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Woodborough, Massachusetts Dezember 1964
An die Vereinigung der Absolventen von Columbia College, 116th Street and Broadway
New York, New York 10027 Gentlemen,
nachfolgend übermittle ich Ihnen meinen autobiographischen Beitrag zum Gedenkbuch anläßlich der Fünfundzwanzig-Jahr-Feier des Jahrgangs 1941.
Ich kann es kaum glauben, daß fast fünfundzwanzig Jahre vergangen sind, seit wir Morningside Heights verlassen haben. Ich bin Rabbiner. Als solcher habe ich in reformierten Gemeinden in Florida, Arkansas, Kalifornien und Pennsylvania gearbeitet. Jetzt lebe ich in Woodborough, Massachusetts, mit meiner Frau Leslie, geb. Rawlings (Wellesley, 1946) aus Hartford, Connecticut, und unseren Kindern Max (16) und Rachel (8).
Ich sehe dem Zusammentreffen anläßlich unseres
fünfundzwanzigjährigen Jubiläums mit freudiger Erwartung entgegen. Die Gegenwart stellt so viele Anforderungen an uns, daß wir nur allzu selten Gelegenheit haben, auf die Vergangenheit zurückzublicken. Und doch ist es die Vergangenheit, die uns in die Zukunft geleitet. Als Geistlicher einer fast sechs Jahrtausende alten Religion bin ich mir dessen in zunehmendem Maße bewußt.
Ich habe die Erfahrung gemacht, daß der Glaube nicht nur kein Anachronismus ist, sondern daß ihn der moderne Mensch dringender braucht als je, um tastend seinen Weg ins Morgen zu suchen.
Ich für meine Person bin Gott dankbar dafür, daß er uns die Gelegenheit zum Suchen gegeben hat. Ich verfolge mit angstvoller Sorge die Feuerzeichen am Himmel, wie Sie es sicherlich auch tun; ich habe kürzlich das Rauchen aufgegeben und mir einen Bauch zugelegt; in letzter Zeit habe ich die Bemerkung gemacht, daß viele erwachsene Männer mich mit Sir anreden.
Aber im tiefsten vertraue ich darauf, daß uns die Bombe erspart bleiben wird. Ich habe auch nicht das Gefühl, daß der Krebs mich befallen wird, zumindest nicht, ehe ich wirklich alt geworden bin; mit fünfundvierzig ist man ja heutzutage fast noch ein Kind. Und wer will schon gertenschlank bleiben? Besteht unsere Gesellschaft denn aus lauter Beachboys?
Genug gepredigt - auf zu den Drinks: ich verspreche, bei unserem Treffen nur den Mund aufzumachen, um etwas zu trinken zu verlangen oder um einzustimmen in das Absingen von » Who Owns New York?«.
Ihr Jahrgangskollege Rabbi Michael Kind Tempel Beth Scholom Woodborough, Massachusetts
Er war schließlich eingeschlafen, den Kopf in den Armen, war, komplett angekleidet, über seinem Schreibtisch zusammengesunken.
Das Telephon schwieg die ganze Nacht lang. Es läutete erst am Morgen, um 6 Uhr 36. »Wir haben noch immer nichts von ihr gesehen«, sagte Dr. Bernstein.
»Ich auch nicht.« Der Morgen war kalt, die Radiatoren ächzten und klirrten unter der morgendlich verstärkten Feuerung, und Michael dachte daran, Dan zu fragen, wie Leslie bekleidet gewesen und ob sie auch hinlänglich gegen die Kälte geschützt sei.
Ihr blauer Wintermantel samt Handschuhen, Stiefeln und Kopftuch seien mit ihr verschwunden, sagte Dan. Nach dieser Mitteilung war es Michael ein wenig wohler: wer so vernünftig handelte, würde sich wohl kaum wie eine Desdemona im Schnee aufführen. »Wir bleiben in Verbindung«, sagte Dr. Bernstein.
»Ich bitte Sie darum.«
Er war steif und übernächtig nach der im Sessel verbrachten Nacht; so duschte er lange, kleidete sich dann an, weckte die Kinder und kümmerte sich darum, daß sie rechtzeitig zur Schule fertig wurden.
»Kommst du heute abend zu unserer Schulveranstaltung?« fragte Rachel. »Jede Klasse kriegt zwei Punkte für Väter. Mein Name steht auf dem Programm.«
»Ja? Was machst du denn?«
»Wenn du's wissen willst, dann komm, und du wirst sehen.« »In Ordnung«, versprach er.
Er fuhr zum Tempel, früh genug, um mit dem minjen den kadisch zu sagen. Dann schloß er sich in sein Arbeitszimmer ein und bereitete eine Predigt vor. Er sorgte für Beschäftigung. Kurz vor elf rief Dan ihn wieder an.
»Die Staatspolizei hat festgestellt, daß sie die Nacht in der YWCA verbracht hat. Sie hat das Anmeldeformular mit ihrem Namen unterschrieben.«
»Und wo ist sie jetzt?«
»Das weiß ich nicht. Der Detektiv sagt, daß sie YWCA früh am Morgen verlassen hat.«
Möglich, daß sie nach Hause gegangen ist, dachte Michael; daß sie jetzt zu Hause ist. Die Kinder waren in der Schule, und Anna kam erst gegen Abend, wenn es Zeit war, das Essen zu kochen. Er dankte Dan, hängte ab und sagte seiner Sekretärin, er werde den Rest des Tages zu Hause arbeiten.
Doch als er sein Büro verließ, läutete eben das Telephon, und einen Augenblick später kam die Sekretärin ihm nachgelaufen. »Ein Telegramm, Rabbi«, sagte sie.
MICHAEL MEIN LIEBER ICH VERREISE FÜR EIN PAAR
TAGE ALLEIN. BITTE MACH DIR KEINE SORGEN. ICH
LIEBE DICH. LESLIE
Er ging dennoch nach Hause, saß in der stillen Küche, trank Kaffee und dachte nach.
Woher wollte sie das Geld zum Verreisen nehmen, wovon wollte sie leben? Er trug ihr Bankbuch in der Tasche. Soweit ihm bekannt war, hatte sie nur ein paar Dollar bei sich.
Während er noch an dieser Frage herumnagte wie ein Hund an einem Knochen, läutete das Telephon, und als das Fernamt sich meldete, begann er zu beten. Aber dann erkannte er zwischen dem Krachen und Rauschen der Nebengeräusche die Stimme seines Vaters.
»Michael?« sagte Abe.
»Hallo, Pop? Ich hör dich kaum.«
»Ich hör dich gut«, sagte Abe vorwurfsvoll. »Soll ich beim Amt reklamieren?«
»Nein, jetzt hör ich dich. Was gibt's Neues bei dir in Atlantic City?«
»Ich werde lauter sprechen«, brüllte Abe. »Ich bin nicht in Atlantic City.
Ich bin -« Wieder das Rauschen atmosphärischer Störungen.
»Hallo?«
»Miami. Ich habe mich ganz plötzlich entschlossen und rufe dich an, damit du Bescheid weißt und dir keine Sorgen machst. Ich wohne 12
Lucerne Drive.« Er buchstabierte Lucerne. »Bei Aisner«, und er buchstabierte auch den Namen.
Michael notierte die Adresse. »Wo bist du dort, Pop? Ist das eine Pension? Ein Motel?«
»Eine Privatadresse. Ich bin da bei Freunden.« Abe zögerte einen Augenblick. »Wie geht's den Kindern? Und Leslie?«
»Danke, alles in Ordnung.« »Und dir? Wie geht's dir?« »Gut, Pop. Uns allen geht es gut. Und dir?« »Michael - ich bin im Begriff, zu heiraten.«
»Was hast du gesagt?« fragte Michael, obwohl die Nebengeräusche jetzt aufgehört hatten und er seinen Vater deutlich verstehen konnte. »Hast du heiraten gesagt?«
»Bist du bös?« fragte sein Vater. »Du denkst dir wohl, das ist glatt m'schuge - ein alter Mann wie ich?«
»Aber nein, ich finde es großartig. Wer ist sie denn?« Er war nicht nur erfreut, sondern auch erleichtert, obwohl ihm mit einem Anflug von Schuldgefühl einfiel, daß es vielleicht gar keine so großartige Sache sein könnte; schließlich wußte ja kein Mensch, mit was für einer Frau Abe sich da eingelassen hatte. »Wie heißt sie denn?«
»Ich hab dir doch schon gesagt, Aisner. Lillian mit dem Vornamen. Sie ist verwitwet, so wie ich. Verstehst du, sie ist die Frau, von der ich die Wohnung in Atlantic City gemietet habe. Na, was hältst du von dem Schachzug?«
»Schlau, sehr schlau! « Michael grinste; das ist ganz Vater, dachte er.
»Sie war mit Ted Aisner verheiratet - vielleicht kennst du den Namen?
Ein ganzes Dutzend jüdischer Bäckereien in Jersey hat ihm gehört.«
»Kenn ihn nicht«, sagte Michael.
»Ich hab ihn auch nicht gekannt. Er ist neunundfünfzig gestorben.
Sie ist eine süße Person, Michael. Ich glaube, sie wird dir gefallen.«
»Hauptsache, daß sie d i r gefällt. Wann wollt ihr denn heiraten ?«
»Wir haben uns vorgestellt, im März. Es hat ja keine Eile, über das Alter der Leidenschaften sind wir schließlich beide hinaus.« Aus der Art, in der Abe das sagte, erriet Michael, daß er etwas wiederholte, was Lillian Aisner gesagt haben mochte, vielleicht zu ihren eigenen Kindern.
»Hat sie Familie?«
»Ja, du wirst es nicht glauben«, sagte Abe, »sie hat einen Sohn, der Rabbiner ist. Allerdings orthodox. Er ist an einer schul in Albany, New York. Melvin, Rabbi Melvin Aisner.«
»Melvin Aisner... Kenn ich nicht.«
»Ich sag dir doch, er ist orthodox, deshalb habt ihr wahrscheinlich nie miteinander zu tun gehabt. Lillian sagt, er ist sehr angesehen unter den Kollegen. Ein netter Kerl. Sie hat noch einen zweiten Sohn, Phil, aber dem geh ich aus dem Weg, so gut ich kann. Sogar sie selber sagt, daß er ein schojte ist. Hat der nicht Auskünfte über mich einholen lassen, der Idiot! ? Ein Vermögen soll es ihn kosten!«
Michael wurde plötzlich traurig: der doppelte Stein aus behauenem Granit war ihm eingefallen, den sein Vater auf das Grab seiner Mutter hatte setzen lassen, ein Stein, auf dem Abes Name unter dem ihren eingraviert und nur das Todesdatum noch offengelassen war.
»Du kannst ihm nicht übelnehmen, daß er seine Mutter zu schützen versucht«, gab er zu bedenken. »Sag, ist sie da? Ich hätte ihr gern einiges erzählt über den Gigolo, den sie da kriegt. «
»Nein, sie ist grad einkaufen gegangen fürs Abendessen«, sagte Abe.
»Ich stell mir vor, wir werden so was wie Flitterwochen in Israel verbringen. Ruthie und ihre Familie besuchen.« »Möchtet ihr die Hochzeit nicht hier bei uns machen?« fragte Michael, ohne im Augenblick an seine eigenen Schwierigkeiten zu denken.
»Sie ist streng koscher. Sie würde in eurem Haus keinen Bissen anrühren.«
»Paß auf, sag ihr, ich werde über s i e Auskünfte einholen lassen.«
Abe lachte leise, und dieses Lachen, so ging es Michael durch den Sinn, klang jünger und unbekümmerter als seit vielen Jahren. »Du weißt, was ich dir wünsche«, sagte Michael.
»Ich weiß.« Abe räusperte sich. »Ich mach jetzt lieber Schluß, Michael. Der Phil, dieser schojte, soll nicht glauben, daß ich die Telephonrechnung seiner Mutter absichtlich hinauftreibe.« »Gib acht auf dich, Pop.«
»Du auch. Ist Leslie vielleicht da, ich hätte gern noch ihr maseltow gehört.«
»Nein, sie ist auch einkaufen gegangen.«
»Sag ihr alles Liebe von mir. Und den Kindern gib einen Kuß von ihrem sejde. Sie kriegen jedes einen Chanukka-Scheck von mir.« »Das solltest du nicht«, sagte Michael, aber die Verbindung war abgerissen.
Er legte den Hörer auf und blieb eine Weile sitzen, in Gedanken verloren. Abe Kind, der Überlebende. Das war die Lehre dieses Tages, das Erbe, vom Vater weitergegeben an den Sohn: wie man am Leben bleibt, wie man sich vorwärtsstürzt vom Heute ins Morgen.
Eine prächtige Lehre. Michael kannte Leute in Abe Kinds Alter und Lebensumständen, die nur mehr wie Schlafwandler lebten, in Stumpfheit versunken, die so sicher war wie der Tod. Sein Vater hatte sich für das schmerzhafte Leben entschieden, hatte statt des Doppelgrabes das Doppelbett gewählt. Michael goß sich noch eine Tasse Kaffee ein und überlegte dabei, wie Lillian aussehen mochte; während er die Tasse leerte, sann er darüber nach, ob wohl auch über Ted Aisners Grab ein Doppelstein prangte.
Um sieben Uhr dreißig fuhr er Rachel zur Woodrow-Wilson-Schule.
Sie verließ ihn auf dem Flur, und er nahm von einem ernsthaft blickenden jungen in langen Hosen ein Programm in Empfang und begab sich in den Festsaal. In der Reihe vor dem Mittelgang bemerkte er die allein sitzende Jean Mendelsohn. Er begrüßte sie und nahm neben ihr Platz.
»Oh, Rabbi, was machen denn Sie hier?« »Wahrscheinlich dasselbe wie Sie, wie geht's Jerry?« »Nicht so schlecht, wie ich gefürchtet habe.
Natürlich ist der Verlust des Beines schlimm. Aber all diese Geschichten, die ich gehört habe -daß man den fehlenden Körperteil immer noch spürt, als wär er vorhanden, daß man Krämpfe in den Zehen hat, die nicht mehr da sind, verstehen Sie ...«
»Ja.«
»Also, so ist es nicht. Zumindest nicht bei Jerry.« »Fein. Und wie ist seine Stimmung?«
»Könnt besser sein, könnt aber auch schlechter sein. Natürlich bin ich sehr viel bei ihm. Meine jüngere Schwester ist aus New York gekommen. Sie ist sechzehn und großartig mit den Kindern.«
»Spielt eines von Ihren Kindern hier mit?«
»Ja, meine Toby, der Teufel.« Sie schien etwas verlegen, und als er ins Programm sah, verstand er den Grund. Die Schule führte ihr alljährliches Weihnachtsspiel auf, eine Veranstaltung, von der er ursprünglich gehofft hatte, sie werde ihm erspart bleiben. In der letzten Zeile des Programms, als verantwortlich für die Requisiten, war Rachel namentlich genannt. »Meine Toby ist ein Weiser aus dem Morgenland«, sagte Jean verdrossen und schnell, um es hinter sich zu bringen. »Diese Kinder quälen einen doch entsetzlich. Sie hat gefragt, ob sie darf, und wir haben ihr gesagt, daß sie w e i ß, wie wir darüber denken, sie soll das selbst entscheiden.«
»Und so ist sie also ein Weiser aus dem Morgenland«, sagte Michael lächelnd.
Sie nickte. »In Rom versichern sie uns, daß wir nicht daran schuld sind, und in Woodborough ist meine Tochter ein Weiser an der Krippe.«
Der Saal hatte sich unterdessen gefüllt. Miss McTiernan, die Schulleiterin, betrat das Podium - eine eindrucksvolle Erscheinung mit üppigem Busen und stahlblauem Haar. »Es ist mir eine Freude, Sie im Namen der Schüler und Lehrer der Woodrow-Wilson-Schule bei unserem alljährlichen Weihnachtsspiel zu begrüßen. Wochenlang waren Ihre Kinder mit der Herstellung der Kostüme und mit den Proben beschäftigt. Das Krippenspiel ist seit langem eine Tradition dieser Schule, auf die alle Schüler stolz sind. Ich bin sicher, Sie werden unseren Stolz teilen, wenn Sie das Programm gesehen haben.« Sie setzte sich unter lautem Applaus, während die Kinder in ihren Kostümen durch den Mittelgang aufmarschierten: aufgeregte Schäfer mit langen Hirtenstäben, unsichere Weise aus dem Morgenland mit wuscheligen Bärten, kichernde Engel mit prächtigen Papiermachéflügeln an den Schultern. Nach den Schauspielern erschienen die Schüler der fünften und sechsten Klasse, die Burschen in dunklen Hosen und weißen Hemden, die Mädchen in Rock und Pullover. Rachel trug Notenblätter, die sie an die übrigen Kinder verteilte, sobald diese ihre Plätze eingenommen hatten; sie selbst stellte sich neben das Klavier.
Ein kleiner Junge, dessen Haar noch naß von der Bürste war, erhob sich und begann mit unsagbar süßer Stimme zu sprechen: »Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde.«
Die Schauspieler stellten die Weihnachtslegende dar, und Jean Mendelsohn wand sich vor Verlegenheit, als die Weisen aus dem Morgenland mit ihren Gaben erschienen. Das kleine Spiel klang mit
»Stille Nacht, heilige Nacht« aus, und im Anschluß daran sangen die Kinder im Chor »O kleine Stadt von Bethlehem«, »Die erste Weihnacht«, »Der kleine Trommler«, »Kommt, all ihr Gläubigen« und
»O heilige Nacht«. Michael bemerkte, daß Rachel nicht mitsang. Sie stand neben dem Klavier und schaute ins Publikum, während rund um sie die Stimmen ihrer Mitschüler sich im Gesang erhoben.
Als es zu Ende war, verabschiedete sich Michael von Jean und holte seine Tochter.
»Gut waren sie, nicht wahr?« sagte sie.
»Ja, sehr gut«, bestätigte er. Sie drängten sich aus dem überheizten Schulhaus und stiegen in den Wagen. Michael fuhr seine Tochter nach Hause, aber als sie dort angekommen waren, wünschte er sich, noch länger mit ihr beisammen zu bleiben. »Hast du noch Aufgaben zu machen?« fragte er.
»Nein, Miss Emmons hat uns keine gegeben, wegen des Krippenspiels.«
»Ich mach dir einen Vorschlag: gehen wir spazieren, bis wir richtig müde sind. Dann kommen wir nach Haus, trinken heiße Schokolade und gehen schlafen. Was hältst du davon?« »Mhm.«
Sie stiegen aus dem Wagen, und Rachel legte ihre im Fäustling steckende Hand in die Hand ihres Vaters. Der Himmel war bedeckt, kein Stern sichtbar. Der Wind blies rauh, aber nicht sehr heftig. »Sag mir, wenn dir kalt wird«, sagte Michael.
»Zu Neujahr haben wir auch eine Aufführung. Nicht für die Eltern, nur für die Kinder«, sagte Rachel. »Da darf ich aber schon mitsingen, nicht wahr?«
»Natürlich, Honey.« Er zog sie im Gehen an sich. »Es ist dir schwergefallen, heute abend nicht mitzusingen, nicht wahr?«
»Mhm.« Unsicher schaute sie zu ihm auf.
»Warum? Weil du als einzige da vorn gestanden bist, vor so vielen Leuten, und nicht mitgesungen hast?«
»Nicht nur deshalb. Die Lieder und die Geschichte ... Sie sind so schön.«
»Das sind sie«, stimmte er zu.
»Aber die Geschichten aus dem Alten Testament sind auch schön«, sagte sie mit Überzeugung, und er zog sie wieder an sich. »Wenn Max sich Hockeyschlittschuhe kauft, dart ich mir dann mit dem Chanukka-Geld von Großvater Abe Kunsteislaufschuhe kaufen?«
fragte sie mit sicherem Gefühl für die ihr günstige Situation.
Er lachte. »Woher weißt du überhaupt, daß du einen Chanukka-
Scheck von Großvater Abe bekommen wirst?«
»Weil wir immer einen bekommen.«
»Schön, wenn's dieses Jahr auch so ist, solltest du vielleicht mit dem Geld ein eigenes Bankkonto eröffnen.«
»Wozu?«
»Es ist gut, eigenes Geld zu haben. Fürs College. Oder nur, um es auf der Bank sicher aufzuheben für den Fall, daß du es einmal brauchst...«
Er blieb plötzlich stehen, und sie hielt es für ein Spiel und zerrte lachend an seiner Hand-aber er hatte sich der tausend Dollar erinnert, die Leslie vor ihrer Hochzeit von Tante Sally geerbt hatte.
Jenes Geldes, das sie nie für gemeinsame Ausgaben hatte heranziehen dürfen, damit sie es an irgendeinem nebulosen Tag verwenden könnte, wie sie es für gut hielte.
»Daddy!« rief Rachel begeistert und zerrte an ihm, und nun mußte er den ganzen Heimweg über bei jedem dritten Schritt ein Baum werden und wie angewurzelt dastehen.
Am Morgen verließ er nach dem Gebet den Tempel und ging hinüber zu Woodborough Saving and Loan, wo Leslie und er ihre Bankkonten hatten. Das Namensschild am Schalter teilte ihm mit, daß er mit Peter Hamilton sprach. Das war ein großer junger Mann mit energischem Kinn und einer kleinen Falte zwischen den Augen.
Sein schwarzes Haar war mit etwas Grau gesprenkelt und über den Ohren sehr kurz geschnitten, so daß er wie ein Marineleutnant in einem Ivy-League-Anzug aus braunem Flanell aussah.
Michael erinnerte sich, daß Leslie ihn einmal gefragt hatte, ob er je einem dicken Bankkassierer begegnet sei.
Hinter ihm hatten sich zwei Leute angereiht, eine Frau in mittleren Jahren und ein älterer Mann, so daß Michael sich etwas befangen fühlte, als er an die Reihe kam. Er wüßte gerne, so erklärte er Peter Hamilton, ob seine Frau heute früh Geld abgehoben habe - und während er das sagte, spürte er förmlich, wie die zwei Leute hinter ihm die Ohren spitzten.
Peter Hamilton schaute ihn an und lächelte, wobei seine Zähne nicht sichtbar wurden. »Handelt es sich um ein gemeinsames Konto, Sir?«
»Nein«, sagte Michael. »Es handelt sich um ein Konto meiner Frau.«
»Also nicht um ... hm ... gemeinsamen ehelichen Besitz?« »Wie meinen Sie?«
»Das Geld auf dem Konto gehört rechtlich zur Gänze i h r ?« »Ach so, ja, natürlich.«
»Und es ist Ihnen nicht möglich, sie ... hm ... einfach zu fragen? Ich fürchte, wir sind moralisch nicht berechtigt, zu ...«
»Kann ich den Direktor sprechen?« fragte Michael.
Das Büro des Direktors war nußgetäfelt und mit einem dicken Teppich in Rostrot ausgelegt - einer für einen Bankmann ziemlich kühnen Farbe. Arthur J. Simpson lauschte Michaels Worten mit unverbindlicher Höflichkeit, drückte, nachdem jener geendet hatte, auf einen Knopf am Haustelephon und bat, man möge ihm die Auszüge von Mrs. Kinds Konto in sein Büro bringen. »Ursprünglich war es ein Konto über tausend Dollar«, sagte Michael. »Inzwischen müßte sich der Stand um die Zinsen erhöht haben.« »Gewiß«, sagte der Bankmann, »das müßte er wohl.« Er griff nach einem Kontoblatt.
»Der Stand ist jetzt fünfzehnhundert.« »Das heißt, sie hat nichts abgehoben?«
»O doch, Rabbi, sie hat. Gestern früh war der Kontostand zweitausendneunundneunzig Dollar vierundvierzig Cent.« Mr.
Simpson lächelte. »Die Zinsen summieren sich mit der Zeit. Sie werden jährlich berechnet, wissen Sie, und der Zinsfuß erhöht sich mit steigendem Kapital.«
»Wer da hat, dem wird gegeben«, sagte Michael. »So ist es, Sir.«
Wie weit konnte sie mit sechshundert Dollar schon kommen?
Doch noch während Michael sich diese Frage stellte, gab er sich selbst die Antwort. - Weit genug.
Als abends das Telephon läutete und er ihren Namen hörte, begannen ihm die Knie zu zittern, aber wieder war es falscher Alarm: ein Anruf f ü r sie, nicht v o n ihr.
»Sie ist nicht zu Hause«, sagte er zu der Beamtin von der Vermittlung, »wer ruft denn, bitte?«
Ein Ferngespräch, wiederholte die anonyme Stimme vom Fernamt.
Wann würde Mrs. Kind zu sprechen sein?
»Ich weiß es nicht.«
»Spricht dort Mr. Kind?« fragte eine fremde weibliche Stimme. »Ja.
Rabbi Kind.«
»Ich möchte mit ihm sprechen«, sagte die fremde Stimme zur Vermittlung.
»Gewiß, Ma'am. Sprechen Sie.« Die Vermittlungsbeamtin schaltete sich aus.
»Hallo?« sagte Michael.
»Mein Name ist Potter, Mrs. Marilyn Potter« »Ja, Ma'am?« sagte Michael.
»Ich wohne gleich neben der Hastings-Kirche - in Hartford.« Mein Gott, dachte er, natürlich: sie ist für ein paar Tage zu ihrem Vater gefahren! Dann fiel ihm wieder ein, daß der Anruf aus Hartford für sie bestimmt gewesen war, und er wußte, daß es sich um etwas anderes handeln mußte. Aber was, zum Teufel, redete diese Frau nur, fragte er sich, plötzlich seiner Benommenheit gewahr werdend.
»So habe ich ihn gefunden. Es war ein Schlaganfall.« Oh.
»Besuchszeiten für Trauergäste morgen und Donnerstag von eins bis drei und von sieben bis neun. Einsegnung in der Kirche am Freitag um zwei und Begräbnis am Grace Cemetery, wie er es schriftlich festgelegt hat.«
Er dankte der fremden Frau. Er hörte ihre Beileidsworte und dankte nochmals. Er versprach, auch seiner Frau das aufrichtige Beileid von Mrs. Potter auszusprechen und dankte und verabschiedete sich.
Dann griff er unwillkürlich nach dem Schalter, löschte das Licht und saß im Dunkel, bis das Harmonikaspiel seines Sohnes ihn ins Leben zurückrief.
Am Donnerstag war sie noch immer nicht zurückgekommen.
Michael hatte kein weiteres Lebenszeichen von ihr erhalten und fühlte sich gelähmt von qualvoller Unentschlossenheit. Die Kinder sollten am Begräbnis ihres Großvaters teilnehmen, dachte er. Aber dann würden sie fragen, warum ihre Mutter nicht da sei. Vielleicht w ü r d e sie da sein, vielleicht hatte sie die Todesanzeige gelesen oder irgendwie erfahren, daß ihr Vater gestorben war. Am Ende entschloß er sich doch, Max und Rachel nichts zu sagen. Am Donnerstag nach dem schachriss stieg er in den Wagen und fuhr allein nach Hartford.
Zwei Polizisten in Uniform dirigierten die Autos zu den vorgesehenen Parkplätzen. Drinnen in der Kirche spielte die Orgel leise Hymnen, und fast all die weißen Betstühle waren besetzt.
Michael durchschritt langsam das Kirchenschiff, aber er konnte Leslie nirgends entdecken. Schließlich nahm er auf einem der wenigen noch freien Sitze Platz, in der zweitletzten Reihe neben dem Mittelgang, wo er Leslie sehen mußte, wenn sie noch käme.
Erleichtert stellte er fest, daß der mit Blumen bedeckte Sarg schon geschlossen war.
Neben ihm unterhielt sich eine Frau in mittleren Jahren mit einer jüngeren, die ihr auffallend ähnlich sah, über seinen verstorbenen Schwiegervater. Mutter und Tochter, dachte er, unverkennbar.
»Gott weiß, er war nicht vollkommen. Aber immerhin hat er hier mehr als vierzig Jahre lang sein Amt versehen. Es hätte sich einfach gehört, im Trauerhaus vorzusprechen. Schließlich hätte es dieser Frank doch wohl e i n e n Abend lang ohne dich ausgehalten, um Himmels willen.«
»Ich schau mir nicht gern Tote an«, sagte die Tochter.
»Tot! Du hättest nicht geglaubt, daß er tot ist. Er hat so vornehm ausgesehen. Direkt schön war er. Dabei hat sein Gesicht nicht hergerichtet gewirkt oder irgend so was. Wirklich, du hättest nie geglaubt, daß du einen Toten vor dir hast.«
»Ich schon«, sagte die Tochter.
Die Geistlichen erschienen, ein junger, ein alter, und einer, der zwischen den beiden etwa die Mitte hielt.
»Drei«, flüsterte die Tochter mit rauher Stimme, als sie sich zur Invocatio erhoben. »Mr. Wilson, der schon im Ruhestand ist, und Mr.
Lovejoy von der First Church. Aber wer ist der Junge?« »Er soll von Pilgrim Church in New Haven sein. Ich hab den Namen vergessen.«
Der Geistliche, den das Mädchen Mr. Lovejoy genannt hatte, sprach die Invocatio. Seine Stimme war weich und geschult, eine Stimme, die es gewohnt war, melodisch über gebeugte Häupter dahinzufließen.
Eine Hymne folgte: »Oh God, Our Help in Ages Past.« Michael stand inmitten der sich erhebenden Stimmen. Die Mutter sang nur ein paar Zeilen, müde krächzend, aber die Tochter hatte einen süßen, sich aufschwingenden Sopran und wich nur fast unmerklich von der Tonart ab.
»Eins bitte ich vom Herrn, das hätte ich gerne: daß ich im Hause des Herrn bleiben möge mein Leben lang...«
Psalm Siebenundzwanzig. Einer von unseren Psalmen, dachte Michael, und erkannte zugleich, wie sinnlos sein Stolz war. »Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darübergeht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr...«
»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat...«
Psalm Hundertdrei und Psalm Hunderteinundzwanzig. Bei wie vielen Begräbnissen hatte er dieselben Texte gewählt? »Möchte aber jemand sagen: Wie werden die Toten auferstehen, und mit welcherlei Leibe werden sie kommen? Du Narr, was du säst, wird nicht lebendig, es sterbe denn. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, etwa Weizen oder der andern eines. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will, und einem jeglichen von den Samen seinen eigenen Leib...«
Das war jetzt Neues Testament: schätzungsweise, dachte Michael, erster Korintherbrief.
Die Frau neben ihm verlagerte ihr Gewicht von der rechten auf die linke Hinterbacke.
»In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, so wollte ich zu euch sagen: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid, wo ich bin. Und wo ich hingehe, das wisset ihr, und den Weg wisset ihr auch ...«
Darauf hob Mr. Lovejoy die Verdienste des Verstorbenen hervor und dankte Gott für die Verheißung des Ewigen Lebens und dafür, daß es dem dahingegangenen Reverend Rawlings vergönnt gewesen war, zur Ehre Gottes und zum Wohle aller unsterblichen Seelen zu wirken.
Dann erhob sich die Gemeinde abermals und sang » For All the Saints Who From Their Labors Rest«, und die Stimmen rund um Michael schwangen sich auf und sanken herab, und er verstand, wie es Rachel während der Weihnachtsfeier in der Schule zumute gewesen sein mußte.
Dann erteilte der alte Pfarrer den Segen, und die Orgel begann zu spielen, und die Menge strömte aus dem Gestühl in den Mittelgang und von dort zu den Toren. Michael stand da und schaute nach Leslie aus und konnte sie nirgends entdecken, stand und wartete, bis alle die Kirche verlassen hatten und nur mehr die Sargträger, um den Katafalk versammelt, zurückgeblieben waren; dann trat auch er ins Freie und schloß blinzelnd die Augen vor der Wintersonne. Er wußte nicht, wo der Friedhof gelegen war, so stieg er in seinen Wagen und wartete ein wenig und reihte sich dann in die Kavalkade der Fahrzeuge ein, die dem Leichenwagen folgten, einem neuen, sehr blank polierten, aber mit frischem Schneematsch bespritzten schwarzen Packard.
In den Rinnsalen zu beiden Seiten der Straße türmte sich schmutziger Schnee. Langsam bewegte sich der Leichenzug quer durch die Stadt und rief ein Verkehrschaos hervor, wo immer er hinkam.
Ein Fahrer, zwei Wagen hinter Michael, verlor die Nerven und brach aus der Kolonne aus. Als der blau-weiße Chevrolet an Michael vorbeifuhr, glaubte jener, auf dem Beifahrersitz Leslie zu erkennen, die sich dem jungen Mann am Steuer zuwandte und mit ihm sprach. Zwar trug sie einen kleinen Hut, der Michael unbekannt war, aber um so bekannter waren ihm das dunkelblonde Haar, der blaue Mantel und die Kopfhaltung.
»Leslie!« rief er.
Er kurbelte das Fenster hinunter und rief nochmals.
Der Wagen bog um die nächste Ecke nach links. Nachdem es Michael endlich gelungen war, sein eigenes Fahrzeug aus der Kolonne zu manövrieren und gleichfalls links abzubiegen, war von dem Chevrolet nichts mehr zu sehen. Ein riesiger Möbelwagen fuhr ihm rechts vor, nur Millimeter vom Randstein entfernt, dann überholte er einen Bus - nur um vor einer breiten Avenue vom Rotlicht aufgehalten zu werden.
Hier entdeckte er den blau-weißen Wagen wieder, der sich nach rechts gewandt hatte und, nur zwei Straßen vor Michael, soeben Grünlicht bekam und anfuhr. Michael wagte nicht, das Rotlicht an seiner Kreuzung zu überfahren; der Verkehr war sehr dicht. Als er endlich freie Fahrt bekam, ließ er den Wagen in rasendem Tempo um die Ecke schleudern, wie ein Teenager seinen Rennwagen. Die Straße stieg etwas an, und er konnte den anderen Wagen erst wieder sehen, als er am Ende der Steigung angelangt war und jener soeben von neuem links abbog; Michael folgte ihm um dieselbe Ecke und fuhr dann sehr schnell, schneller, als er je in der Stadt gefahren war, geschickt durch den Verkehr sich hindurchschlängelnd. An einer Kreuzung vier oder fünf Blocks weiter vorn mußte der Chevrolet zum Glück bei Rotlicht anhalten, und Michael kam nur drei Wagen hinter ihm zum Stehen.
»Leslie!« rief er abermals, stieg aus und rannte nach vorn und hämmerte an das Fenster des blau-weißen Autos.
Als sie aber den Kopf wandte, sah er in ein fremdes Gesicht. Nicht einmal der Mantel war derselbe, war anders geschnitten und hatte auch nicht ganz dieselbe Farbe und große goldglänzende Knöpfe, während die auf Leslies Mantel kleiner und schwarz waren. Die Frau kurbelte das Fenster hinunter; sie sah Michael an, der Mann neben ihr sah ihn an, beide schwiegen.
»Entschuldigen Sie«, sagte Michael, »ich habe Sie verwechselt.« Er lief zu seinem Wagen zurück und kam gerade noch zum Lichtwechsel zurecht.
Der blau-weiße Chevrolet fuhr geradeaus, während Michael wendete.
Langsam fuhr er den Weg zurück, den er gekommen war; er gab sich alle Mühe, den Rückweg zu finden, aber als es ihm schließlich um all die Ecken herum gelungen war, fand sich keine Spur mehr von dem Leichenzug.
Er folgte der Straße, die der Zug genommen hatte, kam auch bald zu einem Friedhof und fuhr durch das Gittertor.
Es war ein großer Friedhof, blockweise angelegt, mit Kieswegen dazwischen, und er fuhr auf dem einen Weg immer geradeaus, und dann noch auf ein paar anderen Wegen in verschiedenen anderen Richtungen, immer nach dem Leichenzug Ausschau haltend. Die Wege waren von Schnee gesäubert und gut gestreut.
Aber er sah nichts als Grabsteine und keinen Menschen. Schließlich entdeckte er einen Mogen Dovid, dann noch einen, und er verlangsamte das Tempo und las einige der Inschriften:
Israel Salitsky, 2. Februar 1895 - 23. Juni 1947
Jacob Epstein, 3. September 1901- 7. September 1962
Bessie Kahn, 17. August 1897 -12. Februar 196o.
Unserer guten Mutter.
Oi, haben Sie sich im Friedhof geirrt!
Er hielt an und blieb im Wagen sitzen, von dem heftigen Wunsch beseelt, aufzugeben und nach Hause zu fahren. Aber wenn sie doch da wäre, beim Grab?
Er fuhr noch einen Gräberblock weiter, und dort traf er auf einen alten Mann in langem braunem Mantel, der, eine schwarze Zipfelmütze über die Ohren gezogen, auf einem Klappstühlchen neben einem der Grabhügel hockte. Michael hielt neben ihm an. »An guten Tag.«
Der Mann nickte und sah Michael über die Hornbrille hinweg an, die ihm tief auf der Nase saß.
»Wie komm ich da zum Grace Cemetery?«
»Der für die sch'kozim ist das nächste Tor. Das hier ist B'nai B'rith.«
»Gibt's eine Verbindung zwischen den beiden?«
Der Mann hob die Schultern und deutete nach vorn. »Vielleicht dort am End.« Und er blies in seine Hände, die keine Handschuhe trugen.
Michael zögerte. Warum saß der Alte hier, neben dem Grab? Er konnte sich nicht entschließen, zu fragen. Seine Handschuhe lagen neben ihm auf dem Beifahrersitz. Ohne es irgendwie beabsichtigt zu haben, hielt er sie dem Alten durch das Wagenfenster hin. »Morgen wird's wärmer sein«, sagte Michael und ärgerte sich gleichzeitig über seine eigenen Worte.
»Gott ze danken.«
Er startete den Wagen und fuhr weiter. Gräber zu beiden Seiten des Weges, so weit das Auge reichte; eine grenzenlose Totenwelt, in der sich Michael wie ein malach-hamowess fühlte, wie ein Totenengel des Maschinenzeitalters.
Schließlich kam das Ende des Friedhofs in Sicht. Eine Fahrstraße führte bis zu einem Gitterzaun, auf dessen anderer Seite Michael die Trauergemeinde stehen sah, im Begriff, seinen Schwiegervater in die Erde zu senken.
Er hielt den Wagen an. Der Zaun hatte kein Tor. War denn wirklich eine unübersteigbare Absperrung notwendig, um auch noch Staub von Staub, Seelen von Seelen zu trennen, fragte sich Michael wütend.
Sollte er zurückfahren? Die ganze lange Strecke zurück, hinaus durch das Tor des B'nai B'rith-Friedhofs, hinein zum Tor des Grace-Friedhofs, und nochmals dieselbe Strecke auf der anderen Seite? Er war sicher, das Begräbnis würde bis dahin !ängst vorüber sein.
Er fuhr die Straße am Gitter entlang. Auch auf der anderen Seite gab es Gräber und ab und zu ein Mausoleum. Schließlich hielt er so nahe am Zaun wie möglich, hinter einer imposanten Granitkrypta, und stieg aus.
Die Trauergemeinde war jetzt hinter Grabmälern und einer kleinen Anhöhe verborgen. Immer noch zögernd stieg er auf die Motorhaube und weiter aufs Wagendach; von dort aus gelang es ihm, sich auf den Zaun zu schwingen, hinauf und hinüber, während die Metallspitzen des dicken Drahtes ihm durch die Kleider in die Haut stachen.
Mit Befriedigung stellte er fest, daß zumindest nichts zerrissen war. Auf dem Dach der Krypta lag Schnee. Er stapfte hindurch bis zum andern Ende des Daches und blickte nachdenklich hinunter: der Boden fiel ab, er schätzte die Höhe auf mindestens zweieinhalb Meter. Aber er sah keine andere Möglichkeit, hinunterzukommen.
Er sprang.
Ungeschickt, wie ein Klotz, landete er auf dem Boden, die Füße glitten im weichen Schnee unter ihm weg, und schon lag er der Länge nach auf dem Rücken. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er hinter und über sich die gemeißelte Inschrift auf der Gruft: Virgina Curtis
RUHE IN FRIEDEN
Regina FAMILIE BUFFINGTON Lawrence Charles
Zum Glück schien nichts gebrochen. Michael erhob sich, klopfte, so gut es ging, den Schnee von seinen Kleidern, und spürte die nassen Klumpen, die ihm über Hals und Rücken rannen. »Entschuldigen Sie«, sagte er zu Familie Buffington.
Es gab keinen Pfad durch den tiefen Schnee bis zu dem gesäuberten Weg, der den Friedhof querte; mit Schnee in den Schuhen und den Hosenaufschlägen kam Michael unten an und machte sich auf den Weg zum Begräbnisplatz.
Er stand am äußersten Rand der dichtgedrängten Menge. Leslie, fiel ihm ein, würde neben dem Grab stehen. Er versuchte, sich hindurchzudrängen.
»Verzeihung ... Entschuldigen Sie.« Eine Frau sah ihn böse an.
»Ich gehöre zur Familie«, flüsterte er.
Aber die Leute standen zu dicht, es gab kein Durchkommen. Er hörte den Pfarrer den Segen sprechen. »Der Friede Gottes, der über allem menschlichen Verstand ist, bewahre eure Herzen und eure Sinne in der Liebe Gottes und seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn. Der Segen Gottes des Allmächtigen, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes sei mit euch und behüte euch auf allen Wegen.«
Aber Michael konnte nicht sehen, welcher der drei Geistlichen sprach, konnte nicht sehen, wer am Grab stand, und er begriff, daß er ebensogut im B'nai B'rith-Friedhof hätte bleiben können. Plötzlich sah er sich selbst am Zaun stehen, die Nase ans Gitter gepreßt, und das Begräbnis beobachten, ein einsamer, aber nicht minder trauriger Trauergast, und gegen seinen Willen und trotz all seiner Verzweiflung spürte er etwas glucksend in sich aufsteigen: ein fast unbezwingliches Bedürfnis, laut herauszulachen, sich vor Lachen zu schütteln, während nur wenige Meter von ihm entfernt sein Schwiegervater der Erde überantwortet werden sollte. Er grub die Fingernägel in seine zerschundenen Handflächen, aber dann beugten sich die Häupter vor ihm, und er konnte sehen, daß es der junge Geistliche war, der das Begräbnis zelebrierte. Neben dem Grab standen lauter fremde Menschen. O Gott! schrie es in ihm.
Wo bist du, Leslie?
Als sie dem Zug in der Grand Central Station entstieg, ging sie direkt ins Hotel und nahm dort ein Zimmer, das kleiner war als jenes, das sie im Woodborough-YWCA gehabt hatte, aber keineswegs so sauber, mit halbvollen Gläsern und sonstigem Zeug, das überall umherstand, und schmutzigen Handtüchern auf dem Badezimmerboden. Der Zimmerkellner versprach, er werde sofort jemanden schicken, aber als nach fast einer Stunde noch immer niemand gekommen war, wurde ihr die Unordnung zuviel. Sie ließ den Besitzer kommen und machte ihm klar, daß sie für vierzehn Dollar siebzig pro Tag wohl Anspruch auf ein sauberes Zimmer habe. Gleich darauf erschien das Mädchen.
Sie speiste allein zu Abend in Hector's Cafeteria, gleich gegenüber von Radio City. Das war noch immer ein ordentliches Lokal, in dem man ungestört essen konnte. Sie war schon beim Dessert, als ein fremder Mann mit ihr anzubändeln versuchte. Er war höflich, nicht gerade abstoßend und vielleicht ein wenig jünger als sie, aber sie nahm ihn nicht zur Kenntnis, aß ruhig ihren Schokoladepudding auf und verließ dann das Lokal. Als er sich aber anschickte, ihr zu folgen, verlor sie die Geduld und wandte sich zu dem an einem türnahen Tisch sitzenden Polizisten, der eben sein Gebäck in den Kaffee tauchte. Sie fragte ihn nach der Zeit, wobei sie ihren Verfolger fixierte. Der drehte sich um und war im Nu über die Treppe zum Oberstock des Lokals verschwunden.
Sie begab sich zurück zum Hotel, halb ärgerlich, halb geschmeichelt, und ging früh zu Bett. Die Wände waren sehr dünn, und sie hörte das Paar im Nachbarzimmer der Liebe obliegen. Die beiden machten es sehr ausführlich, und die Dame war ziemlich laut und stieß fortwährend spitze, schrille Schreie aus. Obgleich der Mann sich ruhig verhielt, ließ der Lärm, den das Bett und die Dame machten, Leslie keinen Schlaf finden. Erst gegen Morgen schlummerte sie ein, doch auch da nur für kurze Zeit, denn um fünf Uhr morgens ging es abermals los, so daß ihr nichts übrigblieb, als zuzuhören.
Aber draußen wurde es heller und heller, und als die Sonne über den Dächern erschien, begann Leslie sich besser zu fühlen. Sie öffnete das Fenster und sah über das Fensterbrett gelehnt auf die New Yorker hinunter, wie sie tief unten die Gehsteige überschwemmten. Sie hatte schon fast vergessen, wie aufregend Manhattan sein konnte, und so verspürte sie der. Wunsch, auszugehen und es wieder zu erleben. Sie machte sich fertig, ging hinunter, frühstückte in einem Child's-Lokal und las dort die New York Times, wobei sie sich in die Rolle einer Büroangestellten versetzte, die auf dem Weg zum Arbeitsplatz war.
Nach dem Frühstück ging sie durch die 42nd Street bis zu dem alten Haus, in dem die Redaktion gewesen war, aber die gab es nicht mehr. Sie betrat den Times-Turm, suchte im Telephonbuch danach und sah, daß die Zeitung in die Madison Avenue übersiedelt war. Jetzt erst fiel ihr ein, daß sie seinerzeit davon gelesen hatte. Aber es arbeitete ohnehin keiner ihrer alten Kollegen mehr dort: wozu also noch hingehen?
Sie schritt weiter, durch die Nase ein-, durch den Mund ausatmend, und ganz dem Schauen hingegeben. Es war genauso wie auf dem Universitätsgelände: Objekte, an die sie sich erinnerte, waren nicht mehr da, Neubauten hatten sie ersetzt.
An der 60th Street wandte sie sich automatisch nach Westen. Schon lange vorher hielt sie nach dem Logierhaus Ausschau und fragte sich, ob sie es wohl wiedererkennen werde. Sie erkannte es wieder. Die Ziegelfassade war zwar frisch gestrichen, aber noch immer in demselben Rot. An der Tür hing noch immer die Tafel »Zimmer zu vermieten«, und sie stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Tür des Verwalters, der sie auf Apartment 1-B verwies, wo der Eigentümer wohnte. Dieser war ein schmächtiges Männchen mittleren Alters mit sommersprossiger Glatze und schütterem, ungepflegt grauem Schnurrbart, an dessen Enden er beständig kaute.
»Könnte ich mir etwas ansehen?« fragte sie.
Er ging ihr voran, die Treppen hinauf. Im zweiten Stock fragte sie ihn, ob zufällig Nummer 2-C frei wäre, aber er verneinte. »Weshalb gerade 2-C?« fragte er und blickte sie zum erstenmal wirklich an.
»Ich hab einmal dort gewohnt«, sagte sie.
»Ach so.« Er stieg weiter die Treppen hinauf, und sie folgte ihm. »Aber Sie können im dritten Stock etwas haben, das genauso aussieht.«
»Was ist aus meiner damaligen Hauswirtin geworden?« fragte sie.
»Wie hat sie geheißen?«
Aber Leslie wußte es nicht mehr.
»Ich weiß auch nicht«, sagte er gleichmütig. »Ich habe das Haus vor vier Jahren von einem gewissen Prentiss gekauft. Er hat ein Stampigliengeschäft in der Stadt.« Er führte sie den Gang entlang. Die Wände waren noch immer von diesem unglaublich häßlichen Braun. Sie war schon entschlossen, den Rest der Woche hier zu verbringen und nur der Erinnerung zu leben, aber sobald die Zimmertür offenstand, überwältigte sie all diese schmutzige Bräune und Ungepflegtheit so sehr, daß sie nur tat, als sehe sie sich alles eingehend an, und sich dabei fragte, wie sie jemals solche Scheußlichkeit hatte ertragen können.
»Ich muß es mir noch überlegen und gebe Ihnen dann Bescheid«, sagte sie schließlich.
Zu spät merkte sie, daß das falsch gewesen war: sie hätte zuerst nach dem Preis fragen müssen.
»Sie sind aber reichlich komisch«, sagte er und kaute an seinem Schnurrbart herum. Sie verabschiedete sich rasch und lief, ohne auf ihn zu warten, davon, die Treppe hinunter, nur fort aus diesem Haus.
Sie betrat eine Muschelbar und aß dort Garnelen zu Mittag, trank dunkles Bier dazu und verbrachte den Nachmittag im Museum of Modern Arts, wobei sie mit heiterem Spott jenes Mannes in der Wellesley Universität gedachte. Zu Abend aß sie in einem kleinen französischen Restaurant und besuchte danach ein grelles, lärmendes Musical. Nachts war das Paar nebenan - sie hatte sie die Flitterwöchner getauft - wieder emsig am Werk. Diesmal redete der Mann rasch und leise auf die Dame ein, die wieder ihre Schreie ausstieß, aber Leslie konnte kein Wort verstehen.
Den folgenden Tag verbrachte sie zur Gänze im Metropolitan Museum of Arts und in der Guggenheim-Galerie. Auch am nächstfolgenden klapperte sie Museen ab. Für sechzig Dollar erwarb sie ein Gemälde von der Hand eines gewissen Leonard Gorletz. Sie hatte den Namen noch nie gehört, wollte das Bild aber für Michael. Es war das Porträt eines Mädchens mit Kätzchen. Die Kleine war schwarzhaarig, sah Rachel überhaupt nicht ähnlich, und dennoch erinnerte die Art, wie sie auf das Kätzchen blickte, an Rachels verletzliche Glückseligkeit. Leslie war so gut wie sicher, daß Michael das Bild gefallen werde.
Am nächsten Morgen bekam sie die Flitterwöchner von nebenan zu Gesicht. Sie war eben dabeigewesen, ihre Frisur vor dem Frühstück ein letztes Mal zurechtzukämmen, als sie die Tür zum Nachbarzimmer gehen hörte und Stimmen vernahm. Den Kamm fallen lassen, die Handtasche erwischen und hinter den beiden her sein war eins. Aber der Anblick, der sich ihr bot, war enttäuschend. Sie hatte animalische Schönheit zu sehen erwartet, aber der Mann wirkte klein, plump und schlaff, hatte den blauen Anzug voll Schuppen, und die Dame war dürr und nervös, mit einem scharfen, vogelhaften Profil. Dennoch musterte Leslie im Lift die beiden immer wieder mit verstohlener Bewunderung, hauptsächlich wegen der Ausdauer der Dame und der Modulationsfähigkeit ihres Soprans. Zwei Tage vergingen mit Einkäufen für ihren persönlichen Bedarf. Sie kaufte aber nur, was sie wirklich brauchte, und bewunderte alles andere nur in den Auslagen. Sie kaufte bei Lord & Taylor einen Tweedrock für Rachel, und einen dicken blauen Kaschmirpullover für Max bei Weber & Heilbroner.
Aber am Abend ging eine Veränderung mit ihr vor. Sie fand keinen Schlaf mehr und fühlte sich inmitten dieser vier Hotelzimmerwände recht elend. Nun war sie schon den sechsten Tag hier und hatte, wenn auch vielleicht ohne es zu wissen, genug von New York. Zu allem anderen war nun auch noch das Lustgekeuche der »Flitterwöchner«
verstummt: sie waren ausgezogen und hatten sie allein zurückgelassen.
An ihrer Statt wohnte jetzt jemand da drüben, der fortwährend die Wasserspülung betätigte, einen Elektrorasierer benutzte und das Fernsehen sehr laut drehte.
Gegen Morgen begann es zu regnen; Leslie blieb länger als gewöhnlich im Bett und döste vor sich hin, bis der Hunger sie aufstehen hieß. Den ganzen regennassen Nachmittag verbrachte sie dann bei Ronald's, einem Schönheitssalon mit dem Anstrich eines ehrbaren Playboyklubs in der Nähe von Columbus Circle, wo die Kunden in buntflauschiger Vermummung von der Sauna zur Massage und von dieser zum Friseur wanderten. Sie briet bei 190 Grad Fahrenheit zur Musik der Boston Pops, die »Fiddle-Faddle« spielten, und geriet dann einem sadistischen Weibsbild unter die Fäuste, von der sie nach allen Regeln der Kunst durchgewalkt und -geknetet wurde. Ein Mädchen, das man Theresa rief, machte ihr eine Kopfwäsche, und während die rosige Gesichtscreme in ihre Poren drang, wurde Leslie von einer Helene manikürt und gleichzeitig von einer Doris pedikürt.
Als sie den Salon verließ, hatte der Regen nachgelassen. Er war zum feinen Nieseln geworden, fast schon wie Nebel. Die Broadwaylichter spiegelten sich flirrend in den vorbeifahrenden Autos und der nassen Fahrbahn. Leslie spannte den Schirm auf und wandte sich stadtwärts. Sie fühlte sich erholt und verschönt, und das einzig Wichtige war jetzt, irgendwo zu Abend zu essen. Es verlangte sie nach einem luxuriösen Restaurant - aber dann änderte sie ihren Sinn, und es war ihr plötzlich zu dumm, sich erst umständlich an einen endlich freigewordenen Platz komplimentieren zu lassen, dort ein kompliziertes Mahl zu bestellen, und das alles nur, um es dann allein aufzuessen. So blieb sie unter einer flimmernden Neonreklame stehen, spähte durch die verregneten Scheiben in das Lokal, wo irgendein Talmi-Küchenchef in hoher weißer Mütze soeben dabei war, einen gelben Omelettenberg in einer Pfanne aufzuschichten, und wurde sich nicht schlüssig. Dann ging sie doch noch einen halben Block weiter und betrat ein Horn & Hardarts-Lokal.
Sie wechselte eine Dollarnote gegen eine Handvoll Kleingeld und wählte dann eine Gemüseplatte, Tomatensaft, Parker-House-Gebäck und Fruchtgelee. Die Cafeteria war überlaufen, und Leslie mußte lange suchen, ehe sie einen freien Platz fand. Der andere Gast war ein dicker Mann mit vergnügtem Stubby-Kaye-Gesicht, der über seinem Kaffee in die Daily News vertieft war, wobei ihm die vollgepfropfte Aktentasche an den Beinen lehnte. Sie stellte ihre Teller auf den Tisch und das leere Tablett auf einen eben vorbeikommenden Servierwagen. Zu spät merkte sie, daß sie den Kaffee vergessen hatte. Aber der Kaffeeautomat stand ganz in der Nähe, und sie hatte nur wenige Schritte zu gehen. Die Tasse war ihr etwas zu voll geraten, und sie mußte sie sehr vorsichtig an ihren Tisch tragen.
Während ihrer Abwesenheit hatte jemand ein Flugblatt an ihr Juiceglas gelehnt.
Sie griff danach und las den hektographierten Titel. Er lautete: DER WAHRE FEIND.
Während sie an ihrem Tomatensaft nippte, begann sie zu lesen. »Der wahre Feind Amerikas ist gegenwärtig jene jüdisch-kommunistische Verschwörung, die uns unterwerfen will, indem sie das Blut unserer weißen christlichen Rasse mit dem minderwertigen der kannibalischen Schwarzen zu verseuchen sucht.
Lang genug haben die Juden unser Geld- und Propagandawesen mit Hilfe ihrer internationalen Kartellmachinationen kontrolliert. Nun richtet sich ihre Heimtücke auf das Erziehungswesen, um die zarten Herzen unserer Kinder zu vergiften. Was wollen wir für unsere Kinder?
Ist dir bekannt, wie viele Kommunistenschweine schon in Manhattans Schulen unterrichten?«
Leslie ließ das Machwerk auf den Tisch fallen. »Gehört das vielleicht Ihnen?« fragte sie den jungen Dickwanst.
Jetzt erst blickte er sie an.
Sie nahm das Heftchen und hielt es ihm entgegen. »Oder haben Sie gesehen, wer das hierhergelegt hat?« »Gnädigste, ich war ganz in meine Zeitung vertieft. .. bei Gott.« Er griff nach seiner Aktentasche und machte sich davon. Der eine Taschenriemen stand offen. War er das auch schon vorher gewesen? Sie konnte es nicht mehr sagen und musterte die Umsitzenden. Aber keiner nahm Notiz von ihr, jeder war mit dem Essen beschäftigt, lauter ausdruckslose Gesichter. Und jeder konnte es gewesen sein. Warum nur? wandte sie sich innerlich an all diese leeren Visagen. Was wollt ihr damit? Was gewinnt ihr damit?
Schert euch weg und laßt uns in Ruhe! Geht in den Wald und feiert dort um Mitternacht eure schwarzen Messen. Geht meinetwegen Hunde vertilgen. Legt den Pelztieren eure Schlingen, oder ersauft meinetwegen im Meer oder, besser noch, geht in die Erde hinein, und die Erde soll euch verschlingen.
Was wollen wir für unsere Kinder?
Was wir wollen? Zu allererst genug Luft, damit sie atmen können, dachte Leslie. Nur frei atmen, sonst gar nichts.
Aber die bekommst du nicht, indem du dich in einem Hotelzimmer verkriechst, dachte sie weiter. Da mußt du zunächst einmal nach Hause gehen.
Aber vorher war noch etwas Wichtiges zu erledigen, fiel ihr ein. Denn zwischen ihrem Vater und jener Person, die das da geschrieben hatte, gab es keine Gemeinsamkeit. Und so mußte sie ihrem Vater in die Augen blicken und ihm Rede und Antwort stehen: Antwort, die ihm endlich begreiflich machte, worum es hier überhaupt ging.
Am nächsten Morgen, sie saß schon im Zug, suchte sie sich zu erinnern, wann sie ihrem Vater wohl zum letztenmal etwas mitgebracht hatte, und sie verspürte den dringenden Wunsch, ihm etwas zu schenken. In Hartford stieg sie aus und kaufte bei Fox's ein Buch von Reinhold Niebur. Erst im Taxi, auf der Fahrt zur Elm Street, ersah sie aus dem Auflagedatum, daß das Buch schon vor mehreren Jahren erschienen war und ihr Vater es möglicherweise schon kannte. Im Pfarrhaus blieb auf ihr Klopfen alles still, aber das Tor war unversperrt.
»Ist jemand da?« rief sie.
Ein alter Mann trat aus der Bibliothek ihres Vaters, Notizblock und Feder in Händen. Er hatte eine weiße Löwenmähne und buschige graue Brauen.
»Ist Mr. Rawlings nicht hier?« fragte Leslie.
»Mr. Rawlings? Nein. Nicht mehr - oh, Sie wissen es noch nicht?« Er legte ihr die Hand auf den Arm. »Mein Kind, Mr. Rawlings ist tot. Nun, nun«, sagte er mit besorgter Stimme. Aber sie hörte nur noch das Buch zu Boden fallen und spürte dann, wie jemand sie zu einem Stuhl führte.
Nach einigen Minuten ließ er sie ohne jeden ersichtlichen Grund allein.
Als sie ihn dann im hinteren Teil des Hauses herumkramen hörte, erhob sie sich und trat an den Kamin. Dort erblickte sie den Gipsabguß ihrer rechten Hand. Er muß das Wachs als Gußform verwendet haben, dachte sie. In diesem Augenblick kam der Alte zurück und brachte zwei Tassen dampfenden Tees. Beide schlürften langsam, und es tat wirklich gut.
Der Alte hieß Wilson und war ein pensionierter Geistlicher, der jetzt die Kirchenbücher ihres Vaters zu ordnen hatte. »Was man eben einem alten Mann so zu tun gibt«, sagte er. »Aber ich muß sagen, in diesem Fall ist das wirklich keine Arbeit.«
»Ja, er ist sehr gewissenhaft gewesen«, sagte sie.
Sie saß zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen. Abermals ließ der Alte sie allein. Nach einer Weile kam er wieder und fragte, ob er sie nach dem Friedhof fahren solle.
»Bitte.«
Dort angelangt, beschrieb er ihr den Weg zum Grab, blieb aber selbst im Wagen, wofür sie ihm dankbar war.
Die Erde sah noch frisch umgegraben aus, und Leslie stand davor, sah darauf nieder und dachte darüber nach, was sie jetzt wohl sagen könnte, um ihrem Vater zu zeigen, wie sehr sie ihn trotz allem geliebt hatte. Fast vermeinte sie, seine Stimme ein Kirchenlied singen zu hören, und so stimmte sie innerlich mit ein:
O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden, mit einer Dornenkron, o Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret gegrüßet seist du mir.
Die letzte Strophe wäre ihr beinahe nicht mehr eingefallen, aber dann sang sie das Lied doch zu Ende:
Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür, wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten, kraft deiner Angst und Pein.
Das war nun ihr Geschenk gewesen. Und obwohl es jetzt zu spät war, ihm alles zu erklären, beantwortete sie seine Frage mit dem Gebet, das sie nun schon seit achtzehn Jahren für ihre Mutter sprach: »Jissgadal w'
jisskadasch ...«
Beim Schlafengehen hatte noch leichter Frost geherrscht, aber als Michael am Morgen erwachte, war Tauwetter über Neu-England hereingebrochen. Als er stadtwärts fuhr, hatten die Rinnsale sich in reißende Bäche verwandelt, und allerorten kam schon der Boden unter dem Schnee zum Vorschein, als hätte die weiße Decke Löcher bekommen.
Im Tempel brachten sie mit Müh und Not ihre neun Mann zusammen, wie das eben an manchen Tagen schon war, und auch dazu mußte er schließlich noch Benny Jacobs, den Gemeindevorsteher, anrufen und ihn bitten, ihm, dem Rabbi zu Gefallen, doch herüberzukommen, damit die minje komplett sei. Wie gewöhnlich, kam Jacobs auch. Er macht es einem leicht, Rabbiner zu sein, dachte Michael. Als er ihm aber nach dem Gebet danken wollte, wehrte Jacobs ab. »Ich fahre jetzt hinein, den Schnaps besorgen für die Tempelneujahrsparty. Möchten Sie eine besondere Marke?«
Michael lächelte. »Was das Trinken betrifft, verlaß ich mich ganz auf Sie. Bringen Sie, was Sie für gut halten, Ben.«
In seinem Arbeitszimmer sah er, daß der Terminkalender leer war, und so fuhr er heim, um die Post durchzusehen. Es waren nur die üblichen Rechnungen und der Burpee-Sämereienkatalog. Eine erholsame Stunde lang saß Michael dann über den Abbildungen der Frischgemüse und studierte die appetitanregenden Anpreisungen, ehe er seine Bestellung machte. Sie glich ganz der des Vorjahrs. Dann legte er sich für eine Weile auf die Couch im Wohnzimmer, lauschte zuerst der FM-Radiomusik und dann dem Wetterbericht, welcher leichten Temperaturanstieg und darauffolgenden neuerlichen Kälteeinbruch mit schweren Schneefällen noch für diesen Nachmittag vorhersagte.
Michael, der im Herbst verabsäumt hatte, den Garten zu düngen, fiel jetzt ein, daß dieses Tauwetter ihm wohl die einzige Gelegenheit bot, sein Versäumnis noch während des Winters nachzuholen, und so schlüpfte er in seine Arbeitshosen, zog die alte Jacke über, griff nach den Arbeitshandschuhen, zog die Winterstiefel an, fuhr zum Supermarket und lud dort ein Halbdutzend Leerkartons auf. Er hatte ein Dauerabkommen mit einem Truthahnzüchter und fuhr nun zu dessen Farm hinaus, wo der Eigentümer jedes Jahr nach dem Thanksgiving-und Weihnachtsrummel den Geflügelmist zu einem großen Haufen türmte. Der Dünger war locker und gerade richtig, hatte die Beschaffenheit von Sägemehl und war durchsetzt von weißen Flaumfedern, die in der Gartenerde verschwinden würden wie nichts. Er war bei der herrschenden Temperatur praktisch geruchlos, und all das Gewürm, das die Arbeit im Frühling und Herbst so unleidlich machte, war in der Winterkälte eingegangen. Michael schaufelte den Dünger in die Kartons und achtete darauf, daß der Kombiwagen nicht damit beschmutzt würde. Zu diesem Zweck hatte er den Gepäckraum auch mit alten Zeitungen ausgelegt. Die Luft war warm, die Arbeit tat ihm gut, aber er wußte aus Erfahrung, daß er fünfmal würde fahren müssen, um genug Dünger für seinen Garten zu haben.
Doch schon nach der dritten Fahrt - er trug die Ladung eben in den Garten und leerte sie dort aus - zogen die Wolken auf, es wurde merklich kühler, und er schwitzte nun nicht mehr. Und als er mit der letzten Ladung in die Einfahrt bog, hatte es schon wieder fein und graupelig zu schneien begonnen.
»He! « Max war aus der Schule zurück, trat an den Wagen und betrachtete die Arbeitskleidung seines Vaters. »Was machst du denn da?«
»Gartenarbeit«, sagte Michael, während der Schnee sich ihm an Gewand und Brauen festsetzte. »Willst du mir helfen?«
Sie schleppten die letzten Kartons gemeinsam in den Garten, klopften sie dort aus, und Max ging in den Keller, um die Schaufeln zu holen.
Dann begannen sie, den Dünger gleichmäßig über den Garten zu verstreuen, während die Flocken nun schon größer und dichter aus dem grauen Himmel sanken.
»Das gibt Tomaten so groß wie Kürbisse«, rief Michael, während er mit Schwung die nächste Schaufel aufstreute, so daß ein weiterer Quadratmeter der Schneefläche plötzlich vom Dünger gebräunt war.
»Kürbisse so groß wie aus Tanger«, rief Max und schwang die Schaufel.
»Mais so süß wie das Küssen.« Und schwang die Schaufel.
»Wurmstichige Radieschen! Ein schwarzkrätziger Matsch.« Und schwang die Schaufel.
»Schundleder! « sagte sein Vater. »Der reine Zunder! Schau, mein Daumen ist schon ganz grün.«
»Was, das Zeug frißt sich durch die Handschuhe?« fragte Max. Dabei arbeiteten sie pausenlos weiter, bis all der Dünger aufgebreitet war und Michael sich über den Schaufelstiel lehnte wie der Held jener alten Gewerkschaftscartoons und seinem Sohn bei den letzten paar Schwüngen zusah. Der Bursche hatte einen Haarschnitt dringend nötig, und seine Hände waren aufgesprungen und vom Frost gerötet. Wo hatte er nur seine Handschuhe? Er sah jetzt einem Bauernjungen viel ähnlicher als dem Sohn eines Rabbiners, und Michael dachte ans Frühjahr und wie sie zu zweit alles umstechen und nach der Aussaat wie Kibbuzniks auf die ersten grünen Spitzen warten würden, die durch die gedüngte Erde stießen.
»Weil du vorhin vom Küssen gesprochen hast - brauchst du zu Neujahr den Wagen?«
»Ich glaube nicht. Danke schön.« Max streute die letzte Schaufel und richtete sich seufzend auf.
»Warum nicht?«
»Wir haben nichts mehr verabredet. Dess und ich gehen nicht mehr miteinander.«
Max untersuchte angelegentlich die Risse in seinen Händen. »Dieser ältere Bursche hat sie mir ausgespannt. Er geht schon an die Hochschule.« Max zuckte die Achseln. »Tja, so ist das eben.« Er klopfte die Düngerreste von den Schaufeln. »Das Komische daran ist nur, ich bin gar nicht bös darüber. Dabei habe ich immer geglaubt, ganz blödsinnig in sie verliebt zu sein und nicht darüber hinwegzukommen, falls zwischen uns einmal etwas schiefginge.«
»Und jetzt ist es gar nicht so?«
»Ich glaube nicht. Weißt du, ich bin ja noch nicht einmal siebzehn, und die Sache mit Dess war ... na ja, sagen wir eher platonisch. Aber später, wenn man älter ist, wie weiß man es da?«
»Was meinst du damit, Max?«
»Was ist eigentlich L i e b e, Dad? Wie kannst du wissen, ob du ein Mädchen wirklich liebst?«
Die Frage war echt gestellt, empfand Michael. Sie beschäftigte den Jungen wirklich. »Weißt du, da gibt's keine Gebrauchsanweisung«, sagte er. »Aber wenn's erst soweit ist und du der Frau gegenüberstehst, mit der du dein ganzes weiteres Leben teilen willst, dann fragst du nicht mehr.«
Sie sammelten die leeren Kartons ein und stellten sie zum leichteren Transport ineinander.
»Und für eine andere Neujahrsverabredung ist es schon zu spät?« fragte Michael.
»Ja. Ich habe massenhaft Mädchen angerufen: Roz Coblentz, Betty Lipson, Alice Striar ... Aber die sind alle schon vergeben. Schon seit Wochen.« Er sah den Vater an. »Gestern abend hab ich's noch bei Lisa Patruno versucht, aber auch die ist schon besetzt.«
Oj. Langsam, Sejde.
»Ich glaube, die kenne ich gar nicht«, sagte Michael.
»Die Tochter von Pat Patruno, dem Apotheker. Patrunos Pharmacy, weißt du.«
»Ach so!«
»Bist du jetzt böse?« fragte Max.
»Nicht gerade böse.«
»Was dann?«
»Schau, Max, du bist jetzt ein großer Junge, was noch lang nicht heißt, daß du ein Mann bist. Aber von jetzt bis dorthin gibt es gewisse Entscheidungen, die du ganz allein treffen mußt. Und sie werden um so wichtiger, je älter du wirst. Aber wenn du meinen Rat brauchst - er steht dir jederzeit zur Verfügung. Du wirst nicht immer richtig entscheiden - niemand kann das. Aber es müßte schon sehr dick kommen, damit dein Vater böse auf dich ist.«
»Wie immer dem sei, sie war ohnedies schon verabredet«, sagte Max.
»Du«, sagte Michael, »da gibt es ein Mädchen, Lois heißt sie, aus New York. Derzeit zu Besuch bei Mr. und Mrs. Gerald Mendelsohn. Wenn du magst, kannst du dort anrufen. Sie stehen aber noch nicht im Telephonbuch. «
»Ist sie so, daß man nicht wegschauen muß?«
»Ich habe sie noch nie gesehen. Aber ihre ältere Schwester hätte mir einmal recht gut gefallen.«
Auf dem Weg ins Haus hieb Max seinen Vater plötzlich auf die Schulter, so daß ihm war, als hätte ihn ein Schlachtbeil getroffen und nähme ihm auf Dauer alles Gefühl. »Du bist gar kein alter Narr, wie man ...«
»Danke, das hört man gern.«
»... wie man von einem Rabbiner erwarten müßte, der nur herumsteht und Vogelscheiße in den Schneesturm streut.« Michael ging unter die Brause, danach hatten sie Suppe aus der Dose zum Mittagessen, und dann fragte Max, ob er den Wagen nehmen und zur Bibliothek fahren dürfe. Als der Junge fort war, stellte sich Michael für eine Weile ans Fenster und sah in das Schneetreiben hinaus. Dabei fiel ihm etwas für seine Predigt ein, er setzte sich an die Schreibmaschine und arbeitete es aus. Nachdem er mit der Niederschrift fertig war, ging er in den Abstellraum, holte die Dose Brasso heraus und ging damit nach oben.
Sejde's Bettstatt begann unansehnlich zu werden. Er arbeitete langsam und sorgfältig daran, wusch sich nach dem Auftragen des Putzmittels die Hände und begann dann, das Messinggestell mit weichen Lappen sauberzureiben, wobei er sich daran erfreute, wie blank und warm das Metall wieder zu glänzen begann. Noch war der ganze Kopfteil zu polieren, als er unten die Haustür aufgehen hörte und gleich darauf Schritte auf der Treppe vernahm.
»Wer ist da?« rief er.
»Ja, wer ist da?« sagte sie, während sie hinter ihm ins Zimmer trat.
Und während er sich noch umdrehte, küßte sie ihn schon, hatte ihn gerade noch am Mundwinkel erwischt, und vergrub dann ihr Gesicht an seiner Schulter.
»Am besten, du rufst gleich Dr. Bernstein an«, murmelte sie mit gepreßter Stimme.
»Das hat jetzt Zeit«, sagte er nur. »Mehr Zeit, als es überhaupt gibt.« Sie standen nur da und hielten einander lange Zeit umschlungen.
»Ich war auf der andern Seite des Spiegels«, sagte sie schließlich.
»Ja? Und war's schön dort?«
Sie sah ihm in die Augen. »Ich hab mich in einem Zimmer verschanzt und es mit Whisky und Pillen probiert. Und jeden Tag mit einem anderen Liebhaber.«
»Aber nein. Du nicht.«
»Du hast recht«, sagte sie. »Ich nicht. Ich war nur überall dort, wo ich gelebt habe, bevor du gekommen bist. Ich wollte endlich wissen, was ich eigentlich bin - und wer. «
»Und -jetzt weißt du es?«
»Ich weiß jetzt, daß es für mich außerhalb dieses Hauses nichts Wichtiges mehr gibt. Alles andere ist nur Schall und Rauch.« Aus seiner Miene ersah sie, wie schwer es ihm fiel, ihr die bittere Wahrheit zu sagen. So kam sie ihm zuvor: »Ich weiß es schon. War heute früh in Hartford«, sagte sie.
Er nickte nur und strich ihr über die Wange. »Liebe«, sagte er, und weiter, im stillen, zu seinem Sohn: Das ist sie, genau das, was ich für deine Mutter empfinde, für diese eine Frau.
»Ich weiß«, sagte sie, und er nahm ihre Hand in die seine und blickte dabei in die verzerrte Spiegelung im Messinggestell des Bettes. Unten ging die Tür auf, und sie hörten Rachels Stimme. »Daddy! «
»Wir sind hier heroben, Darling!« rief Leslie.
Er preßte Leslies Hand so fest, als wäre sein Fleisch eins mit dem ihren, und nicht einmal Gott selbst könnte es so ohne weiteres wieder trennen.
Am letzten Morgen des alten Jahres griff Michael aus dem Bett und stellte die Weckuhr ab. Eben war Rachel zu ihm unter die Decke gekrochen und preßte sich nun wärmesuchend an ihn. Und anstatt aufzustehen, drückte er ihren Kopf an seine Schulter und strich mit den Fingern wieder und wieder über die Eiform des Schädels unter dem dichten, schlafwarmen Haar. Dann schlummerten beide von neuem ein.
Als er zum andernmal erwachte, sah er mit Schrecken, daß es schon zehn Uhr vorbei war. Zum erstenmal seit Monaten hatte er die Morgenandacht im Tempel versäumt. Dennoch war kein dringender Anruf aus dem Tempel gekommen, und der Gedanke, daß sie die minje auch ohne ihn zustande gebracht hatten, erleichterte ihn.
Er stand nun auf, ging unter die Brause, rasierte sich und zog dann Jeans und Hemd über. Zum Frühstück nahm er lediglich einen Schluck Juice, wonach er sich, barfuß wie er war, ins Arbeitszimmer begab, um seinem Vater noch vor dem Mittagessen einen langen Brief zu schreiben. »Leslie hat sich so gefreut über diese Nachricht. Wann werden wir die Braut zu Gesicht bekommen? Könnt ihr bald kommen?
Gebt uns rechtzeitig Bescheid, damit wir einen würdigen Empfang vorbereiten können.«
Gleich nach Mittag fuhr er ins Krankenhaus. Wie Eskimos gegen die Kälte vermummt, stapften er und Leslie durch den strahlenden Nachmittag. Sie erstiegen den höchsten Punkt des Krankenhausgeländes, einen bewaldeten, pfadlosen Hügel, so daß sie fortwährend in den harschigen Schnee einbrachen. Als sie endlich oben waren, rang Michael nach Atem, und auch Leslie hatte hektisch gerötete Wangen. Der Schnee blendete in der Sonne, und tief unten erstreckte sich der See, zugefroren und verschneit, aber an manchen Stellen freigepflügt, um den flink durcheinanderschießenden Hockeyspielern das Eislaufen zu ermöglichen. Michael und Leslie setzten sich Hand in Hand in den Schnee, und er hätte den Augenblick gern ums Verweilen gebeten. Aber der Wind wehte ihnen den Pulverschnee in geisterhaften Schleiern ins Gesicht, und der Rücken wurde ihnen kalt und gefühllos, so daß sie nach einer Weile aufstehen und den Gipfel verlassen mußten, hinunter in Richtung auf den Krankenhauskomplex.
Elizabeth Sullivan kochte Kaffee in ihrem Verschlag und lud sie auf einen Schluck zu sich. Sie setzten sich eben zum Trinken, da sah Dan Bernstein auf seiner Morgenvisite herein und streckte den Finger anklagend gegen Leslie aus. »Ich habe eine Überraschung für Sie: wir haben gerade in der Teamsitzung über Sie gesprochen und sind drauf und dran, Sie demnächst hinauszuschmeißen.«
»Und wann?« fragte Michael.
»Oh, noch eine Woche Behandlung, ein paar Tage Erholung, und dann: Good-by, Johnny! « Er klopfte Michael auf die Schulter und begab sich dann auf die Station, gefolgt von Miss Sullivan mit ihrem Karteiwägelchen.
Leslie wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort über die Lippen.
So lächelte sie Michael nur zu, hob die Kaffeetasse, er stieß mit ihr an, überlegte sich eine kleine humorvolle Rede, die aber alles Nötige enthalten sollte - und wußte plötzlich, daß es da gar nichts zu reden gab. Statt dessen schluckte er den Kaffee hinunter und verbrannte sich dabei die Zunge.
Am nämlichen Abend fuhr Max mit dem Wagen am Tempel vor und wartete, bis Michael ausgestiegen war.
»Gute Nacht, Dad. Und ein gutes neues Jahr.«
Ohne zu überlegen, lehnte Michael sich über den Sitz und küßte den Jungen auf die Wange, wobei er sein eigenes Rasierwasser zu riechen bekam.
»He, was soll denn das heißen?«
»Ach - es ist das letztemal, weißt du. Ab morgen bist du schon zu groß dafür. Fahr vorsichtig, ja.«
Die Festhalle im Erdgeschoß war voll von Besuchern mit kindischen Papierhütchen auf den Köpfen. Hinter der improvisierten Bar verkauften Gemeindefunktionäre Getränke zugunsten der Hebräischen Schule, während fünf Musiker einen heißen Bossa Nova hinlegten und die Damen in doppelter Reihe ihre Körper im Rhythmus bewegten, die Augen ekstatisch geschlossen, als nähmen sie an einem Stammesritual teil.
»Achtung, der Rabbi! « rief Ben Jacobs in den Raum. Michael machte langsam die Runde.
Jake Lazarus haschte nach seiner Hand. » Nü, wieder zwölf Monat, wieder ein Jahr herum. Zweiundfünfzigmal schabess gefeiert«, sagte der Kantor mit träumerisch verschleiertem Blick. »Und aber ein paar Jahr, und wir feiern Jahrhundertwende. Das Jahr zweitausend, stellen Sie sich vor.«
»Versuchen Sie lieber, sich vorzustellen, daß wir das Jahr fünftausendsiebenhundertundsechzig feiern«, sagte Michael. »Unsere Zeitrechnung ist nämlich die ältere.«
»Ob zweitausend oder fünftausendsiebenhundertsechzig, was macht das schon aus. Da werde ich in jedem Fall hundertdrei Jahre alt sein.
Was glauben Sie, Rabbi, wie dann die Welt aussehen wird?« »Mein lieber Jake, bin ich ein Hellseher?« Und er gab dem Kantor einen freundlichen petsch auf die Wange.
Er trat an die Bar und verließ sie mit einem generös eingeschenkten Bourbon. Auf einem der Tische, die die Damen der Gemeinde mit Fressalien beladen hatten, entdeckte er inmitten der Tabletts mit tajglach und Backwaren ein wahres Wunder: eine Schüssel kandierten Ingwers. Er nahm zwei Stück davon, verließ die Halle und ging die Treppe hinauf.
Nachdem er die Tür zum Andachtsraum hinter sich geschlossen hatte, drang der Lärm nur mehr gedämpft herauf. Er stand im Finstern, aber er kannte seinen Tempel und brauchte kein Licht. Er ging im Mittelschiff nach vorn bis zur dritten Reihe, wobei er die Hand um den Glasrand hielt, damit er nichts verschüttete. Er setzte sich hin, trank den Whisky in kleinen Schlucken und knabberte am Ingwer. Drei Bissen - ein Schluck. War dies das rechte Verhältnis?
Denn der Ingwer war bald aufgegessen, und er hatte noch eine ganze Menge Bourbon. So trank er weiter und hing in der Dunkelheit seinen Gedanken nach. Und in dem Maß, wie seine Augen sich an das Dunkel gewöhnten, begann es sich um ihn zu lichten. Schon konnte er Umrisse unterscheiden, schon konnte er ganz gut das Lesepult ausnehmen, von dem aus er in vierundzwanzig Stunden den Sabbat-Gottesdienst leiten würde. Wie viele Predigten hatte er nun schon seit jener ersten in Miami gehalten? So viele Predigten, so viele Worte. Er lachte vor sich hin.
Nicht so viele, wie noch vor ihm lagen; er spürte es in allen Knochen, fast hätte er die Hand ausstrecken und sie berühren können, die Himmelsleiter all der zukünftigen Sabbat-Gottesdienste.
»Und Gott sprach weiter zu Mose: Also sollst du zu den Kindern Israel sagen: Der Herr, eurer Väter Gott, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name ewiglich, dabei soll man mein gedenken für und für.«
Ich danke dir, mein Gott.
Unten begannen die Musiker fröhliche Weisen zu spielen. Wäre Leslie jetzt da gewesen, sie hätten getanzt - es war ihm zum Tanzen zumute. Und zum nächsten Neujahr w ü rd e n sie auch tanzen. Der Ingwergeschmack hatte sich nun bis auf einen letzten bittersüßen Rest verloren. Nur keine Angst, sejde, sagte er im Dunkel leise vor sich hin. Sechstausend Jahre sind mehr als ein Tag, und dennoch ist nichts Neues auf der alten Erde, und was durch Massenmord und Gaskammern nicht ausgelöscht worden ist, wird auch nicht ausgelöscht sein durch den Wechsel der Namen oder der Nasen, und auch nicht dadurch, daß unser Blut sich mischt mit anderem Blut.
Das zumindest weiß ich von der Zukunft, mein lieber Jake Lazarus, dachte er; ob ich dir das sagen soll? Aber dann streckte er sich nur behaglich und ließ den letzten Rest Bourbon auf der Zunge zergehen, fühlte seine Wärme und verschob den Gedanken auf später.
Da mach ich eine Predigt daraus, dachte er. Morgen.