt, die den Erfolg garantieren. Und darum, Rabbi - äh -, also, ich glaube, Sie überlassen alles Weitere am besten mir.«

»Und wie kann ich Ihnen dabei behilflich sein, Mr. Kahners?« »Sie machen mir eine Liste von sechs Namen. Ich möchte mich mit den sechs Leuten zusammensetzen, die mir alles über Ihre Gemeindemitglieder erzählen können. Also, was jeder so im Jahr verdient, was er ist, wie alt er ist, wie er wohnt, wie viele und welche Wagen er hat, auf welche Schule er seine Kinder schickt, wohin er auf Urlaub fährt und so weiter. Und außerdem brauche ich noch eine Liste der hiesigen Spender für den United Jewish Appeal.«

Michael sah abermals auf die Geschäftskarte. »Werden auch Mr.

Hogan und Mr. Cantwell Sie in Ihrer Kampagne hier unterstützen?«

»John Hogan ist schon seit zwei Jahren tot. Seither bearbeitet ein Angestellter die katholische Sparte.« Kahners blickte an sich hinunter und bemerkte dabei einen Schmutzfleck auf seinem grauen Anzug sowie ein winziges Stück braunes Papier von den Pappkartons auf seiner Krawatte. Er schnipste das Papier weg und bearbeitete den Fleck mit dem Taschentuch, wodurch der Fleck nur noch größer wurde. »Und meinen protestantischen Partner brauche ich nicht. Es handelt sich doch nur um vierhunderttausend Dollar«, sagte er.

Der Vervielfältigungsapparat und die beiden Schreibmaschinen trafen schon am nächsten Morgen ein, und am Nachmittag desselben Tages saßen die beiden Sekretärinnen bereits hinter ihren Klapptischchen und tippten Namenslisten. Das Geklapper trieb Michael aus seinem Büro, und er machte sich auf seine Seelsorgegänge. Als er dann um fünf Uhr nachmittags den Tempel wieder betrat, lag dieser verlassen und in gähnender Stille. Papiere bedeckten den Boden, die Aschenbecher quollen über, und die Kaffeebecher hatten zwei häßliche Ringe auf seinem Mahagonischreibtisch hinterlassen.

Noch am selben Abend wohnte Michael der ersten Zusammenkunft des Finanzausschusses mit Kahners bei. Das Ganze glich freilich eher einer Unterweisung, wobei Kahners der Vortragende war. Seine Argumentation stützte sich vornehmlich auf die United Jewish Appeal-Spenderlisten der letzten fünf Jahre. »Schauen Sie sich das einmal an«, sagte er und warf die grüne UJA-Broschüre auf den Tisch.

»Schlagen Sie nach, wer jedes Jahr Ihr größter Spender gewesen ist.«

Keiner an dem langen Tisch mußte nachschlagen. »Das war Harold Elkins von den Elkhide-Strickereien«, sagte Michael. »Er gibt fünfzehntausend Dollar jährlich.«

»Und der zweitgrößte?« fragte Kahners.

Michael kniff die Augen zusammen, mußte aber das Buch nicht zu Rate ziehen.

»Phil Cohen und Ralph Plotkin. Jeder gibt siebentausendfünfhundert.«

»Gerade halb soviel wie Elkins«, sagte Kahners. »Und die nächstkleineren?«

Michael war nicht ganz sicher.

»Na schön, ich werd's Ihnen sagen: Da ist einmal ein gewisser Joseph Schwartz mit fünftausend. Das ist ein Drittel von Elkins' Beitrag.

Nun, meine Herrn -«, er machte eine Pause und blickte die Versammlung an. Es war, als würde Mr. Chips seine schwächste Klasse belehren. »Wir können daraus eine wichtige Lehre ziehen.

Schauen Sie sich zum Beispiel d a s da an! « Er warf ein zweites UJA-Büchlein auf den Tisch. »Das ist die Liste der Spenden, die vor sechs Jahren geleistet wurden. Wir ersehen daraus, daß damals Mr. Elkins anstatt fünfzehntausend nur zehntausend gegeben hat. Weiters sehen wir Phil Cohen und Ralph Plotkin mit nur fünftausend statt siebeneinhalbtausend verzeichnet.« Er blickte die Versammlung abermals bedeutsam an. »Merken Sie was?«

»Wollen Sie damit sagen, daß die Relation immer gleich bleibt und die Höhe der Spenden vom höchsten Spender bestimmt wird?« fragte Michael.

»Nicht immer«, erläuterte Kahners geduldig. »Ausnahmen gibt es immer, und die Relation geht natürlich nicht bis ans Ende der Liste.

Voraussagen hinsichtlich der ganz kleinen Spender sind fast unmöglich.

Aber als Faustregel, soweit es die großen, die wirklich wichtigen Spender betrifft, zeigt uns die Aufstellung den künftigen Ablauf der Kampagne. Das hat sich seit Jahren in jeder Gemeinde gezeigt, in der wir so was gemacht haben. Nehmen wir jetzt den Fall, Sam X. gibt für wohltätige Zwecke dieses Jahr weniger als üblich. Was wird Fred Y.

sich sagen? >Wenn Sam, der zweimal so reich ist wie ich, weniger geben kann, warum soll ich dann leugnen, daß die Geschäfte auf zoress waren? Geb ich sonst zwei Drittel von dem, was Sam gibt, werd ich heuer die Hälfte geben!««

»Und wenn Sam seine Spende erhöht?« fragte Sommers gespannt.

Kahners strahlte. »Es ändert sich nichts am Prinzip! Es funktioniert weiter, aber um wieviel günstiger! Fred wird sich sagen: >Was glaubt dieser Sam eigentlich, wer er ist? Ich kann zwar nicht konkurrieren mit ihm, er steckt mich dreimal in den Sack, aber das mach ich ihm immer noch nach! Geb ich sonst zwei Drittel von ihm, geb ich auch diesmal zwei Drittel!< «

»Sie glauben also, daß Harold Elkins' Spende den Schlüssel zu unserer gesamten Kampagne darstellt?« fragte Michael. Kahners nickte.

»Und wie hoch, glauben Sie, sollte der Beitrag sein, um den man ihn bitten könnte?«

»Hunderttausend Dollar.«

Am unteren Ende des Tisches tat jemand einen überraschten Pfiff. »Er macht nicht einmal viel Gebrauch von der schul«, sagte Sommers.

»Aber er ist Mitglied?« fragte Kahners. »Ja.«

Kahners nickte befriedigt.

»Wie interessiert man einen solchen Mann?« fragte Michael. »Ich meine, wie interessiert man ihn hinlänglich, um ihn zu einer so bedeutenden Spende zu motivieren?«

»Indem Sie ihn zu Ihrem Präsidenten machen«, sagte Kahners.

40

Michael und Kahners suchten gemeinsam Harold Elkins auf. Die Tür des adaptierten Bauernhauses, in dem der Fabrikant wohnte, wurde von Mrs. Elkins geöffnet, einer weißblonden Frau in rosaseidenem Schlafrock.

»Oh, der Rabbi«, sagte sie und schüttelte ihm die Hand. Ihr Händedruck war fest und kühl.

Er stellte Kahners vor.

»Hal erwartet Sie. Er ist hinterm Haus und füttert die Enten. Wollen Sie nicht zu ihm gehen?«

Sie führte die Besucher um das Haus herum. Michael bemerkte, daß ihr Gang frei und schön und völlig unbekümmert war. Er sah nun auch, daß ihre Füße unter dem schwingenden Saum des Schlafrocks nackt waren, lang und schmal und mit sorgfältig gepflegten Zehennägeln, die in der beginnenden Dunkelheit wie kleine rote Muscheln leuchteten.

Sie brachte die Besucher zu ihrem Mann und kehrte dann allein ins Haus zurück.

Elkins war ein alter Mann mit grauem Haar und gebeugten Schultern; trotz des warmen Abends trug er einen Pullover umgehängt. Er stand am Ufer eines kleinen Teiches, umringt von etwa fünfzig schnatternden Enten, denen er Körner streute.

Er fuhr damit noch fort, während die beiden sich ihm vorstellten. Die Enten waren groß und schön, mit ihren schillernden Federn und den roten Schnäbeln und Füßen.

»Was ist das für eine Rasse?« fragte Michael. »Brautenten«, sagte Elkins und streute weiter seine Körner. »Die sind aber prächtig«, sagte Kahners.

»Mhm.«

Einer der Vögel setzte mit unruhigem Flügelschlag zum Flug an, erhob sich aber nur wenige Fuß über das Wasser.

»Sind sie wild?« fragte Michael. »Und ob!

»Warum fliegen sie dann nicht weg?«

»Ich hab ihnen die Flügel gestutzt«, sagte Elkins, und seine Augen funkelten.

»Tut ihnen das nicht weh?« fragte Michael unwillkürlich. »Können Sie sich nicht mehr erinnern, wie Ihnen zumute war, als Ihnen zum erstenmal die Flügel gestutzt wurden?« fragte Elkins grob. Da sie schwiegen, fügte er grinsend hinzu: »Auch die Enten sind darüber hinweggekommen.«

Er nahm eines der Körner zwischen seine blutlosen Lippen und beugte sich über den Teich. Eine große Ente, deren Gefieder edelsteingleich in allen Farben des Regenbogens schillerte, ruderte heran, erhob sich königlich und holte sich das Korn vom Mund des alten Mannes.

»Die sind mir die liebsten«, sagte er. »Ich liebe sie wirklich. Besonders in Orangensauce.« Er warf die letzten Körner aus, zerknüllte den leeren Sack und warf ihn weg. Dann wischte er die Hände an seinem Pullover ab. »Sie sind nicht hergekommen, um meine Enten zu bewundern.«

Sie setzten ihm den Grund ihres Besuches auseinander. »Warum wollen Sie mich zum Präsidenten machen?« fragte er und musterte sie scharf aus der Deckung seiner weißen wilden Brauen.

»Wir wollen Ihr Geld«, sagte Kahners ohne Umschweife. »Und Ihren Einfluß.«

Elkins grinste. »Kommen Sie ins Haus«, sagte er.

Mrs. Elkins lag auf der Couch und las ein Taschenbuch mit einer nackten Leiche auf dem Umschlag. Sie blickte auf und lächelte den Eintretenden zu. Ihr Blick begegnete Michaels Blick und ließ ihn nicht los. Michael war sich der Gegenwart ihres Gatten und Kahners'

bewußt, die rechts und links von ihm standen, aber wie unter einem widersinnigen Zwang vermochte er nicht, den Blick abzuwenden. Nach einer Zeit, die unendlich lang schien, obwohl es in Wirklichkeit nur ein Moment war, lächelte sie abermals und unterbrach den Kontakt, indem sie ihre Lektüre wieder aufnahm. Ihre Figur unter dem rosa Schlafrock war gut, aber in den Augenwinkeln zeigten sich schon kleine Fältchen, und das fahle Haar sah im gelben Licht der Wohnzimmerlampe wie Stroh aus.

Elkins nahm an dem Louis-quatorze-Schreibtisch Platz und schlug ein umfangreiches Scheckbuch auf. »Wieviel wollen Sie?«

»Hunderttausend«, sagte Kahners.

Elkins lächelte und zog unter dem Scheckbuch eine Liste der Mitglieder des Tempels Emeth hervor. »Ich hab mir das eben durchgesehen, bevor Sie kamen. Dreihundertdreiundsechzig Mitglieder. Einige davon kenne ich. Männer wie Ralph Plotkin und Joe Schwartz und Phil Cohen und Hyman Pollock. Männer, die es sich leisten können, ein bißchen Geld herzugeben, um eine gute Sache zu unterstützen.« Er schrieb einen Scheck aus und riß ihn aus dem Heft. »Fünfzigtausend Dollar«, sagte er und übergab Michael den Scheck. »Wenn Sie versuchen müßten, eine Million aufzubringen, hätte ich hunderttausend gegeben.

Aber bei vierhunderttausend soll jeder seinen gerechten Anteil tragen.«

Sie dankten, und Michael verwahrte den Scheck in seiner Brieftasche.

»Ich wünsche eine Tafel in der Eingangshalle«, sagte Elkins. »In liebendem Gedenken an Martha Elkins, geboren 6. August 1888, gestorben 2. Juli 1943. Das war meine erste Frau«, setzte er hinzu. Mrs.

Elkins wandte eine Seite in ihrem Buch.

Sie verabschiedeten sich und wünschten gute Nacht.

Als sie schon draußen waren und in den Wagen stiegen, hörten sie eine Tür zuschlagen. »Rabbi Kind! Rabbi Kind! « rief Mrs. Elkins. Sie warteten, und die Frau kam auf sie zugelaufen, wobei sie den Saum ihres rosa Schlafrocks hochhielt, um nicht zu stolpern. »Er sagt«, berichtete sie atemlos, »daß er den verbindlichen Schriftentwurf für die Gedenktafel sehen will, bevor sie gegossen wird.«

Michael versprach das, und die Frau wandte sich um und ging ins Haus zurück.

Er startete den Wagen, und Kahners, der neben ihm saß, lachte leise, wie einer, der im Crapspiel soeben einen Treffer gelandet hat. »So wird's gemacht, Rabbi.«

»Sie haben nur die Hälfte des gewünschten Betrags bekommen«, sagte Michael. »Bedeutet das nicht, daß wir nun von den wichtigeren Spendern auf der ganzen Linie nur die Hälfte kriegen werden?«

»Ich habe Ihnen gesagt, daß wir hundert verlangen werden«, sagte Kahners. »Gerechnet habe ich mit vierzig.«

Michael schwieg unter dem Druck einer unnennbaren Depression; ihm war, als spüre er die fünfzigtausend Dollar in seiner Brieftasche.

»Ich bin jetzt seit zweieinhalb Jahren Rabbiner in dieser Gemeinde«, sagte er schließlich. » In dieser ganzen Zeit habe ich Harold Elkins dreimal gesehen, den heutigen Abend mitgerechnet. Im Tempel war er zweimal, bei bar-mizwes, glaube ich, vielleicht auch bei Hochzeiten.«

Eine Weile fuhren sie schweigend dahin. »Mir wird um einiges wohler sein«, sagte Michael schließlich, »wenn ich Geld von den Leuten bekomme, die vom Tempel auch Gebrauch machen, die ihre Kinder in den Hebräisch-Unterricht schicken ... Um einiges wohler ... «

Kahners lächelte ihm zu, aber er sagte nichts.

Am folgenden Vormittag läutete das Telephon in seinem Arbeitszimmer im Tempel, und eine zögernde, leise und etwas rauhe Frauenstimme fragte nach dem Rabbi.

»Hier spricht Jean. Jean Elkins«, fügte sie hinzu und gestand damit ein, daß sie seine Stimme erkannt hatte.

»Oh, Mrs. Elkins«, sagte Michael und merkte gleichzeitig, daß Kahners, als ihr Name fiel, aufblickte und lächelte. »Was kann ich für Sie tun?«

»Die Frage ist vielmehr, was ich für Sie tun kann«, sagte sie. »Ich würde gern bei der Baukostenkampagne mithelfen.« »Oh«, sagte er.

»Ich kann tippen und Korrespondenz ablegen und mit einer Rechenmaschine umgehen. Harold ist von der Idee sehr angetan«, sagte sie nach einer kaum merklichen Pause. »Er hat in nächster Zeit einige Reisen zu machen, und er meint, das würde mich vor dummen Gedanken bewahren.«

»Kommen Sie doch einfach her, wann immer Sie Lust dazu haben«, sagte Michael. Als er den Hörer auflegte, bemerkte er, daß Kahners noch immer lächelte, und dieses Lächeln irritierte ihn aus Gründen, die zu definieren ihm schwerfiel.

41

Ein Buick-Händler namens David Blomberg widmete im Gedenken an seine Eltern vier Morgen Baugrund. Bei der Besichtigung stellten Michael und das Komitee auf den ersten Blick fest, daß das Grundstück für ihre Zwecke ideal geeignet war: ein baumbestandenes Areal auf einer Bergkuppe etwas außerhalb der Stadt und nicht viel mehr als einen Kilometer vom Hochschulgelände entfernt. Nach Osten ging die Sicht über weites, von den Windungen eines Flusses durchzogenes Wiesengelände, das gegen einen Jungwald hin abfiel.

»Di Napoli kann seinen Tempel auf der Höhe bauen, im Angesicht der Sonne, ganz wie Salomon«, sagte Sommers. Michael nickte bloß. Sein Schweigen war beredter als alle Worte.

Der Grundstückerwerb bewog Kahners, eine Reihe weiterer Veranstaltungen im Dienst der Kapitalbeschaffung anzusetzen. Die erste gab sich als Sonntagsfrühstück für die Herren, dem Michael aber wider Erwarten fernbleiben mußte; eine Beerdigung zwang ihn dazu.

Die zweite war eine Champagnerparty in Felix Sommers' Haus. Als die Kinds eintrafen, war das Wohnzimmer schon übervoll mit herumstehenden, champagnertrinkenden Besuchern. Michael nahm zwei Gläser von einem Tablett, das eben vorübergetragen wurde, und stürzte sich dann in das Stimmengewirr. Er und Leslie kamen mit einem jungen Biologen ins Gespräch, und mit einem beleibten Allergiespezialisten.

»Da gibt's einen Kollegen in Cambridge«, sagte der Biologe, »der stellt Versuche an mit dem Einfrieren menschlicher Körper. Sie wissen ja, ein Kältestoß genügt, um Bewußtlosigkeit und Tiefschlaf herbeizuführen.«

»Ja, wozu denn, um Himmels willen?« fragte Michael und versuchte den Champagner. Zu warm und eher schal.

»Denken Sie nur an die unheilbaren Krankheiten«, sagte der Biologe.

»Im Moment nichts zu machen? Na, dann friert man den armen Teufel eben ein und hält ihn unterkühlt, bis die Wissenschaft was Neues gefunden hat. Dann weckt man ihn wieder auf und macht ihn gesund. «

»Das und die Bevölkerungsexplosion - mehr haben wir nicht mehr gebraucht«, sagte der Allergiespezialist. »Und wie soll man all diese Tiefkühlware aufheben?«

Der Biologe hob die Schultern. »In Kühlhäusern. Magazinen. In Tiefkühlpensionen - als logische Folge der Sanatorienknappheit.«

Leslie verzog das Gesicht, während sie den warmen Champagner schluckte. »Und bei einer Stromstörung? Wenn alle Pensionäre gleichzeitig aufwachen und gegen die Radiatoren schlagen, weil die Temperatur steigt und steigt?«

Gleichsam zur lautlichen Untermalung des eben Gesagten begann jemand mit dem Löffel Silentium zu klopfen. Leslie fuhr zusammen, und die drei Männer lachten.

»Na also, jetzt geht's los«, sagte der Biologe.

»Jetzt kommt der geschäftliche Teil«, sagte der Arzt. »Ich kenn ihn schon, Rabbi. Ich habe meinen Beitrag beim letzten Sonntagsfrühstück gezeichnet. Heut bin ich nur als Strohmann da.« Michael begriff nicht gleich, aber schon strömte die Menge in den benachbarten Raum, wo lange Tische aufgestellt waren. Tischkarten verhinderten eine planlose Sitzordnung, und so kamen Michael und Leslie neben ein ihnen sympathisches Paar zu sitzen - neben Sandy Berman, einen jungen Englischprofessor an der Universität, und seine Frau June. Nach kurzer einleitender Begrüßung stellte Sommers Mr. Kahners als

»Finanzexperten« vor, »der die Güte hatte, uns seine Erfahrungen für diese Kampagne zur Verfügung zu stellen«, und anschließend sprach Kahners über die Wichtigkeit jeder Spende und forderte die Anwesenden auf, die Höhe ihres Beitrags durch Zuruf bekanntzugeben.

Sofort erhob sich der Allergiespezialist und eröffnete die Aktion mit dreitausend Dollar. Unmittelbar nach ihm meldeten sich drei weitere Herren, deren keiner unter zwölfhundert Dollar spendete.

Jede der vier Spenden war rasch und bereitwillig ausgerufen worden. Ein wenig zu rasch und zu bereitwillig, als daß nicht jeder sofort gemerkt hätte, was da gespielt werden sollte. In der nun folgenden peinlichen Stille bemerkte Michael, wie Leslie ihn anblickte: auch sie hatte nun begriffen, was der Doktor mit dem Wort Strohmann gemeint hatte. Alle vier Beiträge waren längst gezeichnet und heute nur ausgerufen worden, um die Gebefreudigkeit anzukurbeln.

»Wer will noch mal, wer hat noch nicht«, rief Kahners. »Na, nicht so schüchtern, meine Herrschaften! Nützen Sie diese einmalige Gelegenheit. Hier und jetzt wird Ihr Opfer benötigt.« Drüben in der Ecke erhob sich ein gewisser Abramowitz und zeichnete eintausend Dollar. Kahners strahlte - aber nur, bis er den Namen auf seiner Liste abgehakt hatte. Offensichtlich hatte er von Mr. Abramowitz mehr erwartet. Als dieser sich gesetzt hatte, wurde er von seinem Gegenüber in ein angeregtes Gespräch verwickelt. An jedem der Tische begann nun ein agent provocateur für die Spendenaktion Stimmung zu machen, nur an Michaels Tisch forderte niemand zu weiteren Spenden auf. Man saß unbehaglich da und blickte einander an. Sollte, so fragte Michael sich plötzlich, sollte am Ende er selber vom Komitee zum Einpeitscher ausersehen sein? Doch der soeben mit breitem Lächeln sich nähernde Kahners machte seinen Zweifeln ein Ende.

»Schlecht steht es um ein Land und übel um die Zeit, wenn nur der Wohlstand wächst und nicht die Menschlichkeit«, sagte er. »Goldsmith«, bemerkte Sandy Berman düster.

»Oh, ein Student, wie ich höre! « Und Kahners legte eine Spenderkarte vor ihn hin.

»Schlimmer - ein Lehrer! « Berman ließ die Karte unbeachtet. Kahners lächelte und fuhr fort, jedem der Dasitzenden eine Karte auf den Tisch zu legen. »Was haben Sie nur?« fragte er. »Eine einfache Spendenaktion.

Zücken Sie Ihre Federn und zeichnen Sie, meine Herren, zeichnen Sie! «

»Es ist besser, du gelobtest nichts, denn daß du nicht hältst, was du gelobtest«, sagte Berman.

»Prediger Salomonis«, sagte Kahners, diesmal ohne zu lächeln. Er sah von einem zum andern. »Hören Sie«, sagte er. »Wir haben wie das liebe Vieh für diese Kampagne geschuftet. Wie das liebe Vieh! Und zwar für Sie! Für Sie und Ihre Kinder! Zum Wohle der ganzen Gemeinde!

Wir haben von den Hauptspendern beispielgebende Beträge erhalten, Beträge, wo Ihnen die Augen herausfallen werden. Allein Harold Elkins hat fünfzigtausend Dollar gegeben! Fünfzigtausend! Jetzt ist es an Ihnen, ebenso generös zu sein. Generös auch vor sich selbst. Schauen Sie, es soll doch ein demokratischer Tempel werden. Und damit er das wird, muß auch der kleine Mann sein Schärflein dazu beitragen.«

»Die Sache ist nur, daß es überhaupt nicht demokratisch dabei zugeht«, sagte ein eulenhaft aussehender Jüngling am anderen Tischende. »Es ist doch so, daß den finanziell Schwächsten das Geben am schwersten gemacht wird.«

»Jeder nach seinen Kräften. Alles ist proportional gestuft«, sagte Kahners.

»Sagen Sie! Sehen Sie, ich bin ein kleiner Buchhalter. Ein Arbeitnehmer.

Soll ich verdienen zehntausend im Jahr. Das bringt mich in die Zwanzig-Prozent-Kategorie. Geb ich nun fünfhundert Dollar, kann ich davon einhundert abschreiben. Also kostet mich meine Spende immer noch vierhundert. Nehmen wir dagegen einen Unternehmer mit, sagen wir, vierzigtausend pro Jahr.« Der Sprecher rückte nervös an seiner Brille. »In seiner Steuergruppe kann er vierundvierzigeinhalb Prozent abschreiben.

Gibt er zweitausend Dollar, macht er sich viermal so groß wie ich, und hintenherum bringt er beinah die Hälfte seiner Spende wieder herein.«

Die Umsitzenden begannen dieses Phänomen zu diskutieren. Nichts als Spitzfindigkeiten. Mit der Statistik beweise ich Ihnen alles! Gentlemen«, sagte Kahners, »möchte jemand von Ihnen jetzt gleich unterzeichnen?«

Keiner rührte sich.

»Dann entschuldigen Sie mich. Es war mir ein Vergnügen.« Und schon trat er an den nächsten Tisch. Wenige Minuten darauf begann die Gesellschaft sich aufzulösen.

»Kommen Sie noch mit auf einen Kaffee?« fragte Leslie June Berman.

»Wie wär's mit Howard Johnson's?«

June blickte fragend auf ihren Mann und stimmte dann zu.

Als sie an Kahners vorüberkamen, hatte sich der gerade Abramowitz vorgeknöpft, den Spender der eintausend Dollar. »Könnten Sie morgen abend gegen halb neun zu David Binder kommen?« fragte er eben. »Es ist sehr wichtig - wir würden Sie sonst nicht drum bitten. Wir würden großen Wert darauf legen.«

Im Restaurant angelangt, bestellten sie in gedrückter Stimmung. »Rabbi«, meinte Sandy, »ich möchte Ihnen ja nicht nahetreten, aber das war einfach furchtbar! «

Michael nickte. »Aber auch Ziegel und Zement kosten Geld. Und dieses Geld einzutreiben, ist ein ekelhaftes und undankbares Geschäft. Jemand muß es doch tun.«

»Lassen Sie sich von denen doch nicht unter Druck setzen«, sagte Leslie.

»Schließlich muß jeder selber am besten wissen, wieviel er geben kann.

Geben Sie das, und denken Sie nicht länger daran.« »Wieviel können wir schon aufbringen! « sagte June. Sie wartete, bis das Serviermädchen den Kaffee und die Sandwiches abgestellt hatte. »Es ist doch ein offenes Geheimnis, wie schlecht ein junger Universitätsdozent in Wyndham bezahlt ist. Die Universität zahlt Sandy ganze fünftausendeinhundert im Jahr -«

»Junie«, sagte Sandy.

» Fünftausendeinhundert, sage ich, plus weitere zwölfhundert für die Sommerkurse. Und weil wir einen Wagen brauchen, wird Sandy im Herbst auch noch zwei Abendkurse für kaufmännisches Englisch übernehmen müssen. Macht noch einmal bare achtzehnhundert.

Zusammen ergibt das ein Jahreseinkommen von achttausendeinhundert Dollar. Und diese ... Idioten ... schreiben uns vor, eintausendsiebenhundertfünfzig Dollar für den Tempel auf den Tisch zu legen.«

»Das sind doch nur vorläufige Schätzungen«, sagte Michael. »Ich weiß positiv, daß das Komitee froh ist, einen Bruchteil davon hereinzubekommen.«

»Zweihundertfünfzig, mehr kann ich nicht«, sagte Sandy. »Dann stellen Sie einen Scheck über zweihundertfünfzig aus, und wenn man Ihnen

>Danke schön< sagt, so erwidern Sie >Gern geschehen!< « meinte Leslie.

Aber Michael winkte ab. »Es soll eine Mindestgrenze von siebenhundertfünfzig festgelegt werden«, sagte er.

Stille.

»Also, dann nicht, Rabbi«, sagte Sandy.

»Und wie wird das mit der Hebräischen Schule für Ihre Kinder?« »Ich zahle den Unterrichtsbeitrag wie bisher. Einhundertvierzig pro Jahr für alle drei, plus dreißig im Monat für die Fahrt.« »Das wird nicht mehr gehen. Der Geschäftsführende Ausschuß hat beschlossen, daß nur mehr spendende Mitglieder ihre Kinder schicken dürfen.«

»Ist ja großartig«, sagte June Berman.

»Und was ist mit der großen alten Idee, die schul soll allen, ohne Unterschied, ob arm oder reich, für ihre Gottsuche offenstehen?« fragte Sandy.

»Wir reden von der Mitgliedschaft, Sandy. Kein Mensch wird Sie aus dem Tempel weisen.«

»Aber Sitz wird keiner mehr da sein für mich.« »Sitz wird keiner mehr da sein.«

»Und wie ist das, wenn einer die siebenhundertfünfzig nicht aufbringen kann?« fragte June.

»Dafür gibt es jetzt den Armenausschuß«, sagte Michael lustlos. »Das ist aber nicht so schlimm. Ich sitze selber darin. Auch Ihr Freund Murray Engel. Und Felix Sommers, der Chef Ihres Mannes. Und Joe Schwartz.

Lauter vernünftige Leute.«

Leslie hatte Berman nicht aus den Augen gelassen. »Schauerlich«, sagte sie leise.

Sandy lachte bitter. »Armenausschuß! Wissen Sie, was der Geschäftsführende Ausschuß mich kann? Ich bin kein Armenfall. Ich bin Lehrer. Universitätsdozent.«

Sie beendeten ihren Imbiß. Als die Rechnung kam, wollte Michael zahlen. Aber da er wußte, daß Sandy es gerade heute nicht zulassen würde, überließ er das Zahlen ihm.

Eine Stunde später, man ging schon zu Bett, erörterten Michael und Leslie das Für und Wider des Falles.

»Du solltest dich in Gegenwart von Gemeindemitgliedern nicht abfällig über die Kampagne äußern«, sagte er.

»Aber muß man denn zu solchen Methoden greifen? Die Christen kommen auch ohne solche ... Würdelosigkeit ... zu dem, was sie brauchen. Könnte man nicht einfach ein Zehntel vom Einkommen einheben, und damit Schluß?«

»Wir sind aber keine Christen. Ich bin Rabbiner, nicht Pfarrer.« »Aber es ist einfach nicht richtig«, sagte sie. »Solche Methoden sind geschmacklos.

Eine Zumutung für jeden denkenden Menschen.«

»Bitte, mach's nicht noch ärger, als es schon ist.« »Warum redest nicht du ihnen ins Gewissen, Michael?« »Meine Meinung wissen sie ohnehin.

Die Geldbeschaffung ist ihre Angelegenheit, und sie sehen in ihrer Methode den einzig möglichen Weg. Wenn ich mich nicht einmische, kommt der Tempel am Ende wirklich zustande, und ist er erst gebaut -

vielleicht kann ich dann etwas sehr Schönes daraus machen.«

Sie gab keine Antwort, ließ die Sache auf sich beruhen. Als er aber sah, daß sie zum Thermometer griff, sträubte sich etwas in ihm. »Warte nicht auf mich«, sagte er. »Ich hab heute noch zu tun. «

»Wie du willst.«

Er las bis zwei Uhr früh. Als er dann endlich ins Bett stieg, glaubte er sie in tiefem Schlaf und schlief selber fast sofort ein. Als er erwachte, wiesen die Leuchtzeiger der Uhr auf 3 Uhr 20, und Michael wurde gewahr, daß sie nicht mehr neben ihm lag, sondern rauchend am offenen Fenster saß und hinaus in die Dunkelheit starrte. Die Grillen zirpten durchdringend, und er wußte plötzlich, daß ihr schrilles Lärmen ihn aufgeweckt hatte. » Laut sind sie heute, nicht wahr?« sagte er. Dann stand er auf und setzte sich ihr gegenüber aufs Fensterbrett. »Was machst du da?«

»Ich konnte nicht einschlafen.«

Er nahm eine ihrer Zigaretten, und sie gab ihm Feuer, wobei in dem plötzlichen hellen Aufflackern ihre Augen unnatürlich groß wirkten in dem traurigen und überwachen, aus hellen Flächen und tiefen Schatten sich formenden Antlitz. »Was hast du denn, Leslie?« fragte er sanft.

»Ich weiß nicht. Schlaflosigkeit wahrscheinlich. Ich kann in letzter Zeit einfach nicht mehr einschlafen.« Sie schwiegen beide. »Ach, weißt du, Michael«, sagte sie nach einer Weile, »wir sind einfach bitter geworden.

Einfach zu bitter für etwas so Süßes wie ein Kind.«

»Was redest du da«, sagte er heftig und wußte doch im nämlichen Moment, daß er log und als Heuchler entlarvt war, vor ihr, die ihn zu gut kannte, als daß er ihr etwas hätte vormachen können. »Welch eine Theorie! Und wie wissenschaftlich! «

»Aber, Michael!«

»Wird schon werden«, sagte er. »Und für Adoption ist es nie zu spät.«

»Das wäre wohl nicht recht unserm Kind gegenüber.« Sie sah im Dunkel zu ihm auf. »Weißt du, woran es in Wirklichkeit liegt?« »Geh jetzt ins Bett.«

»Du bist nicht mehr der junge jüdische Lochinvar aus den Bergen, und ich bin nicht mehr das Mädchen, für das du den großen Fisch gefangen hast.«

»Verdammt noch mal«, sagte er wütend. Er legte sich wieder hin, allein.

Und während sie weiter rauchend im Dunkeln saß, fand jetzt er keinen Schlaf und starrte immerzu auf die rote Glut ihrer Zigarette und dachte an jenes entschwundene Mädchen und eine vergangene Liebe, die noch immer so stark war, daß sie sich auch durch das Kissen nicht ersticken ließ, das er sich übers Gesicht zog, um darunter Vergessen zu finden.

Kahners' Kampagne hatte nun jenen Punkt erreicht, zu dem es an der Zeit war, den Tempel auf Raten zu verhökern. Eine hektographierte Liste mit dem Titel »Zum bleibenden Gedächtnis« wurde zur Aussendung vorbereitet. Darin wurden die Gemeindemitglieder erinnert, daß ein guter Name mehr zähle als aller Reichtum, und liebendes Angedenken mehr als Silber und Gold. So viel sei sicher: die höchste Tugend bestehe in einem Namen, der der Wohlfahrt der Gemeinde, der Erziehung der Jugend, der Formung edler Charaktere geweiht sei. Man offerierte ihnen die einmalige Gelegenheit, den eigenen oder den Namen eines teuren Verblichenen einem Bauwerk einzumeißeln, das die Zeiten hindurch dauern würde als Beispiel für kommende Geschlechter. Nur fünfundzwanzigtausend Dollar, und die Synagoge würde den Namen des Spenders tragen.

Der Andachtsraum wäre für zehntausend Dollar zu haben, die Zuhörergalerie für ebensoviel, während die Talmudschule, ein Gesellschaftsraum und die Klimaanlage je siebentausendfünfhundert kosten würden.

Die bema war mit sechstausend Dollar ausgeschrieben. Die Thora (komplett mit allem Zubehör, inklusive Jad) war um

zweitausendfünfhundert Dollar die reinste m'zi'e, wenn man bedachte, daß der Raum zur Verwahrung der heiligen Geräte - gravierte Namensplakette in Messing an der Tür - mit dreitausendfünfhundert angesetzt war.

Die Liste war vierseitig, hektographiert und geheftet. Kahners verwendete immer dieselbe, bei jeder jüdischen Finanzierungskampagne.

Er hatte ganze Bündel davon bereits mitgebracht, in einer seiner Kisten verstaut, so daß nichts weiter mehr zu tun war, als auf der ersten Seite den Namen des Tempels Emeth einzusetzen und die Listen durch den Adressographen des Tempels laufen zu lassen.

Kahners wandte sich stöhnend an Michael. »Jetzt hab ich die beiden Mädchen gestern bis spät in die Nacht am Adressieren arbeiten lassen.

Aber die Listen! Geh, verlaß dich auf reiche freiwillige Mitarbeiter!

Nimmt doch diese Elkins die Listen gestern zum Matrizieren nach Hause, und heute ruft sie an, sie kann nicht hereinkommen. Eine Sommergrippe.«

»Ich werd versuchen, jemanden zu finden, der sie am Nachmittag abholen kann«, sagte Michael.

»Bis sieben Uhr brauchen wir das Zeug. Spätestens halb acht«, sagte Kahners und wurde schon wieder von einer verdrossenen Sekretärin abberufen.

Das dauernde Läuten des Telephons, das Rattern des Abziehapparats und das gleichmäßige Geklapper von zwei Schreibmaschinen vereinten sich zu einem hämmernden Lärm, der erbarmungslos auf Michael einschlug. Am späteren Vormittag verspürte er bereits einen dumpfen Schmerz in der Stirn und suchte nach einem Vorwand, das Büro zu verlassen. Um halb zwölf ergriff er endgültig die Flucht, aß eine Kleinigkeit in einer Imbißstube und machte sich dann auf seine Seelsorgebesuche, deren einer ihm Tee und Strudel zum Nachtisch einbrachte. Um halb drei war er im Krankenhaus bei einer Frau, die soeben um drei Gallensteine erleichtert worden war; er verließ sie kurz vor drei, nachdem sie ihm die Steine gezeigt hatte, wie Gemmen auf schwarzen Samt gebettet, als künftige Familienerbstücke.

Als er auf dem Parkplatz des Krankenhauses in seinen Wagen stieg, fielen ihm die Mitgliederlisten wieder ein, und er zog seine Jacke aus, rollte die Hemdsärmel hinauf und das Wagenfenster herunter und fuhr hinaus aus der Stadt, hinaus aufs Land, blinzelnd gegen die blendende Nachmittagssonne.

Vor dem Bauernhaus angelangt, läutete er und wartete, aber niemand kam ans Tor. Er nahm seine Jacke aus dem Wagen und ging um das Haus herum in den Wirtschaftshof. Er fand Mrs. Elkins hingegossen auf einem Liegestuhl im Schatten einer mächtigen Eiche, die langen schlanken Füße hochgelagert und die Knie gespreizt, so daß er durch das braune V ihrer Beine die Schüssel mit den Körnern auf ihrem nackten Bauch sehen konnte. Sie war umgeben von schnatternden Enten, denen sie mit nachlässigen Schwüngen Futter streute. Ihre sehr kurzen Shorts enthüllten, was Modeschöpfer so leicht verbergen können: das zarte Gesprenkel der Adern auf ihren Schenkeln als erstes Anzeichen des Alterns. Die Shorts waren weiß, der Büstenhalter blau und ihre Schultern waren rund, aber sommersprossig. Was Michael jedoch überraschte, war ihr Haar, das nicht strohblond war, sondern von warmem, leuchtendem Braun.

»Oh, Rabbi«, sagte sie, stellte die Körnerschüssel ab, schlüpfte in ihre Sandalen und erhob sich.

»Guten Tag. Mr. Kahners braucht die Mitgliederlisten«, sagte er. »Sie sind fertig. Können Sie ein paar Minuten warten, bis ich diese Ungeheuer gefüttert hab?«

»Lassen Sie sich nur nicht stören. Ich hab massenhaft Zeit.«

Sie streute die Körner aus, und er begleitete sie, umringt von den gierigen Enten, zu einem Drahtkäfig im Schatten des Hauses. Sie öffnete den Verschlag, dessen Tür in rostigen Angeln durchdringend knarrte, stellte die Futterschüssel hinein und schlug das Gitter gerade rechtzeitig zu, um die Flucht eines großen Enterichs zu verhindern, der ihnen eilig und flügelschlagend auf seinen roten Schwimmfüßen entgegenkam.

»Warum ist er eingesperrt?« fragte Michael.

»Wir haben ihn eben erst bekommen, und seine Flügel sind noch nicht gestutzt. Das macht Harold, wenn er zurückkommt. Bitte, nehmen Sie Platz. Ich bin gleich wieder da.« Sie wandte sich zum Haus und er zum Liegestuhl, sorgfältig darauf bedacht, ihr nicht nachzusehen. Am Himmel waren indessen Wolken aufgestiegen. Während Michael sich setzte, grollte der erste Donner, dem das aufgeregte Geschnatter der Enten antwortete. Nach einer Weile kehrte Mrs. Elkins zurück und brachte zwar nicht die Listen, aber ein großes Tablett, auf dem Eis, Gläser und einige Flaschen standen.

»Nehmen Sie mir das ab, bitte, es ist schwer! « rief sie ihm zu. »Stellen Sie's nur auf den Rasen.«

Er nahm das Tablett und stellte es hin. »Das wäre nicht notwendig gewesen«, sagte er. »Ich komme unangemeldet, und Sie fühlen sich heute nicht wohl.«

»Nicht wohl?«

»Sie sind doch erkältet.«

»Ach so.« Sie lachte. »Nein, Rabbi, ich bin nicht erkältet. Ich hab Mr.

Kahners angelogen, weil ich zum Friseur gehen wollte.« Sie sah ihn an.

»Haben Sie jemals gelogen?«

»Ich denke doch.«

»Ich lüge oft.« Sie strich über ihr braunes Haar. »Gefällt es Ihnen?«

»Sehr«, sagte er wahrheitsgemäß.

»Ich hab bemerkt, daß Sie mein Haar angesehen haben. Ich meine neulich, als Sie zum erstenmal hier waren, und auch später, als ich in Ihr Büro kam. Ich hätte schwören können, daß Ihnen die frühere Farbe nicht gefallen hat.«

»Sie war sehr hübsch«, sagte er. »Jetzt lügen Sie, nicht wahr?«

»Ja«, sagte er und lächelte.

»Die Farbe ist besser, finden Sie nicht? Die gefällt Ihnen?« Und sie berührte seine Hand.

»Ja, sie ist besser. Wann kommt Mr. Elkins zurück?« fragte er und bemerkte zu spät, daß er in seinem Wunsch, das Thema zu wechseln, nicht gerade die glücklichste Wahl getroffen hatte. »Er bleibt noch ein paar Tage aus. Kann sein, daß er von New York noch nach Chicago fährt.« Sie begann die Flaschen zu öffnen. »Was darf ich Ihnen anbieten? Gin und Tonic?«

»Nein, danke«, sagte er rasch. »Nur irgend etwas Kaltes, wenn Sie so freundlich wären. Ginger Ale, wenn Sie das haben.«

Sie hatte es und goß ihm ein. Da es keine andere Sitzgelegenheit im Hof gab, machte sie es sich neben ihm auf dem Liegestuhl bequem.

Er trank sein Bier und sie ihren Whisky mit Eis, und dann stellte sie das Glas auf den Rasen und lächelte ihm zu. »Ich habe vorgehabt, Sie um einen Termin zu bitten«, sagte sie.

»Ja, worum handelt es sich?« fragte er.

»Ich möchte... Ihnen etwas erzählen. Etwas mit Ihnen besprechen. Ein Problem.«

»Möchten Sie es jetzt besprechen?«

Sie trank hastig den Rest des Whiskys aus und ging zum Tablett, um ihr Glas nochmals zu füllen. Statt dessen kehrte sie aber mit der Flasche zurück und stellte sie neben sich ins Gras. Dann streifte sie ihre Sandalen ab und nahm mit untergeschlagenen Beinen wieder neben Michael Platz; er merkte eine zarte Staubschicht auf den rotlackierten Zehennägeln, die nur ein paar Zoll von seinem Knie entfernt waren.

»Werden Sie Mr. Kahners sagen, daß ich gelogen hab?« fragte sie.

»Bitte, sagen Sie ihm nichts.«

»Sie sind niemandem Rechenschaft schuldig.«

»Es hat mir solche Freude gemacht, in Ihrer Nähe zu arbeiten.« Die Zehenspitzen berührten leicht und ohne Druck sein Knie. »Mr.

Kahners sagt, Sie seien eine der besten Maschinenschreiberinnen, die er je gesehen hat.«

»Sie glauben doch nicht, daß er überhaupt hingeschaut hat«, sagte sie.

Ein Stückchen Eis knirschte zwischen ihren Zähnen, während sie ihm ihr Glas hinhielt und Michael ein wenig alarmiert feststellte, daß es schon wieder leer war. Diesmal schenkte er sparsam ein und tat die zwei größten Eiswürfel ins Glas, die er finden konnte, um die Portion größer erscheinen zu lassen. Ich muß versuchen, hier herauszukommen, sagte er sich und war im Begriff, aufzustehen, als sie ihm abermals die Hand auf den Arm legte. »Es ist die Farbe, die es einmal hatte«, sagte sie, und er verstand, daß sie von ihrem Haar sprach. Er legte seine Hand auf die ihre, um sie sachte von seinem Arm zu schieben, aber die hatte sich plötzlich gewendet, die Innenfläche nach oben gekehrt, so daß nun Hand sich in Hand schmiegte und die Finger einander berührten.

»Mein Mann ist viel älter als ich«, sagte sie. »Wenn ein junges Mädchen einen alten Mann heiratet, macht es sich keinen Begriff von den Jahren, die ihr bevorstehen.«

»Mrs. Elkins«, sagte er, aber sie ließ seine Hand plötzlich los und lief zu dem Drahtkäfig. Die Tür knarrte beim Öffnen, und der Enterich schoß herbei, hielt aber dann offensichtlich verwirrt inne, als er entdeckte, daß die Tür nicht zugeschlagen, der Weg nicht versperrt wurde.

»Mach, daß du weiterkommst, du blödes Vieh«, sagte die Frau. Der Enterich tat einen leichten Sprung, stieß sich mit den großen roten Füßen ab, während seine Regenbogenschwingen sich schon zum Flug breiteten. Einen Herzschlag lang schwebte er über ihren Köpfen, war nichts als ein Glanz von weißem Bauch und langem schwarzem Schwanz, dann wurde der Flügelschlag lauter, und mit triumphierendem Schrei stieg er auf in einer Geschoßbahn, die ihn hinaustrug in die Wälder jenseits der Farm. »Warum haben Sie das getan?« fragte Michael.

»Weil ich möchte, daß alle Geschöpfe in dieser Welt frei sind.« Sie wandte sich ihm zu. »Alle. Er. Sie. Ich.« Sie hob die Arme und umschlang ihn, und er spürte ihren Körper nahe an seinem, spürte ihren Mund, der warm und erregend war, aber nach Kunsteis und Whisky schmeckte. Er versuchte, sich ihr zu entziehen, und sie fuhr fort, sich an ihn zu klammern, als wäre sie am Ertrinken. »Mrs. Elkins«, sagte er.

»Jean.«

»Jean - das hat doch mit Freiheit nichts zu tun.«

Sie rieb ihre Wange an seiner Brust. »Was soll ich nur machen mit dir?«

»Für den Anfang wär's ganz gut, den Whisky ein wenig einzuschränken.«

Einen Augenblick lang sah sie ihn an, während der Donner erneut ihnen zu Häupten grollte.

»Sie sind also nicht interessiert?« »Nicht auf diese Art«, sagte er. »Sie sind überhaupt nicht interessiert. Sind Sie denn kein Mann?«

»Ich bin ein Mann«, sagte er freundlich, jetzt schon zwei Schritte von ihr entfernt, so daß ihr Spott ihn nicht berühren konnte. Sie wandte sich herum und ging ins Haus, und diesmal blieb er stehen und sah ihr nach und bewunderte ihren noblen, unbekümmerten Gang, mit dem Gefühl, daß er sich durch seine Standhaftigkeit das Recht dazu erworben hätte. Dann griff er nach seiner Jacke und ging um das Haus herum zum Wagen. Als er die Wagentür öffnete, pfiff etwas über seinen Kopf, so knapp, daß er den Luftzug spüren konnte, und schlug dann ans Wagendach, wo es eine Kerbe hinterließ. Im Zubodenfallen hatte sich die Schachtel geöffnet, und einiges von ihrem Inhalt fiel heraus, aber zum Glück waren die meisten Karteikarten geordnet und stapelweise mit Gummischnürchen zusammengehalten. Einen Augenblick lang blendete ihn die Sonne, als er aufblickte, aber dann sah er die Frau an dem geöffneten Fenster im ersten Stock. »Geht's jetzt besser? Möchten Sie, daß ich Ihnen jemanden herausschicke, der bei Ihnen bleiben könnte?«

»Ich möchte, daß Sie sich zum Teufel scheren«, sagte sie sehr akzentuiert. Nachdem sie vom Fenster weggegangen war, kniete er hin, hob die Mitgliederlisten auf und verstaute sie wieder in der auf einer Seite aufgeplatzten Holzschachtel. Dann stieg er in den Wagen, startete und fuhr davon.

Er war schon eine Weile gefahren, als er, ohne zu wissen, warum, den Wagen an den Straßenrand lenkte, eine Zigarette anzündete und versuchte, nicht daran zu denken, wie einfach es wäre, zu wenden und den Weg zurückzufahren, den er gekommen war. Nach wenigen Zügen löschte er die Zigarette im Aschenbecher, stieg aus und ging in den Wald. Beim würzigen Duft der Heidelbeeren wurde ihm wohler. Er marschierte tüchtig drauflos, bis er in Schweiß geriet und nicht mehr an Jean Elkins, an Leslie und an den Tempel dachte. Schließlich kam er an ein Flüßchen, das, etwa zweieinhalb Meter breit, seicht und klar dahinzog. Der Grund bestand aus Sand und abgefallenen Blättern.

Michael zog die Schuhe aus und watete in das kalte Wasser. Er konnte keinen Fisch entdecken, aber nahe dem vor ihm liegenden Ufer sah er Wasserläufer ihr Spiel treiben, und unter einem Stein fand er einen Krebs, den er einige Meter weit stromabwärts verfolgte, bis er unter einem anderen Stein verschwand. In den Binsen über ein paar Miniaturstromschnellen saß eine gelbgezeichnete Spinne in einem großen Netz, und plötzlich fiel ihm die Spinne in der Baracke zu Cape Cod wieder ein, die Spinne, mit der er in jenem Sommer vor dem College gesprochen hatte. Kurz erwog er die Möglichkeit, auch jetzt mit der Spinne zu sprechen, aber die traurige Wahrheit war, daß er sich zu alt dafür fühlte; vielleicht lag es aber auch nur daran, daß er und diese Spinne einander nichts zu sagen hatten.

»He«, rief eine Stimme vom andern Ufer ihn an.

Ein Mann stand auf der Böschung und sah zu Michael herunter, der nicht wußte, wie lange er von seinem Gegenüber schon beobachtet worden war. »Hello«, sagte Michael.

Der Mann trug die Arbeitskluft eines Bauern: abgetragene blaue Arbeitshosen, milchbespritzte Schuhe und ein verschwitztes blaues Hemd. Die Bartstoppeln auf seinen Wangen waren vom selben Grau wie der zerknitterte, bandlose Hut, der ihm etwas zu groß war, so daß die Krempe fast auf seinen Ohren aufsaß. »Das ist Privatgrund«, sagte der Mann.

»Ach so«, erwiderte Michael. »Ich habe keine Tafeln gesehen.« »Pech für Sie. Es gibt aber Tafeln. Fischen und Jagen ist hier verboten.«

»Ich habe nicht gejagt oder gefischt«, sagte Michael.

»Machen Sie, daß Sie mit Ihren dreckigen Füßen aus meinem Bach rauskommen, oder ich laß die Hunde los«, sagte der Bauer. »Die Sorte kenn ich. Kein Respekt vor fremdem Eigentum. Was, zum Teufel, treiben Sie da überhaupt? Watet im Bach herum mit aufgekrempelten Hosen wie ein Vierjähriger! «

»Ich bin in den Wald gegangen«, sagte Michael, »weil ich mit mir zu Rat gehen wollte, weil ich den wesentlichen Dingen des Lebens gegenüberstehen und versuchen wollte, etwas von ihnen zu lernen, um nicht einmal, angesichts des Todes, entdecken zu müssen, daß ich nicht gelebt habe.« Er watete ans Ufer und hielt nahe dem Bauern an, um sich die Füße sehr bedächtig mit seinem Taschentuch zu trocknen, das zum Glück sauber war. Dann zog er Socken und Schuhe wieder an und rollte die völlig zerdrückten Hosenbeine herunter. Auf dem Rückweg durch den Wald meditierte er über Thoreau und die Antwort, die jener dem Bauern wohl gegeben hätte, und als er etwa die halbe Strecke zur Straße zurückgelegt hatte, begann es zu regnen. Er ging weiter, aber bald, als der Baumbestand schütter und der Regen heftiger wurde, begann er zu laufen. Er war schon lange nicht mehr gelaufen, und obwohl seine Atemtechnik nicht die beste war und er bald keuchte, hielt er es durch, bis der Wald hinter ihm lag und er fast gegen ein großes Schild gerannt wäre, mit dem ein gewisser Joseph A. Wentworth der Welt mitteilte, daß dieses Land sein Besitz sei und widerrechtliches Betreten gesetzlich verfolgt werde. Als Michael endlich zu seinem Wagen kam, war er außer Atem und naß bis auf die Haut; er verspürte Seitenstechen und ein leichtes Zittern in der Magengrube und hatte das merkwürdige Gefühl, gerade noch mit heiler Haut davongekommen zu sein.

Drei Tage später nahmen Leslie und er an einem Seminar der Universität von Pennsylvania teil. Zu dem Kolloquium, dessen Thema

»Religion im Atomzeitalter« lautete, hatten sich Theologen, Naturwissenschaftler und Philosophen in einer Atmosphäre vorsichtiger interdisziplinärer Kollegialität zusammengefunden, die kaum eine Antwort auf die angesichts der Kernspaltung so dringlich gewordenen moralischen Fragen zeitigte. Max war in der Obhut einer Studentin zurückgeblieben, die sich bereit erklärt hatte, bei den Kinds zu übernachten; so hatten sie es nicht eilig, nach Hause zu kommen, und nahmen nach dem Seminar die Einladung eines Rabbiners aus Philadelphia an, in seinem Haus noch Kaffee zu trinken.

Es war gegen zwei Uhr morgens, als sie sich im Wagen Wyndham näherten.

Leslie hatte den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen, und Michael war der Meinung gewesen, sie schliefe, aber plötzlich sagte sie:

»Es ist, als wären alle Menschen plötzlich in der Situation der Juden.

Nur haben wir jetzt alle statt der Gaskammern die Bombe vor Augen.«

Er dachte darüber nach, aber ohne zu antworten. Er fuhr langsam und versuchte schließlich, nicht mehr daran zu denken und die Frage zu vergessen, ob Gott auch dann noch dasein könnte, wenn sich die Welt plötzlich in Atomnebel auflöste. Die Nacht war mild, und der Augustmond hing rötlich wie eine Karottenscheibe tief am Himmel. Sie fühlten sich schweigend einander nahe, und nach einer Weile begann sie vor sich hin zu summen. Er hatte keine Lust, nach Hause zu fahren.

»Magst du den Baugrund sehen?« fragte er. »Ja«, sagte sie und richtete sich interessiert auf. Die Straße, anfangs geteert, wand sich hügelaufwärts, wurde dann auf halber Höhe zu einer schmalen Schotterstraße und endete kurz vor dem Tempelgrundstück. Michael fuhr, soweit es möglich war; schließlich kamen sie an einem Haus vorbei, in dem eine Nachttischlampe aufflammte und wieder erlosch, nachdem der Wagen vorbeigeholpert war.

Leslie lachte mit bitterem Unterton. »Die müssen uns für ein Liebespaar halten«, sagte sie.

Michael parkte den Wagen am Ende der Straße. Sie gingen an einem Zaun und an einem schattenhaften Holzstapel vorbei, dann standen sie auf dem Tempelgrund. Es war mondhell, aber der Boden war uneben und schlüpfrig von den Blättern vieler vergangener Jahre; Leslie mußte ihre Schuhe ausziehen, Michael verstaute je einen in jeder Jackentasche und reichte seiner Frau die Hand.

Allmählich konnten sie einen Fußpfad erkennen, und dem folgten sie langsam, bis sie den Gipfel der Anhöhe erreichten. Er hob sie auf einen Felsblock, und da stand sie, die Hand auf seine Schulter gestützt, und schaute hinunter auf die schwarze, vom Mond mit weißen Lichtflecken gesprenkelte Landschaft, die aussah wie die Landschaft in einem guten Traum. Leslie schwieg, aber der Druck ihrer Hand auf seiner Schulter verstärkte sich, bis es schmerzte, und zum erstenmal seit Monaten war sie für ihn wieder eine Frau, die er begehrte.

Er hob sie vom Felsen, küßte sie und fühlte sich jung, als sie seinen Kuß erwiderte, bis sie merkte, worauf er aus war, und ihn fast gewaltsam von sich schob.

»Du Narr«, sagte sie, »wir sind keine jugendlichen, die es notwendig haben, mitten in der Nacht in den Wald zu laufen. Ich bin deine Frau, und wir haben ein großes Messingbett zu Haus und Platz genug, uns nackt drauf herumzuwälzen, wenn es das ist, was du willst. Führ mich heim.«

Aber das war es nicht, was er wollte. Er kämpfte mit ihr, lächelnd zuerst, doch dann plötzlich im Ernst, bis sie alle Gegenwehr aufgab, sein Gesicht zwischen ihre Hände nahm und ihn küßte wie eine Braut; sie hielt nur inne, um ihn flüsternd an die Leute im Haus zu erinnern -

eine Mahnung, die Michael nicht mehr kümmerte.

Sie schickte sich an, zu tun, was Dr. Reisman ihr aufgetragen hatte, aber er wehrte heftig ab. »Diesmal handelt sich's nicht um ein Kind, sondern zur Abwechslung um dich und mich«, sagte er, und sie legten sich im Schatten des Felsens auf die raschelnden dürren Blätter und ergaben sich der Lust wie die Tiere der Wildnis, und dann war sie endlich wieder seine Geliebte, sein Kind und seine Braut, das strahlende Mädchen, für das er den großen Fisch gefangen hatte.

Schuldbewußt schlichen sie zu ihrem Wagen zurück. Michael suchte die dunklen Fenster des Hauses nach schlaflosen Spähern ab, und auf der Heimfahrt schmiegte sich Leslie eng an ihn. Als sie heimkamen, bestand Michael darauf, daß sie die Spuren ihres nächtlichen Abenteuers gründlich verwischten, bevor sie ins Haus gingen. Er war eben damit beschäftigt, die Kehrseite seiner Geliebten von den Resten von Laub und Zweigen zu säubern, und ihre Schuhe schauten noch aus seinen beiden Jackentaschen, als plötzlich das Licht über dem Eingang aufflammte und die verstörte Studentin ihnen mitteilte, sie hätte gefürchtet, es wären Einbrecher am Werk.

Zehn Tage später kam Leslie zu ihm, umfaßte ihn und sagte: »Meine Periode ist fort - unauffindbar.«

»Sie wird sich eben ein paar Tage verspäten. So was kommt vor.« »Bei mir nicht; pünktlich wie nur ein Yankee. Und ich fühl mich so kaputt, als hätte ich einen Vitaminstoß nötig.«

»Es wird eine Verkühlung sein«, sagte er zärtlich und betete wortlos.

Zwei Tage später verbrachte sie die frühen Morgenstunden im Badezimmer, mit heftigem Erbrechen beschäftigt.

Als dann die Urinprobe einen winzigen Laboratoriumsfrosch potent machte wie einen Stier im Frühling, buchte Dr. Reisman die endlich eingetretene Schwangerschaft triumphierend auf sein Konto. Sie ließen ihn bei seinem Glauben.

42

Sieben Wochen nachdem Kahners in die Stadt gekommen war wie ein fahrender Ritter, allerdings nur in schwarzem Buick statt auf weißem Hengst, packte der Herr von der Kapitalsbeschaffung seine Kisten, dirigierte drei Leute, sie aus dem Haus zu tragen, nahm einen Scheck über neuntausendzweihundertachtunddreißig Dollar entgegen und verschwand aus dem Leben der Gemeinde.

Die rote Marke auf dem Thermometer vor dem Tempel war zum höchsten Punkt gestiegen.

Zwölf Familien hatten ihre Mitgliedschaft zurückgelegt.

Dreihunderteinundfünfzig Gemeindemitglieder hatten Beiträge von fünfhundert Dollar bis hinauf zu Harold Elkins' fünfzigtausend gespendet.

Paolo Di Napoli kam aus Rom mit hübschen Pastellskizzen zurück, die den Einfluß Nervis ebenso zeigten wie den von Frank Lloyd Wright.

Das Baukomitee erklärte sich unverzüglich einverstanden.

Im Oktober polterten schwerfällige Maschinen den Hügel hinan, auf dem der Tempel errichtet werden sollte. Sie rissen die rote Erde auf und fällten zweihundertjährige Bäume, hoben alte Baumstümpfe aus ihren tiefen Verwurzelungen und räumten Felsblöcke weg, die sich nicht mehr geregt hatten, seit sie vom letzten großen Gletscher hier zurückgelassen worden waren. Zu Thanksgiving Day war der Boden schon hart gefroren, und es hatte zum erstenmal geschneit. Die Baumaschinen wurden zu Tal gefahren. Das dünne Weiß des frischen Schnees linderte die klaffende Wunde der Baugrube.

Eines Tages erschien der Rabbi mit einer eindrucksvollen Tafel, die den Leser darüber informierte, daß hier der neue Tempel Emeth erbaut werde. Michael hatte die Tafel selbst zusammengenagelt und gemalt. Aber der Boden war so hart gefroren, daß er sie nicht in die Erde rammen konnte, und so nahm er sie wieder mit und beschloß, bis zum Frühling zu warten.

Dennoch kehrte er oft zum Bauplatz zurück.

Er ließ seine Wasserstiefel im Gepäckraum des Wagens, und manchmal, wenn er das Bedürfnis hatte, ganz allein mit Gott zu sein, fuhr er bis zum Fuß des Hügels, zog die Gummistiefel an und stieg hinauf bis zum Gipfel. Dort saß er dann unter dem Felsen, auf dem Platz, wo er seine Frau geliebt hatte. Er betrachtete die gefrorene Ausschachtung und wiegte sich mit dem Wind. Es gab viele Spuren im Schnee, Kaninchenspuren und andere, die er nicht erkannte. Er hoffte, daß der Tempelbau die Tiere nicht verscheuchen werde. Immer nahm er sich vor, ihnen das nächstemal Futter mitzubringen, aber jedesmal vergaß er es. Er stellte sich eine heimliche Gemeinde von pelzigen oder gefiederten Wesen vor, die um ihn hockten und ihn mit im Dunkel glühenden Augen ansahen, während er ihnen das Wort Gottes predigte, eine Art jüdischer Franz von Assisi in Pennsylvania.

Der große Felsen trug nun einen Schneehöcker, der immer größer wurde, je länger der Winter währte. Mit dem Nahen des Frühlings schwand er dahin, und im selben Zeitraum wuchs Leslies Leib, bis schließlich der Schnee auf dem Felsen fast zur Gänze geschmolzen und ihr Leib prall war zum Bersten. Michael verfolgte beide Phänomene als ihr persönliches Wunder.

Sieben Tage nachdem der Schnee auf dem Felsen ganz verschwunden war, kehrten Maschinen und Mannschaft auf den Abhang zurück und nahmen die Arbeit am Tempel wieder auf. Die langwierige und mühsame Arbeit der Grundsteinlegung bedeutete für Michael eine wahre Folter des Wartens, verschärft durch die Erinnerung an die Enttäuschung, die Pater Campanelli in San Francisco beim Anblick seiner endlich vollendeten Kirche erlebt hatte. Doch konnte man von Anfang an sehen, daß hier ein schönes Bauwerk im Entstehen begriffen war und daß Michael keine Enttäuschung bevorstand.

Di Napoli hatte sich der herben Kraft des Betons bedient, um die Erinnerung an die harte Pracht der frühesten Tempel wachzurufen.

Die Wände des Heiligtums im Inneren waren aus porösen roten Ziegeln; um die bema liefen sie in ein Halbrund aus, das der Akustik förderlich war. »Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen die Wände abtasten, um ihre Textur zu spüren«, sagte der Architekt zu Michael.

»Diese Art Ziegel braucht die Berührung, um lebendig zu werden.«

Er hatte vergoldete Kupfernachbildungen der Gesetzestafeln entworfen, die über der Bundeslade aufgerichtet werden sollten, vom Ewigen Licht bestrahlt vor dem dunklen Hintergrund des Steins. Die Klassenzimmer der Hebräischen Schule im Oberstock waren mit warmen israelitischen Pastellen geschmückt, Räume in sanften, freundlichen Farben. Die Außenwände bestanden aus verschiebbaren Glasplatten, so daß Licht und Luft ungehindert eindringen konnten; nur ein Gitter aus schmalen Betonplatten schützte die Kinder vor dem Hinunterfallen und zugleich vor dem blendenden Sonnenlicht.

Ein nahe gelegener Bestand von hohen alten Föhren wurde zu einem Hain der Besinnung, und Di Napoli hatte auch eine ssuke vorgesehen, die hinter dem Tempel nicht weit von dem großen Felsen errichtet werden sollte.

Harold Elkins, der im Begriff stand, mit seiner nunmehr braunhaarigen Frau eine zweite Hochzeitsreise ans Mittelmeer zu unternehmen, teilte zuvor noch mit, er hätte einen Chagall erworben, der dem Tempel zugedacht sei.

Die Damen der Gemeinde schmiedeten bereits Pläne für eine Finanzierungskampagne in eigener Regie: sie wünschten sich eine Lipchitz-Bronze für den neuen Rasen.

Nach einem Minimum an höflichem Handeln wurde der alte Tempel für fünfundsiebzigtausend Dollar an die Knights of Columbus verkauft; Käufer wie Verkäufer waren von der Transaktion höchst befriedigt.

Der Verkauf hätte dem Baufonds einen Überschuß einbringen sollen, aber das Komitee sah sich der traurigen Tatsache gegenüber, daß zwischen den Beträgen, die dank Archibald S. Kahners' Tätigkeit gezeichnet worden waren, und jenen, die tatsächlich eingingen, beträchtliche Differenzen bestanden. Wiederholte Mahnungen zeitigten nur geringen Erfolg bei jenen, die nicht sofort bezahlt hatten.

Schließlich wandte sich Sommers an den Rabbiner. Er überreichte ihm eine Liste jener Familien, die ihre Spendenbeiträge nicht bezahlt oder überhaupt keine Spenden gezeichnet hatten. »Vielleicht könnten Sie diese Leute besuchen«, bemerkte er. Michael betrachtete die Liste, als gäbe sie ihm ein schwieriges Problem auf. Sie war ziemlich lang. »Ich bin Rabbiner, kein Wechseleintreiber«, sagte er schließlich.

»Gewiß, gewiß! Aber vielleicht könnten Sie das in Ihre Seelsorgebesuche einbauen, nur damit die Leute wissen, daß der Tempel sich ihrer Existenz erinnert. Ein diskreter Wink...«

Sommers winkte seinerseits. Schließlich hatte Michael seine Berufung an den Tempel Emeth in erster Linie einem Aufsatz zu verdanken, in dem er sich als bausachverständiger Rabbiner ausgewiesen hatte. Nun brauchten sie seine Hilfe bei der Realisierung des Bauvorhabens.

Er behielt die Liste.

Der erste Name war Samuel A. Abelson. Als er dort vorsprach, fand er vier Kinder, von denen zwei schlimm erkältet waren, in einer unmöblierten Wohnung, betreut von einer zweiundzwanzigjährigen schwermütigen Mutter, die vor drei Wochen von ihrem Mann verlassen worden war. Es gab kaum etwas zu essen in der übelriechenden Wohnung.

Michael teilte Namen und Adresse dem Direktor der Jewish Family Agency mit, der versprach, noch am selben Nachmittag einen Fürsorger hinzuschicken.

Der nächste Name war Melvin Burack, ein Kleidergroßhändler, der zur Zeit von Michaels Besuch in einem der drei Wagen der Familie unterwegs war. Beim Tee in ihrem Wohnzimmer spanischen Stils versprach Moira Burack dem Rabbiner, nicht noch einmal zu vergessen und den Scheck unverzüglich an den Tempel zu schicken.

Nirgends war es ganz so schlimm, wie er gefürchtet hatte. Nicht einmal bei der siebenten Adresse auf seiner Liste: Berman, Sanford. June wartete Kaffee und Marmorkuchen auf, und Sandy Berman hörte ihm zu und bat dann höflich um einen Termin beim Armenausschuß, um eine Regelung zu besprechen, die ihm gestatten würde, seine Kinder in die Hebräische Schule zu schicken.

Was Michael schließlich aus dem Gleichgewicht brachte, war ein Vorfall, der sich ein paar Tage später ereignete: June und Sandy Berman kreuzten, als sie ihn herankommen sahen, auf die andere Straßenseite, um eine Begegnung mit ihm zu vermeiden.

Und dieser Vorfall blieb nicht vereinzelt. Zwar gingen ihm nicht alle säumigen Zahler so auffällig aus dem Weg, aber keiner von ihnen brach in Begrüßungsfreude aus, wenn ihr Rabbiner ihnen begegnete.

Er stellte fest, daß er immer seltener von Mitgliedern seiner Gemeinde um geistlichen Beistand in persönlichen Krisen gebeten wurde.

Am späten Nachmittag saß er jetzt oft in dem noch unvollendeten Heiligtum und fragte Gott im Gebet, was er tun solle, während der Geruch von nassem Kalk und frischem Zement ihm in die Nase stieg und die Arbeiter auf dem Gerüst über ihm Ziegel fallen ließen, Weinflaschen öffneten, fluchten und einander dreckige Geschichten erzählten, da sie sich allein im Tempel glaubten.

Der Tempel Emeth wurde am achtzehnten Mai eingeweiht. Zwei Tage später legte Felix Sommers Michael nahe, für die noch vor den Sommerferien fällige Champagnerparty eine Rede vorzubereiten. Ihr Ziel sollte es sein, die jährlichen Kol-Nidre-Spenden, die im Herbst eingehoben werden sollten, frühzeitig sicherzustellen. Felix erklärte ihm, der Tempel brauche alles nur irgend verfügbare Kol-Nidre-Geld, um der Bank seine Hypothek abzuzahlen.

Während Michael dies noch überdachte, läutete das Telephon.

»Michael?« sagte Leslie. »Es ist soweit.«

Er verabschiedete sich hastig von Felix, fuhr nach Hause und setzte Leslie in den Wagen. An der Ausfahrt aus dem Campus war der Verkehr ziemlich dicht, aber die Straße zum Krankenhaus war jetzt, am frühen Nachmittag, relativ wenig befahren. Leslie war bleich, aber zuversichtlich, als sie dort ankamen.

Das kleine Mädchen kam fast so schnell auf die Welt wie sein Bruder acht Jahre zuvor, kaum drei Stunden nach dem Einsetzen der ersten heftigen Wehen. Der Warteraum war nicht weit genug vom Kreißsaal entfernt, so daß Michael von Zeit zu Zeit, wenn eine Schwester durch die Schwingtür am Ende der Halle kam, das Stöhnen und Schreien der Frauen hören konnte. Er war sicher, Leslies Stimme darunter zu erkennen.

Achtundzwanzig Minuten nach fünf Uhr kam der Geburtshelfer ins Wartezimmer und teilte ihm mit, seine Frau habe eine Tochter geboren, sechs Pfund und zwei Unzen schwer. Der Arzt bat Michael, mit ihm in die Cafeteria des Spitals zu kommen, und beim Kaffee erklärte er ihm, das Baby habe die Cervix gerade in dem Augenblick durchstoßen, da der Muttermund zufolge der Wehenbewegung aufs äußerste verengt gewesen sei. Der Riß habe auch eine Arterie verletzt, so daß eine Hysterectomie unmittelbar nach der Geburt notwendig gewesen sei; die Blutung sei nunmehr unter Kontrolle.

Nach einer Weile ging Michael hinauf und setzte sich ans Fußende von Leslies Bett. Ihre Augen waren geschlossen, die Lider bläulich und wie blutunterlaufen, aber bald schon sah sie ihn an und fragte mit schwacher Stimme: »Ist sie schön?«

»Ja«, gab er zur Antwort, obwohl er in seiner Sorge noch gar nicht nach dem Kind gesehen und sich auf die Mitteilung des Arztes verlassen hatte, daß es wohlauf sei.

»Wir werden keine mehr haben können.«

»Wir brauchen auch keine mehr. Wir haben einen Sohn und eine Tochter, und wir haben einander.« Er küßte ihre Finger und hielt dann ihre Hand fest, bis sie getröstet eingeschlafen war. Dann machte er seiner Tochter den ersten Besuch. Sie hatte eine Menge Haare und war viel hübscher, als Max unmittelbar nach der Geburt gewesen war.

Er kam mit einer Schachtel voll Kuchen für den Babysitter nach Hause, gab Max einen Gute-Nacht-Kuß und fuhr dann durch den Frühlingsregen zum Tempel. Dort saß er bis zum Morgen, in einem der neuen bequemen, schaumgummigepolsterten Stühle in der dritten Reihe. Er bedachte, was er einmal hatte tun wollen und was er nun wirklich getan hatte mit seinem Leben, dachte nach über Leslie und sich selbst und Max und das neugeborene kleine Mädchen. Und während er Zwiesprache mit Gott hielt, bemerkte er, daß auf der bema des neuen, kaum ein paar Wochen alten Tempels eine Maus ihr Spiel trieb, nachts, wenn es ganz still war im Haus.

Fünf Minuten nach halb sechs verließ er den Tempel, fuhr nach Hause, duschte, rasierte sich und kleidete sich um. Er suchte Felix Sommers in seiner Wohnung auf, während jener noch beim Frühstück saß, und nahm Glückwünsche und eine Tasse Kaffee entgegen; dann entdeckte er, daß er völlig ausgehungert war, und so wurde aus dem Kaffee ein komplettes Frühstück. Bei der Eierspeise teilte er Felix mit, daß er sich entschlossen habe, sein Amt zurückzulegen.

»Haben Sie das auch gründlich überdacht? Sind Sie absolut sicher?«

fragte Felix, während er Kaffee eingoß; und obwohl Michael seinen Entschluß wirklich überdacht hatte, war es doch ein gelinder Schlag für sein Selbstgefühl, zu merken, daß Sommers keine Anstalten machen würde, ihn zurückzuhalten.

Er sagte, er werde bleiben, bis sie einen Nachfolger für ihn gefunden hätten. »Ihr solltet zwei Leute anstellen«, riet er. »Einen Rabbiner, und einen, der auch ein Laie sein kann, vielleicht ein freiwilliger Mitarbeiter, der aus dem Geschäftsleben kommt und etwas von der Verwaltung versteht. Aber den Rabbiner laßt Rabbiner sein.«

Sein Rat war aufrichtig gemeint, und Sommers faßte ihn auch so auf und dankte Michael.

Er wartete ein paar Tage, bevor er es Leslie erzählte, eines Nachmittags, während sie dem Baby zu trinken gab. Sie schien nicht überrascht. »Komm her«, sagte sie. Er setzte sich behutsam auf das Bett, und sie küßte ihn und ergriff seine Hand und führte sie an die Wange des saugenden Babys, und er spürte wieder, wie weich das war, so einzigartig weich, daß er nicht mehr gewußt hatte, wie es sich anfühlte.

Anderntags brachte er sie nach Hause: Leslie, das Baby, ein Halbdutzend Flaschen voll ärztlich kontrollierter Babynahrung - denn Leslie hatte keine Milch mehr -, sowie eine große Flasche voll meergrüner Kapseln, von denen der Arzt hoffte, sie würden es ihr ermöglichen, zu schlafen. Ein paar Nächte lang halfen sie wirklich, aber schließlich blieb die Schlaflosigkeit Sieger und quälte die Mutter, obwohl das Kind die Nächte durchschlief.

An dem Tag, an dem Rachel drei Wochen alt wurde, fuhr Michael mit einem Frühzug nach New York.

Rabbi Sher war vor zwei Jahren gestorben. Sein Nachfolger war Milt Greenfield, einer von Michaels Jahrgangskollegen im Institut. »Da gibt's jetzt eine Vakanz, die eine wirkliche Aufgabe ist«, sagte Rabbi Greenfield.

Michael grinste. »Dein Vorgänger, alew haschalom, hat mir einmal beinahe dasselbe gesagt. Er hat es nur ein wenig anders formuliert:

>Ich hab einen lausigen Posten für Sie.< « Und sie lachten beide.

»Es handelt sich um eine Gemeinde, die sich soeben erst durch Stimmenmehrheit als reformiert erklärt hat«, sagte Greenfield. »Nach einer Art Bürgerkrieg.«

»Und wie steht es jetzt um den Frieden?«

»Fast ein Drittel der Mitglieder ist orthodox. Du würdest zusätzlich zu deinen gewohnten Pflichten wahrscheinlich noch täglich schachriss, minche und majriw zu sprechen haben. Du müßtest ein Rabbiner für die Frommen u n d für die Liberalen sein.«

»Ich glaube, das wäre was für mich«, sagte Michael.

Das Wochenende darauf flog er nach Massachusetts, und zwei Wochen später fuhr er mit Leslie und den Kindern nach Woodborough, Rachel in ihrer Tragtasche und Max im Rücksitz verstaut. Sie fanden das große alte viktorianische Haus, das aussah, als spuke dort Hawthornes Geist, ein Haus mit eulenklugen Fensteraugen und einem Apfelbaum vor der Hintertür. Der Baum hatte ein paar abgestorbene Zweige, die abgeschnitten gehörten, und für Max gab es eine Schaukel, aus einem abgefahrenen Autoreifen gefertigt, der an dicken Seilen von einem hohen Ast hing.

Am besten aber gefiel ihm der Tempel. Beth Sholom war alt und nicht sehr geräumig. Da war kein Chagall und kein Lipchitz, wohl aber ein Geruch nach Bodenwachs und abgegriffenen Gebetbüchern und trockenem Holz und nach all den vielen Menschen, die hier im Verlauf von fünfundzwanzig Jahren Gott gesucht hatten.