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11. März 1839
Der Einwanderer
Zum erstenmal sah Rob J. Cole die Neue Welt, als an einem nebligen Frühlingstag das Postschiff Cormorant - ein schwerfälliges Schiff mit drei kurzen Masten und einem Besansegel, und dennoch der Stolz der Black Ball Line - von der Flut in einen geräumigen Hafen geschoben wurde und dort seinen Anker in die kabbelige Dünung warf. East Boston war nichts Besonderes und bestand nur aus ein paar Reihen schlecht gebauter Holzhäuser, aber von einem der Piers aus nahm Rob J. für drei Pence eine kleine Dampfschiffähre, die ihn auf verschlungenem Kurs durch eine beeindruckende Ansammlung von Schiffen und Kähnen auf die andere Seite, zum eigentlichen Hafenviertel, brachte, einer wild wuchernden Siedlung aus Wohnbauten und Geschäftshäusern, die beruhigend nach verfaulendem Fisch, Bilgenwasser und geteertem Seil roch wie jeder schottische Hafen auch. Er war hochgewachsen und breit, größer als die meisten. Das Gehen fiel ihm schwer, als er sich auf der krummen Kopfsteinpflasterstraße, die vom Wasser wegführte, in Bewegung setzte, denn die Seereise steckte ihm noch in den Knochen. Auf der linken Schulter trug er einen schweren Schiffskoffer, und unter seinem rechten Arm klemmte, als habe er eine Frau um die Taille gefasst, ein großes Saiteninstrument. Er sog Amerika mit jeder Pore ein. Schmale Straßen, kaum breit genug für Karren und Kutschen, die meisten Gebäude aus Holz oder aus sehr roten Ziegeln, die Geschäfte voller Waren, über den Türen farbenfrohe Schilder mit vergoldeten Buchstaben. Er bemühte sich, die Frauen, die aus den Geschäften kamen, nicht anzustarren, obwohl er wie betrunken war vor Sehnsucht nach dem Geruch einer Frau. Er spähte kurz in ein Hotel, das American House, doch die Lüster und die Perserteppiche schüchterten ihn ein, und er wusste, dass die Preise zu hoch für ihn waren. In einem billigen Lokal aß er eine Tasse Fischsuppe und fragte zwei Kellner, ob sie ihm eine billige, aber saubere Pension empfehlen könnten.
»Da musst du dich schon entscheiden, Junge, entweder das eine oder das andere«, sagte der eine. Doch der andere schüttelte den Kopf und schickte ihn zu Mrs. Burton in der Spring Lane. Das einzig freie Quartier war eine ehemalige Dienstbotenkammer auf dem Dachboden neben den Zimmern des Knechts und des Dienstmädchens. Es war nicht nur winzig, sondern man musste auch drei Stockwerke hochsteigen, und da es direkt unter den Dachsparren lag, war es im Sommer mit Sicherheit heiß und im Winter kalt. Es gab lediglich ein schmales Bett, einen kleinen Tisch mit einer angeschlagenen Waschschüssel und einen weißen Nachttopf hinter einem mit blauer Blumenstickerei verzierten Leinentuch. Mit Frühstück - Porridge, Kekse und ein Hühnerei -
koste das Zimmer einen Dollar fünfzig Cent die Woche, erklärte ihm Louise Burton. Sie war eine farblose Witwe Mitte der Sechzig mit unverblümt neugierigem Blick. »Was haben Sie da unterm Arm?«
»Man nennt es eine Gambe.«
»Verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt als Musiker?«
»Ich spiel’ nur zum Vergnügen. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich als Arzt.«
Sie nickte skeptisch. Dann verlangte sie eine Vorauszahlung und nannte ihm ein Wirtshaus in der Nähe der Beacon Street, wo er für einen weiteren Dollar pro Woche sein Abendessen bekommen könne. Sobald sie gegangen war, fiel er ins Bett. Den ganzen Nachmittag und den Abend schlief er traumlos, nur das Stampfen und Rollen des Schiffs glaubte er gelegentlich noch zu spüren, und am nächsten Morgen erwachte er wieder frisch und jung. Beim Frühstück saß er neben einem anderen Pensionsgast, Stanley Finch, der bei einem Hutmacher in der Summer Street arbeitete. Von Finch erfuhr er zwei äußerst wichtige Dinge: Für vierundzwanzig Cent konnte man sich von Lern Raskin, dem Hausdiener, Wasser erhitzen und in eine winzige Wanne gießen lassen; und in Boston gab es drei Krankenhäuser: das Massachusetts General, das Lying-In und das Eye and Ear Infirmary, die Augen- und Ohrenklinik. Nach dem Frühstück lag er selig in der Wanne und fing erst an, sich abzuschrubben, als das Wasser kalt wurde. Anschließend gab er sich alle Mühe, seine Kleidung so präsentabel wie möglich zu machen. Beim Hinuntergehen sah er das Dienstmädchen, das auf den Knien die Treppe wischte. Ihre nackten Arme waren sommersprossig, und ihr rundlicher Hintern wackelte im Takt der heftigen Schrubbewegungen. Ein mürrisches, altjüngferliches Gesicht sah zu ihm hoch, als er vorbeiging, und er bemerkte, dass die roten Haare, die unter ihrer Haube hervorlugten, die Tönung hatten, die ihm am wenigsten gefiel, nämlich die nasser Karotten. Im Massachusetts General wartete er den halben Vormittag, bis er von einem Dr. Walter Channing empfangen wurde, der ihm ohne Umschweife sagte, dass die Klinik keine zusätzlichen Ärzte brauche. In den beiden anderen Krankenhäusern machte er sehr schnell die gleiche Erfahrung. Im Lying-In schüttelte ein junger Arzt namens David Humphreys Storer mitfühlend den Kopf. »Die Harvard Medical School entlässt jedes Jahr junge Ärzte, die um eine Anstellung Schlange stehen, Dr. Cole. Ehrlich gesagt, ein Fremder hat da wenig Aussicht.« Rob J. wusste, was Dr. Storer nicht gesagt hatte: Einige der ansässigen Jungmediziner profitierten vom Ruf ihrer Familie und von deren Beziehungen, so wie es für ihn in Edinburgh von Vorteil gewesen war, zur bekannten Medizinerdynastie der Coles zu gehören. »Ich würde es in einer anderen Stadt versuchen, vielleicht in Providence oder New Haven«, sagte Dr. Storer, und Rob J. murmelte seinen Dank und verließ ihn. Doch einen Augenblick später kam ihm Dr. Storer nachgelaufen. »Es gibt da noch eine entfernte Möglichkeit«, sagte er. »Sie müssen mit Dr. Walter Aldrich sprechen.« Der Arzt hatte seine Praxis zu Hause, in einem gepflegten weißgestrichenen Holzhaus an der Südseite einer großen Grünfläche, die The Common hieß. Es war gerade Sprechstunde, und Rob J. musste lange warten. Dr. Aldrich erwies sich als stattlicher Mann mit einem grauen Vollbart, der freilich den wie eine Schnittwunde wirkenden Mund nicht verbergen konnte. Er hörte zu, während Rob J. erzählte, und unterbrach ihn hin und wieder mit einer Frage. »Am Universitätskrankenhaus von Edinburgh? Unter dem Chirurgen William Fergusson? Warum haben Sie denn eine solche Assistentenstelle aufgegeben?«
»Man hätte mich nach Australien deportiert, wenn ich nicht geflohen wäre.« Rob J. wusste, dass seine einzige Hoffnung in der Wahrheit lag. »Ich habe ein Pamphlet verfasst, das zu einem Arbeiteraufstand gegen die englische Krone führte, die Schottland seit Jahren ausbluten lässt. Es kam zu Straßenschlachten, Menschen wurden getötet.«
»Eine offene Antwort«, sagte Dr. Aldrich und nickte. »Ein Mann muss für das Wohlergehen seines Landes kämpfen. Mein Vater und mein Großvater haben gegen die Engländer gekämpft.« Er betrachtete Rob J. mit abwägendem Blick. »Es gibt da eine Möglichkeit. Bei einer wohltätigen Einrichtung, die Ärzte zu den Bedürftigen der Stadt schickt.«
Es klang nach schmutziger Arbeit ohne Zukunftsaussichten. Dr. Aldrich sagte, die meisten Gemeindeärzte erhielten fünfzig Dollar pro Jahr und seien froh um die Erfahrung, doch Rob fragte sich, was ein Arzt aus Edinburgh in einem provinziellen Elendsviertel Neues über Medizin lernen könne.
»Wenn Sie Mitglied der Boston Dispensary werden, kann ich Ihnen eine Assistentenstelle für die Abendvorlesungen im anatomischen Institut der Tremont Medical School beschaffen. Das bringt Ihnen zusätzlich zweihundertfünfzig Dollar pro Jahr.«
»Ich glaube nicht, dass ich mit dreihundert Dollar existieren kann, Sir. Ich habe praktisch keine eigenen Mittel.«
»Etwas anderes habe ich nicht anzubieten. Genaugenommen beläuft sich das Jahreseinkommen auf dreihundertfünfzig Dollar. Die freie Stelle ist im achten Distrikt, und für den hat der Beirat des Dispensary vor kurzem eine Erhöhung des Gemeindearztgehalts auf hundert Dollar beschlossen.«
»Warum bekommt man im achten Distrikt doppelt so viel wie in den anderen?«
Nun war es an Dr. Aldrich, offen und ehrlich zu antworten. »Dort leben die Iren«, sagte er in einem Ton, der so dünn und blutleer war wie seine Lippen.
Am nächsten Morgen stieg Robert J. im Haus Washington Street Nr. 109 knarzende Treppen hinauf und betrat die überfüllte Apotheke, die den einzigen Geschäftsraum der Boston Dispensary, einer Art städtischen Gesundheitsbehörde, darstellte. Hier drängten sich bereits die Ärzte, die auf ihre Patientenzuweisungen für diesen Tag warteten. Charles K. Wilson, der Direktor, war geschäftsmäßig kurz angebunden, als Rob J. an die Reihe kam: »Soso. Neuer Arzt für den achten Distrikt, was? Na ja, das Viertel war eine Zeitlang ohne Betreuung.
Die da warten auf Sie«, sagte er und gab ihm einen Stapel Zettel, jeder mit einem Namen und einer Adresse.
Wilson erklärte ihm die Vorschriften und beschrieb ihm den achten Distrikt. Die Broad Street trennte den Hafen und die Docks von den hochaufragenden Häuserzeilen Fort Hills. Als die Stadt noch jung war, prägten Großhändler dieses Viertel, die sich hier prächtige Residenzen bauten, um in der Nähe ihrer Lagerhäuser und Geschäfte zu sein. Im Lauf der Zeit übersiedelten sie in andere, bessere Gegenden, und Yankees aus der Arbeiterschicht übernahmen die Häuser, die dann in kleinere Wohneinheiten unterteilt und von noch ärmeren Einheimischen bezogen wurden, bis schließlich die irischen Einwanderer kamen, die aus den Bäuchen der Schiffe quollen. Zu dieser Zeit waren die riesigen Häuser bereits verkommen und vernachlässigt, die Wohnungen wurden immer weiter unterteilt und zu ungerechtfertigt hohen Preisen wochenweise untervermietet.
Lagerhäuser wurden zu Bienenstöcken aus winzigen Zimmern ohne eine einzige Licht- oder Frischluftquelle, und der Wohnraum war so knapp, dass neben und hinten jedem Gebäude hässliche, windschiefe Hütten entstanden. Das Ergebnis war ein abscheuliches Elendsviertel, in dem bis zu zwölf Personen ein Zimmer bewohnten: Eheleute, Brüder, Schwestern und Kinder, die manchmal alle in ein und demselben Bett schliefen.
Wilsons Angaben folgend, fand Rob J. den achten Distrikt. Der Gestank der Broad Street, das Miasma, das zu wenige und von zu vielen Menschen benutzte Toiletten ausströmten, war der Geruch der Armut, der in jeder Stadt der Welt der gleiche war. Doch ein Teil Rob J.s, der genug davon hatte, ein Fremder zu sein, freute sich über die irischen Gesichter. Denn diese Menschen waren keltischer Abstammung wie er. Sein erster Patientenschein lautete auf den Namen Patrick Geoghegan am Half Moon Place. Die Adresse hätte ebensogut auf einem anderen Planeten sein können, denn in dem Labyrinth von Gassen und namenlosen Privatwegen, die von der Broad Street abgingen, verirrte er sich sofort. Schließlich gab er einem Jungen mit schmutzigem Gesicht einen Penny, um sich zu einem winzigen, überfüllten Platz führen zu lassen. Weitere Nachforschungen brachten ihn in den obersten Stock eines Hauses, wo er sich durch Zimmer, die von zwei anderen Familien bewohnt wurden, einen Weg zu der winzigen Unterkunft der Geoghegans bahnte. Eine Frau saß in dem Zimmer und suchte bei Kerzenlicht den Kopf eines Kindes nach Läusen ab.
»Patrick Geoghegan?«
Rob J. musste den Namen wiederholen, bevor er mit einem heiseren Flüstern belohnt wurde: »Mein Dad... Vor fünf Tagen isser gestorben, am Hirnfieber.«
So nannten auch die Leute in Schottland jedes hohe Fieber mit Todesfolge. »Das tut mir sehr leid, Madam«, sagte er. Doch sie sah nicht einmal auf.
Unten im Hof blieb er stehen und sah sich um. Er wusste, dass es in jedem Land solche Straßen gab, Straßen, in denen eine so erdrückende Ungerechtigkeit herrschte, dass sie ihre eigenen Bilder, Geräusche und Gerüche hervorbrachten: Ein käsig-bleiches Kind saß auf einer Schwelle und nagte an einer Speckrinde wie ein Hund an einem Knochen; drei nicht zueinander passende Schuhe, so abgetragen, dass sie nicht mehr zu reparieren waren, schmückten die mit Abfall übersäte, staubige Gasse; ein Betrunkener sang ein weinerliches Lied über die grünen Hügel eines entfernten Landes wie eine Hymne; und über allem waberte der Geruch von gekochtem Kohl und der feuchte Gestank von verstopften Abflüssen und unzähligen Arten von Dreck. Er kannte die Armenviertel von Edinburgh und Paisley und die steinernen Häuserschluchten unzähliger Städte, wo Erwachsene und Kinder vor Tagesanbruch aufbrachen, um sich zu den Baumwollfabriken und Wollspinnereien zu schleppen und erst lange nach Anbrach der Nacht zurückzukehren, Menschen, die ausschließlich in der Dunkelheit unterwegs waren. Ihm kam plötzlich die Ironie seiner Lage zu Bewußtsein: Aus Schottland war er geflohen, weil er die Kräfte bekämpft hatte, die solche Elendsviertel entstehen ließen, und jetzt, in diesem neuen Land, wurde er wieder mit der Nase hineingestoßen. Sein zweiter Schein führte ihn zu Martin O’Hara am Humphrey Place, einer Hüttensiedlung am Rande von Fort Hill. Er musste über eine knapp zwanzig Meter hohe Holztreppe, die so steil war, dass man sie beinahe wie eine Leiter hochklettern musste. Neben der Treppe verlief eine offene Rinne, in der die ungeklärten Abwässer des Humphrey Place nach unten stürzten und die Probleme des Half Moon Place noch verschlimmerten.
Trotz des Elends seiner Umgebung bemühte sich Rob J., schnell zu arbeiten, und machte sich dabei vertraut mit seinem Betätigungsfeld. Es war eine anstrengende Tätigkeit, und doch erwarteten ihn am Ende des Nachmittags nur eine karge, von Sorgen umdüsterte Mahlzeit und der Abend mit seiner zweiten Beschäftigung. Die beiden Stellen würden ihm erst nach einem Monat den ersten Lohn einbringen, und für das Geld, das er noch hatte, konnte er sich nicht mehr oft ein Abendessen kaufen.
Das anatomische Institut der Tremont Medical School bestand aus einem großen Raum über Thomas Metcalfes Apotheke am Tremont Place Nr. 35, der gleichzeitig als Hörsaal diente. Geleitet wurde es von einer Gruppe Professoren mit Harvard-Examen, die aus Unzufriedenheit mit der chaotischen Medizinerausbildung an ihrer Alma Mater ein streng reglementiertes und kontrolliertes Dreijahresprogramm entwickelt hatten, das ihrer Ansicht nach bessere Ärzte hervorbrachte. Der Pathologieprofessor, unter dem er als Sezierassistent arbeiten sollte, erwies sich als kurzer, säbelbeiniger Mann, der nur zehn Jahre älter war als er. »Ich heiße Holmes. Sind Sie ein erfahrener Dozent, Dr. Code?«
»Nein. Ich habe noch nie unterrichtet. Aber ich habe Erfahrung in der Chirurgie und beim Sezieren.«
Na, wir werden sehen, schien Dr. Holmes’ kühles Nicken zu bedeuten. Er erklärte ihm kurz die Handgriffe, die zur Vorbereitung der Vorlesung nötig waren. Es handelte sich bis auf wenige Ausnahmen um Routinearbeiten, mit denen Rob J. vertraut war. Er und Fergusson hatten in Edinburgh jeden Morgen vor der Visite Autopsien vorgenommen, zu Forschungszwecken, aber auch zur Übung, damit sie beim Operieren ihrer Patienten immer schneller und sicherer wurden. Jetzt zog Rob J. das Laken von dem dürren Leichnam eines Jungen, band sich eine lange, graue Arbeitsschürze um und legte die Instrumente zurecht, während bereits die ersten Studenten eintrafen. Es waren insgesamt nur sieben Medizinstudenten. Dr. Holmes stand an einem Pult neben dem Seziertisch. »Als ich in Paris Anatomie studierte«, begann er, »konnte sich jeder Student für fünfzig Sou eine komplette Leiche besorgen. Es gab da eine Stelle, an der sie jeden Tag pünktlich um zwölf Uhr mittags verkauft wurden. Aber heutzutage ist das Angebot an Leichen zu Studienzwecken sehr rar. Diese da - ein sechzehnjähriger Junge, der heute morgen an einer Kongestion der Lunge gestorben ist - hat uns die staatliche Wohlfahrtsbehörde überlassen. Doch heute Abend werden Sie noch nicht sezieren. In einer späteren Vorlesung werden wir die Leiche unter Ihnen aufteilen, zwei von Ihnen werden je einen Arm zur Untersuchung bekommen, zwei je ein Bein und die restlichen den Rumpf.«
Während Dr. Holmes erklärte, was sein Assistent tat, öffnete Rob J. den Brustkorb des Jungen und begann, die Organe zu entfernen und zu wiegen, wobei er jedesmal das Gewicht mit lauter Stimme verkündete, damit der Professor es aufschreiben konnte. Danach musste er auf verschiedene Körperpartien deuten, um zu illustrieren, was der Professor sagte. Holmes sprach stockend und mit hoher Stimme, doch Rob J. merkte sehr schnell, dass die Studenten seine Vorlesung als Leckerbissen betrachteten. Er scheute vor derben Ausdrücken nicht zurück, und um zu demonstrieren, wie der Arm sich bewegt, markierte er einen kräftigen Aufwärtshaken; zur Erläuterung des Bewegungsablaufs des Beins schwang er seines hoch in die Luft, und um zu zeigen, wie die Hüfte funktioniert, vollführte er einen Bauchtanz. Die Studenten hingen an seinen Lippen und verfolgten jede seiner Bewegungen, und am Ende der Vorlesung bedrängten sie ihn mit Fragen. Der Professor beantwortete sie und ließ dabei seinen neuen Assistenten nicht aus den Augen, der in der Zwischenzeit die Leiche und die anatomischen Präparate in den Konservierungstank legte, den Tisch schrubbte und dann die Instrumente reinigte, abtrocknete und aufräumte. Rob J. wusch sich gerade gründlich die Hände, als der letzte Student ging.
»Sie waren nicht schlecht.«
Warum auch nicht, wollte Rob J. sagen, es ist schließlich eine Arbeit, die auch jeder intelligente Student verrichten kann. Statt dessen ertappte er sich bei der Frage, ob er einen Vorschuss erhalten könne. »Ich habe gehört, Sie arbeiten für die Dispensary. Ich habe selbst einmal für diesen Verein gearbeitet. Verdammt harte Arbeit, bei der man bestimmt nicht reich wird. Aber sehr lehrreich.« Holmes nahm zwei Fünf-Dollar-Scheine aus seiner Brieftasche. »Genügt ein halber Monatslohn?«
Rob J. versuchte, sich die Erleichterung nicht allzusehr anmerken zu lassen, als er Dr. Holmes versicherte, dass dies genüge. Sie löschten die Lampen, verabschiedeten sich am Fuß der Treppe und gingen ihrer Wege. Als Rob J. an einer Bäckerei vorbeikam, nahm ein Mann eben Tabletts mit Gebäck aus dem Fenster, weil er den Laden schließen wollte, und Rob J. ging hinein und kaufte sich zur Feier des Tages zwei Brombeertörtchen.
Er hatte vor, sie auf seinem Zimmer zu verspeisen, doch im Haus an der Spring Lane war das Dienstmädchen noch auf und wusch das Geschirr. Er ging in die Küche und zeigte ihr die Törtchen. »Eins gehört dir, wenn du mir hilfst, ein bisschen Milch zu klauen.«
Sie lächelte. »Brauchst nicht zu flüstern! Sie schläft schon.« Sie deutete nach oben, wo Mrs. Burtons Zimmer lag. »Wenn die mal schnarcht, weckt sie nichts mehr auf.« Sie trocknete sich die Hände ab und holte Milch, dazu zwei saubere Tassen. Sie heiße Margaret Holland, sagte sie, aber jeder nenne sie Meg. Nach dem Festmahl klebte ihr ein Milchbart an der Oberlippe, und er beugte sich über den Tisch und wischte ihn mit ruhigen Chirurgenfingern weg.
Die Anatomiestunde
Sehr schnell entdeckte Rob J. den schrecklichen Makel, welcher der Arbeitsweise der Dispensary anhaftete. Die Namen auf den Scheinen, die er jeden Morgen erhielt, waren nicht die der am schwersten Erkrankten im Fort-Hill-Viertel. Die medizinische Versorgung erwies sich als ungerecht und undemokratisch. Die Patientenscheine wurden an die reichen Spender der Organisation verteilt, und die füllten sie aus, um sie an jene weiterzugeben, die sie mochten, meistens an ihre eigene Dienerschaft als Belohnung. Häufig wurde er zu Leuten gerufen, die nur geringfügige Beschwerden hatten, während ein paar Türen weiter ein Mittelloser ohne ärztliche Betreuung starb.
Der Eid, den er geleistet hatte, verbot ihm, Schwerstkranke unbehandelt zu lassen, doch wenn er seine Stelle behalten wollte, musste er eine große Anzahl von Scheinen abliefern und nachweisen, dass er die Patienten behandelt hatte, deren Namen auf Ihnen standen.
Eines Abends sprach er nach der Vorlesung mit Dr. Holmes über dieses Problem. »Als ich für die Dispensary gearbeitet habe«, sagte der Professor, »habe ich bei den Freunden meiner Familie, die gespendet haben, unausgefüllte Behandlungsscheine gesammelt. Ich werde das wieder tun und sie Ihnen geben.«
Rob J. war dankbar dafür, doch seine Stimmung wurde nicht besser. Er würde nie genug Blankoscheine zusammenbringen, um alle bedürftigen Patienten in seinem Distrikt behandeln zu können. Dazu hätte man eine ganze Armee von Ärzten gebraucht.
Oft war es der einzige Lichtblick seines Tages, sich spätabends, wenn er in die Spring Lane zurückkehrte, ein paar Minuten zu Meg Holland in die Küche zu setzen und mit ihr heimlich beiseite geschaffte Überbleibsel zu essen. Er gewöhnte es sich an, ihr kleine Geschenke mitzubringen, eine Tüte heiße Maronen, ein Stück Ahornzucker oder ein paar gelbe Pippinäpfel. Das irische Mädchen erzählte ihm den Hausklatsch: dass Mr.
Stanley Finch - dieser Aufschneider! - ein Mädchen geschwängert habe und ausgerissen sei, dass Mrs. Burton einmal sehr nett und dann wieder unausstehlich sein könne oder dass der Hausdiener Lern Raskin, der im Zimmer neben Rob J. wohnte, einen mächtigen Durst habe.
Nach etwa einer Woche ließ sie sehr beiläufig die Bemerkung fallen, dass Lern, wenn man ihm ein Viertel Brandy spendiere, alles auf einmal austrinke und dann nicht mehr wach zu kriegen sei. Am folgenden Abend bezahlte Rob J. Lemuel sein Quantum Brandy. Die Wartezeit wurde ihm lang, und mehr als einmal sagte er sich, dass das Mädchen ihn an der Nase herumgeführt habe. In dem alten Haus gab es eine Unzahl von nächtlichen Geräuschen, knarrende Dielen, Lems kehliges Schnarchen und immer wieder geheimnisvolles Knacken in den hölzernen Zwischenwänden. Schließlich hörte er ein sehr leises Geräusch an der Tür, nur die Andeutung eines Klopfens, und als er öffnete, schlüpfte Margaret Holland, schwach nach Frau und Geschirrwasser riechend, herein, flüsterte, dass es eine kalte Nacht werde, und streckte ihm zur Rechtfertigung ihres Kommens eine fadenscheinige zusätzliche Decke entgegen.
Kaum drei Wochen nach der Sektion des Jugendlichen erhielt die Tremont Medical School eine neue anatomische »Fundgrube«, die Leiche einer jungen Frau, die im Gefängnis an Kindbettfieber gestorben war. An diesem Abend wurde Professor Holmes im Massachusetts General aufgehalten, und Dr. David Storer vom Lying-In übernahm die Vorlesung. Bevor Rob J. mit dem Sezieren beginnen durfte, bestand Dr. Storer auf einer eingehenden Untersuchung der Hände seines Assistenten. »Kein eingerissenes Nagelbett, keine Verletzungen der Haut?«
»Nein, Sir«, erwiderte Rob J. etwas verstimmt, denn er sah keinen Grund für dieses Interesse an seinen Händen.
Nach der Vorlesung bat Storer die Studenten in einen anderen Teil des Saales, wo er ihnen die Untersuchung von Schwangeren oder Patientinnen mit Frauenkrankheiten demonstrieren wollte. »Sie werden feststellen, dass die züchtige Neuengländerin vor einer solchen Untersuchung zurückschreckt oder sie sogar verbietet«, sagte er.
»Doch Sie haben die Aufgabe, ihr Vertrauen zu gewinnen, um ihr zu helfen.« Dr. Storer hatte eine sehr dicke Frau im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft dabei, vermutlich eine Prostituierte, die für diese Demonstration engagiert worden war. Während Rob J. noch den Seziertisch reinigte, traf Professor Holmes ein.
Als er mit seiner Arbeit fertig war, wollte Rob J. sich zu den Studenten gesellen, die die Frau untersuchten, doch Dr. Holmes versperrte ihm den Weg. »Nein, nein!« sagte der Professor. »Sie müssen sich gründlich waschen und gehen! Auf der Stelle, Dr. Cole! Warten Sie in der Essex Tavernl Ich will mir nur noch einige Unterlagen und Notizen zusammensuchen.« Verwundert und verärgert gehorchte Rob J. Das Wirtshaus lag gleich um die Ecke.
Weil er nervös war, bestellte er sich ein Bier, obwohl es ihm durch den Kopf schoss, dass seine Tage als Assistent vielleicht gezählt waren und er deshalb sein Geld nicht vergeuden sollte. Er hatte sein Glas kaum zur Hälfte ausgetrunken, als Harry Loomis, ein Student im zweiten Jahr, mit zwei Notizbüchern und einigen Nachdrucken medizinischer Artikel erschien.«
»Die schickt Ihnen der Dichter.
»Wer?«
»Wissen Sie das denn nicht? Er ist Bostons Hofdichter. Als Dickens Amerika besuchte, hat man Oliver Wendell Holmes gebeten, die Begrüßungsrede zu verfassen. Aber denken Sie sich nichts! Er ist ein besserer Arzt als Dichter. Seine Vorlesungen sind großartig, was?« Loomis bestellte sich fröhlich winkend ebenfalls ein Glas Bier. »Er nimmt’s allerdings sehr genau mit dem Händewaschen. Glaubt nämlich, dass Dreck Wundinfektionen verursacht.«
Zu den Unterlagen gehörte eine Notiz, die auf der Rückseite einer überfälligen Laudanumrechnung der Apotheke Weeks & Potter gekritzelt war: Dr. Cole, bitte lesen Sie das, bevor sie morgen Abend wieder in die Tremont Med. Schi, kommen! Ich verlasse mich darauf. Hochachtungsv., Holmes.
Gleich nachdem er in sein Zimmer bei Mrs. Burton zurückgekehrt war, begann er zu lesen, zuerst etwas verärgert, doch dann mit wachsendem Interesse. Es handelte sich in der Hauptsache um einen Artikel, den Holmes zuerst im »New England Quarterly Journal of Mediane« und dann als Zusammenfassung im »American Journal of the Medical Sciences« veröffentlicht hatte. Zunächst kamen Rob J. die Fälle, von denen Holmes berichtete, vertraut vor, denn sie entsprachen genau dem, was auch in Schottland passierte, dass nämlich ein hoher Prozentsatz schwangerer Frauen an außergewöhnlich hohem Fieber erkrankte, das sehr schnell zu einer allgemeinen Infektion und schließlich zum Tod führte.
Doch dann war in Holmes’ Artikel von einem Arzt namens Whitney aus Newton in Massachusetts die Rede, der, assistiert von zwei Medizinstudenten, eine Obduktion an einer an Kindbettfieber gestorbenen Frau vorgenommen hatte. Dr. Whitney hatte an einem Finger ein eingerissenes Nagelbett, einer der Studenten eine kleine offene Brandwunde an der Hand. Für die beiden Männer waren diese Verletzungen nichts als eine lästige Kleinigkeit, doch innerhalb weniger Tage begann der Arm des Arztes zu kribbeln. Etwa in der Höhe des Ellbogens zeigte sich eine erbsengroße Rötung, von der eine dünne rote Linie bis zum verletzten Nagelbett verlief. Der Arm schwoll sehr schnell auf das Doppelte seines normalen Umfangs an, und der Arzt wurde von hohem Fieber und heftigem Erbrechen heimgesucht. Unterdessen war auch der Student mit der Brandwunde fiebrig geworden, und innerhalb weniger Tage verschlechterte sich sein Zustand dramatisch. Seine Haut färbte sich violett, sein Bauch schwoll stark an, und schließlich starb der junge Mann. Auch Dr. Whitney stand an der Schwelle zum Tod, doch er erholte sich langsam und wurde wieder gesund. Der zweite Medizinstudent, der die Autopsie ohne eine Verletzung an den Händen durchgeführt hatte, zeigte kein ernst zu nehmendes Symptom.
Der Fall wurde bekannt, und die Ärzte in Boston diskutierten über eine naheliegende Verbindung zwischen offenen Wunden und einer Infektion mit Kindbettfieber, kamen aber kaum zu Ergebnissen. Einige Monate später untersuchte dann in Lynn ein Arzt mit offenen Wunden an den Händen eine Frau mit Kindbettfieber und starb innerhalb weniger Tage an einer massiven Infektion. Bei einer Versammlung der Boston Society for Medical Improvement wurde eine interessante Frage aufgeworfen: Was wäre passiert, wenn der Arzt keine offenen Wunden an den Händen gehabt hätte? Auch wenn er sich nicht infiziert hätte, hätte er dann nicht infektiöses Material an seinen Händen herumgetragen und für seine Verbreitung gesorgt, sooft er mit der offenen Wunde eines anderen Patienten oder dem blutenden Unterleib einer frisch entbundenen Mutter in Berührung gekommen wäre?
Oliver Wendell Holmes war diese Frage nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Mehrere Wochen lang beschäftigte er sich mit ihr, er besuchte Bibliotheken, las in seinen eigenen Aufzeichnungen und erbat Fallberichte von Ärzten, die als Geburtshelfer praktizierten. Wie ein Mann, der ein Mosaik zusammensetzt, stellte er eine schlüssige Beweiskette auf, die ein ganzes Jahrhundert ärztlicher Erfahrung aus zwei Kontinenten abdeckte. Die Fälle waren nur sporadisch aufgetreten und hatten keinen Eingang in die medizinische Fachliteratur gefunden.
Erst als sie zusammengestellt und miteinander verglichen wurden, ergab sich aus ihnen eine überraschende und zugleich fürchterliche Erkenntnis: Kindbettfieber wurde von Ärzten, Krankenschwestern, Hebammen und Krankenhausbediensteten verursacht, die nach der Berührung mit einer infizierten Frau andere, nicht infizierte Frauen untersuchten und so zum Fiebertod verurteilten. Das Kindbettfieber habe sich als eine Seuche entpuppt, für die der Ärztestand selber verantwortlich sei, schrieb Holmes. Und es müsse als Verbrechen gelten, als Mord, wenn ein Arzt, der dies wisse, eine Frau infiziere.
Zweimal las Rob J. die Artikel. Wie gerne hätte er diese Theorie verächtlich abgetan, doch Holmes’ Fallberichte und Statistiken waren für jemanden, der sie unvoreingenommen las, nicht angreifbar. Wie konnte dieser lächerliche Doktor aus der Neuen Welt mehr wissen als Sir William Fergusson? Manchmal hatte er Sir William bei Autopsien an Patientinnen assistiert, die an Kindbettfieber gestorben waren.
Danach hatten sie mitunter schwangere Frauen untersucht. Und jetzt zwang er sich, sich an die Frauen zu erinnern, die nach solchen Untersuchungen gestorben waren. Allem Anschein nach konnte er in medizinischen Dingen theoretisch und praktisch von diesen Provinzlern doch noch etwas lernen.
Er stand auf und drehte den Docht höher, weil er das Material noch ein drittes Mal studieren wollte, doch da hörte er ein Kratzen an der Tür, und Margaret Holland schlüpfte ins Zimmer. Sie zierte sich etwas beim Ausziehen, doch in der kleinen Kammer gab es keinen Platz, wo sie sich hätte zurückziehen können, und außerdem zog er sich ebenfalls bereits aus. Sie legte ihre Sachen zusammen und nahm die Kette mit dem Kruzifix ab. Ihr Körper war mollig, aber muskulös. Rob massierte die Druckstellen, die das Fischbeinkorsett auf ihrem Körper hinterlassen hatte, und wollte gerade zu erregenderen Zärtlichkeiten übergehen, als ein entsetzlicher Gedanke ihm unvermittelt innezuhalten gebot.
Er ließ von ihr ab, stand auf und schüttete Wasser in die Schüssel. Während das Mädchen ihn anstarrte, als hätten ihn plötzlich alle guten Geister verlassen, seifte er seine Hände ein und schrubbte sie. Dann noch einmal. Und noch ein drittes Mal. Schließlich trocknete er sie ab, kehrte ins Bett zurück und nahm das Liebesspiel wieder auf.
Aber Margaret Holland konnte sich nicht mehr beherrschen und begann zu kichern. »Du bist der komischste junge Gentleman, den ich je kennengelernt habe«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Der von Gott verfluchte Distrikt
Wenn Rob J. spätabends in sein Zimmer heimkam, war er so müde, dass er nur selten noch dazu fähig war, auf seiner Gambe zu spielen. Seine Bogenführung war ungelenk, doch die Musik war ein Balsam, der ihm allerdings stets schnell verwehrt wurde, weil Lern Raskin schon nach wenigen Minuten wütend gegen die Wand hämmerte.
Da er es sich nicht leisten konnte, sich mit spendiertem Schnaps sowohl für sein Beisammensein mit Meg als auch für die Musik einen Freipass zu verschaffen, litt die Musik.
In einer Fachzeitschrift in der Fakultätsbibliothek hatte er zwar gelesen, dass Frauen zur Schwangerschaftsverhütung Spülungen mit einen Aufguss aus Alaun und Weißeichenrinde vornehmen sollten, doch er war überzeugt, sich nicht darauf verlassen zu können, dass Meg dergleichen regelmäßig tun würde.
Harry Loomis nahm die Sache sehr ernst, als Rob J. ihn um Rat fragte, und schickte ihn zu einem hübschen grauen Haus an der Südseite von Cornhill. Mrs. Cynthia Worth war eine solide, weißhaarige Dame. Sie lächelte und nickte, als sie Harrys Namen hörte. »Medizinern mache ich einen günstigeren Preis.« Ihre Ware bestand aus dem Blinddarm eines Schafes, einer natürlichen Darmausbuchtung, die nur an einem Ende offen und deshalb für eine Bearbeitung durch Mrs. Worth hervorragend geeignet war. Sie hob, stolz wie eine Fischfrau am Markt, ihre Erzeugnisse in die Höhe, als handle es sich um Meeresgetier mit fangfrischen Karfunkelaugen. Rob J. atmete tief ein, als er den Preis hörte, doch sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Da steckt viel Arbeit und Mühe darin«, sagte sie. Man müsse die Darmenden stundenlang in Wasser einweichen, dann umstülpen und in einer schwachen Alkalilösung, die alle zwölf Stunden gewechselt werde, quellen lassen, anschließend alle Schleimhäute sorgfältig abschaben und die Bauchfell- und Muskelfaserschichten über brennendem Schwefel abflämmen, in Seifenlauge waschen, aufblasen und trocknen; und schließlich müsse man sie am offenen Ende auf eine Länge von acht Zoll zurechtschneiden und mit einem roten oder blauen Zugbändchen versehen, damit die Herren sie, um der größeren Sicherheit willen, festbinden können. Die meisten Gentlemen kauften Dreierpackungen, sagte sie, weil sie so am preisgünstigsten seien.
Rob J. kaufte nur ein Schafdarmkondom. Er hatte keinen besonderen Farbwunsch und erhielt eines mit blauem Bändchen. »Wenn Sie sorgfältig damit umgehen, reicht auch eines.« Sie erklärte ihm, dass es wiederverwendet werden könne, wenn es nach jedem Gebrauch ausgewaschen, aufgeblasen und gepudert werde. Als Rob J. sie mit seiner Neuerwerbung verließ, wünschte sie ihm fröhlich einen guten Tag und bat ihn, sie an seine Kollegen und Patienten weiterzuempfehlen.
Meggy hasste das Ding. Dagegen freute sie sich sehr über ein Geschenk, das Rob J. von Harry Loomis erhielt mit der Aufforderung, er solle sich ein paar schöne Stunden damit machen. Es war eine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit, Stickoxydul oder Lachgas, wie es die Medizinstudenten und jungen Ärzte nannten, die sich häufig damit vergnügten. Rob träufelte etwas davon auf ein Tuch, um es mit Meggy einzuatmen, bevor sie miteinander ins Bett gingen. Der Versuch wurde ein uneingeschränkter Erfolg: Nie hatten ihre Körper drolliger gewirkt und der Geschlechtsakt selbst komischer und absurder. Außer dem Vergnügen des Bettes war nichts zwischen ihnen. Wenn sie den Akt langsam vollzogen, entstand ein wenig Zärtlichkeit, doch wenn sie sich stürmisch liebten, war es mehr Verzweiflung als Leidenschaft. Unterhielten sie sich, erzählte sie ihm entweder Klatsch aus der Pension, was ihn langweilte, oder sie schwelgte in Erinnerungen an die alte Heimat, was er gern vermieden hätte, weil es ihn schmerzte. Die chemisch geförderte Fröhlichkeit, die sie einmal mit Hilfe des Stickoxyduls erreicht hatten, suchten sie nie wieder, denn ihre Heiterkeit im Bett war ziemlich laut gewesen, und obwohl der betrunkene Lern nichts gemerkt hatte, wussten sie doch, dass sie nur durch einen glücklichen Zufall unentdeckt geblieben waren. Sie lachten nur noch einmal miteinander, als Meggy trocken bemerkte, das Kondom müsse wohl von einem Widder stammen, und es Old Horny taufte, geiler alter Bock. Er machte sich Vorwürfe, weil er sie so häufig benutzte. Da ihm aufgefallen war, dass ihr Unterrock schon sehr fadenscheinig war, kaufte er ihr einen neuen - ein Geschenk des schlechten Gewissens. Sie freute sich sehr darüber, und er zeichnete sie in sein Tagebuch, wie sie auf seinem schmalen Bett lag, ein molliges Mädchen mit einem lächelnden Katzengesicht.
Er sah vieles anders, das er gern gezeichnet hätte, wenn ihm sein Beruf die Kraft dafür gelassen hätte. In Edinburgh hatte er aus Widerstand gegen die auf den legendären Medicus zurückgehende Familientradition der Coles ein Kunststudium begonnen und davon geträumt, Maler zu werden, wofür ihn seine Familie auch geeignet hielt. In seinem dritten Studienjahr sagte man ihm jedoch, dass er zwar künstlerisches Talent habe, aber nicht genug. Er hafte zu sehr an der sichtbaren Wirklichkeit und ihm fehle der entscheidende Funken Phantasie, die Vision. »Sie haben die Flamme, aber Ihnen fehlt die Hitze«, hatte sein Professor für Porträtzeichnen nicht unfreundlich, aber unumwunden gesagt. Rob J. war am Boden zerstört gewesen, bis zwei Dinge sich ereigneten.
In den staubigen Archiven der Universitätsbibliothek stieß er auf eine anatomische Zeichnung. Sie war sehr alt, vermutlich aus der Zeit vor Leonardo, ein nackter Männerkörper, von dem die obersten Gewebeschichten abgelöst waren, damit man die Organe und Blutgefäße sehen konnte. Die Zeichnung trug die Unterschrift: Der zweite durchsichtige Mensch, und mit freudigem Erschrecken sah Rob J., dass sie von einem seiner Vorfahren stammte, denn die Signatur lautete: Robert Jeffrey Cole, nach der Manier von Robert Jeremy Cole. Das war der Beweis, dass zumindest einige seiner Vorfahren sowohl Künstler wie Ärzte gewesen waren. Und zwei Tage später geriet er in einen Operationssaal und sah dort William Fergusson, den genialen Chirurgen, der mit absoluter Präzision und unglaublicher Geschwindigkeit arbeitete, um den Patienten so wenig Schmerzen wie möglich zuzufügen. Zum erstenmal verstand Rob J. die lange Ahnenreihe von Ärzten in seiner Familie, denn er erkannte, dass selbst die großartigste Leinwand nicht so kostbar sein konnte wie ein einziges menschliches Leben. Und in diesem Augenblick hatte er sich der Medizin verschrieben.
Vom Beginn seiner Ausbildung an besaß er das, was sein Onkel Ranald, ein praktischer Arzt in der Nähe von Glasgow, die Gabe der Coles nannte, die Fähigkeit festzustellen, ob ein Patient leben oder sterben würde, einfach indem man dessen Hände hielt. Es war die Sensibilität eines Heilers, ein diagnostischer sechster Sinn, zum Teil Instinkt, zum Teil Intuition und zum Teil eine ererbte Wahrnehmung, ein genetisches Erbe, das niemand begreifen oder erklären konnte. Und diese Gabe funktionierte so lange, wie sie nicht durch ein Übermaß an Alkohol abgestumpft wurde. Für einen Arzt war sie ein wirkliches Gottesgeschenk, doch jetzt, in diesem fremden Land, verdüsterte sie Rob J.s Gemüt, denn im achten Distrikt gab es zu viele Menschen, die sterben mussten.
Der von Gott verfluchte Distrikt, wie er ihn inzwischen nannte, beherrschte sein Leben. Die Iren waren mit den höchsten Erwartungen hier eingetroffen. Während in der alten Heimat ein Handlanger Sixpence pro Tag verdiente, wenn es Arbeit gab, herrschte in Boston weniger Arbeitslosigkeit, und die Handlanger verdienten mehr, mussten aber fünfzehn Stunden am Tag und alle sieben Tage der Woche schuften. Sie zahlten hohe Mieten für ihre Löcher, sie zahlten noch mehr für ihr Essen, und sie hatten keinen Garten, kein winziges Fleckchen Erde, auf dem sie mehlige Kartoffeln ziehen konnten, keine Kuh, die ihnen Milch gab, kein Schwein, das ihnen Schinken lieferte. Der Distrikt verfolgte Rob J. mit seiner Armut, seinem Dreck und seinen Bedürfnissen, was ihn eigentlich hätte lähmen müssen, ihn aber zur Arbeit antrieb, bis er sich vorkam wie ein Mistkäfer, der versucht, einen Berg aus Schafskot zu bewegen. Der Sonntag hätte eigentlich ihm gehören sollen als eine kurze Zeitspanne der Erholung von der abstumpfenden Arbeit der schrecklichen Woche. Sonntagvormittags bekam sogar Meg ein paar Stunden frei, damit sie die Kirche besuchen konnte. Doch Rob J. ging Sonntag für Sonntag in den Distrikt, da er an diesem Tag ohne das Diktat der Patientenscheine frei über seine Zeit verfügen konnte.
So waren in kürzester Zeit seine sonntäglichen, meist unentgeltlichen Hausbesuche zu einer festen Einrichtung geworden, denn wohin er sah, gab es Krankheiten, Verletzungen und Seuchen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von dem Arzt, der das Ersische beherrschte, die uralte gälische Sprache der Iren und der Schotten. Sogar die Verbittertsten und Übellaunigsten wurden fröhlich und heiter, wenn sie die Laute der alten Heimat aus seinem Mund hörten. Beannacht De ort, dochtulr oig! Gott sei mit dir, junger Doktor! riefen sie ihm nach, wenn er durch die Straßen ging. Einer erzählte dem anderen von dem jungen Doktor, der »die Sprache spreche«, und bald redete er im Distrikt fast nur noch gälisch. Doch während man ihn in Fort Hill verehrte, war er in der Apotheke der Boston Dispensary weniger beliebt, denn plötzlich tauchten hier alle möglichen Patienten auf, die Rezepte von Dr. Robert Cole vorwiesen für Medikamente und Krücken, ja sogar für Nahrungsmittel, die er bei Unterernährung verschrieb.
»Was geht denn da vor? Hm? Die stehen nicht auf der Liste der Patienten, die unsere Spender zur Behandlung empfohlen haben«, beklagte sich Mr. Wilson.
»Aber es sind diejenigen im achten Distrikt, die unsere Hilfe am dringendsten brauchen.«
»Trotzdem. Wir können nicht zulassen, dass der Schwanz mit dem Hund wedelt. Wenn Sie bei der Dispensary bleiben wollen, Dr. Cole, müssen Sie unsere Regeln beachten!« ermahnte ihn Mr. Wilson streng.
Einer seiner Sonntagspatienten war Peter Finn vom Half Moon Place, der an einem Riss in der rechten Wade litt.
Er hatte sich im Hafen ein paar Dollar verdienen wollen, als eine Kiste von einem Wagen fiel und ihm die Verletzung zufügte. Der nur mit einem schmutzigen Lumpen verbundene Riss war bereits stark geschwollen und schmerzte, als Finn ihn dem Arzt zeigte. Rob wusch und nähte die ausgefransten Fleischränder, doch die Wunde fing sofort an sich zu entzünden, und schon am nächsten Tag musste er die Nähte wieder entfernen und eine Drainage legen. Die Infektion breitete sich mit erschreckendem Tempo aus, und nach wenigen Tagen wusste Rob J. dank seiner Gabe, dass er das Bein abnehmen musste, wenn er Peter Finns Leben retten wollte. Es war ein Donnerstag, und die Operation konnte nicht bis Sonntag aufgeschoben werden, also musste er der Dispensary wieder einmal Zeit stehlen. Und er war nicht nur gezwungen, einen der kostbaren Blankoscheine zu verwenden, die er von Dr. Holmes hatte, er musste Rose Finn auch von seinem wenigen, schwer verdienten Geld geben, damit sie den Krug schwarz gebrannten Whiskeys besorgen konnte, der für die Operation so notwendig war wie das Messer. Joseph Finn, Peters Bruder, und sein Schwager Michael Bodie erklärten sich widerstrebend bereit, Rob J. zu assistieren. Er wartete, bis Peter von dem mit Morphium versetzten Whiskey halb besinnungslos auf dem Küchentisch lag wie ein Opferlamm. Doch schon beim ersten Anblick des Skalpells traten dem Dockarbeiter in ungläubigem Entsetzen die Augen aus den Höhlen, seine Nackenmuskeln schwollen an, und sein Aufschrei war wie eine Anschuldigung, die den Bruder erbleichen und den Schwager hilflos und zitternd dastehen ließ. Rob J. hatte das verletzte Bein am Tisch festgebunden, da aber Peter brüllend um sich schlug wie ein Tier in Todesangst, schrie er die beiden Männer an: »Haltet ihn fest! Haltet ihn doch fest!«
Er führte das Messer, wie er es von Fergusson gelernt hatte, präzise und schnell. Die Schreie verstummten, als er durch Fleisch und Muskeln schnitt, doch das Zähneknirschen des Mannes war noch schlimmer als sein Brüllen.
Als Rob J. die Oberschenkelarterie durchtrennte, spritzte hellrotes Blut heraus, und er versuchte, Bodies Hand zu nehmen und ihm zu zeigen, wie er den Blutfluss abdrücken konnte. Der Schwager aber wich zurück. »Komm her, du verdammter Hurensohn!«
Doch Bodie rannte weinend die Treppe hinunter. Rob J. versuchte zu arbeiten, als hätte er sechs Hände. Dank seiner Körpergröße und seiner Kraft gelang es ihm, zusammen mit Joseph den um sich schlagenden Peter auf den Tisch niederzudrücken und gleichzeitig das schlüpfrige Ende der Arterie mit den Fingern zusammenzudrücken. Doch als er losließ, um nach der Säge zu greifen, begann die Blutung von neuem.
»Zeigen Sie mir, was ich tun soll!« Rose Finn stand plötzlich neben ihm. Ihr Gesicht war aschfahl, doch es gelang ihr, die Arterie zu fassen und das Blut aufzuhalten. Rob J. sägte den Knochen durch, setzte noch ein paar schnelle Schnitte, und das Bein löste sich vom Körper. Jetzt konnte er die Arterie abbinden und die Hautlappen zusammennähen. Peter Finns Blick war inzwischen glasig vom Schock, und das einzige, was man noch von ihm hörte, war sein heiserer, stockender Atem.
Rob J. wickelte das Bein in ein schmutziges, zerschlissenes Handtuch und nahm es mit, um es später im anatomischen Institut zu untersuchen. Er war wie betäubt vor Erschöpfung, doch mehr, weil er sich bewusst war, welche Leiden er Peter Finn zugefügt hatte, als wegen des Kraftaufwands, den die Operation gekostet hatte.
Seine blutverschmierten Kleider konnte er nicht reinigen, doch Hände und Arme wusch er sich an einem öffentlichen Brunnen, bevor er zu seiner nächsten Patientin ging, einer zweiundzwanzigjährigen Frau, von der er wusste, dass sie an Schwindsucht sterben würde.
Zu Hause in ihrem eigenen Viertel fristeten die Iren ein elendes Leben, außerhalb ihres Viertels jedoch wurden sie beschimpft. Rob J. sah die Plakate in den Straßen: Alle Katholiken und alle, die die katholische Kirche unterstützen, sind gemeine Betrüger, Lügner, Gauner und feige Halsabschneider. Ein wahrer Amerikaner.
Einmal pro Woche besuchte er eine Medizinvorlesung im Hörsaal des Athenaeum an der Pearl Street. Manchmal saß er nach der Diskussion noch in der Bibliothek und las die »Boston Evening Transcript«, in der der Hass, der die Gesellschaft zerriss, seinen Niederschlag fand. Angesehene Geistliche wie Reverend Lyman Beecher von der Congregational Church an der Hanover Street schrieben unzählige Artikel über »die babylonische Hure« und
»die stinkende Bestie des römisch-katholischen Glaubens«. Politische Parteien verherrlichten den im Land geborenen Amerikaner und zogen über »dreckige, unwissende irische und deutsche Einwanderer« her.
Als er die überregionalen Zeitungen las, um mehr über Amerika zu erfahren, erkannte er, dass es eine habsüchtige Nation war, die mit beiden Händen nach neuem Land griff. Vor kurzem erst hatte sie Texas annektiert, durch einen Vertrag mit Großbritannien das Gebiet von Oregon erworben und wegen Kalifornien und des Südwestteils des Kontinents gegen Mexiko Krieg geführt. Die Grenze war der Mississippi, der die Zivilisation von der Wildnis trennte, in die man die Prärieindianer vertrieben hatte. Rob J. war fasziniert von Indianern. In seiner Kindheit hatte er die Romane von James Fenimore Cooper verschlungen. Er las alles, was es im Athenaeum über Indianer gab, und danach wandte er sich den Schriften Oliver Wendell Holmes’ zu. Sie gefielen ihm, vor allem das Porträt des zähen alten Überlebenskünstlers aus »The Last Leaf«. Aber Harry Loomis hatte recht, Holmes war besser als Arzt denn als Dichter, er war sogar ein vorzüglicher Arzt.
Harry und Rob J. gewöhnten es sich an, den langen Tag mit einem Glas Ale in der Essex Tavern zu beenden, und Dr. Holmes gesellte sich oft zu ihnen. Es war offensichtlich, dass Harry der Lieblingsstudent des Professors war, und Rob fiel es schwer, ihn nicht zu beneiden. Die Familie Loomis hatte hervorragende Verbindungen, und eines Tages würden Harry genau jene Stellen in den Krankenhäusern offenstehen, die ihm eine befriedigende Karriere als Arzt in Boston ermöglichten. Als sie eines Abends wieder beim Bier zusammensaßen, bemerkte Holmes, er sei bei Recherchen in der Bibliothek auf die Begriffe »Colescher Kröpf« und »Colesche bösartige Cholera« gestoßen. Dadurch neugierig geworden, habe er die Literatur durchforstet und zahlreiche Hinweise auf die Beiträge der Familie Cole zur Medizin entdeckt, darunter die »Colesche Gicht« und das »Colesche und Palmersche Syndrom», eine Krankheit, bei der Ödeme mit heftigen Schweißausbrüchen und gurgelnder Atmung einhergingen. »Außerdem«, sagte er, »habe ich herausgefunden, dass über ein Dutzend Coles in Edinburgh und Glasgow Professoren der Medizin waren. Waren die alle Verwandte von Ihnen?« Rob J. grinste verlegen, aber geschmeichelt. »Ja. Lauter Verwandte. Aber die meisten Coles waren seit Jahrhunderten einfache Landärzte in den Hügeln des schottischen Tieflands wie mein Vater.« Die Gabe der Coles erwähnte er nicht. Sie war kein Thema, das er mit anderen Ärzten diskutierte, denn die würden ihn entweder für verrückt oder für einen Lügner erklären.
»Lebt Ihr Vater noch?«
»Nein, nein. Er wurde von einem durchgehenden Pferd getötet, als ich zwölf war.«
»Ach.« Das war der Augenblick, in dem Holmes beschloss, trotz des relativ geringen Altersunterschieds die Rolle von Robs Vater zu übernehmen und ihm durch eine vorteilhafte Heirat Eintritt in den erlauchten Kreis der Bostoner Familien zu verschaffen. Bald darauf erhielt Rob J. zwei Einladungen in Holmes’ Haus in der Montgomery Street, wo er einen Lebensstil kennenlernte, der einst in Edinburgh auch für ihn angemessen gewesen wäre. Beim erstenmal stellte Amelia, die lebhafte, kupplerische Frau des Professors, ihm Paula Storrow vor, die aus einer alten und reichen Familie stammte, aber eine plumpe und schrecklich dumme Frau war. Beim zweiten Dinner hatte er Lydia Parkman zur Tischnachbarin. Sie war zwar zu dünn und besaß nicht einmal die Andeutung eines Busens, aber unter glatten, walnussbraunen Haaren verrieten ihr Gesicht und ihre Augen einen trockenen, schelmischen Humor, und die beiden verbrachten den Abend, indem sie sich witzig-herausfordernd, aber nicht ohne Tiefgang unterhielten. Sie wusste einiges über Indianer, doch sie sprachen vorwiegend über Musik, denn Lydia spielte Cembalo.
Später an diesem Abend saß er in seiner Dachkammer über der Spring Lane auf dem Bett und malte sich aus, wie sein Leben in Boston aussehen könnte - als Kollege und Freund von Harry Loomis und Oliver Wendell Holmes und als Ehemann einer Gastgeberin, die einen von Geist und Witz geprägten Salon führte.
Bald darauf hörte er das leise Klopfen, das er inzwischen gut kannte. Meg Holland schlüpfte in sein Zimmer. Die ist nicht zu dünn, dachte er, während er ihr zulächelte und sein Hemd aufknöpfte. Doch diesmal blieb Meggy auf der Bettkante sitzen und rührte sich nicht. Als sie endlich den Mund aufmachte, brachte sie nur ein leise geflüstertes Wort hervor, und ihr Tonfall traf ihn beinahe noch mehr als das Wort. Ihre Stimme klang spröde und leblos, wie trockenes Laub, das der Wind über den harten, kalten Boden weht. »Erwischt«, murmelte sie.
Träume
»Ein Volltreffer«, sagte sie zu ihm.
Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Sie war nicht mehr unberührt gewesen, als sie zu ihm gekommen war, versuchte er sich einzureden. Woher sollte er wissen, ob es wirklich sein Kind war. Ich habe doch immer das Kondom benützt, protestierte er schweigend. Aber er musste zugeben, dass er es bei den ersten Malen nicht getragen hatte und in der Nacht, in der sie das Lachgas ausprobierten, ebenfalls nicht. Während seiner Ausbildung war ihm eingeschärft worden, nie jemanden zu einer Abtreibung zu ermutigen, und er hätte es ihr ohnedies nicht vorgeschlagen, da er wusste, wie bestimmend die Religion für sie war.
Schließlich versprach er, zu ihr zu stehen. Er war doch nicht Stanley Finch!
Sonderlich aufzurichten schien sie seine Erklärung nicht. Er zwang sich, sie in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken. Er wollte zärtlich sein und sie trösten. Ausgerechnet in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass ihr Katzengesicht in wenigen Jahren eher dem einer Kuh gleichen würde. Das war nicht das Gesicht seiner Träume.
»Du bist Protestant.« Es war keine Frage, denn sie kannte die Antwort schon.
»So wurde ich erzogen.«
Sie war eine tapfere Frau. Die Tränen stiegen ihr erst in die Augen, als er ihr sagte, dass er unsicher sei über die Existenz Gottes.
»Sie Charmeur, Sie Halunke! Lydia Parkman war von Ihrer Gesellschaft sehr angetan«, berichtete ihm Holmes am nächsten Abend im Institut und strahlte, als Rob J. erwiderte, dass er sie für eine außergewöhnlich liebenswürdige Frau halte. Holmes erwähnte beiläufig, dass Stephen Parkman, ihr Vater, Richter am Superior Court sei und Berater des Harvard College. Die Familie hatte mit dem Handel von Stockfisch begonnen, sich dann auf Weizen verlegt und kontrollierte inzwischen den ausgedehnten und lukrativen Handel mit in Fässern konservierten Lebensmitteln. »Werden Sie sie wiedersehen?« fragte Holmes. »Bald, da können Sie sicher sein«, sagte Rob J. mit schlechtem Gewissen und erlaubte sich nicht, daran zu denken.
Holmes’ Theorien über die medizinische Hygiene hatten für Rob J. die ärztliche Praxis revolutioniert. Holmes erzählte ihm zwei Geschichten, die seine Thesen untermauerten. Die eine betraf die Skrofulöse, eine tuberkulöse Krankheit der Lymphdrüsen und der Gelenke. Im Mittelalter herrschte in Europa der Glauben, die Berührung durch eine königliche Hand könne die Skrofulöse heilen. Die andere Geschichte betraf einen uralten Aberglauben, nach dem zur Heilung eines Soldaten dessen Wunden gesäubert und verbunden werden mussten, worauf die Waffe, die diese Wunde zugefügt hatte, mit einer Salbe - bestehend aus solchen Entsetzlichkeiten wie fauligem Fleisch, Menschenblut oder Moos vom Schädel eines Hingerichteten - einzuschmieren war. Beide Methoden seien weit verbreitet und sehr erfolgreich gewesen, berichtete Holmes, da beide unbeabsichtigt für die Sauberkeit des Patienten sorgten. Im ersten Fall wurden die skrofulösen Patienten vollständig und gründlich gewaschen, damit die königlichen »Heiler«, die ihnen die Hand auflegen sollten, sich nicht vor ihnen ekelten. Im zweiten Fall wurde zwar die Waffe mit Unrat beschmiert, die Wunden des Soldaten aber, die nur gesäubert und ansonsten in Ruhe gelassen wurden, konnten ohne Infektion verheilen. Das Magische, die geheime Ingredienz, war also die Hygiene.
Im achten Distrikt war es schwierig, klinische Sauberkeit aufrechtzuerhalten. Rob J. hatte zwar Tücher und Kernseife in seiner Tasche, wusch sich oftmals am Tag die Hände und reinigte seine Instrumente, aber die Armut und ihre Folgen machten den Distrikt zu einem Ort, an dem die Gefahr, krank zu werden und zu sterben, groß war. Er versuchte, sich mit der alltäglichen ärztlichen Arbeit zu betäuben, doch wenn ihm dann wieder seine persönliche Notlage in den Sinn kam, fragte er sich, ob er nicht geradewegs auf seine Selbstzerstörung hinarbeite. In Schottland hatte er durch seine Einmischung in die Politik Verbindungen und Karriere geopfert, und hier in Amerika besiegelte er seinen Ruin mit dieser katastrophalen Schwangerschaft. Margaret Holland ging die Situation von der praktischen Seite an. Sie fragte ihn nach seinen Einkünften und war alles andere als bestürzt, als er ihr sein Jahresgehalt nannte - die dreihundertfünfzig Dollar schienen ihr mehr als ausreichend zu sein. Dann wollte sie etwas über seine Familie wissen.
»Mein Vater ist tot. Meiner Mutter ging es sehr schlecht, als ich Schottland verließ, und ich bin mir sicher, dass sie inzwischen... Ich habe einen Bruder. Er bewirtschaftet den Familienbesitz in Kilmar-nock. Er züchtet Schafe.
Ihm gehört das Anwesen.« Sie nickte. »Ich habe einen Bruder, der in Belfast lebt. Er ist Mitglied im Young Ireland und immer in Schwierigkeiten.« Ihre Mutter war tot, in Irland lebten noch der Vater und drei weitere Brüder, ein fünfter Bruder wohnte in Boston im Viertel am Fort Hill. Sie fragte schüchtern, ob sie ihrem Bruder nicht von Rob erzählen und ihn bitten solle, sich nach einem Zimmer für sie beide umzusehen, vielleicht in der Nähe seiner Wohnung.
»Nicht jetzt schon. Dazu ist später noch genug Zeit«, sagte er und streichelte ihr aufmunternd die Wange.
Die Vorstellung, im achten Distrikt wohnen zu müssen, entsetzte ihn. Er wusste, wenn er ein Arzt für die armen Einwanderer bleiben würde, konnte er nur in einem solchen Pferch das Überleben für sich, eine Frau und ein Kind sichern. Am nächsten Morgen betrachtete er den Distrikt mit Angst und Wut, und eine Verzweiflung wuchs in ihm, die der Hoffnungslosigkeit, die ihm überall in den armseligen Straßen und Gassen begegnete, in nichts nachstand.
Er begann, nachts unruhig zu schlafen und schlecht zu träumen. Zwei Träume kehrten immer wieder. In besonders schlimmen Nächten hatte er beide. Danach lag er jedesmal wach und rief sich alle Einzelheiten genau ins Gedächtnis, bis er nicht mehr wusste, ob er wach war oder schlief: Früher Morgen. Graues Wetter, aber die Sonne bricht durch. Er steht unter einigen tausend Männern vor den Carron Iron Works, die großkalibrige Schiffskanonen für die englische Marine herstellen. Es fängt gut an. Ein Mann auf einer Kiste liest das Pamphlet, das Rob J. anonym verfasst hat, um die Männer zur Demonstration aufzurufen: »Freunde und Landsleute.’ Erwacht aus dem Zustand, in dem wir so viele Jahre gehalten wurden!
Wir sehen uns nun angesichts unserer verzweifelten Lage und der Verachtung, mit der unsere Bittschriften gestraft wurden, gezwungen, unter Einsatz unseres Lebens für unsere Rechte zu kämpfen.« Der Mann spricht mit hoher und überschnappender Stimme, man merkt ihm an, dass er Angst hat. Am Ende wird er bejubelt. Drei Dudelsackpfeifer spielen, und die versammelte Menge singt beherzt, zuerst Kirchenlieder und dann Kühneres, zuletzt »Scots Wha’Hae Wz’ Wallace Bled«. Die Behörden kennen Rob J.s Pamphlet und haben Vorkehrungen getroffen. Bewaffnete Polizei ist anwesend, Miliz, das 1. Bataillon der Rifle Brigade und die gut ausgebildeten Kavalleriesoldaten des 7. und des 10. Husarenregiments, alles Veteranen der Kriege auf dem Festland. Die Soldaten tragen prächtige Uniformen. Die hohen, polierten Stiefel der Husaren funkeln wie dunkle Spiegel. Die Soldaten sind jünger als die Polizisten, aber in ihren Gesichtern spiegelt sich die gleiche verhärtete Verachtung.
Die Unruhen beginnen, als Rob J.s Freund Andrew Gerould aus Lanark eine Rede hält und über die Zerstörung der Farmen spricht sowie über den zum Leben nicht ausreichenden Hungerlohn der Männer für eine Arbeit, die England immer reicher macht und Schottland immer ärmer. Während Andrew sich in Rage redet, fangen die Männer an, ihrem Zorn lautstark Luft zu machen und zu schreien: »Freiheit oder Tod!« Die Berittenen drängen die Demonstranten mit ihren Pferden von dem Zaun weg, der die Stahlhütte umgibt. Jemand wirft einen Stein. Er trifft einen Husaren, der aus dem Sattel stürzt. Sofort ziehen die anderen Berittenen rasselnd ihre Säbel, und in einem Hagel von Steinen stürzen weitere Soldaten zu Boden. Dunkles Blut befleckt das Blau, Rot und Gold der Uniformen. Die Miliz beginnt zu feuern. Die Kavalleristen hauen mit ihren Säbeln auf die Demonstranten ein.
Die Männer schreien und weinen. Rob J. ist eingeklemmt. Er kann nicht fliehen. Er kann sich nur von der Masse, die die wütend heranstürmenden Soldaten vor sich hertreiben, mitschleifen lassen, und er muss darauf achten, nicht zu stolpern, denn er weiß, wenn er stürzt, trampelt die entsetzt davonstürmende Menge ihn nieder.
Der zweite Traum ist noch schlimmer.
Wieder befindet er sich inmitten einer großen Versammlung. So viele Leute wie vor der Stahlhütte, aber diesmal sind es Männer und Frauen, die um acht Galgen stehen. Sie ragen vor dem Stirling Castle in den Himmel, und die Menge wird von Miliz in Schach gehalten. Ein Priester, Dr. Edward Bruce aus Renfrew, sitzt auf einem Stuhl und liest schweigend. Ihm gegenüber hockt ein Mann in Schwarz. Rob J. erkennt ihn, kurz bevor er sein Gesicht hinter einer schwarzen Maske verbirgt. Er heißt Bruce Irgendwer und ist ein verarmter Medizinstudent, der fünfzehn Pfund für den Henkersdienst erhält. Dr. Bruce stimmt den einhundertdreißigsten Psalm an: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.« Jeder der Verurteilten erhält, wie es der Brauch ist, ein Glas Wein und wird dann zu dem Podest geführt, wo acht Särge bereitstehen. Sechs Gefangene ziehen es vor, nichts mehr zu sagen. Ein Mann namens Hardie lässt den Blick über das Meer von Gesichtern schweifen und sagt mit gedämpfter Stimme:
»Ich sterbe als Märtyrer für die Gerechtigkeit.« Andrew Gerould dagegen spricht laut und deutlich. Er wirkt müde und älter als seine dreiundzwanzig Jahre. »Meine Freunde, ich hoffe, von euch ist keiner verletzt. Wenn dies vorbei ist, geht bitte still nach Hause und lest in eurer Bibel.« Dann werden ihnen die Augen verbunden.
Zwei der Männer rufen noch etwas zum Abschied, während man ihnen die Schlingen um den Hals legt. Andrew sagt nichts mehr. Auf ein Signal hin geschieht es, und fünf sterben ohne Todeskampf. Drei zappeln noch eine Weile. Andrews Neues Testament fällt aus seinen tauben Fingern in die schweigende Menge. Nachdem man die Leichen abgeschnitten hat, trennt der Henker die Köpfe mit einer Axt ab, hält jedes der schauerlichen Objekte an den Haaren hoch und ruft, wie das Gesetz es befiehlt: »Das ist der Kopf eines Verräters!«
Manchmal, wenn Rob J. aus einem solchen Traum aufwachte, lag er in seinem schmalen Bett unter den Dachsparren und tastete sich ab, zitternd vor Erleichterung, dass er noch am Leben war. Dann starrte er in die Dunkelheit und fragte sich, wie viele Menschen wohl nicht mehr unter den Lebenden waren, weil er dieses Pamphlet geschrieben hatte. Wie viele Schicksale hatten sich geändert, wie viele Leben waren ausgelöscht worden, weil er so viele Menschen mit seiner Überzeugung beeinflusst hatte. Die landläufige Moral besagte, Überzeugungen seien es wert, dass für sie gekämpft oder gestorben werde. Wenn man aber alles gründlich überlegte, war dann nicht das Leben der einzige kostbare Besitz, den ein menschliches Wesen hatte? Und war er als Arzt denn nicht verpflichtet, vor allen Dingen das Leben zu schützen und zu erhalten? Er schwor sich und Äskulap, dem Vater der Heilkunst, nie mehr wegen eines unterschiedlichen Glaubens den Tod eines Menschen zu verursachen, ja nie mehr aus Zorn einen Menschen auch nur zu schlagen, und wohl zum tausendstenmal fragte er sich, wie schwer es diesem Bruce Irgendwer gefallen sein musste, diese fünfzehn Pfund zu verdienen.
Die Farbe des Gemäldes
»Es ist nicht Ihr Geld, das Sie ausgeben!« sagte Mr. Wilson eines Morgens verdrossen, als er Rob J. seinen Stapel Patientenscheine gab. »Es ist das Geld, das angesehene Bürger der Dispensary gespendet haben. Und kein Arzt, der für uns arbeitet, darf dieses Geld nach eigenem Gutdünken verschwenden.«
»Ich habe Ihr Geld nicht verschwendet. Ich habe nie Patienten behandelt oder ihnen etwas verschrieben, die nicht wirklich krank waren und unsere Hilfe dringend nötig hatten. Ihr System ist nicht gut. Manchmal zwingt es mich dazu, jemanden mit einer Zerrung zu behandeln, während andere wegen mangelnder Fürsorge sterben.«
»Sie überschreiten Ihre Befugnisse, Sir.« Mr. Wilsons Blick und seine Stimme waren ruhig, aber seine Hand mit den Scheinen zitterte. »Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie in Zukunft Ihre Besuche auf die Namen auf den Scheinen, die Sie jeden Morgen von mir erhalten, beschränken müssen.«
Rob J. hätte Mr. Wilson zu gerne gesagt, was er zur Kenntnis nehme und was Mr. Wilson mit seinen Patientenscheinen tun könne. Aber angesichts der Komplikationen in seinem Leben wagte er es nicht. So zwang er sich dazu, nur zu nicken und sich abzuwenden. Mit den Scheinen in der Tasche machte er sich auf in den Distrikt.
An diesem Abend änderte sich alles. Margaret kam in seine Kammer und setzte sich auf die Bettkante, ihr Stammplatz für Neuigkeiten. »Ich blute.«
Er zwang sich, zuerst nur als Arzt zu denken. »Eine Hämorrhagie? Verlierst du große Mengen Blut?«
Sie schüttelte den Kopf. »Zuerst war es ein bisschen mehr als sonst. Dann wie bei meiner normalen Blutung.
Und jetzt ist es fast schon vorüber.«
»Wann hat es angefangen?«
»Vor vier Tagen.«
»Vor vier Tagen?« Warum hatte sie vier Tage gewartet, bis sie es ihm sagte? Sie sah ihn nicht an. Sie saß stocksteif da, als würde sie sich gegen seine Wut wappnen, und ihm wurde klar, dass sie die vier Tage lang mit sich selbst gekämpft hatte. »Wolltest es mir wohl überhaupt nicht sagen, mh?«
Sie antwortete nicht, doch er verstand. Obwohl er in ihren Augen ziemlich eigenartig war, ein ständig händewaschender Protestant, hatte sie in ihm doch eine Chance gesehen, dem Gefängnis ihrer Armut zu entkommen. Nachdem er selbst dieses Gefängnis aus der Nähe gesehen hatte, kam es ihm fast wie ein Wunder vor, dass sie sich überhaupt zu dem Geständnis durchgerungen hatte, und wurde nicht zornig, weil sie es hinausgezögert hatte, sondern empfand Bewunderung und überwältigende Dankbarkeit. Er ging zu ihr, zog sie hoch und küsste ihre geröteten Augen. Dann legte er seine Arme um sie, drückte sie an sich und strich ihr über den Kopf, als tröste er ein verängstigtes Kind.
Am folgenden Morgen ging er wie benommen durch die Straßen, seine Knie zitterten vor Erleichterung. Männer und Frauen lächelten, wenn er sie grüßte. Es war eine neue Welt mit einer helleren Sonne und einer milderen Luft zum Atmen.
Seine Patienten behandelte er mit der üblichen Aufmerksamkeit, aber zwischendurch rasten die Gedanken in seinem Kopf. Schließlich setzte er sich auf eine Holztreppe an der Broad Street und dachte über die Vergangenheit, die Gegenwart und seine Zukunft nach. Zum zweitenmal war er einem schlimmen Schicksal entronnen. Er empfand dies als eine Warnung, dass er mit seinem Leben achtsamer und respektvoller umgehen müsse.
Rob J. betrachtete sein Leben als ein großes, im Entstehen begriffenes Gemälde. Was immer auch passieren mochte, das fertige Bild würde bestimmt von der Medizin handeln, aber er spürte, wenn er in Boston blieb, würden Grautöne in diesem Gemälde vorherrschen. Amelia Holmes konnte für ihn eine »brillante Partie«, wie sie es nannte, arrangieren, aber nachdem er einer lieblosen Ehe in Armut entronnen war, hatte er keine Lust, auf eine lieblose Ehe in Reichtum zuzusteuern oder sich auf dem Heiratsmarkt der Bostoner Gesellschaft feilbieten zu lassen, als Arztfleisch sozusagen, das Pfund zu soundso viel.
Er wollte das Gemälde seines Lebens mit den kräftigsten Farben malen, die er finden konnte.
An diesem Nachmittag ging er nach der Arbeit ins Athenaeum, um noch einmal die Bücher zu lesen, die ihn so gefesselt hatten. Doch lange bevor er damit fertig war, wusste er, wohin er gehen und was er tun wollte.
Als Rob dann abends in seinem Bett lag, kam das vertraute leise Signal an seiner Tür. Er starrte bewegungslos in die Dunkelheit. Noch einmal hörte er das Kratzen und schließlich ein drittesmal. Aus verschiedenen Gründen wäre er gern zur Tür gegangen, um sie zu öffnen. Aber er blieb wie erstarrt liegen und durchlitt einen Augenblick des Schreckens, der so schlimm war wie jede Sekunde seiner Alpträume, und nach einer Weile ging Margaret Holland weg.
Er brauchte über einen Monat, um seine Vorbereitungen zu treffen und den Dienst bei der Dispensary zu quittieren. Anstelle einer Abschiedsfeier sezierte er zusammen mit Holmes und Harry Loomis an einem schneidend kalten Dezemberabend die Leiche einer Negersklavin namens Della. Die Frau hatte ihr Leben lang schwer gearbeitet, und ihr Körper war erstaunlich muskulös. Harry hatte echtes Interesse an der Anatomie und Geschick für das Sezieren bewiesen und sollte Rob J.s Stelle als Assistent an der Medical School einnehmen.
Holmes gab, während sie schnitten, seine Erklärungen ab und wies sie darauf hin, dass das fransige Ende des Eileiters aussehe wie »der Saum des Schals einer armen Frau«. Jedes Organ und jeder Muskel erinnerten einen der drei an eine Geschichte, ein Gedicht, ein anatomisches
Wortspiel oder eine Zote. Es war eine ernsthafte wissenschaftliche Arbeit, die sie mit höchster Akribie durchführten, doch sie brüllten dabei vor Lachen und Ausgelassenheit. Danach gingen sie in die Essex Tavern und tranken bis zur Sperrstunde Glühwein. Rob J. versprach Holmes und Harry, sich bei ihnen zu melden, sobald er sein endgültiges Ziel erreicht habe, und sich, wenn nötig, mit Problemen an sie zu wenden. Sie trennten sich so kameradschaftlich, dass Rob J. seine Entscheidung beinahe bedauerte.
Am nächsten Morgen ging er in die Washington Street, kaufte geröstete Maronen und brachte sie, eingewickelt in eine Seite der »Boston Transcript«, in das Haus an der Spring Lane. Er schlich sich in Margaret Hollands Zimmer und legte die Tüte unter ihr Kopfkissen. Kurz nach Mittag bestieg er einen Eisenbahnwaggon, den gleich darauf eine Dampflokomotive aus dem Bahnhof zog. Der Schaffner, der seine Fahrkarte kontrollierte, musterte sein Gepäck misstrauisch, denn Rob J. hatte sich geweigert, seine Gambe und seinen Lederkoffer im Gepäckwagen abzugeben. Neben seinen medizinischen Instrumenten und seinen Kleidern enthielt der Koffer Old Horny und ein halbes Dutzend Kernseifenriegel, wie Holmes sie benutzte. Obwohl er kaum Geld besaß, verließ er Boston viel reicher, als er es betreten hatte. Es waren noch vier Tage bis Weihnachten. Der Zug eilte an Häusern vorbei, deren Türen mit Girlanden geschmückt waren und durch deren Fenster man flüchtige Blicke auf Christbäume erhaschen konnte. Bald hatten sie die Stadt hinter sich gelassen. Trotz leichten Schneetreibens erreichten sie in weniger als drei Stunden Worcester, den Endbahnhof der Boston Railroad. Die Fahrgäste mussten in einen Zug der Western Railroad umsteigen, und dort saß Rob J. neben einem stattlichen Mann, der ihm sofort seinen Flachmann anbot. »Nein danke, sehr freundlich«, sagte Rob J., ließ sich aber auf eine Unterhaltung mit dem Mann ein, um die Ablehnung nicht zu barsch wirken zu lassen. Der Mann war Vertreter für Nägel: Hakennägel und solche mit Senk- und Stauchköpfen, Krampen, Stifte aus gehärtetem Stahl oder aus Draht, in den unterschiedlichsten Größen von der feinsten Stahlnadel bis zum riesigen Bootsnagel. Er zeigte Rob J. seine Muster, und der genoss diesen Zeitvertreib.
»Ich fahre nach Westen! Nach Westen!« rief der Vertreter. »Sie auch?« Rob J. nickte. »Wie weit fahren Sie?«
»Bis zur Staatsgrenze. Nach Pittsfield. Und Sie, Sir?« Die Antwort bereitete Rob J. eine außerordentliche Befriedigung, ein solches Vergnügen, dass er übers ganze Gesicht lachte und sich beherrschen musste, dass er sie nicht laut herausschrie, denn die Worte hatten ihre eigene Melodie und warfen ein verklärend-romantisches Licht in jeden Winkel des schaukelnden Waggons. »Ins Indianerland«, sagte er.
Musik
Massachusetts und den Staat New York durchquerte er auf mehreren kurzen Eisenbahnstrecken, die durch Postkutschenlinien miteinander verbunden waren. Der Winter machte das Reisen beschwerlich. Manchmal mussten die Postkutschen warten, bis nicht weniger als zwölf Ochsen die Schneeverwehungen mit Pflügen weggeräumt oder die weiße Pracht mit großen hölzernen Rollen platt gewalzt hatten. Gasthöfe und Wirtshäuser waren teuer. Er befand sich gerade in den Wäldern des Allegheny Reservoirs, als ihm das Geld ausging, und war froh, in Jacob Starrs Holzfällerlager Arbeit als Arzt zu finden. Wenn ein Unfall passierte, war das meistens nichts Harmloses, doch zwischendurch hatte er kaum etwas zu tun. Er suchte sich deshalb eine Beschäftigung und half den Männern beim Fällen der bis zweihundertfünfzig Jahre alten Mastbaumkiefern und Hemlocktannen.
Normalerweise übernahm er ein Ende der Elendsschaukel, wie die Zweimannsäge genannt wurde. Sein Körper gewann an Kraft und Zähigkeit. Die meisten dieser Lager hatten keinen Arzt, und die Holzfäller wussten, wie wertvoll er für sie war. Sie gaben deshalb gut auf ihn acht, wenn er ihnen bei der gefährlichen Arbeit half. Sie brachten ihm bei, seine blutenden Handflächen in Salzwasser zu tauchen, damit sich schneller eine Hornhaut bildete. An den Abenden jonglierte er in der Schlafbaracke, um seine Finger gelenkig zu halten für Operationen, und für die Männer spielte er Gambe, wobei er sie abwechselnd zu ihren heiseren Liedern begleitete und Stücke von Johann Sebastian Bach und Marin Marais spielte, denen sie verzückt lauschten.
Den ganzen Winter über lagerten sie die riesigen Stämme am Ufer eines kleinen Flusses. Auf der Stumpfseite der einschneidigen Äxte des Lagers befand sich ein großer, erhabener fünfzackiger Stern. War ein Baum gefällt und zugerichtet, drehten die Männer die Axt um und trieben den stählernen Stern in die frische Schnittfläche, zum Zeichen, dass der Baum Jacob Starr gehörte. Als im Frühling das Schmelzwasser kam, stieg der Fluss um drei Meter und trug die Stämme bis zum Clarion. Die Holzfäller bauten riesige Flöße und errichteten auf ihnen Schlaf- und Kochbaracken sowie Vorratsschuppen. Rob fuhr mit diesen Flößen den Fluss hinunter wie ein Prinz; es war eine langsame, verträumte Reise, die nur unterbrochen wurde, wenn die Stämme sich verkeilten und von den geschickt arbeitenden Männern wieder gelöst werden mussten. Er sah die verschiedensten Vögel und eine Vielzahl anderer Tiere, während er den gewundenen Clarion bis zu dessen Mündung in den Allegheny und dann den Allegheny bis ganz hinunter nach Pittsburgh entlangtrieb.
In Pittsburgh verabschiedete er sich von Starr und dessen Holzfällern. In einem Saloon ließ er sich als Arzt für einen Schienentrupp der Washington & Ohio anheuern, einer Eisenbahnlinie, die den beiden vielbefahrenen Kanälen des Staates Konkurrenz machen wollte. Zusammen mit den Arbeitern brachte man ihn nach Ohio, an den Rand einer weiten, von einem glänzenden Schienenstrang unterteilten Ebene. In einem der vier Waggons, in denen die Vorarbeiter wohnten, wurde ihm ein Quartier zugewiesen. Der Frühling in der Ebene war wunderschön, doch die Welt der W & O Railroad war hässlich. Die Schienenleger, Planierer und Fuhrmänner waren fast durchwegs irische und deutsche Einwanderer, deren Leben als billige Ware betrachtet wurde. Robs Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass auch noch das letzte Quentchen ihrer Kraft der Firma zur Verfügung stand. Er war froh über das Geld, doch seine Arbeit war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, denn der Oberaufseher, ein dunkelgesichtiger Mann namens Gotting, war ein widerliches Scheusal, das kein Geld für Lebensmittel ausgeben wollte. Die Firma beschäftigte zwar Jäger, die jede Menge Wildbret schossen, und es gab eine Zichorienbrühe, die man Kaffee nannte, doch es mangelte an Gemüse - außer an dem Tisch, an dem Rob, Gotting und die Vorarbeiter saßen. Weder Kohl noch Karotten, noch Kartoffeln versorgten die Arbeiter mit Ascorbinsäure, und nur höchst selten gab es als Leckerbissen einen Topf Bohnen. Die Männer hatten Skorbut.
Trotz ihrer Blutarmut hatten sie keine Lust am Essen. Ihre Gelenke schmerzten, ihr Zahnfleisch blutete, die Zähne fielen ihnen aus, und ihre Wunden verheilten nicht. Unterernährung und Schwerstarbeit kamen einem Mord an ihnen gleich. Schließlich brach Rob in den verschlossenen Proviantwaggon ein und verteilte Kisten mit Kohl und Kartoffeln, bis von den Vorräten der Vorgesetzten nichts übrig war. Glücklicherweise wusste Gotting nicht, dass der junge Arzt Gewaltlosigkeit geschworen hatte. Robs Körpergröße und die kalte Verachtung in seinem Blick legten es dem Oberaufseher nahe, ihn auszuzahlen und ziehen zu lassen, um eine Auseinandersetzung zu vermeiden.
Rob J. hatte bei der Eisenbahn gerade genug verdient, um sich eine langsame alte Stute, einen zwölfkalibrigen Vorderlader, eine kleinere, leichtere Flinte für die Jagd auf Niederwild, Nadeln und Faden, eine Angelrute mit Haken, eine verrostete eiserne Bratpfanne und einen Hirschfänger zu kaufen. Er taufte das Pferd Monica Grenville, zu Ehren einer hübschen, nicht mehr jungen Frau, einer Freundin seiner Mutter, die er in den fiebrigfeuchten Träumen seiner Knabenzeit bestiegen hatte. Dank der Stute konnte er seine Reise in den Westen so fortsetzen, wie er es sich vorgestellt hatte. Nachdem er bemerkt hatte, dass die Flinte nach rechts zog, schoss er mühelos Wild, er angelte, wo sich Gelegenheit bot, und verdiente sich Geld oder Essen, wo immer er zu Leuten kam, die einen Arzt brauchten.
Die Weite des Landes mit den Bergen, Tälern und Ebenen verblüffte ihn. Nach ein paar Wochen war er überzeugt, dass er ewig auf seiner gemächlich trottenden Monica Grenville in den Sonnenuntergang hinein weiterziehen konnte.
Die Arzneimittel gingen ihm aus. Es war ohnedies schwierig, ohne die wenigen unzureichenden Linderungsmittel, die es damals gab, zu operieren, aber er hatte weder Laudanum noch Morphium, noch ein anderes Medikament und musste sich auf die Schnelligkeit seiner Chirurgenhände und den billigen Fusel, den er unterwegs kaufen konnte, verlassen. Fergusson hatte ihm einige hilfreiche Kniffe beigebracht, an die er sich jetzt erinnerte. Da er keine Nikotintinktur hatte, die bei Hämorrhoidenoperationen oral verabreicht wurde, um den Schließmuskel zu entspannen, kaufte er die stärksten Zigarren, die er bekommen konnte, und steckte sie bei Bedarf dem Patienten in den After, bis das Gewebe das Nikotin des Tabaks absorbiert hatte und die Muskelerschlaffung eintrat. In Titusville passierte es, dass ein älterer Herr dazukam, als er eben einen Patienten versorgte, der über eine Wagendeichsel gebeugt und mit einer Zigarre im Hintern dastand. »Haben Sie Streichhölzer, Sir?« fragte ihn Rob J. Später in der Gemischtwarenhandlung hörte er dann, wie der Mann seinen Freunden mit ernster Miene berichtete: »Ihr glaubt nicht, wie die die Zigarren geraucht haben.«
In einem Wirtshaus in Zanesville sah er seinen ersten Indianer. Eine herbe Enttäuschung. Ganz im Gegensatz zu James Fenimore Coopers großartigen Wilden bettelte hier ein schwabbeliger, grämlicher Säufer mit Rotz im Gesicht um Getränke und ließ sich beschimpfen. »Vermutlich Delaware«, sagte der Wirt, als Rob ihn nach dem Stamm des Indianers fragte. »Oder vielleicht Miami. Oder Shawnee.« Er zuckte verächtlich mit den Achseln.
»Is’ doch egal. Die armen Schweine schau’n für mich alle gleich aus.«
Einige Tage später lernte Rob in Columbus einen kräftigen, schwarzbärtigen jungen Juden namens Jason Maxwell Geiger kennen, einen Apotheker mit einem reichhaltigen Lager an Arzneien. »Haben Sie Laudanum?
Haben Sie Nikotintinktur? Kaliumjodid?« Was er auch verlangte, Geiger antwortete immer mit einem Lächeln und einem Nicken, und Rob inspizierte glücklich die Töpfe und Gläser. Die Preise waren nicht so hoch, wie er befürchtet hatte, denn Geigers Vater und seine Brüder besaßen in Charleston eine Arzneimittelfabrik, und der Apotheker erklärte Rob J., dass er alles, was er nicht selbst herstellen könne, zu einem günstigen Preis bei seiner Familie bestelle. Rob J. deckte sich deshalb mit einem umfangreichen Vorrat ein. Als der Apotheker ihm anschließend half, die Einkäufe zu seinem Pferd zu tragen, fiel ihm das große, dick eingewickelte Musikinstrument auf, und er fragte seinen Besucher sofort: »Das ist doch bestimmt ein Cello, nicht?«
»Eine Gambe«, erwiderte Rob und bemerkte, dass der Mann das eingewickelte Instrument - wenn nicht neugierig, so doch mit unübersehbar wehmütigem Verlangen - anschaute. »Wollen Sie sie sehen?«
»Sie müssen sie in mein Haus bringen und meiner Frau zeigen«, erwiderte Geiger eifrig. Er führte ihn zu dem Wohnhaus hinter der Apotheke. Lillian Geiger hielt sich ein Geschirrtuch vor das Oberteil ihres Kleides, doch die Milchflecken vom Überschuss ihrer Brüste waren Rob J. nicht entgangen. In einer Wiege schlief die zwei Monate alte Tochter Rachel. Das Haus roch nach Mrs. Geigers Muttermilch und frisch gebackener Challa. Im dunklen Wohnzimmer standen ein Rosshaarsofa, dazugehörige Sessel und ein Tafelklavier. Die Frau verschwand im Schlafzimmer und zog sich um, während Rob J. seine Gambe auspackte. Dann betrachteten die Geigers das Instrument und strichen mit den Fingern über die sieben Saiten und zehn Bünde, als würden sie einen wiederentdeckten Familienschatz streicheln. Sie führten ihm ihr Klavier vor, dessen Walnussholz sorgfältig poliert war. »Gebaut von Alpheus Babcock aus Philadelphia«, sagte sie. Jason Geiger zog hinter dem Klavier ein zweites Instrument hervor. »Die wurde von einem Bierbrauer namens Isaac Schwartz aus Richmond in Virginia gebaut. Es ist nur eine Fiedel, den Namen Geige hat sie nicht verdient. Aber ich hoffe, eines Tages mal eine Geige zu besitzen.« Als sie einen Augenblick später ihre Instrumente stimmten, entlockte Geiger seiner Fidel dennoch süße Klänge.
Sie schauten sich misstrauisch an, aus Furcht, musikalisch nicht zusammenzupassen.
»Was spielen wir?« fragte Geiger und überließ seinem Gast die Wahl. »Bach? Kennen Sie dieses Präludium aus dem >Wohltemperierten Klavier<? Aus Buch zwei, die Nummer habe ich leider vergessen.« Er spielte ihnen den Anfang vor, Lillian Geiger stimmte sofort mit ein und nach einem Nicken auch ihr Gatte. »Das zwölfte«, hauchte Lillian. Rob J. war es gleichgültig, welche Bezeichnung das Stück trug, denn dieses Spiel war nicht zur Unterhaltung von Holzfällern gedacht. Schon nach den ersten Akkorden merkte er, dass die beiden gute Musiker waren, daran gewöhnt, einander zu begleiten, und er war sicher, einen Narren aus sich zu machen. Während sich bei ihnen die Melodie entfaltete, stolperte er hinter ihnen her. Seine Finger glitten nicht über den Instrumentenhals, sondern vollführten spastische Sprünge wie Lachse, die sich einen Wasserfall hocharbeiten.
Doch nach der Hälfte des Präludiums vergaß er seine Angst, und die Spielerfahrung langer Jahre überwand die von der mangelnden Übung herrührende Schwerfälligkeit. Bald konnte er auch beobachten, dass Geiger mit geschlossenen Augen spielte, während im Blick seiner Frau ein Ausdruck verzückter Freude lag, der sich ihm mitteilte, der aber auch sehr intim war.
Die Befriedigung schmerzte beinahe. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sehr ihm die Musik abgegangen war.
Nachdem sie das Stück beendet hatten, saßen sie da und lächelten sich an. Geiger lief nach draußen, um das
»Geschlossen«-Schild an die Tür seines Ladens zu hängen, Lillian sah nach ihrem Kind und schob dann einen Braten in den Ofen, und Rob sattelte die arme, geduldige Monica ab, um sie zu füttern. Als sie später wieder beisammensaßen, zeigte es sich, dass die Geigers nichts von Marin Marais kannten, während Rob J. keins der Stücke des Polen Chopin auswendig konnte. Alle drei kannten sie jedoch die Sonaten Beethovens. Und so wurde an diesem Nachmittag aus dem Geigerschen Wohnzimmer ein schimmernder Zauberort. Als dann das Schreien des hungrigen Babys ihr Spiel beendete, waren sie trunken von der berauschenden Schönheit ihres Musizierens.
Als es für Rob J. Zeit wurde aufzubrechen, wollte der Apotheker nichts davon hören. Zum Abendessen gab es rosa gebratenes Lamm, das schwach nach Rosmarin und Knoblauch schmeckte, dazu mitgebratene kleine Karotten und junge Kartoffeln, hinterher ein Blaubeerkompott. »Sie schlafen in unserem Gästezimmer«, sagte Geiger. Da Rob J. sich zu den Geigers hingezogen fühlte, erkundigte er sich nach Möglichkeiten, in der Gegend zu praktizieren. »Es gibt ‘ne Menge Leute hier- schließlich ist Columbus Hauptstadt -und auch eine Reihe Ärzte, die sie betreuen. Es ist ein guter Ort für eine Apotheke, aber wir wollen Columbus verlassen, sobald das Baby alt genug ist, die Reise mitzumachen. Ich will nicht nur Apotheker sein, sondern auch Farmer, um meinen Kindern Land zu hinterlassen. In Ohio ist Farmland viel zu teuer. Ich habe mir schon Gegenden ausgesucht, wo es fruchtbares Land gibt, das ich mir leisten kann.« Er hatte Landkarten, die er nun auf dem Tisch ausbreitete.
»Illinois«, sagte er und zeigte Rob J. den Landstrich, der sich bei seinen Nachforschungen als günstigster herausgestellt hatte, ein Gebiet zwischen dem Rock River und dem Mississippi. »Genügend Wasser.
Wunderschöne Wälder entlang der Flüsse. Und der Rest ist Prärie, schwarze Erde, die noch nie einen Pflug gespürt hat.«
Rob J. studierte die Karten. »Vielleicht sollte ich auch dorthin gehen«, sagte er schließlich. »Mal sehen, ob es mir gefällt.«
Geiger strahlte. Zusammen saßen sie lange über den Karten und zeichneten freundschaftlich disputierend die beste Route ein. Nachdem Rob J. zu Bett gegangen war, blieb Jay Geiger noch auf und schrieb bei Kerzenlicht die Noten einer Mazurka von Chopin ab. Sie spielten sie am Morgen nach dem Frühstück. Die beiden Männer beugten sich noch einmal über die Karten. Rob J. versprach, falls Illinois sich wirklich als so gut erwies, wie Geiger glaubte, sich dort niederzulassen und seinem neugewonnenen Freund sofort zu schreiben, dass er die Familie in den Westen bringen könne.
Zwei Parzellen
Illinois war von Anfang an interessant. Rob erreichte den Staat im Spätsommer, als das zähwüchsige Grün der Prärie von den langen Sonnentagen bereits trocken und ausgebleicht war. In Danville sah er zu, wie Männer Wasser aus Salzquellen in großen, schwarzen Kesseln einkochten, und als er sie wieder verließ, hatte er ein Paket mit reinem Salz bei sich. Die Prärie dehnte sich weit, hier und dort erhoben sich flache Hügel. Der Staat war gesegnet mit Süßwasser. Rob kam zwar nur an wenigen Seen vorbei, sah aber immer wieder Sümpfe. Aus ihnen speisten sich Bäche, die sich schließlich zu Flüssen vereinigten. Er erfuhr, dass die Bewohner von Illinois, wenn sie vom Land zwischen den Flüssen sprachen, meistens die Südspitze des Staates zwischen dem Mississippi und dem Ohio meinten. Hier hatten die beiden großen Flüsse einen tiefen, nährstoffreichen Boden angeschwemmt. Die Leute nannten die Region Ägypten, weil sie sie für so fruchtbar hielten wie das sagenumwobene Land am Nildelta. Auf Jay Geigers Karten entdeckte Rob J. eine Reihe von »Kleinägpyten«
zwischen den Flüssen in Illinois. Der Mann hatte schon während der kurzen Begegnung Rob J.s Achtung erworben, und deshalb ritt der junge Arzt weiter auf die Region zu, die Jay ihm als die für eine Ansiedlung günstigste ausgewiesen hatte.
Er brauchte zwei Wochen, um Illinois zu durchqueren. Am vierzehnten Tag führte ihn der Pfad, auf dem er ritt, in ein Waldstück, wo ihn willkommene Kühle und der Geruch feuchter, wuchernder Pflanzen empfingen. Er hörte lautes Wasserrauschen, folgte der schmalen Spur und kam kurz darauf am Ostufer eines großen Flusses aus dem Wald, der, wie er vermutete, der Rock River, der Felsenfluss, sein musste. Trotz der Trockenzeit war die Strömung stark, und die großen Felsen, die dem Fluss seinen Namen gaben, ließen das Wasser weiß aufschäumen. Auf der Suche nach einer Furt ritt er am Ufer entlang und kam schließlich zu einem tieferen, ruhigeren Abschnitt. Ein dickes, an zwei riesigen Baumstämmen befestigtes Stahlseil überspannte den Fluss.
Von einem Ast baumelten ein eiserner Triangel und ein Stahlstab, daneben ein Schild mit der Aufschrift: Holden’s Crossing. Nach der Fähre bitte läuten. Er schlug kräftig und, so schien es ihm, ziemlich lange den Triangel, bis er am gegenüber liegenden Ufer einen Mann gemächlich zu der Stelle schlendern sah, an der ein Floß festgemacht war. Zwei dicke, senkrechte Pfosten auf dem Floß endeten in großen Eisenringen, durch die das zwischen den Ufern gespannte Stahlseil lief. Als die Fähre die Flussmitte erreichte, hatte die Strömung das Seil bereits ein gutes Stück Flussabwärts gezogen, so dass der Mann sein Gefährt in einem Bogen und nicht in gerader Linie auf das andere Ufer zulenkte. Das dunkle, ölige Wasser war in der Mitte zu tief zum Staken, und der Mann zog das Floß deshalb an dem Stahlseil vorwärts. Der Fährmann sang, und sein kräftiger Bariton klang klar und deutlich zu Rob J. herüber.
Sein Lied hatte viele Strophen, und noch bevor sie zu Ende waren, konnte der Mann wieder staken. Als die Fähre näher kam, erkannte Rob einen muskulösen Mann Mitte Dreißig. Er war einen Kopf kleiner als Rob und sah aus wie ein typischer Einheimischer: schwere Stiefel an den Füßen, eine braune Hose aus grobem Halbwollzeug, die für die Jahreszeit zu warm war, ein blaues Baumwollhemd mit verstärktem Kragen und ein schweißfleckiger breitkrempiger Lederhut. Er hatte eine lange, schwarze Haarmähne, einen Vollbart und ausgeprägte Wangenknochen, dazu eine schmale, geschwungene Nase, die seinem Gesicht etwas Grausames verliehen hätte, wenn da nicht seine blauen Augen gewesen wären, die fröhlich und einladend strahlten. Je näher er kam, desto deutlicher spürte Rob J. einen gewissen Argwohn in sich, die Erwartung einer gewissen Affektiertheit, die der Anblick einer vollkommen schönen Frau oder eines zu attraktiven Mannes mit sich bringt.
Doch der Fährmann hatte nichts dergleichen an sich.
»Hallo!« rief er. Ein letzter Stoß mit der Stange, und das Floß glitt knirschend auf die Sandbank. Er streckte die Hand aus. »Nicholas Holden, zu Ihren Diensten.«
Rob schüttelte ihm die Hand und stellte sich vor. Holden holte einen dunklen, feuchten Priem aus der Brusttasche und schnitt mit seinem Messer ein Stück ab. Dann bot er Rob J. den Kautabak an, doch der schüttelte den Kopf. »Was kostet die Überfahrt?« »Drei Cent für Sie. Zehn für das Pferd.«
Rob zahlte, wie verlangt, die dreizehn Cent im voraus. Er band Monica an den Eisenringen fest, die zu diesem Zweck in den Boden des Floßes eingelassen waren. Holden drückte ihm eine zweite Stange in die Hand, und die beiden Männer machten sich ächzend ans Staken. »Wollen Sie sich etwa hier in der Gegend niederlassen?«
»Vielleicht«, erwiderte Rob vorsichtig.
»Sie sind nicht zufällig ein Hufschmied?« Holden hatte die blauesten Augen, die Rob je bei einem Mann gesehen hatte. Sie hätten weiblich gewirkt, wäre da nicht der durchdringende Blick gewesen, der Holdens Gesicht einen insgeheim belustigten Ausdruck gab. »Schade«, sagte er, schien jedoch von Robs Kopfschütteln nicht sonderlich überrascht. »Einen anständigen Schmied könnt’ ich nämlich gut gebrauchen. Farmer, mh?«
Er spitzte die Ohren, als Rob ihm sagte, er sei Arzt. »Dreifach willkommen und noch mal willkommen! Wir brauchen einen Doktor m der Gemeinde Holden’s Crossing. Und für einen Doktor ist die Überfahrt frei«, sagte er, hielt mit dem Staken inne und zählte Rob feierlich drei Cent in die Hand.
Rob betrachtete die Münzen. »Was ist mit den anderen zehn?«
»Na, das Pferd wird doch nicht auch ein Doktor sein!« Sein Grinsen war so liebenswert, dass man ihn beinahe für weniger gutaussehend hätte halten können.
Holdens winzige Hütte aus behauenen und mit weißem Lehm abgedichteten Stämmen stand, umgeben von einem Garten mit eigener Quelle, auf einer Anhöhe am Flussufer. »Gerade rechtzeitig zum Abendessen«, sagte er, und bald darauf aßen sie einen duftenden Eintopf, in dem Rob Rüben, Kohl und Zwiebel erkannte, aber Schwierigkeiten mit dem Fleisch hatte. »Hab’ heute morgen einen alten Hasen und ein junges Präriehuhn geschossen, und die sind beide da drin«, erklärte Holden.
Nachdem die Holzschüsseln neu gefüllt waren, erzählten sie einander von sich, so dass die Atmosphäre entspannter wurde. Holden war ein Provinzanwalt aus dem Staat Connecticut. Er hatte große Pläne. »Warum hat man eigentlich den Ort nach Ihnen benannt?«
»Hat man nicht. Ich hab’ ihn so genannt«, antwortete Holden leutselig. »Ich war als erster hier und hab’ den Fährdienst eingerichtet. Deshalb Holden’s Crossing, weil ich die Leute hier über den Fluss bringe. Und immer wenn jemand kommt und sich hier niederlassen will, sag’ ich ihm, wie der Ort heißt.«
In Robs Augen konnte es Holdens Blockhütte nicht mit den gemütlichen schottischen Cottages aufnehmen. Sie war dunkel und stickig. Das Bett, das zu nahe an der qualmenden Feuerstelle stand, war mit Ruß bedeckt.
Holden gestand ihm fröhlich, dass das einzig Gute an dem Gebäude das Fleckchen Erde sei, auf dem es stand.
Innerhalb eines Jahres, sagte er, werde die Hütte abgerissen und an ihrer Stelle ein hübsches Haus gebaut. »Ja, Sir, große Pläne.« Er erzählte Rob J. von den Einrichtungen, die bald folgen würden: ein Wirtshaus, ein Gemischtwarenladen und schließlich eine Bank. Und er verheimlichte nicht, dass er Rob überreden wolle, sich in Holden’s Crossing niederzulassen.
»Wie viele Familien leben jetzt hier?« fragte Rob J. und lächelte bedauernd, als er die Antwort hörte. »Von sechzehn Familien kann ein Arzt nicht leben.«
»Natürlich nicht. Aber die Siedler zieht’s hierher wie ‘nen Mann zur Möse. Und diese sechzehn Familien leben innerhalb der Ortsgrenze. Auf dem offenen Land liegen noch ‘ne ganze Menge einsame Farmen, und von hier bis Long Island gibt’s keinen einzigen Arzt. Sie müssen sich nur ein besseres Pferd besorgen und dürfen die langen Wege nicht scheuen, wenn Sie Hausbesuche machen.«
Rob wusste noch gut, wie verzweifelt er gewesen war, weil er die Unzahl von Menschen im achten Distrikt nicht vernünftig betreuen konnte. Doch das hier war die Kehrseite der Medaille. Er sagte zu Holden, er wolle darüber schlafen.
In dieser Nacht schlief er in der Hütte. In eine Steppdecke gewickelt, lag er auf dem Boden, während Holden in seinem Bett schnarchte.
Doch das war nichts für jemanden, der den Winter in einer Schlafbaracke mit neunzehn furzenden, hustenden Holzfällern verbracht hatte. Am nächsten Morgen machte Holden das Frühstück, überließ aber Rob den Abwasch, weil er, wie er sagte, noch etwas zu erledigen habe. Er versprach, bald zurück zu sein.
Es war ein klarer, frischer Tag. Die Sonne brannte bereits heiß, und Rob packte seine Gambe aus und setzte sich auf einen schattigen Felsen zwischen der Hütte und dem Waldrand. Er breitete die Notenblätter mit der Mazurka von Chopin, die Jay Geiger für ihn abgeschrieben hatte, vor sich aus und begann, gewissenhaft zu üben. Etwa eine halbe Stunde arbeitete er am Thema und der Ausführung, bis es anfing, nach Musik zu klingen. Als er den Kopf hob und zum Wald hinübersah, entdeckte er zwei Indianer auf ihren Pferden, die ihn vom Rand der Lichtung aus beobachteten.
Er erschrak, denn ihr Aussehen festigte sein Vertrauen in James Fenimore Cooper aufs neue: Männer mit eingefallenen Wangen und nacktem Oberkörper, der hart und drahtig wirkte und vor Öl oder ähnlichem glänzte.
Der eine trug eine Wildlederhose und hatte eine riesige Hakennase. Auf seinem rasierten Schädel prangte ein grellbunter Kopfschmuck aus dicken, steifen Tierhaaren. Er trug eine Flinte. Sein Begleiter war ein kräftiger Mann, etwa so groß wie Rob J., aber massiger. Seine langen, schwarzen Haare wurden von einem ledernen Stirnband zusammengehalten, bekleidet war er mit einem Lendenschurz und hohen ledernen Gamaschen. Er hatte einen Bogen in der Hand, und am Hals seines Pferdes hing ein Köcher voller Pfeile, so dass er aussah wie die Indianer auf den Zeichnungen, die Rob J. in den Büchern des Bostoner Athenaeums gesehen hatte. Er wusste nicht, ob sich hinter den beiden im Wald noch andere versteckten. Wenn sie feindselig waren, war er verloren, denn eine Gambe ist nur eine armselige Waffe. Er beschloss, einfach weiterzuspielen. Er legte den Bogen wieder an die Saiten und begann, aber nicht mit Chopin, denn er wollte sie nicht aus den Augen lassen und auf die Notenblätter sehen. Ohne lange nachzudenken, spielte er ein Stück aus dem siebzehnten Jahrhundert, das er gut kannte: »Cara la vita mia« von Oratio Bassani. Er spielte es ganz durch und dann noch einmal zur Hälfte.
Schließlich hörte er auf, er konnte ja nicht für alle Zeiten dasitzen und auf der Gambe spielen.
Da hörte er hinter sich ein Geräusch. Er drehte sich schnell um und sah gerade noch ein rotes Eichhörnchen davonhuschen. Als er wieder nach vorne schaute, war er einerseits erleichtert, aber auch ein bisschen enttäuscht, denn die Indianer waren verschwunden. Eine Weile hörte er noch ihre Pferde im Unterholz, dann war das Rascheln der Blätter im Wind das einzige Geräusch.
Nick Holden versuchte, sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen, als er zurückkehrte und erfuhr, was passiert war. Er inspizierte seinen Besitz, erklärte aber, dass offensichtlich nichts fehle. »Die Indianer, die früher hier in der Gegend gelebt haben, waren die Sauks. Vor neun bis zehn Jahren wurden sie nach einem Kriegszug, der als Krieg des Schwarzen Falken in die Geschichte einging, über den Mississippi nach Iowa vertrieben. Und vor ein paar Jahren wurden alle überlebenden Sauks in ein Reservat in Kansas gebracht. Letzten Monat haben wir erfahren, dass ungefähr vierzig Krieger mit ihren Frauen und Kindern aus dem Reservat verduftet sind.
Angeblich in Richtung Illinois. Ich glaube nicht, dass sie so blöd sind, uns hier Schwierigkeiten zu machen, die paar Mann, die sie sind. Wahrscheinlich hoffen sie einfach, dass wir sie in Ruhe lassen.«
Rob nickte. »Wenn sie mir Schwierigkeiten hätten machen wollen, hätten sie das problemlos tun können.«
Nick versuchte, das Thema zu wechseln, denn er fürchtete, Holden’s Crossing könnte in einem schlechten Licht erscheinen. Er habe sich an diesem Vormittag vier Parzellen Land angesehen, sagte er, die er Rob zeigen wolle, und auf sein Drängen hin sattelte Rob seine Stute. Das Land war Regierungseigentum. Auf dem Weg erklärte Nick, es sei von Landvermessern der Bundesregierung in Parzellen zu je hundert Morgen aufgeteilt worden.
Privatgrund wurde zu mindestens sechs Dollar je Morgen verkauft, Regierungsland aber kostete nur einen Dollar, eine Hundert-Morgen-Parzelle also einhundert Dollar. Der zwanzigste Teil des Kaufpreises musste sofort hinterlegt werden, insgesamt fünfundzwanzig Prozent waren innerhalb der nächsten vierzig Tage fällig, der Rest aber erst in drei gleichen Raten jeweils am Ende des zweiten, dritten und vierten Jahres nach Vertragsabschluß.
Nick erklärte, es sei der beste Grund, den ein Siedler irgendwo finden könne, und als sie das Land erreichten, musste Rob ihm beistimmen.
Die Parzellen erstreckten sich eine knappe Meile entlang des Flusses, ein breiter Waldstreifen am Ufer bot mehrere saubere Quellen und genügend Holz zum Bauen, und dahinter lag als fruchtbares Versprechen nie gepflügter Prärieboden.
»Ich will Ihnen mal was sagen«, bemerkte Holden. »Betrachten Sie das Land nicht als vier Hundert-Morgen-Parzellen, sondern als zwei Zweihundert-Morgen-Stücke. Im Augenblick lässt die Regierung einen Siedler höchstens zwei Parzellen kaufen, und genau das würde ich an Ihrer Stelle tun.«
Rob J. schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »Es ist gutes Land. Aber ich habe schlicht und einfach die nötigen fünfzig Dollar nicht.«
Nick Holden sah ihn nachdenklich an. »Meine Zukunft hängt von dieser Vielleicht-einmal-Stadt ab. Wenn ich Siedler anwerben kann, werden mir irgendwann der Gemischtwarenladen, die Mühle und das Wirtshaus gehören.
Und Siedler kommen in Scharen an einen Ort, wo es einen Arzt gibt. Wenn Sie sich in Holden’s Crossing niederlassen, ist das für mich wie Geld im Sparstrumpf. Die Banken verleihen Geld zu zweieinhalb Prozent pro Jahr. Ich gebe Ihnen die fünfzig Dollar als Kredit zu eineinhalb Prozent, rückzahlbar in acht Jahren.« Rob J. sah sich um und atmete tief durch. Es war wirklich gutes Land. Der Platz gefiel ihm so, dass er Mühe hatte, seine Stimme zu beherrschen, als er das Angebot annahm. Nick schüttelte ihm herzlich die Hand und wollte keinen Dank. »Das ist nur ein gutes Geschäft.« Dann ritten sie langsam über das Land. Die südliche Doppelparzelle war eine Talsohle und sehr flach. Der nördliche Abschnitt dagegen war sanft gewellt, mit einigen Erhebungen, die man schon fast als Hügel bezeichnen konnte.
»Ich würde das untere Stück nehmen. Der Boden ist dort besser und einfacher zu pflügen«, riet Nick Holden.
Aber Rob J. hatte sich bereits entschlossen, den Nordteil zu kaufen. »Ich belasse den Großteil als Weideland und züchte Schafe, denn davon verstehe ich was. Aber ich kenne jemanden, der unbedingt Ackerbauer werden will, vielleicht nimmt der das südliche Stück.« Als er Holden von Jason Geiger erzählte, lachte der Anwalt vor Vergnügen. »Eine Apotheke in Holden’s Crossing? Das wäre doch die Sahne auf dem Kuchen. Na, da werd’ ich mal in Geigers Namen die Anzahlung für das südliche Grundstück leisten. Wenn er es nicht will, wird es nicht schwer sein, so gutes Land weiterzuverkaufen.« Am nächsten Morgen ritten die beiden Männer nach Rock Island, und als sie das Grundbuchamt wieder verließen, war Rob J. Landbesitzer und Schuldner.
Nachmittags ritt er allein zu seinem Besitz. Er band die Stute an und erkundete zu Fuß Wald und Prärie. Wie im Traum ging er am Fluss entlang und warf Steine ins Wasser. Er konnte einfach nicht glauben, dass das alles ihm gehörte. In Schottland war es sehr schwierig, Land zu erwerben. Die Schafzucht seiner Familie in Kilmarnock war über die Jahrhunderte hinweg von einer Generation zur nächsten weitervererbt worden.
Gleich an diesem Abend schrieb er Jason Geiger einen Brief. Er berichtete ihm von den zweihundert Morgen, die in des Apothekers Namen neben seinem Land reserviert seien, und bat Jay, ihn so schnell wie möglich wissen zu lassen, ob er den Besitz antreten wolle. Darüber hinaus bat er ihn, ihm eine große Menge Schwefelpuder zu schicken, denn Nick hatte ihm widerstrebend gestanden, dass im Frühjahr immer eine Krankheit ausbreche, die die Leute Illinois-Krätze nannten, und großzügig verabreichter Schwefelpuder das einzige zu sein scheine, was dagegen helfe.
Hausbau
Die Nachricht, dass sich in Holden’s Crossing ein Arzt niedergelassen hatte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
Drei Tage nach seiner Ankunft wurde Rob J. zu seinem ersten Patienten gerufen, der sechzehn Meilen entfernt wohnte, und danach riss die Arbeit nicht mehr ab. Im Gegensatz zu den Siedlern im südlichen und mittleren Illinois, die meistens aus den Südstaaten kamen, stammten die Farmer, die sich in Nordillinois niederließen, überwiegend aus New York und New England. Jeden Monat kamen neue dazu, zu Fuß, zu Pferd oder im Planwagen, manche mit einer Kuh, andere mit ein paar Schweinen oder Schafen. Robs Einzugsgebiet umfasste ein riesiges Areal: Prärieland zwischen großen Flüssen, durchzogen von einem Netz kleiner Bäche, gesprenkelt mit Wäldchen und von tiefen Sumpfgräben durchfurcht. Wenn die Patienten zu ihm kamen, berechnete er fünfundsiebzig Cent. Machte er Hausbesuche, verlangte er einen Dollar, bei Nacht um die Hälfte mehr. Seinen Arbeitstag verbrachte er vorwiegend im Sattel, denn in diesem eigenartigen Land lagen die Farmen sehr weit auseinander. Manchmal war er bei Einbruch der Nacht vom Reiten so erschöpft, dass er sich nur noch auf die Erde fallen ließ und sofort einschlief.
Er sagte Holden, dass er am Ende des Monats einen Teil seiner Schuld werde zurückzahlen können, doch der Anwalt lächelte nur und schüttelte den Kopf. »Nur nichts überstürzen! Ich glaube, es ist sogar besser, wenn ich Ihnen noch ein bisschen mehr leihe. Die Winter sind hart hier, und Sie werden ein kräftigeres Pferd brauchen.
Und bei der vielen Arbeit, die Sie mit Ihren Patienten haben, kommen Sie nicht dazu, sich vor dem ersten Schnee eine Hütte zu bauen. Ich seh’ mich besser mal nach jemandem um, der gegen Bezahlung eine für Sie bauen kann.«
Nick fand einen Hüttenbauer namens Alden Kimball, einen zaundürren, aber unermüdlichen Mann. Von der stinkenden Maiskolbenpfeife, die er nie aus dem Mund nahm, hatte er gelb verfärbte Zähne. Aufgewachsen war er auf einer Farm in Vermont, doch hierher verschlagen hatte es ihn als verstoßenen Mormonen aus der Stadt Nauvoo in Illinois, wo die Bewohner sich »Heilige der letzten Tage« nannten und die Männer angeblich so viele Frauen haben durften, wie sie wollten. Als Rob J. den Hüttenbauer kennenlernte, sagte der nur, er habe eine Meinungsverschiedenheit mit den Kirchenältesten gehabt und sei deshalb weggegangen. Genaueres wollte Rob J. gar nicht wissen. Ihm reichte es, dass Kimball mit Axt und Breitbeil umgehen konnte, als wären sie ihm an den Körper gewachsen. Er fällte die Bäume, richtete sie zu und flachte sie gleich an Ort und Stelle an zwei Seiten ab. Bald darauf lieh sich Rob J. von einem Farmer namens Gruber einen Ochsen. Rob spürte, dass Gruber ihm seinen wertvollen Ochsen nicht anvertraut hätte, wenn Kimball nicht dabeigewesen wäre. Der gefallene Heilige beteuerte beharrlich, dass der Ochse ihm schon gehorchen werde, bis Gruber ihn ihm überließ. Mit dem Tier schafften es die beiden Männer in einem Tag, die behauenen Stämme zu dem Bauplatz zu schaffen, den Rob sich am Flussufer ausgesucht hatte. Als Kimball vier mächtige Stämme mit Holzzapfen zum Sockel der Hütte zusammenfügte, sah Rob, dass der Stamm, der die Nordwand tragen sollte, im linken Drittel stark gekrümmt war, und er wies den Hüttenbauer darauf hin.
»Das ist schon richtig«, sagte Kimball, und Rob ging weg und ließ ihn weiterarbeiten.
Bei seinem nächsten Besuch auf der Baustelle sah Rob einige Tage später, dass die Wände bereits standen.
Alden hatte die Stämme mit Lehm vom Flussufer abgedichtet, und tünchte gerade die Lehmstreifen. Die Stämme an der Nordseite zeigten alle die gleiche Ausbuchtung wie der Stamm im Sockel. Es musste Alden viel Zeit gekostet haben, die Stämme mit genau derselben Krümmung herauszusuchen, und zwei waren sogar mit dem Breitbeil zurechtgehauen, damit sie passten. Alden war es auch, der Rob J. von dem Reitpferd erzählte, das Gruber zu verkaufen habe. Als Rob gestand, dass er nicht viel von Pferden verstehe, zuckte Kimball mit den Achseln. »Vierjährige Stute, noch nicht ganz ausgewachsen. Kräftig, alles in Ordnung mit ihr.« Also kaufte Rob das Pferd. Es war ein blood bay, wie Gruber es nannte, mehr rot als braun, mit schwarzen Beinen, schwarzer Mähne und schwarzem Schwanz. Auf der Stirn hatte es schwarze Punkte, die wie Sommersprossen aussahen.
Das fünfzehn Handbreit hohe Tier hatte einen kräftigen Körper und einen intelligenten Blick. Weil ihn die Sommersprossen an sein Mädchen in Boston erinnerten, nannte er die Stute Margaret Holland, kurz Meg.
Rob merkte, dass Alden einen Blick für Tiere hatte, und eines Morgens fragte er ihn, ob er nach dem Ende der Bauarbeiten als Knecht bei ihm bleiben und auf der Farm arbeiten wolle. »Hm... Welche Art von Farm?«
»Schafzucht.«
Alden verzog das Gesicht. »Hab’ keine Ahnung von Schafen. Hab’ immer nur mit Milchkühen gearbeitet.«
»Ich bin mit Schafen aufgewachsen«, erwiderte Rob. »Schafe zu hüten ist ganz einfach. Sie stehen gern in einer Herde zusammen, und in der offenen Prärie kann ein Mann mit einem Hund sie problemlos bewachen. Was die anderen Arbeiten angeht, Kastrieren und Scheren und so weiter, das könnte ich Ihnen beibringen.« Alden tat so, als denke er darüber nach, doch er wollte nur nicht unhöflich erscheinen. »Um ehrlich zu sein, ich mach’ mir nicht viel aus Schafen. Nein«, sagte er schließlich, »schön’ Dank, aber ich glaub’, ich bleib’ nicht.« Wie um das Thema zu wechseln, fragte er Rob, was er mit seinem alten Pferd vorhabe. Monica Grenville hatte ihn nach Westen getragen, doch jetzt war sie erschöpft. »Glaub’ nicht, dass Sie viel für sie bekommen, wenn Sie sie nicht vorher aufpäppeln. Gras genug haben Sie ja auf der Prärie, aber für den Winter müssten Sie Heu kaufen.«
Dieses Problem löste sich ein paar Tage später, als ein Farmer, der gerade kein Geld hatte, für eine Geburtshilfe mit einer Wagenladung Heu bezahlte. Rob fragte Alden, was er tun solle, und der erklärte sich bereit, das Hüttendach über die Südwand hinaus zu verlängern und an den Ecken mit Pfosten abzustützen, um so einen offenen Unterstand für die Pferde zu schaffen. Einige Tage nachdem die Arbeiten beendet waren, kam Nick vorbei, um sich das Ergebnis anzusehen. Er belächelte den behelfsmäßigen Stall und wich Alden Kimballs Blick aus. »Also mal ehrlich, die sieht aber ziemlich komisch aus, die Hütte.« An der Nordseite der Hütte zog er die Augenbrauen hoch. »Die verdammte Wand ist krumm!«
Rob J. strich bewundernd mit den Fingerspitzen über die Krümmung in den Stämmen. »Nein, das ist Absicht, es gefällt uns so. Das unterscheidet die Hütte von den anderen hier in der Gegend.« Nachdem Nick sich verabschiedet hatte, arbeitete Alden eine Stunde lang schweigend weiter. Dann legte er das Werkzeug weg und ging zu Rob, der gerade Meg striegelte. Er klopfte sich seine Pfeife am Stiefelabsatz aus. »Ich glaub’, das mit den Schafen kann ich doch lernen«, sagte er.
Die Einsiedlerin
Für seine Schafzucht beschloss Rob J., sich vorwiegend spanische Merinos zu besorgen, deren feine Wolle sich zu einem guten Preis verkaufen ließ, und sie mit einer langfelligen englischen Rasse zu kreuzen, wie es seine Familie in Schottland getan hatte. Alden erklärte er, er werde die Tiere erst im Frühjahr kaufen, um sich die Kosten und Mühen einer Winterhaltung zu sparen. Alden war unterdessen damit beschäftigt, einen Vorrat an Zaunpfählen anzulegen, zwei Schuppen an die Blockhütte anzubauen und sich im Wald eine eigene Hütte zu errichten. Rob J. hatte Glück, dass sein Knecht so selbständig arbeiten konnte, denn er war stark beschäftigt. Die Leute in der Umgebung hatten lange ohne Arzt auskommen müssen, und es dauerte Monate, bis Rob J. die Auswirkungen der Vernachlässigung und die falsche Anwendung von Hausmitteln wiedergutgemacht hatte. Er sah Patienten mit Gicht und Krebs, Wassersucht und Skrofulöse, zu viele Kinder mit Würmern und Leute jeden Alters mit Schwindsucht. Er wurde es müde, Zähne zu ziehen. Das Zähneziehen war für ihn ähnlich bedrückend wie die Amputation eines Gliedes, denn er hasste es, einem Patienten etwas zu nehmen, das er nicht mehr ersetzen konnte. »Warten Sie bis zum Frühling, dann bekommen die Leute hier alle das Fieber. Sie werden ein Vermögen verdienen«, erzählte ihm Nick Holden fröhlich. Da die Hausbesuche Rob auf einsame, fast nicht kenntliche Pfade führten, bot Nick ihm an, ihm einen Revolver zu leihen, bis er sich selbst einen kaufen könnte.
»Es ist gefährlich unterwegs, hier gibt’s Banditen und Wegelagerer- und jetzt auch noch diese verdammten Krieger.«
»Krieger?«
»Indianer.«
»Hat man sie wieder gesehen?«
Nick blickte finster drein. Sie seien schon mehrmals gesehen worden, sagte er, musste aber einräumen, dass sie niemanden belästigt hatten. »Bis jetzt...« fügte er düster hinzu.
Rob J. kaufte sich keine Waffe, und er trug auch die von Nick nicht. Auf seinem Pferd fühlte er sich sicher. Die Stute war sehr ausdauernd, und es gefiel ihm, wie sie mit sicherem Tritt steile Flussufer hinauf- und hinunterkletterte und reißende Bäche durchquerte. Er gewöhnte sie daran, von beiden Seiten bestiegen zu werden, und sie lernte es, zu ihm zu trotten, wenn er pfiff. Quarter horses - so nannte man kräftige, ausdauernde Reitpferde, wie sie eins war - dienten vorwiegend zum Hüten der Rinderherden, und Gruber hatte der Stute bereits beigebracht, auf die geringste Gewichtsverlagerung oder die leichteste Zügelbewegung zu reagieren und -
je nachdem - schnell loszulaufen, stehenzubleiben oder zu wenden.
Eines Tages im Oktober wurde Rob J. zur Farm von Gustav Schroeder gerufen, der sich zwei Finger der linken Hand zwischen schweren Steinen eingeklemmt hatte. Unterwegs kam Rob vom Weg ab, und er hielt bei einer armseligen Hütte inmitten gut gepflegter Felder an, um nach der Farm der Schroeders zu fragen. Die Tür öffnete sich nur einen Spaltbreit, doch sofort schlug ihm ein übler Geruch entgegen, ein Gestank nach Fäkalien, abgestandener Luft und Fäulnis. Ein Gesicht spähte heraus, und er sah rote, verquollene Augen und stumpfe, schmutzverklebte Hexenhaare. »Gehen Sie weg!« befahl eine heisere Frauenstimme. Etwas von der Größe eines kleinen Hundes huschte hinter der Tür durchs Zimmer. Doch nicht etwa ein Kind? Krachend schlug die Tür zu.
Die bestellten Felder gehörten, wie sich herausstellte, den Schroeders, deren Farm Rob kurz darauf fand. Er musste dem Farmer den kleinen Finger und das letzte Glied des Ringfingers abnehmen, eine entsetzliche Qual für den Patienten. Nach der Operation erkundigte er sich bei Schroeders Gattin nach der Frau in der Hütte.
Alma Schroeder sah ein wenig verlegen drein. »Das ist nur die arme Sarah«, antwortete sie.
Der große Indianer
Die Nächte wurden kalt und kristallklar. Riesige Sterne funkelten am Himmel, dann aber bewölkte er sich und riss wochenlang nicht mehr auf. Früh im November fiel - wunderbar und zugleich schrecklich- der erste Schnee.
Dann kam der Wind, formte die tiefe, weiße Schicht und warf Verwehungen auf, die Meg zwar herausforderten, ihr aber nie den Weg versperrten. Als Rob J. sah, wie tapfer das Pferd gegen den Schnee anging, schloss er es noch mehr ins Herz. Den ganzen Dezember über und einen Großteil des Januar blieb es so bitterkalt. Auf dem Heimweg von einer Nachtwache bei fünf Kindern - drei davon hatten Diphtherie - stieß Rob J. auf zwei Indianer in einer argen Notlage. Er erkannte sofort die beiden Männer, die ihm beim Gambespielen vor Nick Holdens Hütte zugehört hatten. Drei tote Schneehasen zeigten, dass sie auf der Jagd gewesen waren. Eins ihrer Pferde war gestolpert, hatte sich dabei einen Vorderlauf an der Fessel gebrochen und seinen Reiter, den Sauk mit der riesigen Hakennase, unter sich begraben. Dessen Begleiter, der große Indianer, hatte das Tier sofort getötet und ihm den Bauch aufgeschlitzt, dann den Verletzten unter dem Kadaver hervorgezerrt und in die dampfende Bauchhöhle gelegt, damit er nicht erfror. »Ich bin Arzt, vielleicht kann ich helfen.«
Die beiden verstanden kein Englisch, doch der große Indianer machte keine Anstalten, Rob J. von der Untersuchung des Verletzten abzuhalten. Der Arzt brauchte nur kurz unter die zerlumpte Fellkleidung zu greifen, um festzustellen, dass die rechte Hüfte nach hinten ausgerenkt war. Der Ischiasnerv war verletzt, denn der Fuß hing schlaff herunter, und als Rob dem Jäger den Lederschuh auszog, um ihn mit der Messerspitze leicht zu stechen, konnte der Indianer die Zehen nicht bewegen. Die gesamte Muskulatur im Beckenbereich war vor Schmerz und Kälte hart und steif wie Holz. An ein Einrenken der Hüfte an Ort und Stelle war nicht zu denken.
Zu Rob J.’s Verwunderung schwang sich der große Indianer auf sein Pferd und ritt über die Prärie auf den Waldrand zu, vielleicht um Hilfe zu holen. Rob trug einen mottenzerfressenen Schaffellmantel, den er im vergangenen Winter von einem Holzfäller beim Pokern gewonnen hatte. Er zog ihn aus, deckte den Indianer damit zu und holte dann Stoffstreifen aus seiner Satteltasche, mit denen er die Beine des Patienten zusammenband, um die ausgerenkte Hüfte ruhigzustellen. Kurze Zeit später kehrte der große Indianer mit zwei kräftigen, aber biegsamen Baumstämmen zurück. Er befestigte sie zu beiden Seiten seines Pferdes und spannte einige Kleidungsstücke zwischen die Stämme, so dass eine Schleppbahre entstand, auf die sie den Verletzten legten. Obwohl der Schnee die Stöße etwas dämpfte, musste diese Art des Transports dem Mann entsetzliche Schmerzen bereiten. Es begann leicht zu graupeln, als der Zug sich in Bewegung setzte. Sie ritten am Rand des Waldstreifens am Flussufer entlang, bis der Indianer in eine Bresche zwischen den Bäumen einbog und sie das Lager der Sauks erreichten.
Konische Leder-Tipis - siebzehn zählte Rob J. später, als er die Gelegenheit dazu hatte - standen windgeschützt zwischen den Bäumen. Die Sauks waren warm gekleidet. Überall waren noch Spuren des Reservats zu sehen, denn neben den traditionellen Tierhäuten und -feilen trugen die Indianer abgelegte Kleidungsstücke von Weißen, und in einigen der Zelte standen Munitionskisten der Armee. Die Indianer hatten genug trockenes Holz für ihre Feuer, und aus den Abzugslöchern der Tipis stiegen graue Rauchfahnen in die Höhe. Doch Rob J. entging die Gier nicht, mit der viele Hände nach den drei mageren Hasen griffen, und er wusste, was die spitzen Gesichter bedeuteten, denn er hatte schon genug Hungernde gesehen. Der Verletzte wurde in eins der Tipis getragen, und Rob J. folgte ihm. »Spricht jemand Englisch?«
»Ich spreche deine Sprache.« Sein Alter war schwer zu bestimmen, denn der Sprecher trug das gleiche unförmige Fellbündel wie alle anderen und auf dem Kopf eine Kapuze aus grauem Eichhörnchenpelz, aber es war die Stimme einer Frau.
»Ich kann dem Mann helfen. Ich bin Arzt. Weißt du, was ein Arzt ist?« »Ich weiß es.« Ihre braunen Augen sahen ihn unter den Pelzfalten hervor gelassen an. Sie sagte kurz etwas in ihrer Sprache, und die anderen im Zelt traten zurück und sahen ihm zu. Rob J. nahm ein paar Äste aus dem Holzstapel und schürte das Feuer. Als er den Mann aus seiner Kleidung schälte, sah er, dass die Hüfte innerlich verdreht war. Er hob die Knie des Indianers an, bis sie ganz abgewinkelt waren, und sorgte dann mit Hilfe der Frau dafür, dass kräftige Hände den Mann am Boden festhielten. Er bückte sich und schob seine rechte Schulter unter das Knie der verletzten Seite. Dann drückte er mit aller Kraft nach oben, und mit einem deutlich hörbaren Schnappen sprang die Gelenkkugel in die Pfanne zurück. Der Indianer lag da wie tot. Während der ganzen Prozedur hatte er kaum einmal aufgestöhnt, und Rob J.
glaubte, dass er einen Schluck Whiskey mit Laudanum verdient habe. Doch beides war in seiner Satteltasche, und bevor er es holen konnte, hatte die Frau Wasser in eine Kürbisflasche gegossen, es mit einem Pulver aus einem kleinen Rehlederbeutel vermischt und es dem Mann gegeben, der es gierig trank. Sie legte ihre Hände auf die Hüfte des Mannes, sah ihm in die Augen und begann einen murmelnden Singsang in ihrer Sprache. Als Rob J. sie so sah und hörte, bekam er eine Gänsehaut. Er erkannte, dass sie die Medizinfrau des Stammes war. Oder vielleicht auch eine Art Priesterin.
In diesem Augenblick übermannten ihn nach der schlaflosen Nacht und dem Kampf gegen den Schnee die Müdigkeit, und er wankte benommen aus dem schwach erleuchteten Tipi hinaus, wo eine Menge schneebestäubter Sauks wartete. Ein triefäugiger alter Mann berührte ihn ehrfürchtig. »Cawso wabeskiou!« sagte er, und andere nahmen den Ruf auf: »Cawso wabeskiou!«.
Die Priester-Ärztin kam aus dem Tipi. Die Kapuze glitt ihr vom Kopf, und er sah, dass sie nicht alt war. »Was rufen die Leute?«
»Sie nennen dich einen weißen Schamanen«, erwiderte sie.
Von der Medizinfrau erfuhr er, dass der verletzte Mann - aus Gründen, die ihm sofort einsichtig waren –
Waucau-che, Adlernase, hieß. Den großen Indianer nannten sie Pyawanegawa, Der singend einhergeht. Als Rob J. zu seiner Blockhütte zurückritt, traf er Pyawanegawa und zwei andere Sauks, die gleich nach Waucau-ches Ankunft im Lager zu dem Pferdekadaver zurückgeritten sein mussten, um das Fleisch zu holen, bevor die Wölfe es taten. Sie hatten das tote Tier zerteilt und brachten die Fleischstücke auf zwei Packpferden zurück. Sie ritten hintereinander an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, fast so, als wäre er ein Baum.
Nach Hause zurückgekehrt, schrieb Rob J. sein Erlebnis in sein Tagebuch und versuchte, die Frau nach dem Gedächtnis zu zeichnen. Doch sosehr er sich auch anstrengte, er brachte nicht mehr zusammen als ein typisches Indianergesicht ohne Geschlecht und vom Hunger gezeichnet. Er brauchte Schlaf, aber seine Strohmatratze reizte ihn nicht. Er wusste, dass Gus Schroeder getrocknete Maiskolben zu verkaufen hatte, und Alden hatte erwähnt, dass auch Paul Gruber einen Teil seines Saatgetreides verkaufe. Er bestieg Meg und führte Monica mit sich, und noch an diesem Nachmittag kehrte er mit zwei Sack Mais und je einem mit gelben Kohlrüben und Weizen in das Lager der Sauks zurück.
Die Medizinfrau dankte nicht. Sie sah die Säcke mit den Lebensmitteln nur an, bellte einige Befehle, und schon zogen eifrige Hände die Lebensmittel in die Tipis, um sie vor Kälte und Feuchtigkeit zu schützen. Der Wind wehte der Medizinfrau die Kapuze vom Kopf. Sie war wirklich eine Rothaut: Ihr Gesicht hatte eine kräftige, gegerbt rötlichbraune Tönung. Ihre Nase hatte einen vorspringenden Höcker und beinahe negroide Löcher. Sie hatte große, schimmerndbraune Augen und einen unverhüllten Blick. Als er sie nach ihrem Namen fragte, sagte sie, sie heiße Makwa-ikwa. »Was bedeutet das auf englisch?«
»Die Bärenfrau«, antwortete sie.
Durch die kalte Zeit
Die Stümpfe der amputierten Finger von Gus Schroeder verheilten ohne Infektion. Rob J. besuchte den Farmer vielleicht zu oft, aber die Frau in der Hütte auf dem Grund der Schroeders hatte ihn neugierig gemacht. Alma Schroeder war zunächst verschlossen, doch als sie merkte, dass Rob J. wirklich helfen wollte, erzählte sie bereitwillig und mütterlich-besorgt die Geschichte der jungen Frau. Sarah war zweiundzwanzig Jahre alt, sechs Jahre zuvor mit ihrem jungen Mann Alexander Bledsoe aus Virginia nach Illinois gekommen und inzwischen Witwe. Zwei Frühjahre lang hatte Alexander die widerspenstige, tief durchwurzelte Erde gepflügt und sich mit seinem Ochsengespann abgemüht, um seine Felder so groß wie möglich zu machen, bevor das Präriegras ihm im Sommer über den Kopf wuchs. Im Mai seines zweiten Jahres im Westen erkrankte er an der Illinois-Krätze und starb an dem mit ihr verbundenen Fieber.
»Im folgenden Frühjahr versuchte sie ganz alleine zu pflügen und zu säen«, erzählte Alma. »Sie brachte auch eine kleine Ernte ein und erweiterte ihr Feld ein Stückchen, aber auf die Dauer schaffte sie es einfach nicht. In diesem Sommer kamen Gus und ich aus Ohio. Wir trafen eine Vereinbarung: Sie überlässt GUS ihre Felder, und wir versorgen sie mit Maismehl, Gartengemüse und Feuerholz.«
»Wie alt ist das Kind?«
»Zwei Jahre«, antwortete Alma Schroeder ungerührt. »Sie hat nie was gesagt, aber wir glauben, dass Will Mosby der Vater war. Will und Frank Mosby, zwei Brüder, haben ein Stückchen weiter Flussabwärts gewohnt.
Als wir herkamen, war Frank Mosby viel mit ihr zusammen. Wir waren froh. Hier in der Wildnis braucht eine Frau einen Mann.« Alma seufzte verächtlich. »Diese Brüder! Einer schlimmer als der andere. Frank Mosby versteckt sich vor dem Gesetz. Will wurde bei einem Streit in einem Saloon getötet, kurz bevor das Baby kam.
Ein paar Monate später wurde Sarah krank.«
»Viel Glück hat sie wohl nicht.«
»Überhaupt kein Glück. Sie ist sehr krank. Sie stirbt am Krebs, sagt sie. Manchmal hat sie solche Bauchschmerzen, dass sie - Sie wissen ja- das Wasser nicht halten kann.«
»Was ist mit ihrem Stuhlgang?«
Alma Schroeder wurde rot. Über ein unehelich geborenes Kind konnte man reden, das gehörte zu den Wechselfällen des Lebens, doch war sie es, außer mit Gus, nicht gewöhnt, mit einem Mann Körperfunktionen zu besprechen, nicht einmal mit einem Arzt.
»In Ordnung. Es ist nur das Wasser... Sie will, dass ich den Jungen nehme, wenn sie stirbt. Aber wir haben doch schon fünf Mäuler zu stopfen...« Sie sah ihn scharf an. »Können Sie ihr was gegen die Schmerzen geben?«
Ein Krebskranker hatte die Wahl zwischen Whiskey und Opium.
Beides konnte sie nicht nehmen, wenn sie das Kind versorgen wollte.
Doch als Rob J. die Schroeders verließ, hielt er bei ihrer Hütte, die verschlossen und unbewohnt aussah, an.
»Mrs. Bledsoe!« rief er und klopfte an die Tür.
Nichts rührte sich.
»Mrs. Bledsoe! Ich bin Rob J. Cole. Ich bin Arzt!« Er klopfte noch einmal.
»Gehen Sie weg!«
»Ich sagte, ich bin Arzt. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
»Gehen Sie weg! Gehen Sie weg! Gehen Sie doch weg!«
Gegen Ende des Winters war es auch in seiner Hütte etwas gemütlicher geworden. Wohin er auch kam, besorgte er sich häusliche Dinge: einen eisernen Topf, zwei Blechnäpfe, eine farbige Flasche, eine irdene Schüssel, Holzlöffel. Einiges kaufte er, anderes nahm er als Bezahlung, wie etwa die beiden alten, aber praktischen Patchwork-Decken. Die eine hängte er als Schutz gegen die Zugluft an die Nordwand, und die andere zierte das Bett, das Alden Kimball für ihn gezimmert hatte. Alden hatte ihm außerdem einen dreibeinigen Hocker und eine niedere Bank für den Platz vor dem Kamin geschreinert und kurz vor dem ersten Schnee ein knapp meterhohes Stück von einem Platanenstamm in die Hütte gerollt und aufgestellt. Er nagelte ein paar Bretter drauf, über die Rob eine alte Wolldecke breitete. An diesem Tisch thronte er wie ein König auf seinem besten Möbelstück, einem Stuhl mit einer Sitzfläche aus geflochtener Hickoryrinde. Hier aß er seine Mahlzeiten, oder er las vor dem Zubettgehen beim flackernden Licht einer Talglampe in seinen Büchern und Journalen. Der Kamin aus Flusssteinen und Lehm hielt die kleine Hütte warm. Darüber hingen seine Flinten an hölzernen Haken, und von den Dachsparren baumelten Kräutersträuße, Zwiebel- und Knoblauchzöpfe, Fäden mit getrockneten Apfelscheiben, eine Hartwurst und ein schwarzgeräucherter Schinken. In einer Ecke stapelten sich Werkzeuge, die er alle mit mehr oder weniger Geschick selbst angefertigt hatte.
Die Gambe spielte er nur selten. Meistens war er zu müde, um für sich alleine zu musizieren. Am 2. März kamen ein Brief von Jay Geiger und ein Paket mit Schwefelpuder in der Kutschenstation von Rock Island an. Geiger schrieb, was Rob J. über das Land in Holden’s Crossing berichtet habe, sei mehr, als er und seine Frau sich erhofft hätten. Das Geld für die Anzahlung auf das Land habe er Nick Holden bereits überwiesen, und er werde alle weiteren Zahlungen an das staatliche Grundamt übernehmen. Leider könnten sie aber in der nächsten Zeit nicht nach Illinois kommen, da Lillian wieder schwanger sei: »Ein unerwartetes Ereignis, das uns mit Freude erfüllt, aber auch die Abreise von hier verzögert.« Sie wollten warten, bis das zweite Kind geboren und groß genug wäre, um die beschwerliche Reise über die Prärie zu überstehen.
Rob J. las den Brief mit gemischten Gefühlen. Es freute ihn, dass Jay seiner Empfehlung vertraute und eines Tages sein Nachbar sein würde. Doch es erfüllte ihn auch mit stiller Verzweiflung, dass dieser Tag noch nicht in Sicht war. Er hätte viel darum gegeben, mit Jason und Lillian zusammensitzen und Musik machen zu können, die ihn tröstete und seine Seele erfreute. Die Prärie war ein riesiges stummes Gefängnis, und die meiste Zeit war er darin allein. Er beschloss, sich einen Hund zuzulegen.
Zur Zeit der Wintersonnenwende waren die Sauks wieder notleidend und hungrig. Gus Schroeder wunderte sich laut, weshalb Rob J. noch einmal zwei Sack Mais kaufen wolle, drang jedoch nicht weiter in ihn, als Rob nicht darauf einging. Die Indianer akzeptierten das Maisgeschenk wie das erstemal schweigend und ohne sichtbare Gefühlsäußerung. Er brachte Makwa-ikwa ein Pfund Kaffee und machte es sich zur Gewohnheit, sie gelegentlich zu besuchen und mit ihr am Feuer zu sitzen. Sie mischte den Kaffee mit getrockneten wilden Wurzeln, bis er nicht mehr wie das Getränk schmeckte, das er gewohnt war. Sie tranken diesen Kaffee schwarz; er war nicht gut, aber heiß, und er schmeckte irgendwie indianisch. Mit der Zeit lernten sie einander kennen. Makwa-ikwa hatte in einer Mission für Indianerkinder in der Nähe von Fort Crawford vier Jahre lang die Schule besucht. Sie konnte ein wenig lesen und hatte schon von Schottland gehört, doch seine Vermutung, dass sie Christin sei, korrigierte sie. Ihr Volk betete Sewanna, den Hauptgott, und andere Manitus an, und sie erzählte ihm von den alten Riten.
Er erkannte, dass sie vor allem Priesterin war, und das half ihr, eine gute Heilerin zu sein. Sie wusste alles über die Arzneipflanzen, die in der Gegend wuchsen, und von ihren Zeltstangen hingen Büschel getrockneter Heilkräuter. Er sah ihr einige Male zu, wie sie die Sauks behandelte. Zuerst kniete sie sich neben den kranken Indianer und spielte leise auf ihrer Trommel, die aus einem zu zwei Dritteln mit Wasser gefüllten und mit einer gegerbten, dünnen Tierhaut bespannten Tonkrug bestand. Sie rieb das Trommelfell mit einem gebogenen Stab.
Dabei entstand ein leiser, dumpf dröhnender Ton, der mit der Zeit eine einschläfernde Wirkung hatte. Dann legte sie beide Hände auf den zu heilenden Teil des Körpers und sprach zu dem Kranken in ihrer Sprache. Rob erlebte, wie sie auf diese Weise einem jungen Mann die Wirbelsäule wieder einrenkte und die Knochenschmerzen einer alten Frau linderte.
»Wie lässt du mit deinen Händen den Schmerz verschwinden?« Sie schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht erklären.« Rob J. nahm die Hände der alten Frau in die seinen. Obwohl die Schamanin ihr die Schmerzen genommen hatte, spürte er, dass ihre Lebenskräfte versiegten, und er sagte Makwa-ikwa, dass die Frau nur noch wenige Tage zu leben habe. Als er fünf Tage später wieder in das Lager der Sauks kam, war die alte Frau tot.
»Woher hast du es gewusst?« fragte Makwa-ikwa. »Der herannahende Tod... Einige aus meiner Familie können ihn spüren. Es ist eine Gabe. Ich kann es nicht erklären.«
Also glaubten sie einander einfach. Er fand sie außergewöhnlich interessant und ganz anders als alle Menschen, die er kannte. Von Anfang an herrschte eine körperlich-erotische Spannung zwischen ihnen. Meistens saßen sie an dem kleinen Feuer in ihrem Tipi, tranken Kaffee und unterhielten sich. Eines Tages versuchte er, ihr von Schottland zu erzählen, konnte aber nicht nachvollziehen, wieviel sie verstand. Immerhin hörte sie aufmerksam zu und stellte ihm hin und wieder Fragen nach wilden Tieren oder Feldfrüchten. Sie erklärte ihm die Stammesstrukturen der Sauks, und da war es an ihr, geduldig zu sein, denn er fand diese sehr kompliziert. Das Volk der Sauks war unterteilt in zwölf Stämme ähnlich den schottischen Clans, nur dass sie statt McDonald, Bruce oder Stewart folgende Namen trugen: Nama-wuck (Stör), Muc-kissou (Weißkopfadler), Pucca-hummowuck (Gelbbarsch), Macco Pennyack (Bärenkartoffel), Kiche Cumme (Großer See), Payshake-issewuck (Hirsch), Pesshe-peshewuck (Panther), Waymeco-uck (Donner), Muck-wuck (Bär), Me-seco (Schwarzbarsch), Aha-wuck (Schwan), und Muhwa-wuck (Wolf). Die Stämme lebten ohne Rivalität zusammen, doch jeder Sauk-Mann gehörte zu einer von zwei sogenannten Hälften, die miteinander in beständigem Wettstreit lagen, den Keeso-qui, den Langen Haaren, oder den Osh-Cush, den Tapferen Männern. Jeder erstgeborene Junge wurde in die Hälfte seines Vaters aufgenommen, jeder zweitgeborene wurde ein Mitglied der anderen, und so ging es abwechselnd weiter, damit die Hälftenzugehörigkeit in jedem Clan und jeder Familie etwa gleich verteilt war.
Sie wetteiferten miteinander beim Spielen, bei der Jagd, beim Kindermachen, im Vollbringen kriegerischer Heldentaten und anderer Bravourstücke. Der heftige Wettstreit sorgte dafür, dass die Sauks stark und mutig blieben, aber es gab keine Blutsfehden zwischen den Hälften. Rob J. fiel auf, dass dies ein vernünftigeres System war als jenes, das er kannte, ein viel zivilisierteres, waren doch in den vielen Jahrhunderten wüster Clansfehden Tausende von Schotten umgekommen.
Wegen der knapp bemessenen Vorräte und eines gewissen Mißtrauens gegenüber der Speisenzubereitung der Indianer vermied Rob J. es zunächst, mit Makwa-ikwa zu essen. Doch als die Jäger ein paarmal erfolgreich waren, probierte er das Essen und fand es genießbar. Er sah, dass die Sauks mehr Schmorgerichte als Braten aßen und, sofern sie die Wahl hatten, rotes Fleisch und Geflügel dem Fisch vorzogen. Makwa-ikwa erzählte ihm von Hundefestmahlen, die religiösen Charakter hatten, da die Manitus Hundefleisch sehr schätzten. Je beliebter der Hund als Haustier gewesen sei, so erklärte sie ihm, desto wertvoller sei er als Opfer bei einem solchen Hundemahl und desto wirksamer der Zauber. Rob konnte seinen Abscheu nicht verbergen. »Findet ihr es nicht befremdlich, einen Haushund zu essen?«
»Nicht so befremdlich wie Fleisch und Blut Christi zu essen.« Er war ein normaler junger Mann, und manchmal wurde er trotz der vielen Tuch- und Fellschichten, die sie beide gegen die Kälte schützten, sexuell so erregt, dass es schmerzte. Wenn sie ihm eine Tasse Kaffee gab und dabei ihre Finger sich berührten, war das für ihn wie ein Drüsenschock. Einmal hielt er ihre kalten, kantigen Hände in den seinen und erschrak über die Vitalität, die er in ihnen spürte. Er untersuchte ihre kurzen Finger, die raue, rötlichbraune Haut und die helleren Schwielen auf ihren Handflächen. Er fragte sie, ob sie ihn einmal in seiner Hütte besuchen wolle. Sie sah ihn schweigend an und zog ihre Hände zurück. Sie sagte nicht, dass sie ihn nicht besuchen wolle, aber sie kam auch nie.
Wenn Rob J. im Frühjahr zum Indianerdorf ritt, musste er den Schlammlöchern ausweichen, die überall entstanden, weil die Prärie, obwohl sie wie ein Schwamm alles aufsog, die Unmenge an Schmelzwasser nicht vollständig aufnehmen konnte. Bei einem dieser Besuche brachen die Sauks gerade ihr Winterlager ab, und er folgte ihnen sechs Meilen zu einer offenen Stelle, wo die Indianer statt ihrer gemütlichen Winter-Tipis bedonoso-te aufbauten, Langhäuser aus ineinander verflochtenen Ästen, durch die der milde Sommerwind wehen konnte. Es gab einen guten Grund für die Verlegung des Lagers: Die Sauks kannten keine sanitären Einrichtungen, und das Winterlager stank nach ihren Fäkalien. Dass sie den harten Winter überlebt hatten und jetzt ins Sommerlager zogen, hob ganz offensichtlich die Stimmung der Indianer, denn überall sah Rob J. junge Männer ringen, laufen oder »Stock und Ball« spielen, ein Spiel, das er noch nie gesehen hatte. Dazu benutzte man kräftige Holzstöcke mit einem Netz aus geflochtenen Lederstreifen an einem Ende und eine mit Wildleder überzogene Holzkugel. Im vollen Lauf schleuderte ein Spieler den Ball aus dem Netz heraus, und ein anderer fing ihn geschickt mit seinem Netz auf. Indem sie den Ball auf diese Weise von einem zum anderen weitergaben, legten sie beträchtliche Entfernungen zurück. Es war ein schnelles und ziemlich raues Spiel. Hatte ein Spieler den Ball, versuchten die Gegner ihn aus dessen Netz herauszuholen, indem sie mit ihren Stöcken nach ihm schlugen und dabei oft Körper oder Gliedmaßen des Gegners trafen. Oft stolperten die Spieler im Eifer des Gefechts oder stießen sich gegenseitig zu Boden. Als einer der vier Spieler bemerkte, wie fasziniert Rob das Spiel beobachtete, winkte er ihm und gab ihm seinen Stock.
Die anderen lachten und nahmen ihn sehr schnell in das Spiel auf, das für ihn allerdings mehr Körperverletzung denn Sport zu sein schien. Er war größer als die drei anderen und muskulöser. Bei der ersten Gelegenheit schleuderte der Ballträger die harte Kugel mit einem Schlenker seines Handgelenks in Robs Richtung. Der streckte sein Netz erfolglos danach aus und musste laufen, um den Ball aufzuheben. Schon aber steckte er mitten in einem wüsten Kampf, in einem Hagel aus Stockschlägen, von denen die meisten auf seinem Körper zu landen schienen. Die schnellen Ballwechsel verwirrten ihn. Wehmütig musste er erkennen, dass dies Fertigkeiten waren, die er nicht besaß, und er gab bald darauf den Stock seinem Besitzer zurück.
Während er in Makwa-ikwas Langhaus geschmorten Hasen aß, erzählte die Medizinfrau ihm leise, dass ihn die Sauks um einen Gefallen baten. Während des ganzen Winters hatten sie in ihren Fallen Pelztiere gefangen, so dass sie jetzt zwei Stapel erstklassiger Nerze, Füchse, Biber und Bisame besaßen. Sie wollten die Felle gegen Saatgut eintauschen.
Das überraschte Rob J., denn er hatte die Indianer nicht für Ackerbauern gehalten.
»Wenn wir die Felle selbst zu einem weißen Händler bringen, werden wir betrogen«, erzählte Makwa-ikwa. Sie sagte es ohne Bitterkeit, so als würde sie eine beliebige Tatsache feststellen. Also führten er und Alden Kimball eines Morgens zwei mit Fellen beladene Packpferde und ein Pferd ohne Last den weiten Weg nach Rock Island.
Rob J. verhandelte hartnäckig mit dem Ladenbesitzer und bekam schließlich für die Felle fünf Sack Saatmais -
einen Sack kleinen Frühmais, zwei Sack größeren, hartkernigen Mais für Maisbrei und zwei Sack großkolbigen, weichkernigen Mehlmais - sowie je einen Sack Samen für Bohnen, Feld- und Moschuskürbisse. Zusätzlich erzielte er noch zwanzig Golddollar, die er den Sauks als Notgroschen geben konnte, falls sie noch andere Dinge von den Weißen kaufen mussten. Alden war voller Bewunderung für die Geschäftstüchtigkeit seines Arbeitgebers, weil er glaubte, Rob J. habe den komplizierten Handel auf eigene Rechnung abgeschlossen.
Die Nacht verbrachten sie in Rock Island. In einem Saloon hörte sich Rob bei zwei Gläsern Ale die prahlerischen Erinnerungen alter Indianerkämpfer an. »Die ganze Gegend hier hat früher den Sauks und den Fox gehört«, sagte der rotäugige Barkeeper. »Die Sauks nannten sich selber Osaukie und die Fox Mesquakie.
Gemeinsam gehörte denen das ganze Land zwischen Mississippi im Westen, dem Lake Michigan im Osten, dem Wisconsin im Norden und dem Illinois River im Süden -verdammte sechzig Millionen Morgen bestes Farmland.
Ihre größte Siedlung war Sauk-e-nuk, eine richtige Stadt mit Straßen und einem Platz im Zentrum. Elftausend Sauks haben dort gelebt und dreitausend Morgen zwischen dem Rock River und dem Mississippi bestellt. Na, aber wir haben nicht lang gebraucht, um die roten Schweine zu überrennen und uns das gute Land unter den Nagel zu reißen.« Die Erzählungen waren Anekdoten über blutige Kämpfe mit Schwarzer Falke und seinen Kriegern, wobei die Indianer immer dämonisch, die Weißen tapfer und edel waren. Erzählt wurden sie von Veteranen der großen Indianerfeldzüge, und es handelte sich dabei vorwiegend um leicht durchschaubare Lügen, Träume davon, was hätte sein können, wenn die Erzähler bessere Soldaten gewesen wären. Rob J. merkte, dass die meisten Weißen in den Indianern etwas anderes sahen als er. Fast alle redeten, als wären die Sauks wilde Tiere, die man mit vollem Recht fortgejagt hatte, um Platz zu machen für zivilisierte Menschen. Sein Leben lang hatte Rob nach der geistigen Freiheit gesucht, die er bei den Sauks entdeckte. Diese Freiheit hatte er vor Augen, als er in Schottland das Pamphlet verfasste, und diese Freiheit hatte er sterben zu sehen geglaubt, als Andrew Gerould gehängt wurde. Und jetzt hatte er sie bei einem bunt zusammengewürfelten Haufen fremdartiger Rothäute entdeckt. Er wollte nichts beschönigen, schließlich kannte er den Dreck im Sauk-Lager und die Rückständigkeit ihrer Kultur in einer Welt, die sie längst überholt hatte.
Während er langsam sein Ale trank und Interesse an den alkoholisierten Geschichten über Bauchaufschlitzen, Skalpieren, Plündern und Vergewaltigen vortäuschte, wusste er, dass Makwa-ikwa mit ihren Sauks das Beste war, was er bisher in diesem Land kennengelernt hatte.
Stock und Ball
Eines Tages stieß Rob J. auf Sarah Bledsoe und ihr Kind, so wie man wilde Tiere in seltenen Augenblicken der Ruhe überrascht. Ähnlich hatte er Vögel nach dem Gefiederputzen in verzückter Zufriedenheit in der Sonne dösen sehen. Die Frau und ihr Sohn saßen mit geschlossenen Augen vor ihrer Hütte auf der Erde. Geputzt hatte sie sich allerdings nicht. Ihre langen blonden Haare waren stumpf und verfilzt, und das zerdrückte Kleid, das um ihren dürren Körper hing, war schmutzig. Ihre Haut war teigig und schlaff, die Blässe verriet ihre Krankheit. Der schlafende kleine Junge hatte blonde Haare, die wie die seiner Mutter schon lange keinen Kamm mehr gesehen hatten. Als Sarah ihre blauen Augen aufschlug und Rob J. sah, malten sich auf ihrem Gesicht Überraschung, Angst, Bestürzung und Wut. Wortlos nahm sie ihren Sohn auf den Arm und lief ins Haus. Rob J. ging ihr nach bis zur Hüttentür. Allmählich gingen ihm seine wiederholten Versuche, durch diese Holzplanke mit ihr zu sprechen, auf die Nerven.
»Mrs. Bledsoe, bitte! Ich möchte Ihnen helfen«, rief er, aber ihre einzige Antwort war ein angestrengtes Ächzen und das Geräusch eines schweren Balkens, der die Tür verriegelte.
Die Indianer brachen die Scholle nicht mit einer Pflugschar auf, wie die weißen Siedler dies taten. Statt dessen suchten sie sich dünne Stellen in der Grasdecke, gruben mit angespitzten Pflanzstöcken Löcher und steckten den Samen hinein. Dichtere Grasstellen bedeckten sie mit Gestrüpphaufen, unter denen das Gras innerhalb eines Jahres verfaulte und so für das nächste Frühjahr neuen Ackerboden freigab. Als Rob J. das Sommerlager der Sauks das nächstemal besuchte, war der Mais ausgesät, und eine festliche Stimmung lag in der Luft.
Makwa-ikwa erzählte ihm, dass sie nach der Aussaat ihr größtes Fest feierten, den Kranichtanz. Begonnen wurde es mit einem Stock-und-Ball-Spiel, an dem alle männlichen Sauks teilnahmen. Mannschaften brauchten nicht erst aufgestellt zu werden, selbstverständlich spielte eine Hälfte gegen die andere. Die Langen Haare zählten ein halbes Dutzend Männer weniger als die Tapferen Männer. Das Spiel sollte für Rob J. wenig glücklich ausgehen, und schuld daran war der große Indianer Pyawanegawa, Der singend einhergeht, denn während Rob mit Makwa-ikwa sprach, kam er dazu und sagte etwas zu ihr. »Er lädt dich ein, bei den Langen Haaren mitzuspielen«, sagte sie auf englisch zu Rob.
»So.« Er grinste töricht. Das war das letzte, was er tun wollte, die Geschicklichkeit der Indianer und seine eigene Unbeholfenheit waren ihm noch zu gut in Erinnerung. Die Ablehnung lag ihm bereits auf der Zunge, doch die beiden Indianer sahen ihn mit einem ganz besonderen Interesse an, und er spürte, dass die Einladung eine Bedeutung hatte, die er nicht verstand. Anstatt also abzulehnen, wie ein vernünftiger Mann es getan hätte, dankte er höflich und sagte, es freue ihn, für die Langen Haare spielen zu dürfen.
In ihrem steifen Schulmädchenenglisch, das so wunderlich klang, erklärte Makwa-ikwa ihm, dass der Wettkampf im Sommerdorf beginne. Gewinnen werde die Hälfte, die es schaffe, den Ball in eine kleine Höhle am gegenüber liegenden Ufer etwa sechs Meilen Flussabwärts zu legen.
»Sechs Meilen!« Er war noch mehr erstaunt, als er erfuhr, dass es nach links und rechts keine Begrenzung gab.
Makwa-ikwa gab ihm jedoch zu verstehen, dass ein Spieler, der absichtlich auswich, um einem Gegner zu entgehen, nicht gerade mit Ehren überhäuft werde. Für Rob war es ungewohnter Wettkampf, ein fremdes Spiel, der Ausdruck einer wilden Kultur. Warum machte er also mit? Er fragte sich das unzählige Male in dieser Nacht, die er in Pyawanegawas Langhaus verbrachte, da das Spiel bald nach Sonnenaufgang beginnen sollte. Das Langhaus maß knapp zehn Meter in der Länge und gute drei Meter in der Breite, und es bestand aus ineinander verflochtenen Ästen, die außen mit Ulmenrinde abgedeckt waren. Es gab keine Fenster, und die Türöffnungen an den Schmalseiten waren mit Büffelfellen verhängt, deren lose Befestigung genügend Luft hereinließ. Es hatte acht Kammern, vier zu jeder Seite des Mittelgangs. Pyawanegawa und seine Frau Mond schliefen in einer, Monds Eltern in einer anderen, und eine war von ihren zwei Kindern belegt. Die restlichen Kammern dienten als Lagerräume, und in einer davon verbrachte Rob J. eine schlaflose Nacht. Er starrte durch den Rauchabzug im Dach hinauf zu den Sternen und lauschte: Seufzen, das Stöhnen schlechter Träume, Furzen und mehrmals Geräusche, die nur von einer heftigen und leidenschaftlichen Kopulation stammen konnten, obwohl er von seinem Gastgeber nicht einmal ein Grunzen hörte. Nach einem Frühstück aus Maisbrei, in dem er Ascheklümpchen schmeckte und andere Dinge glücklicherweise nicht erkannte, unterwarf er sich am Morgen der zweifelhaften Ehre. Nicht alle Langen Haare hatten lange Haare, die Mannschaften unterschieden sich jedoch durch ihre Bemalung. Die Langen Haare waren mit schwarzer Farbe gekennzeichnet, einer Mischung aus Tierfett und Holzkohle, die Tapferen Männer schmierten sich mit weißem Lehm ein. Überall im Lager tauchten Männer ihre Finger in die Farbtöpfe und verzierten ihre Haut. Pyawanegawa malte sich schwarze Streifen auf Gesicht, Brust und Arme, um dann Rob die Farbe anzubieten. Warum nicht? fragte er sich leichtfertig und schaufelte mit zwei Fingern Farbe aus dem Topf wie ein Mann, der Erbsenbrei ohne einen Löffel isst.
Die Masse fühlte sich körnig an, als er sich mit ihr über Stirn und Wangen strich. Wie ein nervöser männlicher Schmetterling bei der Verpuppung ließ er sein Hemd zu Boden fallen und beschmierte seinen Oberkörper.
Pyawanegawa musterte Robs schwere schottische Stiefel, verschwand kurz und kam mit einem Arm voll leichter Hirschlederschuhe, wie alle Sauks sie trugen, wieder zurück. Rob probierte mehrere Paare, doch er hatte große Füße, noch größere als Pyawanegawa. Die beiden lachten über Robs Schuhgröße, und der große Indianer gab schließlich auf und ließ ihm seine schweren Stiefel. Pyawanegawa gab ihm einen Netzstock, dessen Stab aus Hickoryholz so kräftig war wie ein Knüppel, und er bedeutete Rob, ihm zu folgen. Die Wettkämpfer versammelten sich auf dem freien Platz in der Mitte der Langhäuser. Makwa-ikwa rief etwas in ihrer Sprache, vermutlich ein Gebet, und bevor Rob J. richtig merkte, was passierte, hatte sie schon ausgeholt und den Ball in die Luft geworfen, der jetzt in einer trägen Parabel auf die Spieler zugeflogen kam. Mit wüsten Stockschlägen und wilden Schreien wurde er empfangen, einige Spieler ächzten vor Schmerzen auf. Zu Rob J.s Enttäuschung fing einer von den Tapferen Männern den Ball in seinem Netz, ein langbeiniger Jugendlicher im Lendenschurz, fast noch ein Kind, aber mit den muskulösen Beinen eines erwachsenen Läufers. Er stürmte sofort los, und die anderen jagten ihm nach wie Hunde hinter einem Hasen. Jetzt waren die Schnellläufer gefragt, denn der Ball wurde einige Male zwischen gleichauf laufenden Spielern abgegeben und war bald weit von Rob entfernt.
Pyawanegawa blieb an Robs Seite. Manchmal, wenn es an der Spitze zu Kämpfen kam und die Läufer dabei langsamer wurden, holten sie auf. Pyawanegawa grunzte befriedigt, als einer von den Langen Haaren sich den Ball schnappte, doch wenige Minuten später wurde die Trophäe von den Tapferen Männern zurückerobert.
Während die Hauptgruppe am Rand des Uferwäldchens entlanglief, bedeutete Pyawanegawa Rob, ihm zu folgen, bog von der Spur der anderen ab und rannte quer über die Prärie. Ihre stampfenden Füße ließen den Tau von dem jungen Gras hochspritzen, und die Tropfen glichen Insektenschwärmen, die sich an ihre Fersen hefteten.
Wo wurde er hingeführt? Konnte er diesem Indianer trauen? Es war zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, denn er hatte sich dem Indianer bereits ausgeliefert. Er konzentrierte sich darauf, mit Pyawanegawa, der sich trotz seiner Größe sehr flink bewegte, Schritt zu halten. Bald merkte er, was der andere vorhatte: Sie liefen eine Abkürzung, um die anderen auf dem Uferweg abzufangen. Als sie endlich zu laufen aufhörten, waren Rob J.s Beine schwer wie Blei, er bekam kaum Atem und hatte Seitenstechen. Aber es war ihnen gelungen, die Flussbiegung vor den anderen zu erreichen. Wie sich zeigte, hatten sich von der Hauptgruppe Ausreißer abgesetzt. Während Rob J. und Pyawanegawa schwer atmend in einem Hickory -und Eichenwäldchen lauerten, näherten sich drei weißbemalte Läufer. Der an der Spitze hatte den Ball nicht, seinen leeren Netzstock trug er locker an der Seite wie einen Speer. Er war barfuss und trug nur eine zerfetzte Hose, die früher das braune Beinkleid eines Weißen gewesen zu sein schien. Er war kleiner als die beiden Männer in dem Wäldchen, aber sehr muskulös, und sein grimmiger Gesichtsausdruck wurde noch verstärkt, weil sein linkes Ohr abgerissen und die ganze Gesichtshälfte mit Narben bedeckt war. Rob J. spannte die Muskeln an, aber Pyawanegawa berührte seinen Arm und hielt ihn zurück, um den Vorläufer vorbeizulassen. Nicht weit hinter diesem trug der Junge von den Tapferen Männern, der den Ball zu Beginn aufgefangen hatte, die begehrte Kugel in seinem Netz. Neben ihm lief, sozusagen als Begleiter, ein kurzer, stämmiger Sauk in abgeschnittenen Hosen aus den Beständen der US-Kavallerie, blau und mit schmutziggelben Steifen an der Seite.
Pyawanegawa deutete auf Rob, dann auf den Jungen, und Rob nickte: Der Junge war seine Aufgabe. Er wusste, dass er den Überraschungsmoment ausnutzen musste, denn wenn dieser Mann ihnen davonlief, würden sie ihn nicht mehr einholen können.
So schlugen sie zu wie Blitz und Donner, und jetzt erkannte Rob J. auch, wozu die Lederriemen dienten, die man ihm vor dem Spiel um den Arm gebunden hatte. Denn so schnell, wie ein guter Schafhirte einen Bock zu Boden wirft und ihm die Beine zusammenbindet, hatte Pyawanegawa den Begleitläufer umgestoßen und ihn an Armen und Beinen gefesselt. Und das keinen Augenblick zu früh, denn der Vorläufer hatte sich umgedreht. Rob brauchte lange, um den jungen Ballträger zu fesseln, Pyawanegawa stellte sich dem Einohrigen deshalb allein entgegen. Der holte mit seinem Netzstock aus, doch Pyawanegawa wich dem Schlag beinahe verächtlich aus. Er war fast eineinhalbmal so groß wie sein Gegner und noch wilder entschlossen als dieser. Schnell hatte er ihn zu Boden geworfen und gefesselt, fast ehe Rob J. mit seinem Gefangenen fertig war.
Pyawanegawa hob den Ball auf und warf ihn in Rob J.s Netz. Wortlos und ohne die drei Gefesselten eines Blickes zu würdigen, lief er davon. Rob J., der den Ball in seinem Netz hielt wie eine Bombe mit brennender Lunte, rannte ihm nach.
Sie waren schon eine Weile unbehelligt gelaufen, als Pyawanegawa plötzlich anhielt und Rob J. zu verstehen gab, dass sie die Stelle erreicht hatten, wo sie den Fluss überqueren mussten. Jetzt zeigte sich, wozu die Lederriemen noch nützlich waren, denn der Indianer band mit ihnen Robs Netzstock an dessen Gürtel fest. Dann befestigte er seinen Stock an seinem Lendengurt, zog die Hirschlederschuhe aus und warf sie beiseite. Rob J.
wusste, dass seine Füße zum Barfusslaufen zu empfindlich waren, er band seine Stiefel deshalb an den Schnürbändern zusammen und hängte sie sich um den Hals. Nun war nur noch der Ball übrig, und er steckte ihn sich vorne in die Hose. Pyawanegawa grinste und streckte drei Finger in die Höhe. Dies war zwar nicht gerade ein genialer Witz, aber er löste Robs Spannung. Der Arzt warf den Kopf zurück und lachte - ein Fehler, denn das Wasser trug das Geräusch weit und brachte die Schreie der Verfolger zurück, die nun den Standort der beiden entdeckt hatten. Sie verloren deshalb keine Zeit und sprangen in das kalte Wasser. Obwohl Rob die europäische Brustschwimmtechnik benutzte und Pyawanegawa nur wie ein Tier paddelte, schwammen sie gleich schnell.
Rob fühlte sich großartig, er kam sich zwar nicht gerade wie ein edler Wilder vor, aber er hatte keine Mühe sich vorzustellen, er sei Lederstrumpf. Am anderen Ufer angekommen, brummte Pyawanegawa ungeduldig, während Rob seine Stiefel anzog, denn schon tanzten die Köpfe der Verfolger auf dem Wasser wie Äpfel in einem Zuber.
Als Rob endlich fertig und der Ball wieder im Netz verstaut war, hatte der erste Schwimmer das Ufer schon beinahe erreicht. Sobald sie sich in Bewegung gesetzt hatten, deutete Pyawanegawa mit ausgestrecktem Finger auf die Öffnung der kleinen Höhle, die ihr Ziel war, und angesichts des dunklen Loches bot Rob noch einmal alle Kräfte auf. Ein Freudenschrei in Gälisch brach aus ihm heraus, doch leider zu früh. Ein halbes Dutzend Sauks sprang plötzlich auf den Pfad vor ihnen. Obwohl das Wasser einen Großteil der Bemalung abgewaschen hatte, waren noch Spuren weißen Lehms zu erkennen. Direkt hinter den Tapferen Männern preschten zwei von den Langen Haaren zwischen den Bäumen hervor und griffen sie an. Im fünfzehnten Jahrhundert hatte Brian Cullen, einer von Robs Vorfahren, ganz alleine einen ganzen Trupp McLaughlins in Schach gehalten, indem er sein schottisches Langschwert in einem todbringend-pfeifenden Kreis herum wirbelte. Mit zwei weniger gefährlichen, dennoch furchterregenden Kreisbahnen hielten sich nun die beiden aus Rob J.s Partei ihre Gegner vom Leib, indem sie ihre Netzstöcke herumwirbelten. So blieben nur noch drei von den Tapferen Männern, die versuchen konnten, den Ball zu ergattern. Pyawanegawa parierte geschickt einen Schlag und entledigte sich dann seines Gegners dank eines wohlplazierten Tritts mit seinem nackten Fuß.
»Genau. In den Arsch! Tritt ihn in seinen verdammten Arsch!« schrie Rob J., ohne daran zu denken, dass ihn niemand verstand. Ein Indianer stürmte wie rasend auf ihn los. Rob wich aus und trat, sobald die nackten Zehen des Angreifers in Reichweite kamen, mit seinem schweren Stiefel auf dessen Fuß. Nur noch wenige Laufschritte an seinem stöhnenden Opfer vorbei, und er war nahe genug an der Höhle. Mit einem Schlenkern seines Handgelenks beförderte er den Ball aus dem Ledernetz. Es machte nichts, dass es kein sauberer, harter Schuss wurde, sondern der Ball lediglich in das dunkle Innere kullerte. Wichtig war nur, dass er ihn dort verschwinden sah. Rob warf seinen Stock in die Luft und schrie: »Sieg! Sieg für die schwarze Partei!«
Er hörte den Schlag eher, als dass er ihn spürte. Der Netzstock des Mannes hinter ihm hatte seinen Schädel getroffen. Es war ein hartes, sattes Geräusch, ähnlich dem Klang einer doppelschneidigen Axt auf Eichenholz, wie er ihn im Holzfällerlager kennengelernt hatte. Zu seiner Verblüffung schien sich die Erde zu öffnen. Er fiel in ein tiefes Loch, wo ihn Dunkelheit umgab und wo alles endete. Sein Bewusstsein schwand so plötzlich, als würde eine Uhr angehalten.
Steinhunds Geschenk
Er merkte nichts davon, dass man ihn ins Lager zurückschleppte wie einen Sack Mehl. Als er die Augen wieder öffnete, war es dunkle Nacht. Er roch zerdrücktes Gras, gebratenes Fleisch - vielleicht ein fettes Eichhörnchen -, den Rauch des Feuers und die Weiblichkeit Makwa-ikwas, die sich über ihn beugte und ihn mit ihren uralt-jungen Augen betrachtete. Er verstand die Frage nicht, die sie ihm stellte, der entsetzliche Schmerz in seinem Kopf füllte sein Bewusstsein vollständig aus. Vom Geruch des Fleisches wurde ihm übel. Sie hatte das offenbar erwartet, denn sie hielt seinen Kopf über einen Holzkübel, damit er sich übergeben konnte.
Danach lag er schwach und keuchend da und ließ sich von ihr ein Getränk einflößen, etwas Kühles, Grünes, Bitteres. Er glaubte, Minze darin zu schmecken, aber dazu kam noch ein kräftigerer, weniger angenehmer Geschmack. Er versuchte, den Kopf wegzudrehen, doch sie hielt ihn fest und zwang ihn zu trinken wie ein Kind.
Das ärgerte ihn, und er wurde wütend auf sie. Doch bald darauf schlief er wieder ein. Wenn er später von Zeit zu Zeit aufwachte, flößte sie ihm aufs neue die bittere grüne Flüssigkeit ein. Auf diese Art und Weise, halb schlafend, halb bewusstlos oder am seltsam schmeckenden Busen von Mutter Natur saugend, verbrachte er fast zwei Tage. Am dritten Tag waren die Beule auf seinem Schädel zurückgegangen und der Kopfschmerz verschwunden. Makwa-ikwa stimmte ihm zwar zu, dass es ihm schon besser gehe, gab ihm aber noch einmal eine kräftige Dosis des Trankes, und er schlief wieder ein. Um ihn herum nahm das Fest des Kranichtanzes seinen Lauf. Manchmal hörte er den Klang von Makwa-ikwas Wassertrommel und von Stimmen, die in einer fremdartigen, gutturalen Sprache sangen. Er hörte die Geräusche von Spielen oder Wettrennen und die anfeuernden Schreie der Zuschauer. Gegen Abend öffnete er die Augen und sah im Dämmerlicht des Langhauses, wie Makwa-ikwa sich umzog. Er konzentrierte sich auf ihre sehr fraulichen Brüste, die ihn verwirrten, denn trotz der schwachen Beleuchtung konnte er Striemen und Narben erkennen, die eigenartige Symbole bildeten, runenähnliche Zeichen, die vom Brustansatz bis zu den Höfen der Warzen reichten. Obwohl er sich nicht rührte und keinen Ton von sich gab, spürte sie, dass er wach war. Einen Augenblick stand sie vor ihm, und ihre Blicke begegneten sich. Dann wandte sie ihm den Rücken zu - nicht, das ahnte er, um das dunkle, krause Dreieck zu verbergen, sondern um die geheimnisvollen Symbole auf ihrem priesterlichen Busen vor seinem Auge zu schützen. Geheiligte Brüste, sagte er sich staunend. An ihren Hüften und Hinterbacken war nichts Geheiligtes. Sie war zwar großknochig, doch er fragte sich, warum man sie Bärenfrau nannte, denn ihr Gesicht und ihre Geschmeidigkeit erinnerten ihn eher an eine mächtige Katze. Er konnte ihr Alter nicht schätzen.
Einen Augenblick lang übermannte ihn die Vorstellung, dass er sie von hinten nahm, in jeder Hand einen der dicken, schwarzen, gefetteten Zöpfe, sie reitend wie ein menschliches Pferd. Erstaunt wurde ihm bewusst, dass er vorhatte, eine rothäutige Wilde zu lieben, die wunderbarer war, als James Fenimore Cooper es sich je hätte vorstellen können, und er spürte eine heftige körperliche Reaktion. Die spontane Erektion konnte auch ein unheilvolles Symptom sein, doch er wusste, dass sie von dieser Frau verursacht wurde und nicht von einer Verletzung, weshalb sie ein Zeichen seiner Genesung war.
Er lag still da und sah zu, wie sie ein fransenbesetztes Gewand aus Hirschleder anzog. Über die rechte Schulter hängte sie sich einen an einem geflochtenen Riemen aus vier farbigen Lederstreifen befestigten Beutel. Er war mit aufgemalten Symbolen und einem Reif aus großen, leuchtenden Vogelfedern geschmückt, deren Herkunft Rob unbekannt war. Beutel und Reif lagen auf ihrer linken Hüfte auf. Einen Augenblick später war sie nach draußen verschwunden. Bald darauf hörte er von seinem Lager aus, wie ihre Stimme sich - zweifellos in einem Gebet - hob und senkte.
»Hugh! Hugh! Hugh!« kam die Erwiderung im Gleichklang der Stimmen, dann sang sie weiter. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, was sie zu ihrem Gott sagte, aber ihre Stimme jagte ihm Schauer über den Rücken, und er lauschte angestrengt, während er durch den Rauchabzug ihres Langhauses hochblickte zu den Sternen, die aussahen wie von ihrer Stimme in Brand gesetzte Eisklumpen. In dieser Nacht wartete er ungeduldig darauf, dass die Klänge des Kranichtanzes aufhörten. Er döste, wachte auf und lauschte, ärgerte sich und wartete weiter, bis schließlich die Geräusche verklangen, die Stimmen verstummten und die Festlichkeit vorüber war. Er hörte, wie jemand das Langhaus betrat, hörte das Rascheln von Kleidungsstücken, die ausgezogen und zu Boden geworfen wurden. Ein Körper legte sich seufzend neben ihn, Hände griffen nach ihm, seine Finger fühlten warmes Fleisch.
Alles geschah schweigend, nur das Einatmen von Luft, ein belustigtes Brummen, ein Keuchen waren zu hören.
Er musste nur wenig tun. Er hätte gern die Lust hinausgezögert, doch er konnte es nicht, er hatte zu lange abstinent gelebt. Sie war erfahren und geschickt, er war drängend und schnell - und danach enttäuscht. Als würde man in eine wunderbare Frucht beißen und merken, dass sie nicht das ist, was man erhofft hatte.
Als er dann im Dunkeln den Körper erkundete, schienen ihm die Brüste schlaffer, als er sie in Erinnerung hatte, und die Haut unter seinen Fingern war glatt und narbenlos. Er krabbelte zum Feuer, nahm ein glimmendes Scheit und schwenkte es, bis es brannte. Als er dann mit dieser Fackel zum Lager zurückkroch, seufzte er: Das breite, flache Gesicht, das ihn anlächelte, war in keiner Weise unerfreulich, er hatte es nur noch nie zuvor gesehen.
Am nächsten Morgen kehrte Makwa-ikwa in ihr Langhaus zurück. Sie trug wieder ihr gewohntes formloses Kleid aus verblichenem, grobem Stoff. Offensichtlich war das Kranichfest zu Ende. Rob J. lag verdrossen da, während sie den Maisbrei für das Frühstück zubereitete, und verbot ihr, ihm je wieder eine Frau zu schicken. Sie nickte auf eine höfliche, unverbindliche Art, die sie zweifellos als Mädchen gelernt hatte, wenn die christlichen Lehrer streng mit ihr sprachen. Die nächtliche Besucherin, die sie ihm geschickt habe, heiße Rauchfrau, sagte sie, und während sie den Brei kochte, erzählte sie ihm ohne Gefühlsregung, dass sie selbst nicht mit einem Mann schlafen könne, denn wenn sie es täte, würde sie ihre Heilkräfte verlieren. Verdammter Eingeborenenblödsinn, sagte er sich verzweifelt. Doch sie glaubte offensichtlich daran.
Dann dachte er darüber nach, während sie den Maisbrei aßen und ihren herben Sauk-Kaffee tranken, der noch bitterer schmeckte als sonst. Der Gerechtigkeit halber musste er eingestehen, dass auch er sie verschmähen würde, wenn der Beischlaf das Ende seines ärztlichen Praktizierens bedeutete. Gegen seinen Willen musste er die Art bewundern, wie sie die Situation gemeistert hatte. Sie hatte es so eingerichtet, dass das Feuer seiner Leidenschaft gelöscht war, bevor sie ihm offen und ehrlich sagte, wie die Dinge standen. Eine höchst ungewöhnliche Frau, gestand er sich nicht zum erstenmal ein.
An diesem Nachmittag drängten sich die Sauks in das hedonoso-te, in dem Rob die ganze Zeit gelegen hatte.
Pyawanegawa hielt eine kurze, an seine Stammesbrüder gerichtete Ansprache, doch Makwa-ikwa übersetzte sie für Rob.
»I’neni’wa. Er ist ein Mann«, sagte der große Indianer und verkündete, dass Cawso wabeskiou, der Weiße Schamane, von nun an ein Sauk und einer der Langen Haare sei. Für den Rest ihrer Tage würden alle Sauks Brüder und Schwestern von Cawso wabeskiou sein. Der Läufer von den Tapferen Männern, der ihn bewusstlos geschlagen hatte, nachdem das Stock-und-Ball-Spiel bereits gewonnen war, wurde nach vorne geschoben. Er grinste und scharrte verlegen mit den Füßen. Der Mann hieß Steinhund. Eine Entschuldigung kannten die Sauks nicht, doch sie kannten eine Entschädigung. Steinhund schenkte Rob einen Lederbeutel ähnlich dem, den Makwa-ikwa trug, nur dass er nicht mit einem Federreif, sondern mit Wildschweinborsten verziert war.
Makwa-ikwa erklärte ihm, der Beutel diene dazu, sein Medizinbündel aufzunehmen, das sogenannte mee-shome, das nie jemand gezeigt werden dürfe, weil es die Sammlung geheiligter persönlicher Dinge sei, aus der die Sauks ihre Kraft und Stärke zögen. Damit er den Beutel tragen konnte, schenkte sie ihm einen Riemen aus vier gefärbten Sehnen, einer braunen, einer orangefarbenen, einer blauen und einer schwarzen, die sie als Schultergurt an dem Beutel befestigte. »Die Stränge heißen izze«, erklärte sie ihm. »Wann immer du sie trägst, können Kugeln dich nicht verletzen, und deine Anwesenheit wird die Ernte reifen lassen und die Kranken heilen.«
Er war gerührt und gleichzeitig verlegen. »Ich bin glücklich, ein Bruder der Sauks zu sein.«
Es war ihm schon immer schwergefallen, seinen Dank auszudrücken. Als sein Onkel Ranald ihm seinerzeit den Posten eines Operationsassistenten am Universitätskrankenhaus verschafft hatte, damit er während des Studiums chirurgische Erfahrung sammeln konnte, hatte er kaum ein paar Worte herausgebracht. Und jetzt ging es ihm nicht besser. Glücklicherweise lag auch den Sauks wenig an zur Schau getragener Dankbarkeit und ebenso wenig an Abschiedszeremonien, und so machte sich keiner etwas daraus, als Rob hinausging, sein Pferd sattelte und davonritt.
Zu Hause in seiner Hütte unterhielt er sich damit, Dinge für sein geheiligtes Medizinbündel zusammenzusuchen.
Einige Wochen zuvor hatte er im Wald einen kleinen, sauberen, weißen Tierschädel gefunden. Er hielt ihn für einen Stinktierschädel, die Größe schien zu passen. Gut, und was sonst noch? Etwa den Finger eines von der Nabelschnur erdrosselten Neugeborenen? Wassermolchauge, Froschzehe, Fledermauspelz, Hundezunge? Nein, er wollte sein Medizinbündel mit großer Ernsthaftigkeit zusammenstellen. Was waren die Dinge, die sein Wesen berührten, die Schlüssel zu seiner Seele, das mee-shome, aus dem Robert Judson Cole seine Macht bezog?
Also legte er in seinen Beutel das geheiligte Erbstück der Cole-Familie, das Chirurgenmesser aus blauem Stahl, das sie Rob J.s Skalpell nannten und das immer an den ältesten Sohn ging, der den Beruf des Medicus ergriff.
Was war ihm sonst noch von seinem früheren Leben geblieben? Die kalte Luft des schottischen Hochlandes konnte er nicht in den Beutel stecken, ebensowenig die warme Geborgenheit der Familie. Er hätte gern ein Bildnis seines Vaters besessen, da er dessen Gesicht schon lange vergessen hatte. Seine Mutter hatte ihm zum Abschied eine Bibel geschenkt, die ihm aus diesem Grund sehr viel bedeutete, doch sie passte nicht in sein mee-shome. Er wusste, dass er seine Mutter nie wiedersehen würde, wahrscheinlich war sie schon tot. Ihm fiel ein, dass er versuchen könnte, sie zu zeichnen, solange ihm ihre Gesichtszüge noch vertraut waren. Die Skizze ging ihm leicht von der Hand, nur bei der Nase hatte er Schwierigkeiten, und es dauerte eine Stunde vergeblichen Bemühens, bis er sie korrekt zu Papier gebracht hatte. Dann rollte er die Zeichnung zusammen, verschnürte sie und legte sie in den Beutel.
Ein Stück Kernseife kam ebenfalls hinein, als Symbol all dessen, was ihm Oliver Wendeil Holmes über Reinlichkeit und Chirurgie beigebracht hatte. Das brachte ihn auf einen neuen Gedanken, und er nahm den Tierschädel und die Zeichnung wieder heraus. Statt dessen legte er Stoffstreifen und Verbände hinein, die wichtigsten Medikamente und jene chirurgischen Instrumente, die er bei seinen Hausbesuchen brauchte.
Am Ende war sein Beutel eine Arzttasche, die das Rüstzeug seines Berufes enthielt. Somit war es das Medizinbündel, das ihm seine Macht gab, und Rob war sehr glücklich über das Geschenk Steinhunds, das ihm der Schlag auf den Kopf eingebracht hatte.
Die Geißenjäger
Es war für Rob J. ein wichtiges Ereignis, als er seine Schafe kaufte, denn ihr Blöken war das letzte Detail, das ihm noch gefehlt hatte, um sich richtig zu Hause zu fühlen. Zuerst half er Alden bei der Arbeit mit den Merinos, doch schnell zeigte sich, dass der Knecht mit Schafen ebenso gut umgehen konnte wie mit allen Tieren, und bald konnte Alden ganz alleine Schwänze stutzen, männliche Lämmer kastrieren und die Tiere auf Räude absuchen, so als wäre er schon seit Jahren Schafhirte. Es war auch gut, dass Rob J. auf der Farm nicht gebraucht wurde, denn je weiter sich die Nachricht von der Anwesenheit eines guten Arztes verbreitete, desto größere Strecken musste er für seine Hausbesuche zurücklegen. Bald, das wusste er, würde er seinen Wirkungskreis einschränken müssen, denn Nick Holdens Traum wurde Wirklichkeit, und immer neue Familien trafen in Holden’s Crossing ein.
Nick kam eines Morgens, um sich die Herde, die er als »stinkend« abtat, anzusehen, dann nahm er Rob J.
beiseite, um ihn »in etwas Vielversprechendes einzuweihen: eine Mühle«. Einer der Neuankömmlinge war ein Deutscher namens Pfersick, ein Müller aus New Jersey. Pfersick wusste, wo er das Gerät für seine Mühle kaufen konnte, aber er hatte kein Kapital. »Neunhundert Dollar sollten reichen. Ich gebe ihm sechshundert gegen eine fünfzig-prozentige Gewinnbeteiligung. Sie geben ihm dreihundert und erhalten fünfundzwanzig Prozent - ich leihe Ihnen, was Sie brauchen -, und fünfundzwanzig lassen wir Pfersick für die Betriebskosten.« Rob hatte erst knapp die Hälfte von Holdens Kredit zurückgezahlt, und er hasste Schulden. »Wenn Sie das ganze Geld aufbringen, warum nehmen Sie dann nicht gleich fünfundsiebzig Prozent?«
»Ich will Ihr Nest auspolstern, bis Sie nicht mehr auf den Gedanken kommen, davonzufliegen. Sie sind für den Ort so wichtig wie Wasser.« Rob J. wusste, dass das stimmte. Als er mit Alden nach Rock Island geritten war, um die Schafe zu kaufen, hatte er einen Flugzettel gesehen, den Nick verteilt hatte und auf dem er die vielen Vorzüge von Holden’s Crossing anpries. Die Anwesenheit des Dr. Cole war einer der wichtigsten gewesen. Er dachte über das Angebot nach, und da er nicht glaubte, dass ihn eine Beteiligung an der Mühle als Arzt kompromittieren werde, stimmte er schließlich zu. »Partner!« rief Nick.
Sie bekräftigten das Geschäft mit einem Handschlag. Die angebotene riesige Havanna lehnte Rob J. ab. Seit er Zigarren benutzt hatte, um Nikotin anal zu verabreichen, war sein Appetit auf Tabak sehr gesunken. Als Nick sich die seine anzündete, bemerkte Rob, er sehe aus wie der perfekte Bankier.
»Das kommt früher, als Sie denken, und Sie werden einer der ersten sein, die es erfahren.« Befriedigt blies Nick den Rauch in die Luft. »Ich gehe übers Wochenende nach Rock Island zum Geißenjagen. Wollen Sie nicht mitkommen?«
»Was? Jagen in Rock Island?«
»Aber doch keine Tiere! Weiber! Na, wie war’s, alter Bock?«
»Aus Bordellen mache ich mir nichts.«
»Ich rede von privaten Damen erster Güte.«
»Na gut. Ich komme mit.« Rob J. hatte versucht, das möglichst beiläufig zu sagen, doch etwas in seiner Stimme musste verraten haben, dass er diese Dinge nicht auf die leichte Schulter nahm, denn Nick Holden grinste.
Das Stephenson Home spiegelte den Charakter einer Stadt am Mississippi, in deren Hafen jährlich fast zweitausend Dampfschiffe anlegten und an der unzählige Holzflöße von einer Drittelmeile Länge vorbeizogen.
Wenn die Flößer und Holzfäller Geld in der Tasche hatten, ging es in dem Hotel laut und manchmal gewalttätig zu. Nick Holden hatte Vorkehrungen getroffen, die ebenso kostspielig wie diskret waren: eine Suite mit zwei Schlafzimmern und einem dazwischen liegenden Speise- und Wohnzimmer. Die Damen waren Cousinen, beide mit dem Namen Dawber, und sehr davon angetan, dass ihre Gastgeber Akademiker waren. Nicks Kandidatin hieß Lettie, die von Rob Virginia. Sie waren zierlich und keck wie Spatzen, aber beide legten eine Durchtriebenheit an den Tag, die Rob skeptisch machte. Lettie war Witwe. Virginia erzählte ihm, sie habe nie geheiratet, doch als er dann ihren Körper kennenlernte, sah er, dass sie Kinder geboren hatte. Als sich die vier am nächsten Morgen zum Frühstück trafen, steckten die Frauen die Köpfe zusammen und kicherten. Virginia musste Letti von dem Präservativ erzählt haben, das Rob Old Horny nannte, und Lettie hatte es dann sicher Nick erzählt, denn als sie nach Hause ritten, erwähnte Nick das Kondom und lachte. »Wozu benützen Sie denn diese blöden Dinger?«
»Na ja, wegen Krankheiten«, antwortete Rob sanft. »Und zur Verhütung.«
»Das verdirbt doch den Spaß.«
Aber hatte es wirklich so viel Spaß gemacht? Rob musste sich eingestehen, dass er an Körper und Seele gelöster war als zuvor, und als Nick sagte, er habe die Gesellschaft genossen, erwiderte Rob, er ebenfalls, und stimmte ihm zu, dass sie wieder einmal auf Geißenjagd gehen müssten.
Als Rob J. das nächstemal am Anwesen der Schroeders vorbeiritt, sah er Gus auf einer Wiese. Der Farmer schwang trotz der amputierten Finger eine Sense, und die beiden grüßten sich. Rob war in Versuchung, an der Hütte Sarah Bledsoes einfach vorbeizureiten, weil die Frau ihm zu verstehen gegeben hatte, dass sie ihn als Eindringling betrachte, und der Gedanke an sie ihn aus der Fassung brachte. Doch im letzten Augenblick lenkte er das Pferd auf die Lichtung und stieg ab.
Er wollte gerade anklopfen, hielt aber die Hand zurück, denn von drinnen drangen deutlich vernehmbar das Jammern eines Kindes und die heisernen Schmerzensschreie einer Erwachsenen an sein Ohr. Das verhieß nichts Gutes. Er drückte die Klinke und fand die Tür unverschlossen. Der Gestank in der Hütte traf ihn wie ein Keulenschlag, und im trüben Licht konnte er Sarah Bledsoe auf dem Boden sehen. Neben ihr hockte der kleine Junge, das tränennasse Gesicht starr vor Entsetzen über den Anblick dieses riesigen Fremden, den Mund zu einem tonlosen Schrei geöffnet. Rob J. wollte das Kind auf den Arm nehmen und trösten, doch als die Frau wieder schrie, wusste er, dass er sich um sie kümmern musste.
Er kniete nieder und berührte ihre Wange. Kalter Schweiß. »Was haben Sie, Madam?«
»Es ist der Krebs. Au!«
»Wo tut es Ihnen weh, Mrs. Bledsoe?« Ihre Hände huschten wie zwei Spinnen zu ihrem Unterleib. »Ein scharfer oder ein dumpfer Schmerz?«
»Stechend! Bohrend, Sir! Es ist schrecklich!«
Er nickte. »So schrecklich, dass Ihre Blasenfunktion gestört ist und Sie den Urin nicht mehr halten können.«
Sie schloss die Augen. Der Beweis ihrer beständigen Inkontinenz stach ihm mit jedem Atemzug in Nase und Lunge. Er hatte Fragen, auf die er Antworten brauchte, und er wusste, was zu tun war. »Ich muss Sie untersuchen.«
Sie hätte sich zweifellos geweigert, doch als sie die Lippen öffnete, kam nur ein Schmerzensschrei über sie.
Sarah Bledsoe war steif vor Anspannung, doch gerade noch so beweglich, dass er sie in eine halb auf dem Bauch liegende, halb seitliche Position bringen und ihr das rechte Knie an den Körper drücken konnte.
In seiner Tasche hatte er einen kleinen Behälter mit frischem, weißem Schweineschmalz, das er als Gleitmittel benutzte. »Bitte bleiben Sie ganz ruhig. Ich bin Arzt«, sagte er, doch sie weinte mehr vor Scham denn vor Schmerz, als der Mittelfinger seiner Linken in ihre Vagina eindrang und seine rechte Hand ihren Unterbauch abtastete. Er versuchte, aus seiner Fingerspitze ein Auge zu machen, mit dem Finger zu sehen. Zuerst konnte er nichts feststellen, doch als er sich tastend dem Schambein näherte, fand er, was er erwartet hatte. Und dann wurde er noch einmal fündig.
Sanft zog er den Finger wieder heraus, gab ihr einen Lappen, damit sie sich abwischen konnte, und ging nach draußen, um sich am Bach die Hände zu waschen.
Um mit ihr zu reden, führte er sie nach draußen und setzte sie auf einen Baumstumpf. Gegen das grelle Sonnenlicht blinzelnd, saß sie da und wiegte das Kind in ihren Armen.
»Sie haben keinen Krebs.« Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er hier hätte aufhören können. »Sie leiden an Blasensteinen.«
»Dann muss ich nicht sterben?«
Er war zur Wahrheit verpflichtet. »Mit Krebs hätten Sie kaum eine Chance, aber bei Blasensteinen durchaus.« Er erklärte ihr, wie es zur Entstehung dieser mineralischen Steine in der Blase kommen konnte und dass möglicherweise einseitige Ernährung oder lang anhaltender Durchfall dafür verantwortlich war.
»Ja. Nach seiner Geburt hatte ich sehr lange Durchfall. Gibt es eine Medizin gegen diese Steine?«
»Nein. Eine Medizin, die Blasensteine auflöst, gibt es nicht. Kleine Steine werden manchmal mit dem Urin ausgeschieden. Sie haben oft scharfe Kanten, die das Gewebe verletzen, deshalb werden Sie vermutlich Blut im Urin festgestellt haben. Aber bei Ihnen sind es zwei große Steine. Zu groß, um ausgeschieden zu werden.«
»Dann schneiden Sie mich also? Um Gottes willen?« fragte sie schwach.
»Nein.« Er zögerte und überlegte, wieviel sie wissen musste. Ein Teil des Hippokratischen Eids, den er abgelegt hatte, lautete: »Ich werde keinen Menschen schneiden, der an einem Stein leidet.« Einige Schlächter ignorierten den Eid und schnitten trotzdem, wobei sie den Damm zwischen Anus und Vulva oder Hodensack durchtrennten, um die Blase öffnen und die Steine herausholen zu können. Nur wenige Opfer genasen nach einer solchen Operation vollständig, viele starben an Bauchfellentzündung, und andere blieben für ihr Leben verstümmelt, weil ein Darm- oder Blasenmuskel durchtrennt worden war. »Ich werde ein chirurgisches Instrument durch die Harnröhre in die Blase einführen. Dieses Instrument nennt man Lithotripter. Es hat am Ende eine kleine Stahlzange, mit der Steine herausgeholt oder zertrümmert werden.«
»Ist das schmerzhaft?«
»Ja, vor allem, wenn ich den Lithotripter einführe und wieder herausziehe. Aber die Schmerzen sind weniger schlimm als die, unter denen Sie jetzt leiden. Wenn die Prozedur gelingt, sind Sie vollkommen geheilt.« Es fiel ihm schwer zuzugeben, dass die größte Gefahr in seiner möglicherweise unzureichenden Fertigkeit lag. »Wenn ich bei dem Versuch, die Steine mit dieser Zange zu fassen, in die Blase zwicke und sie durchstoße oder das Bauchfell verletze, können Sie an einer Infektion sterben.« Als er ihr Gesicht betrachtete, sah er, dass sie vielleicht fünf Jahre jünger war, als er angenommen hatte. »Sie müssen entscheiden, ob ich es versuchen soll.«
In ihrer Aufregung drückte sie das Kind zu fest an sich, und es begann zu schreien. Deshalb dauerte es einen Augenblick, bis er verstand, was sie geflüstert hatte. »Bitte!«
Rob J. wusste, dass er bei der Lithotomie Hilfe brauchen werde. Er dachte daran, wie verkrampft die Frau bei der Untersuchung gewesen war, und spürte, dass nur ein weibliches Wesen ihm assistieren konnte. So ritt er von Sarah Bledsoe direkt zum nahen Farmerhaus der Schroeders und sprach mit Alma. »O nein, das kann ich nicht, niemals!« Die arme Alma erbleichte. Ihre Bestürzung wurde noch verschlimmert, weil sie echtes Mitgefühl für Sarah empfand. »Ach, Dr. Cole, bitte, ich kann das nicht.« Als er sah, dass das wirklich zutraf, versicherte er ihr, dass sie deswegen nicht in seiner Achtung sinke. Manche Leute können bei einer Operation einfach nicht zusehen. »Ist schon gut, Alma. Ich finde jemand anderen.«
Im Wegreiten überlegte er, welche Frau in der Umgebung wohl als Hilfe in Frage kam, schloss die wenigen aber eine nach der anderen aus. Heulsusen nützten ihm nichts, was er brauchte, war eine intelligente Frau mit starken Armen, eine Frau mit einem Herzen, das es ihr erlaubte, beim Anblick des Leidens standhaft zu bleiben. Auf halbem Weg zu seiner Hütte wendete er das Pferd und ritt in die Richtung des Indianerdorfes.
Die Sieben Zelte
Makwa-ikwa konnte sich an eine Zeit erinnern, als nur wenige ihres Volkes Kleidung des weißen Mannes hatten, als ein zerlumptes Hemd oder ein zerrissenes Kleid etwas Besonderes waren, weil alle anderen gegerbtes und weichgekautes Wildleder und Felle trugen. Als sie noch ein Kind in Sauk-e-nuk war - damals hieß sie Zwei Himmel -, gab es zu wenig Weiße in der Gegend, als dass sie den Lebensstil der Indianer beeinflusst hätten. In der Indianersiedlung gab es eine Armeegarnison, die eingerichtet worden war, nachdem Beamte in St. Louis einige Mesquakies und Sauks betrunken gemacht und sie gezwungen hatten, eine Urkunde zu unterzeichnen, die sie auch nüchtern nicht hätten lesen können. Zwei Himmels Vater hieß Grüner Büffel. Er erzählte ihr und ihrer Schwester Meci-ikwawa, Große Frau, die Weißen, die mookamonik, hätten, als sie den Armeeposten bauten, die besten Beerenbüsche der Sauks zerstört. Grüner Büffel stammte aus dem Bären-Clan, eine Herkunft, die eigentlich zum Führer bestimmte, doch er hatte keine Lust, Häuptling oder Medizinmann zu sein. Trotz seines geheiligten Namens - er leitete sich von einem Manitu ab - war er ein einfacher Mann, der sich Respekt erwarb, weil er gute Ernten einbrachte. Als er jung war, hat er gegen die Iowas gekämpft und sich dabei als sehr mutig erwiesen. Er war nicht wie andere, die immer prahlten, aber als ihr Onkel Kurzes Horn starb, erfuhr Zwei Himmel die Wahrheit über ihren Vater. Kurzes Horn war der erste Sauk, den sie kannte, der sich mit dem Gift, das die mookamonik Ohio-Whiskey und ihre Leute Pfefferwasser nannten, zu Tode trank. Die Sauks begruben ihre Toten und legten sie nicht nur in Baumgabeln wie andere Stämme. Als sie Kurzes Horn in die Erde senkten, schwang ihr Vater zornig seine pucca-maw, seine Kriegskeule, und schlug mit ihr auf den Rand des Grabes. »Ich habe im Krieg drei Männer getötet und schenkte ihre Seelen meinem Bruder, der hier liegt, damit sie ihm in der anderen Welt als Sklaven dienen«, sagte er, und so erfuhr Zwei Himmel, dass ihr Vater früher ein Krieger gewesen war. Ihr Vater war sanft und gütig, ein Arbeiter. Anfangs bestellten er und ihre Mutter Matapya nur zwei Felder mit Mais, Feld- und Moschuskürbissen, doch als der Rat sah, dass er ein guter Farmer war, gab man ihm noch zwei Felder. Die Schwierigkeiten begannen, als Zwei Himmel zehn Jahre alt war. Ein Weißer namens Hawkins kam in die Gegend und baute sich neben einem Maisfeld ihres Vaters eine Hütte. Das Feld, auf dem Hawkins sich ansiedelte, lag brach, denn der frühere Bebauer, ein Sauk, war gestorben, und der Rat hatte es noch keinem anderen zugewiesen. Hawkins hatte Pferde und Kühe mitgebracht. Die Felder waren nur durch Buschwerk und Rainhecken voneinander getrennt, und seine Pferde drangen in das Feld von Zwei Himmels Vater ein und fraßen seinen Mais. Grüner Büffel fing die Pferde ein und brachte sie zu Hawkins zurück, aber am nächsten Morgen waren sie wieder im Maisfeld. Er beschwerte sich, doch der Rat wusste nicht, was er tun sollte, denn es hatten sich inzwischen fünf weitere Familien angesiedelt und das Land Rock Island getauft, jenes Land, das die Sauks seit mehr als hundert Jahren bestellten.
Grüner Büffel behalf sich nun damit, Hawkins’ Tiere auf seinem eigenen Grund anzubinden, anstatt sie zurückzubringen, und bekam deshalb bald Besuch vom Besitzer des Handelspostens in Rock Island, einem Weißen namens George Davenport. Davenport war der erste Weiße gewesen, der sich auf Sauk-Gebiet angesiedelt hatte, und das Volk vertraute ihm. Er sagte zu Grüner Büffel, er müsse die Pferde zurückgeben, sonst würden die mookamonik ihn einsperren, und Grüner Büffel tat, was ihm sein Freund Davenport geraten hatte.
In jenem Herbst, es war das Jahr 1831, zogen die Sauks wie gewohnt in ihr Winterlager in Missouri. Als sie im Frühjahr nach Sauk-e-nuk zurückkehrten, mussten sie feststellen, dass sich noch mehr weiße Familien auf ihren Feldern angesiedelt hatten. Rainhecken waren zerstört und Langhäuser niedergebrannt. Der Rat musste nun etwas unternehmen, und er wandte sich deshalb an Davenport, ferner an Felix St. Vrain, den Indianerbevollmächtigten, und an Major John Bliss, den Befehlshaber der Soldaten des Forts. Die Beratungen zogen sich lange hin, und in der Zwischenzeit wies der Rat den Männern, deren Land besetzt worden war, andere Felder zu. Ein kleiner, stämmiger Holländer aus Pennsylvania namens Joshua Vandruff hatte sich das Land eines Sauks namens Makataime-shekia-kiak, Schwarzer Falke, angeeignet. Vandruff begann, in dem hedono-so-te, das dieser Sauk und seine Söhne mit ihren eigenen Händen erbaut hatten, Whiskey an die Indianer zu verkaufen.
Schwarzer Falke war kein Häuptling, hatte aber den Großteil seiner dreiundsechzig Lebensjahre im Kampf gegen Osages, Cherokesen und Chippewas zugebracht. Als 1812 der Krieg unter den Weißen ausbrach, hatte er eine Truppe von Sauk-Kriegern zusammengestellt und ihre Dienste den Amerikanern angeboten, war aber zurückgewiesen worden. Beleidigt machte er den Engländern das gleiche Angebot, die ihn mit Respekt behandelten, sich seiner Dienste versicherten und ihm Waffen, Munition, Orden und den roten Rock gaben, der einen Soldaten auszeichnete.
Jetzt, da Schwarzer Falke sich dem Alter näherte, musste er zusehen, wie in seinem Langhaus Whiskey verkauft wurde. Schlimmer noch, er musste mit ansehen, wie sein Stamm durch den Alkohol verdorben wurde. Vandruff und sein Freund B. F. Pike machten die Indianer betrunken und luchsten ihnen Felle, Pferde, Gewehre und Fallen ab. Schwarzer Falke ging zu Vandruff und Pike und bat sie, keinen Whiskey mehr an die Sauks zu verkaufen. Als seine Bitte ignoriert wurde, kam er mit einer Handvoll Krieger wieder, die die Fässer aus dem Langhaus rollten, sie zerschlugen und den Whiskey auf die Erde gossen. Vandruff packte daraufhin seine Satteltaschen mit Proviant für eine lange Reise und ritt nach Bellville, der Heimatstadt von John Reynolds, dem Gouverneur von Illinois. In einer eidlichen Aussage gab er vor dem Gouverneur zu Protokoll, die Sauks befänden sich auf einem Raubzug, in dessen Verlauf es zu einer Messerstecherei und zu großen Schäden an weißem Besitz gekommen sei. Dann überreichte er dem Gouverneur ein von B. F. Pike unterzeichnetes Schreiben, in dem es hieß, dass »die Indianer ihre Pferde auf unseren Feldern weiden lassen, unser Vieh erschießen und drohen, unsere Häuser anzuzünden, wenn wir nicht verschwinden«.
Reynolds war erst frisch in sein Amt gewählt worden und hatte den Wählern versprochen, für die Sicherheit der Siedler in Illinois zu sorgen. Ein Gouverneur, der erfolgreich die Indianer bekämpfte, konnte sich Hoffnungen auf die Präsidentschaft machen. »Bei Gott, Sir«, sagte er bewegt zu Vandruff, »Sie bitten den richtigen Mann um Gerechtigkeit.«
Siebenhundert berittene Soldaten kamen und schlugen in der Nähe von Sauk-e-nuk ihr Lager auf. Ihre Anwesenheit sorgte für Aufregung und Angst. Gleichzeitig stampfte ein Rauch spuckendes Dampfschiff den Rock River herauf. Das Schiff lief auf einige der Felsen, die dem Fluss seinen Namen gaben, auf, aber die mookamonik konnten es wieder flottmachen. Bald darauf lag es vor Anker, seine Kanone direkt auf die Indianersiedlung gerichtet. Der Kriegshäuptling der mookamonik, General Edmund P. Gaines, berief eine Konferenz mit den Indianern ein. Hinter einem Tisch saßen der General, der Indianerbevollmächtigte St. Vrain und der Händler Davenport, der als Dolmetscher fungierte. Etwa zwanzig indianische Würdenträger waren dem Aufruf gefolgt. General Gaines behauptete, der Vertrag von 1803, der das Fort auf Rock Island ermöglicht hatte, habe dem Großen Vater in Washington auch alles Land der Sauks östlich des Mississippi überschrieben: sechzig Millionen Morgen. Er sagte den verblüfften und verwirrten Indianern, sie hätten dafür jährliche Entschädigungszahlungen bekommen, und jetzt wolle der Große Vater in Washington, dass seine Kinder Sau-e-nuk verließen und sich auf der anderen Seite des Masesi-bowi, des Mississippi, ansiedelten. Ihr Vater in Washington werde ihnen Mais schenken, damit sie den Winter überstünden. Häuptling der Sauks war Keokuk, der wusste, dass die Übermacht der Amerikaner zu groß war. Als Davenport ihm die Worte des weißen Kriegshäuptlings übersetzte, drückte eine große Faust Keokuks Herz.
Obwohl die anderen ihn ansahen, damit er antworte, blieb er stumm. Aber ein Mann stand auf, der im Kampf an der Seite der Briten genug Englisch gelernt hatte, um selbst zu sprechen. »Wir haben unser Land nie verkauft.
Wir haben nie eine Entschädigung dafür erhalten. Wir werden in unserem Dorf bleiben.«
Der Indianer, den General Gaines vor sich sah, war schon fast ein Greis und ohne den Kopfschmuck eines Häuptlings. In fleckigen Rehlederhosen stand er da, hohlwangig, mit einer hohen, knochigen Stirn. Seine hochgestellte Skalplocke, die seinen rasierten Schädel in zwei Hälften teilte, war mehr grau denn schwarz. Eine riesige Hakennase ragte herausfordernd zwischen weit auseinander liegenden Augen hervor. Sein mürrischer Mund wollte so gar nicht zu dem Grübchenkinn passen, das eher an einen Liebhaber erinnerte. Gaines seufzte und sah Davenport fragend an. »Schwarzer Falke heißt der Mann.«
»Was ist er?« fragte der General den Dolmetscher. Aber Schwarzer Falke antwortete selbst: »Ich bin ein Sauk.
Meine Vorfahren waren Sauks, große Männer. Ich möchte da bleiben, wo ihre Gebeine ruhen, und neben ihnen begraben werden. Warum sollte ich das Land verlassen?«
Er und der General starrten sich an, Stein gegen Stahl. »Ich bin weder hier, um euch zu bitten, euer Dorf zu verlassen, noch um euch dafür zu bezahlen. Meine Aufgabe ist es, euch zu entfernen«, sagte Gaines sanft.
»Friedlich, wenn ich kann. Mit Gewalt, wenn ich muss. Ich gebe euch jetzt zwei Tage Zeit für den Umzug.
Wenn ihr bis dahin den Mississippi nicht überquert, werde ich euch gewaltsam vertreiben.«
Die Indianer berieten sich und starrten dabei die Schiffskanone an, die auf sie gerichtet war. Die Soldaten, die in kleinen Gruppen johlend und schreiend vorbeiritten, waren gut genährt, gut bewaffnet und hatten genügend Munition. Den Sauks standen nur alte Flinten, nur wenige Kugeln und keine Nahrungsreserven zur Verfügung.
Keokuk schickte einen Läufer zu Weiße Wolke, einem Medizinmann, der bei den Winnebagos lebte. Weiße Wolke war der Sohn eines Winnebago-Vaters und einer Sauk-Mutter. Er war groß und beleibt, hatte lange, graue Haare und, was bei den Indianern sehr selten war, einen struppigen schwarzen Schnurrbart. Er galt als großer Schamane, der sich um die spirituellen und medizinischen Bedürfnisse der Winne-bagos, der Sauks und der Mesquakies kümmerte. Alle drei Stämme verehrten Weiße Wolke als Propheten, doch er hatte Keokuk keine tröstende Weissagung anzubieten. Das Militär sei in der Übermacht, sagte er, und Gaines werde nicht Vernunft annehmen. Der Indianerfreund Davenport traf sich mit dem Häuptling und dem Schamanen und drängte sie, zu gehorchen und ihr Land zu verlassen, bevor aus dem Streit ein blutiger Kampf werde.
So kam es, dass der Stamm in der zweiten Nacht Sauk-e-nuk verließ wie ein Rudel Tiere, das vertrieben wird, und über den Fluss in das Land seiner Feinde, der Iowas, ging.
In diesem Winter zerbrach für Zwei Himmel der Glaube an die Welt als sicheren Ort. Der Mais, den der Indianerbevollmächtigte in das neue Dorf westlich des Masesibowi brachte, war von schlechter Qualität und bei weitem nicht genug, um den Hunger fernzuhalten. Die Männer konnten nicht genug Wild jagen oder in Fallen fangen, da viele ihr Gerät für Vandruffs Whiskey weggegeben hatten. Zudem hatte der Stamm den Verlust der Ernte zu bedauern, die sie auf ihren Feldern zurücklassen mussten: den mehligen Mais, die fetten, nahrhaften Feldkürbisse und die riesigen, süßen Moschuskürbisse. Eines Nachts schlichen sich fünf Frauen über den Fluss auf ihre alten Felder und holten sich ein paar gefrorene Kolben von dem Mais, den sie im Frühjahr zuvor selbst gepflanzt hatten. Sie wurden von weißen Siedlern entdeckt und verprügelt.
Ein paar Tage später ritt Schwarzer Falke mit ein paar Männern nachts nach Rock Island. Sie füllten Säcke mit Mais von den Feldern und stahlen Kürbisse aus einem Lagerhaus. Es kam zu einem Streit, der den ganzen schrecklichen Winter über wütete. Keokuk, der Häuptling, befürchtete, dass der Überfall die weißen Soldaten auf den Plan rufen werde. Das neue Dorf sei zwar nicht Sauk-e-nuk, aber es könne ein guter Ort zum Leben werden, meinte er. Die Anwesenheit der mooka-monik auf dem anderen Flussufer bedeute nicht zuletzt einen Markt für die Felle der Sauk-Trapper.
Schwarzer Falke hielt ihm entgegen, die Bleichgesichter würden die Sauks immer weiter vertreiben und schließlich vernichten. Kampf sei der einzige Ausweg. Hoffnung für den roten Mann gebe es nur noch, wenn alle Stammesfehden begraben würden, die Indianer von Kanada bis Mexiko sich vereinigten und mit der Hilfe des englischen Vaters gegen den größeren Feind, den amerikanischen, zögen. Die Sauks debattierten lange. Bei Frühjahrsbeginn waren die meisten des Stammes entschlossen, mit Keokuk am Westufer des Mississippi zu bleiben. Nur dreihundertachtundsechzig Männer schlössen sich mit ihren Familien Schwarzer Falke an, zu ihnen gehörte Grüner Büffel.
Man belud Kanus. Schwarzer Falke, der Prophet, und Neosho, ein Sauk-Medizinmann, setzten sich an die Spitze der kleinen Flotte, dann stießen auch die anderen vom Ufer ab, kräftig gegen die starke Strömung des Masesibowi anpaddelnd. Schwarzer Falke wollte weder Tod noch Zerstörung - solange sie nicht angegriffen wurden. Als sie etwas weiter Flussabwärts eine Siedlung der mookamonik erreichten, befahl er seinen Leuten, die Trommeln zu schlagen und zu singen. Zählte man auch die Frauen, die Kinder und die Alten, so hatte er beinahe eintausenddreihundert Stimmen, und die Siedler flohen vor dem furchteinflößenden Lärm. Auf diese Art holten sie sich in einigen Siedlungen Lebensmittel, doch sie hatten viele Mäuler zu stopfen und keine Zeit für die Jagd.
Schwarzer Falke hatte Läufer zu den Briten in Kanada geschickt und auch zu einigen Indianerstämmen, um sie um Hilfe zu bitten. Doch die Boten kamen mit schlechten Nachrichten zurück. Es war kaum überraschend, dass alte Feinde wie die Sioux, die Chippewas und die Osages sich nicht mit den Sauks gegen die Bleichgesichter verbünden wollten, aber auch die verbrüderten Mesquakies und andere befreundete Stämme waren nicht dazu bereit. Und schlimmer noch, von ihrem britischen Vater erhielten die Sauks nichts anderes als aufmunternde Worte und Glückwünsche für einen Krieg.
Da Schwarzer Falke sich nur zu gut an die Kanonen auf den Kriegsschiffen erinnerte, nahm er seine Leute vom Fluss und ließ sie am Ostufer, von dem man sie vertrieben hatte, an Land gehen. Da jedes winzige Stück Proviant kostbar war, wurde jeder zum Träger, auch hochschwangere Squaws wie etwa Zwei Himmels Mutter.
Sie umgingen Rock Island und wanderten den Rock River hoch bis zum Gebiet der Pottawattamies, von denen sie Land zu bekommen hofften, um eine Maisernte einbringen zu können. Von den Pottawattamies erfuhr Schwarzer Falke, dass der Vater in Washington das Sauk-Territorium an weiße Investoren verkauft hatte. Das Gebiet um Sauk-e-nuk und fast alle Felder hatte George Davenport gekauft, der Händler, der sich als ihr Freund ausgegeben und ihnen geraten hatte, das Land zu verlassen.
Schwarzer Falke ordnete ein Hundefestmahl an, weil er wusste, dass der Stamm die Hilfe der Manitus brauchte.
Der Prophet überwachte die Erdrosselung der Hunde sowie die Säuberung und Reinigung des Fleisches.
Während es schmorte, breitete Schwarzer Falke seine Medizinbeutel vor seinen Männern aus. »Tapfere und Krieger«, sagte er. »Sauk-e-nuk ist nicht mehr. Unser Land wurde uns gestohlen. Bleichgesichtige Soldaten haben unsere hedonoso-te niedergebrannt. Sie haben die Zäune unserer Felder eingerissen. Sie haben unsere Stätte der Toten umgepflügt und zwischen den geheiligten Knochen Getreide angesät. Dies sind die Medizinbeutel unseres Vaters, Muk-ataquat, des Begründers des Sauk-Stammes. Sie wurden weitergegeben an den großen Kriegshäuptling unseres Stammes, Na-namakee, der Krieg führte gegen alle Stämme der Seen und alle Stämme der Prärie und nie Schande auf sich nehmen musste. Ich erwarte, dass ihr alle sie beschützt. Die Krieger aßen das geheiligte Fleisch und erhielten Mut und Kraft. Das war auch notwendig, denn Schwarzer Falke wusste, dass die mookamonik sie angreifen würden. Vielleicht waren es die Götter, die Zwei Himmels Mutter gestatteten, ihr Kind in diesem Lager und nicht unterwegs zu gebären. Es war ein Junge, und wie das Hundefestmahl stärkte auch er den Mut der Krieger, denn Grüner Büffel nannte seinen Sohn Wato-kimita, Der Land besitzt.
Angestachelt von der öffentlichen Hysterie über das Gerücht, dass Schwarzer Falke und die Sauks auf dem Kriegspfad seien, wollte Gouverneur Reynolds von Illinois tausend berittene Freiwillige anwerben lassen. Mehr als doppelt so viele Möchtegern-Indianerkämpfer meldeten sich, und tausendneunhunderfünfunddreißig unausgebildete Männer wurden zur Armee eingezogen. Sie wurden nach Beardstown beordert, dort durch dreihundertzweiundvierzig reguläre Soldaten verstärkt und schnell in vier Regimenter und zwei Späherbataillone aufgeteilt. Samuel Whiteside aus St. Clair wurde zum Brigadegeneral und zum Oberbefehlshaber ernannt. Aus Berichten von Siedlern wusste man, wo Schwarzer Falke sich aufhielt, und Whiteside setzte seine Brigade Bewegung. Es war ein ungewöhnlich nasser Frühling gewesen, die Truppen mussten ehemals kleine Bäche durchschwimmen, und aus gewöhnlichen Sumpflöchern waren Schlammseen geworden, die sie nur mit größter Mühe durchqueren konnten. Es war eine fünftägige, schwierige Expedition durch unwegsames Gelände, bis sie Oquawka erreichten, wo Proviant auf sie hätte warten sollen. Aber die Armee hatte versagt, es war kein Proviant da, und die Männer hatten den Inhalt ihrer Satteltaschen längst aufgezehrt. Disziplinlos und streitsüchtig haderten die Zivilisten mit ihren Offizieren und verlangten Essen. Whiteside sandte eine Meldung an General Atkinson in Fulton, der sofort ein Dampfboot mit einer Ladung Lebensmittel Flussabwärts in Bewegung setzte.
Whiteside schickte zwei Bataillone regulärer Soldaten voraus, während die Freiwilligen sich fast eine Woche lang die Bäuche vollschlugen und ausruhten. Keinen Augenblick lang vergaßen sie, dass sie sich in einer gefährlichen Umgebung befanden. An einem milden Vormittag im Mai brannten etwa tausendsechshundert Berittene Prophetstown nieder, den verlassenen Ort, in dem Weiße Wolke residiert hatte. Danach befiel sie eine unerklärliche Nervosität, und sie redeten sich ein, dass hinter jedem Hügel rachedurstige Indianer lauerten. Bald wurde aus der Nervosität Angst, und aus dieser Angst heraus kam es zu einer wilden Flucht. Die Soldaten ließen Ausrüstung, Waffen, Munition und Proviant zurück und liefen vor einem nicht existierenden Feind davon, stürmten quer durch Grasland, Buschwerk und Wald und hielten erst an, als sie, einzeln oder in kleinen Gruppen, aber alle mit schamroten Gesichtern, die Siedlung Dixon erreicht hatten, zehn Meilen von ihrem Ausgangspunkt entfernt.
Zur ersten wirklichen Feindberührung kam es kurze Zeit später. Schwarzer Falke und an die vierzig Tapfere waren unterwegs zu Angehörigen der Pottawattamies, von denen sie ein Maisfeld mieten wollten. Sie hatten eben ihr Lager am Ufer des Rock River aufgeschlagen, als ein Läufer berichtete, dass sich eine große Streitmacht der mookamonik in ihre Richtung bewege. Ohne lange zu zögern, band Schwarzer Falke eine weiße Fahne an eine Stange und schickte damit drei unbewaffnete Sauks zu den Weißen, um ein Treffen zwischen ihm und deren Kommandanten zu erbitten. Als Beobachter schickte er fünf berittene Sauks hinter den Unbewaffneten her.
Die Truppen, die keine Erfahrung mit Indianerkämpfen hatten, erschraken beim Anblick der Sauks. Sie überwältigten die drei Männer mit der Waffenstillstandsflagge und machten sie zu Gefangenen. Dann jagten sie den fünf Beobachtern nach, von denen sie zwei einholten und töteten. Die drei anderen erreichten, das Militär im Rücken, das Lager. Als die weißen Soldaten auftauchten, wurden sie von fünfunddreißig Tapferen unter der Führung von Schwarzer Falke, den die kalte Wut gepackt hatte, angegriffen. Er war bereit, einen ehrenhaften Tod zu sterben, um den Verrat der Bleichgesichter zu rächen. Die Soldaten aber, die die Vorhut der Kavallerie bildeten, hatten keine Ahnung, dass die Indianer keine gewaltige Streitmacht hinter sich hatten. Sobald sie die heranstürmenden Sauks erblickten, ließen sie ihre Ponys wenden und flüchteten.
Nichts ist so ansteckend wie Panik, und innerhalb weniger Minuten herrschte im Militärlager ein Chaos. In dem Durcheinander konnten zwei der drei gefangenen Sauk-Unterhändler fliehen; der dritte wurde erschossen. Die zweihundertfünfundsiebzig bewaffneten und berittenen Soldaten wurden von Entsetzen gepackt und flohen so hysterisch wie wenige Tage zuvor der Hauptteil der Freiwilligen, nur dass diesmal die Bedrohung nicht eingebildet war. Schwarzer Falke und seine wenigen Dutzend Krieger jagten ihnen nach, überwältigten die Versprengten und sammelten elf Skalpe. Einige der fliehenden Weißen kamen erst zur Besinnung, als sie wieder bei sich zu Hause waren, aber die meisten Soldaten sammelten sich schließlich in Dixon.
Ein Leben lang sollte das Mädchen, das damals Zwei Himmel hieß, die Freude über diesen Erfolg nicht vergessen. Ein Kind spürte Hoffnung. Die Nachricht vom Sieg verbreitete sich schnell in der rothäutigen Welt, und bald darauf schlossen sich zweiundneunzig Winnebagos den Sauks an. Schwarzer Falke stolzierte in einem Rüschenhemd und mit einem ledergebundenen Gesetzbuch unter dem Arm umher - beides stammte aus einer Satteltasche, die ein fliehender Offizier zurückgelassen hatte. Er hielt eine flammende Rede. Seine Tapferen hatten bewiesen, sagte er, dass die mookamonik geschlagen werden können, und jetzt würden andere Stämme Krieger schicken, um die große Allianz zu bilden, von der er träumte. Aber die Tage vergingen, und es kamen keine Krieger. Die Vorräte gingen zur Neige, die Jagd war wenig erfolgreich. Schließlich schickte Schwarzer Falke die Winnebagos in eine Richtung und führte seine Leute in eine andere. Gegen seine Befehle überfielen die Winnebagos schutzlose weiße Siedler und nahmen Skalpe, darunter den von St. Vrain, dem Indianerbevollmächtigten. Zwei Tage lang war der Himmel grünlich-schwarz, und der Manitu Shagwa ließ Erde und Luft erzittern. Zwei Himmels Mutter warnte Schwarzer Falke, keine neuen Unternehmungen anzufangen, ohne Späher vorauszuschicken, und Grüner Büffel murmelte düster, dass er keinen Propheten brauche, um zu wissen, dass Schlimmes bevorstehe.
Gouverneur Reynolds war wütend. Die Beschämung, die er über das Schicksal seiner Soldaten empfand, wurde von der Bevölkerung sämtlicher Grenzstaaten geteilt. Die Raubzüge der Winnebagos wurden übertrieben dargestellt und Schwarzer Falke zur Last gelegt. Neue Freiwillige strömten herbei, angezogen von dem Gerücht, dass ein von der Regierung von Illinois im Jahre 1814 ausgesetztes Kopfgeld noch immer gezahlt werde: fünfzig Dollar für jeden getöteten männlichen Indianer, jede gefangene Squaw und jedes gefangene rothäutige Kind.
Reynolds hatte keine Schwierigkeiten, noch einmal dreitausend Männer den Fahneneid leisten zu lassen. Schon jetzt kampierten in den Forts entlang des Mississippi zweitausend unruhige Soldaten, die von General Henry Atkinson und dessen Stellvertreter, Colonel Zachary Taylor, befehligt wurden. Aus Baton Rouge in Louisiana wurden zwei Infanteriekompanien nach Illinois verlegt, und aus Standorten im Osten kamen weitere tausend reguläre Soldaten unter dem Befehl von General Winfield Scott dazu. Unter diesen Truppen brach während des Dampfschifftransports über die Großen Seen die Cholera aus, doch die Streitmacht, die hier in Bewegung gesetzt wurde, war ohnedies gigantisch, ein gewaltiges Heer, gierig nach Rache an der fremden Rasse und nach Wiederherstellung seiner Ehre. Für das Mädchen Zwei Himmel war die Welt klein geworden, während sie früher, während der gemächlichen Reisen zwischen dem Winterlager der Sauks in Missouri und ihrem Sommerdorf am Rock River, unermesslich gewirkt hatte. Jetzt konnte sich ihr Stamm hinwenden, wohin er mochte, überall gab es weiße Späher und Schüsse und Geschrei. Sie nahmen ein paar Skalps und verloren ein paar Tapfere, und sie hatten Glück, nicht auf das Hauptkontingent der weißen Truppen zu stoßen. Schwarzer Falke schlug Haken und legte falsche Fährten, um den Soldaten zu entkommen, doch die meisten seiner Gefolgsleute waren Frauen und Kinder, und es war schwer, die Spuren von so vielen zu verbergen.
Sie wurden schnell weniger. Alte Leute starben, auch einige Kinder. Zwei Himmels kleiner Bruder wurde hohlwangig und großäugig. Die Milch seiner Mutter versiegte zwar nicht, aber der Fluss wurde immer spärlicher, und so bekam das Kind nie genug. Meistens trug Zwei Himmel ihren Bruder.
Bald sprach Schwarzer Falke nicht mehr davon, die Weißen davonzujagen. Er sprach davon, in den hohen Norden zu fliehen, aus dem die Sauks vor Hunderten von Jahren gekommen waren. Doch die Monde vergingen, und immer weniger seiner Gefolgsleute hatten noch genug Vertrauen in ihn, um bei ihm zu bleiben. Immer mehr Wigwams verließen den Sauk-Pulk, um ihr Glück auf eigene Faust zu versuchen. Kleine Gruppen hatten zwar nur wenig Chancen zu überleben, aber die meisten waren zu der Überzeugung gekommen, dass die Manitus Schwarzer Falke nicht wohlgesonnen waren.
Grüner Büffel blieb ihm treu, obwohl von Schwarzer Falkes Truppe vier Monde nach dem Auszug aus Keokuks Lager nur noch wenige hundert Leute übrig waren, die mit Wurzeln und Baumrinde als Nahrung ums Überleben kämpften. Sie kehrten zum Masesibowi zurück, denn der große Fluss hatte ihnen noch immer Trost gespendet.
Das Dampfschiff Warrior überraschte einen Großteil der Sauks beim Fischfang in den Untiefen an der Mündung des Wisconsin. Als das Schiff auf sie zustampfte und Schwarzer Falke die Sechspfünder-Kanone im Bug sah, wusste er, dass sie nicht länger kämpfen konnten. Seine Männer schwenkten eine weiße Fahne, aber das Schiff kam immer näher, und ein Winnebago-Söldner rief ihnen von Deck aus in ihrer Sprache zu: »Rennt weg und versteckt euch! Die Weißen werden schießen.«
Als sie schreiend und spritzend auf das Ufer zustürzten, feuerte die Kanone aus kürzester Entfernung eine Kartätsche ab. Heftiges Musketenfeuer folgte. Dreiundzwanzig Sauks wurden getötet. Die anderen schafften es, in den Wald zu entkommen, wobei einige Verletzte trugen oder hinter sich herzogen.
In dieser Nacht beratschlagten sie. Schwarzer Falke und der Prophet beschlossen, ins Land der Chippewas zu ziehen und dort zu versuchen, einen Lebensraum zu finden. Drei Wigwams wollten mit ihnen gehen, doch die anderen, darunter Grüner Büffel, glaubten nicht, dass die Chippewas den Sauks Felder abtreten würden, wenn es andere Stämme schon nicht taten; ihren einzigen Ausweg sahen sie in der Rückkehr zu Keokuk. Am nächsten Morgen verabschiedeten sie sich von den wenigen, die zu den Chippewas ziehen wollten, und machten sich auf den Weg nach Süden, in die alte Heimat. Das Dampfschiff Warrior blieb den Indianern auf den Fersen, indem es einfach den Scharen von Aaskrähen und Geiern Flussabwärts folgte. Denn inzwischen ließen die Sauks ihre Toten einfach liegen, wo sie gestorben waren. Einige waren alte Leute und Kinder, andere Verwundete aus den vorangegangenen Kämpfen. Wenn das Schiff anlegte, untersuchten die Männer die Leichen und schnitten ihnen die Skalps und Ohren ab. Es war gleichgültig, ob das Stück Kopfhaut mit dunklen Haaren von einem Kind oder das rote Ohr von einer Frau stammte: Die Trophäen wurden stolz in die vielen kleinen Städte zurückgetragen, als Beweis, dass ihre Besitzer tapfere Indianerkämpfer waren.
Die wenigen überlebenden Sauks verließen den Masesibowi und zogen landeinwärts, nur um dort auf die Winnebago-Söldner der Armee zu treffen. Hinter den Winnebagos pflanzten weiße Soldaten die Bajonette auf, die ihnen unter den Indianern den Namen Lange Messer eingebracht hatten. Als sie angriffen, stieg ein heiserer, tierischer Schrei aus ihren Kehlen auf, tiefer als das indianische Schlachtgeheul, aber nicht weniger wild. Es waren unzählige, und sie waren versessen aufs Töten, um etwas wiederzugewinnen, was sie verloren zu haben glaubten. Die Sauks hatten keine andere Wahl, als schießend zurückzuweichen. Am Ufer des Masesibowi angelangt, versuchten sie zu kämpfen, wurden aber sehr schnell in den Fluss getrieben. Zwei Himmel stand neben ihrer Mutter im knietiefen Wasser, als eine Bleikugel deren Unterkiefer zerfetzte. Die Frau fiel mit dem Gesicht nach unten ins Wasser. Zwei Himmel musste ihre Mutter auf den Rücken drehen und gleichzeitig den kleinen Bruder Der Land besitzt über Wasser halten. Es gelang ihr mit größter Anstrengung, doch dann musste sie feststellen, dass ihre Mutter tot war. Ihren Vater und ihre Schwester sah sie nirgends. Die Welt bestand nur aus Gewehrfeuer und Schreien, und als die Sauks durch das Wasser zu einer kleinen Weideninsel wateten, ging sie mit ihnen.
Sie versuchten, auf der Insel eine Verteidigungsstellung zu errichten, indem sie hinter Felsen und umgestürzten Bäumen in Deckung gingen. Doch dann tauchte wie ein gigantisches Gespenst das Dampfschiff aus dem Dunst auf und nahm sie vom Fluss aus unter Feuer. Ein paar Frauen rannten ins Wasser und versuchten, zum anderen Ufer zu schwimmen. Zwei Himmel wusste nicht, dass dort von der Armee angeheuerte Sioux warteten, um jeden zu töten, der den Weg durch die Fluten schaffte, und sie stieg schließlich auch ins Wasser, wobei sie das Baby mit den Zähnen am Genick packte, um die Hände zum Schwimmen frei zu haben. Sie biss in das weiche, faltige Fleisch des Kindes, spürte das Blut ihres Bruders auf der Zunge, und ihre Schulter- und Nackenmuskeln verkrampften sich vor Anspannung und begannen zu schmerzen. Sie wurde schnell müde und wusste, wenn sie noch länger so weitermachte, würden sie und der Kleine ertrinken. Die Strömung trieb sie Flussabwärts, weg von den Schüssen, und paddelnd wie ein Fuchs oder ein Eichhörnchen mit einem Jungen schwamm sie wieder auf das Ufer zu, von dem sie gekommen war. Dort lag sie dann neben dem schreienden Baby auf der Erde und versuchte, seinen zerbissenen Nacken nicht anzusehen.
Wenig später hob sie ihren Bruder auf und trug ihn weg von dem Gefechtslärm. Eine Frau saß am Flussufer, und beim Näherkommen sah Zwei Himmel, dass es ihre Schwester war. Große Frau war blutverschmiert, doch sie erzählte Zwei Himmel, dass es nicht ihr Blut sei, sondern das eines Soldaten, der sie vergewaltigt habe und dabei von einer Kugel in die Seite getroffen worden sei. Es war ihr gelungen, unter seinem blutigen Körper herauszukriechen, und obwohl er die Hand gehoben und sie in seiner Sprache um Hilfe angefleht hatte, hatte sie einen Stein genommen und ihn erschlagen.
Sie konnte zwar ihre Geschichte zu Ende erzählen, doch sie verstand nichts mehr, als Zwei Himmel ihr vom Tod der Mutter berichtete. Die Schreie und die Schüsse kamen immer näher. Zwei Himmel trug ihren Bruder und führte ihre Schwester tief in das Unterholz am Ufer, und dort kauerten sich die drei zusammen. Große Frau schwieg, aber Der Land besitzt schrie unaufhörlich, und Zwei Himmel musste befürchten, dass die Soldaten ihn hörten und sie entdeckten. Sie öffnete ihr Kleid und drückte seinen Mund an ihre unterentwickelte Brust. Die kleine Warze wuchs unter dem trockenen Saugen seiner Lippen, und sie presste den Kleinen fest an sich.
Es dauerte Stunden, bis der Schusswechsel nachließ und der Tumult allmählich verstummte. Der Nachmittag warf bereits lange Schatten, als Zwei Himmel die Schritte einer näher kommenden Patrouille hörte und das Baby wieder zu schreien begann. Sie dachte daran, Der Land besitzt zu erwürgen, damit sie und Große Frau überleben konnten. Doch dann saß sie nur da und wartete, bis einige Minuten später ein dürrer weißer Junge seine Muskete in den Busch steckte und sie herauszog.
Auf dem Weg zum Dampfschiff sah sie überall ihr wohlbekannte Tote ohne Ohren und Skalp liegen. Auf Deck hatten die Langen Messer neununddreißig Frauen und Kinder zusammengetrieben. Alle anderen waren tot. Das Baby schrie noch immer, und ein Winnebago besah sich das ausgehungerte Kind mit dem zerbissenen Nacken.
»Kleine Ratte«, sagte er verächtlich, doch ein rotgesichtiger Soldat mit zwei gelben Streifen auf seinem Ärmel mischte Zucker und Wasser in einer Whiskeyflasche und steckte einen Stofffetzen in die Öffnung. Dann nahm er Zwei Himmel das Kind aus dem Arm, gab ihm die Flasche und trug es mit zufriedenem Gesicht weg. Zwei Himmel wollte ihm folgen, doch der Winnebago stellte sich ihr in den Weg und schlug sie ins Gesicht, bis ihr die Ohren klangen. Das Schiff verließ die Mündung des Bad Axe und bahnte sich einen Weg durch die auf dem Wasser treibenden Sauk-Leichen. Vierzig Meilen Flussabwärts legte es in Prairie du Chien an. Dort wurden Zwei Himmel, Große Frau und drei andere Sauk-Mädchen - Rauchfrau, Mond und Gelber Vogel - von Bord geholt und auf einen Pferdekarren verfrachtet. Mond war jünger als Zwei Himmel. Die beiden anderen waren älter, aber nicht so alt wie Große Frau. Zwei Himmel wusste nicht, was aus den anderen Sauk-Gefangenen wurde, und ihren Bruder Der Land besitzt sah sie nie wieder.
Der Karren kam zu einem Armeeposten - Fort Crawford, wie sie später erfahren sollten -, blieb dort aber nicht, sondern brachte die fünf Sauk-Mädchen zu einem weißen Farmhaus mit Nebengebäuden und Zäunen, das drei Meilen hinter dem Fort lag. Zwei Himmel sah gepflügte und bepflanzte Felder, verschiedene Arten weidender Tiere und Geflügel. Im Inneren des Hauses wagte sie kaum zu atmen, denn die Luft war geschwängert mit dem fremden Geruch von scharfer Seife und Möbelpolitur, dem Geruch bleichgesichtiger Scheinheiligkeit, den sie ihr ganzes späteres Leben lang verabscheuen sollte. In der Evangelischen Schule für Indianermädchen musste sie ihn vier Jahre lang ertragen.
Die Schule wurde geleitet von Reverend Edvard Bronsun und Miss Eva, einem Geschwisterpaar mittleren Alters. Neun Jahre zuvor waren sie unter der Schirmherrschaft der Missionary Society von New York City aufgebrochen, um die Wildnis zu erkunden und die heidnischen Indianer zu Jesus zu bekehren. Die Schule hatten sie mit zwei Winnebago-Mädchen eröffnet, von denen das eine schwachsinnig war. Für die Bronsuns war es unverständlich, dass die indianischen Frauen sich trotz wiederholter Einladungen sich weigerten, zu ihnen zu kommen, auf ihren Feldern zu arbeiten, die Tiere zu hüten, ihre Häuser zu tünchen und zu streichen und die Hausarbeit zu erledigen. Nur der Unterstützung der Behörden und des Militärs hatten sie es zu verdanken, dass die Schule wuchs, bis sie - nach der Ankunft der fünf Sauks - einundzwanzig mürrische, aber gehorsame Schülerinnen hatten, die sich um eine der am besten in Schuss gehaltenen Farmen der Gegend kümmerten.
Mr. Edvard, lang, dürr und mit einer sommersprossigen Glatze, unterrichtete die Mädchen in Landwirtschaft und Religion, während Miss Eva, die korpulent war und einen Blick wie Eis hatte, ihnen beibrachte, wie Böden geschrubbt und Möbel poliert wurden, bis sie den Erwartungen der Bleichgesichter entsprachen. Der Lehrplan der Schülerinnen bestand in Hausarbeit und unaufhörlicher schwerer Farmarbeit, im Englischlernen und Vergessen der eigenen Sprache und Kultur, sowie im Beten zu fremden Göttern. Miss Eva, die immer kalt lächelte, bestrafte Vergehen wie Trägheit und Frechheit oder den Gebrauch eines indianischen Wortes mit geschmeidigen Gerten, die sie vom Reineclaudenbaum der Farm schnitt.
Die anderen Schülerinnen waren Winnebagos, Chippewas, Illinois, Kickapoos, Irokesen und Potowatomis. Sie alle betrachteten die Neuankömmlinge feindselig, doch die Sauks hatten keine Angst vor ihnen.
Sie waren gemeinsam eingetroffen und bildeten den stärksten Stammesanteil, obwohl das System, das in diesem Institut herrschte, diesen Vorteil zu annullieren suchte. Das erste, was die Mädchen aufgeben mussten, war ihr indianischer Name. Die Bronsuns erachteten nur sechs biblische Namen für würdig, in einer Bekehrten Frömmigkeit zu erwecken: Rachel, Ruth, Mary, Martha, Sarah und Anna. Da diese beschränkte Auswahl bedeutete, dass mehrere Mädchen den gleichen Namen trugen, erhielt jede Schülerin, um Verwechslungen zu vermeiden, eine zum Namen gehörende Nummer, die erst wieder frei wurde, wenn die Trägerin die Schule verließ. So wurde aus Mond Rachel drei, aus Große Frau Mary vier, aus Gelber Vogel Rachel zwei und aus Rauchfrau Martha drei. Zwei Himmel erhielt den Namen Sarah zwei. Die Anpassung war nicht schwer. Die ersten englischen Worte, die sie lernten, waren »bitte« und »danke«. Bei den Mahlzeiten wurden alle Speisen und Getränke nur einmal mit ihrem englischen Namen genannt. Von da an musste, wer nicht auf englisch um dies oder jenes bitten konnte, hungrig vom Tisch aufstehen. Die Sauk-Mädchen lernten die neue Sprache schnell.
Die täglich zwei Mahlzeiten bestanden aus Maisbrei, Maisbrot und püriertem Wurzelgemüse. Wenn, selten genug, Fleisch auf den Tisch kam, war es Rückenspeck oder Kleinwild. Kinder, die schon einmal vor dem Hungertod gestanden haben, essen immer mit großem Appetit. Und so nahmen die Mädchen trotz der schweren Arbeit an Gewicht zu. Die Stumpfheit verschwand Großer Frau aus den Augen, aber sie war diejenige unter den fünfen, die sich am ehesten vergaß und die Sprache ihres Stammes benutzte, weshalb sie am häufigsten geschlagen wurde. Im zweiten Monat an der Schule hörte Miss Eva Große Frau in der Sauk-Sprache flüstern, und sie peitschte das Mädchen unter Mr. Edvards Augen aus. In dieser Nacht kam Mr. Edvard in die dunkle Speicherkammer, die als Schlafraum diente, und sagte flüsternd, er habe eine Salbe, die er Mary vier auf die schmerzenden Striemen auf dem Rücken schmieren wolle. Dann führte er Große Frau aus dem Schlafraum. Tags darauf erhielt Große Frau von Mr. Edvard eine Tüte mit Maisbrot, die sie mit den anderen Sauks teilte. Danach kam er häufig nachts in den Schlafraum, um Große Frau zu holen, und die Mädchen gewöhnten sich an die Extrarationen. Es dauerte nicht lange, und bei Große Frau begannen die morgendlichen Übelkeitsanfälle. Sie und Zwei Himmel wussten, dass sie schwanger war, noch bevor man es an ihrem Bauch sah.
Wenige Wochen später spannte Mr. Edvard das Pferd vor den Wagen, und Miss Eva fuhr mit Große Frau davon.
Als sie alleine wieder zurückkam, berichtete sie Zwei Himmel, ihre Schwester sei »gesegnet«. Von jetzt an, sagte Miss Eva, werde Mary vier auf einer gutchristlichen Farm auf der anderen Seite von Fort Crawford arbeiten. Zwei Himmel sah Große Frau nie wieder.
Sooft Zwei Himmel sicher war, dass niemand sie belauschte, redete sie mit den anderen Sauks in der Stammessprache. Wenn sie Kartoffelkäfer absammelten, erzählte sie ihnen die Geschichten, die ihre Mutter ihr erzählt hatte. Wenn sie die Rübenfelder jäteten, sang sie die Lieder der Sauks. Beim Holzhacken erzählte sie von Sauk-e-nuk und dem Winterlager und brachte so die Tänze und Feste, die toten und die lebendigen Stammesbrüder in Erinnerung. Wenn die anderen nicht in ihrer eigenen Sprache antworteten, drohte sie ihnen, sie schlimmer zu schlagen als Miss Eva. Obwohl zwei der Sauk-Mädchen älter und größer waren als sie, widersprach ihr keines, und so behielten sie ihre alte Sprache.
Sie waren bereits fast drei Jahre auf der Farm, als ein Sioux-Mädchen als neue Schülerin dazukam. Flatternder Flügel war älter als Große Frau. Sie stammte aus dem Clan der Wabashaw, und nachts verhöhnte sie die Sauks mit Geschichten, wie während des Massakers an der Mündung des Bad Axe ihr Vater und ihre Brüder am Ufer des Masesibowi gelauert und jeden ihrer Sauk-Feinde, dem die Flucht über den Fluss gelungen war, getötet und skalpiert hatten. Flatternder Flügel wurde Mary fünf, und Mr. Edvard fand sehr schnell Gefallen an ihr. Zwei Himmel träumte davon, sie zu töten; doch dann erwies sich Flatternder Flügels Anwesenheit als Chance, denn nach wenigen Monaten wurde auch sie schwanger. Vielleicht war Mary ein fruchtbarer Name.
Zwei Himmel sah zu, wie Flatternder Flügels Bauch wuchs, und schmiedete ihre Pläne. An einem stillen, heißen Sommertag fuhr Miss Eva mit Flatternder Flügel davon. Mr. Edvard war auf sich allein gestellt und konnte nicht alle im Auge behalten. Sobald die Frau verschwunden war, warf Zwei Himmel die Hacke, mit der sie im Rübenfeld gearbeitet hatte, weg und schlich sich hinter den Stall. Sie schichtete an der trockenen Bretterwand harzreiche Kiefernspäne auf und entzündete sie mit den Schwefelhölzern, die sie gestohlen und für diesen Augenblick aufbewahrt hatte. Als das Feuer bemerkt wurde, stand der Stall schon in hellen Flammen. Wie ein Verrückter schreiend und glotzend, kam Mr. Edvard aus dem Kartoffelfeld gelaufen und befahl den Mädchen, eine Löschkette zu bilden. Zwei Himmel blieb in der ganzen Aufregung ruhig und gelassen. Sie rief Mond, Gelber Vogel und Rauchfrau zu sich. Dann schnappte sie sich eine von Miss Evas Reineclaudegerten, trieb damit das große Mastschwein aus dem tiefen, schwarzen Schlamm seines Stalles in Miss Evas geschrubbtes, poliertes, fromm riechendes Haus und schloss die Tür. Nachdem dies erledigt, war, führte sie die anderen weg von diesem verhassten Ort der mookamonik in den Wald. Sie vermieden alle Straßen und blieben im Wald, bis sie den Fluss erreicht hatten. Am Ufer hatte sich ein Eichenstamm verfangen, und die vier Mädchen zerrten ihn los. Das warme Wasser barg die Gebeine und die Geister ihrer Lieben und umfing die Mädchen, die sich, an den Stamm geklammert, vom Masesibowi nach Süden tragen ließen. Als es dunkel wurde, verließen sie den Fluss. In dieser Nacht schliefen sie hungrig im Wald. Am nächsten Morgen entdeckten sie bei der Beerensuche ein verborgenes Sioux-Kanu. Sie stahlen es ohne Bedenken und hofften, es möge einem Verwandten von Flatternder Flügel gehören. Es war schon später Nachmittag, als sie nach einer Biegung im Fluss plötzlich Prophetstown vor sich sahen. Am Ufer säuberte ein Indianer Fische. Als sie sahen, dass es ein Mesquakie war, lachten sie erleichtert auf und steuerten das Kanu in seine Richtung.
Weiße Wolke war nach Prophetstown zurückgekehrt, sobald ihm das nach dem Krieg möglich war. Die bleichgesichtigen Soldaten hatten auch sein Langhaus niedergebrannt, aber er baute sich ein neues bedonoso-te.
Als sich die Nachricht von der Rückkehr des Schamanen verbreitete, kamen wieder Familien aus verschiedenen Stämmen zu ihm und bauten ihre Hütten in Prophetstown, um in seiner Nähe leben zu können. Unter seinen Schülern zollte er den vier Mädchen, die den Weißen entflohen waren und sich zu ihm durchgeschlagen hatten, besondere Aufmerksamkeit. Tagelang beobachtete er sie, während sie in seiner Hütte ruhten und aßen, und er bemerkte dabei, dass drei von ihnen sich in allen Dingen nach der vierten richteten. Er befragte diese drei und ausführlich, und jede schwärmte ihm von Zwei Himmel vor. Immer von Zwei Himmel. Er begann, sie mit wachsender Hoffnung zu betrachten.
Schließlich holte er zwei Ponys von seiner Koppel und befahl Zwei Himmel, mit ihm zu kommen. Fast einen ganzen Tag lang ritt sie hinter ihm her, bis der Boden anzusteigen begann. Alle Berge sind geheiligt, aber im Flachland ist sogar ein Hügel ein heiliger Ort. Auf der bewaldeten Erhebung, die sie erreicht hatten, führte er sie zu einer Lichtung. Der Moschusduft von Bären hing in der Luft, auf dem Boden lagen Tierknochen verstreut und die Aschereste erloschener Feuer.
Als sie abgestiegen waren, nahm Weiße Wolke die Decke von seiner Schulter und befahl Zwei Himmel, die Kleider auszuziehen und sich auf die Decke zu legen. Sie wagte nicht, sich zu weigern, obwohl sie sicher war, dass der alte Schamane sie missbrauchen wollte. Aber als Weiße Wolke sie berührte, tat er es nicht mit der Hand eines Liebhabers. Er untersuchte sie nur, um festzustellen, ob sie noch Jungfrau war.
Bei Sonnenuntergang gingen sie in den Wald, und er stellte drei Fallen auf. Dann entzündete er auf der Lichtung ein Feuer und blieb singend davor sitzen, während sie sich auf die Erde legte und schlief. Als sie morgens aufwachte, kauerte er vor einem in einer der Fallen gefangenen Hasen und schnitt ihm den Bauch auf. Zwei Himmel war hungrig, doch er machte keine Anstalten, den Hasen zuzubereiten. Statt dessen tastete er in den Eingeweiden herum und untersuchte sie noch ausführlicher als am Abend zuvor den Körper des Mädchens.
Schließlich brummte er zufrieden und sah sie argwöhnisch und zugleich staunend an.
Nachdem Weiße Wolke und Schwarzer Falke von dem Massaker am Bad Axe erfahren hatten, waren sie mutlos geworden. Sie wollten nicht, dass unter ihrer Führung noch mehr Sauks starben, und stellten sich deshalb freiwillig dem Indianerbevollmächtigten in Prairie du Chien. In Fort Crawford wurden sie einem jungen Army Lieutenant namens Jefferson Davis übergeben, der die beiden Gefangenen den Mississippi hinab nach St. Louis brachte. Den ganzen Winter über waren sie in eine Baracke eingesperrt, wo sie die Demütigung von Kette und Eisenkugel über sich ergehen lassen mussten. Im Frühjahr wollte der Große Vater in Washington seinen Bleichgesichtern zeigen, wie vollständig ihre Armee den Stamm besiegt hatte, und er befahl deshalb, die beiden Gefangenen in verschiedene amerikanische Städte zu bringen. Zum erstenmal sahen sie Eisenbahnen, und sie fuhren dann mit nach Washington, New York, Albany und Detroit. Und überall liefen die Massen zusammen wie Büffelherden, um diese Kuriositäten anzustarren: die geschlagenen »Indianerhäuptlinge«. Weiße Wolke sah riesige Siedlungen, großartige Gebäude und furchteinflößende Maschinen, dazu unzählige Amerikaner. Als man ihm dann erlaubte, nach Prophetstown zurückzukehren, musste er sich die bittere Wahrheit eingestehen: Die mookamonik ließen sich nie mehr vom Land der Sauks vertreiben. Die Indianer würden immer weiter zurückgedrängt werden, weg vom guten Farmland und von den reichen Jagdgründen. Seine Kinder, die Sauks, die Mesquakies und die Winnebagos, mussten sich an eine grausame Welt gewöhnen, die vom weißen Mann dominiert wurde. Das Problem war nun nicht mehr, wie man die Weißen am besten davonjagte. Der Schamane dachte vielmehr über die Frage nach, wie sein Volk sich, um zu überleben, verändern könnte, ohne seine Manitus und seine Medizin aufzugeben. Er war alt und würde bald sterben, und so hatte er begonnen, sich nach jemandem umzusehen, an den er das weitergeben könnte, was er war, nach einem Gefäß, in das er die Seele der Algonquin-Stämme gießen konnte. Doch er fand niemanden - bis dieses Mädchen kam. All das erklärte er Zwei Himmel, während sie an dem geheiligten Ort auf dem Hügel saßen und er die günstigen Vorzeichen im Kadaver des Hasen studierte, der allmählich zu stinken begann. Danach fragte er sie, ob sie es auf sich nehmen werde, dass er eine Medizinfrau aus ihr machte.
Zwei Himmel war noch ein Kind, doch sie wusste schon genug, um es mit der Angst zu bekommen. Es gab so viel, das sie nicht verstehen konnte, doch sie begriff, was wichtig war. »Ich will es versuchen«, sagte sie flüsternd zu dem Propheten.
Weiße Wolke schickte Mond, Gelber Vogel und Rauchfrau zu Keo-kuks Sauks, aber Zwei Himmel blieb in Prophetstown und lebte in seiner Hütte wie eine Lieblingstochter. Er zeigte ihr Blätter und Wurzeln und Rinden und erklärte ihr, welche davon die Seele aus dem Körper lösten und ihr gestatteten, mit den Manitus zu reden, welche man zum Lederfärben verwendete und welche zur Kriegsbemalung taugten, welche getrocknet und welche eingeweicht werden sollten, welche man aufkochen musste und welche als Breiumschlag verwendet wurden, welche in Aufwärts- und welche in Abwärtsrichtung gestrichen werden mussten, welche die Verdauung anregten und welche sie hemmten, welche fiebersenkend und welche schmerzstillend wirkten, welche heilen und welche töten konnten.
Zwei Himmel hörte ihm aufmerksam zu. Als der Prophet sie nach vier Jahreszeiten prüfte, war er zufrieden. Er habe sie jetzt durch das erste Zelt der Weisheit geführt, sagte er.
Bevor sie das zweite Zelt der Weisheit durchschritten hatte, erging es ihr zum erstenmal nach Art der Frauen.
Eine der Nichten von Weißer Wolke zeigte ihr, was sie tun musste, und von da an verbrachte sie jeden Monat die Tage, an denen ihre Vagina blutete, im Frauenhaus. Der Prophet erklärte ihr, dass sie keine Zeremonie durchführen und keine Kranken oder Verletzten behandeln dürfe, bevor sie sich nicht nach ihrer Monatsblutung im Schwitzhaus gereinigt habe. In den folgenden vier Jahren lernte sie, die Manitus mit Trommeln und Gesängen herbeizurufen, Hunde auf verschiedene zeremonielle Arten zu schlachten und sie für ein rituelles Mahl zuzubereiten, sowie mit Sängern und nur summenden Musikern die geheiligten Tänze einzustudieren. Sie lernte, die Zukunft in den Organen eines getöteten Tieres zu lesen. Und sie lernte die Macht der Täuschung. Wie man die Krankheit aus einem Körper heraussaugte und sie als kleinen Stein ausspuckte, damit das Opfer sie berühren konnte und sehen, dass sie gebannt war. Sie lernte auch, wie man die Seele eines Sterbenden mit Gesängen in die nächste Welt führte, wenn man die Manitus nicht dazu bringen konnte, ihn überleben zu lassen.
Es gab insgesamt sieben Zelte der Weisheit. Im fünften brachte der Prophet ihr bei, ihren eigenen Körper zu beeinflussen, damit sie verstehen lernte, wie die Körper anderer zu beeinflussen waren. Sie lernte, den Durst zu überwinden und lange Zeit ohne Essen auszukommen. Oft ritt Weiße Wolke mit ihr eine lange Strecke und kehrte dann alleine mit zwei Pferden nach Prophetstown zurück, sie aber musste den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen. Schritt für Schritt brachte er ihr bei, wie sie den Schmerz überwinden konnte, indem sie ihr Bewusstsein an einen weit entfernten, kleinen Ort tief in ihrem Inneren schickte, an dem der Schmerz es nicht mehr erreichen konnte. Gegen Ende dieses Sommers führte er sie wieder zu der geheiligten Lichtung auf dem Hügel. Sie entzündeten ein Feuer, riefen die Manitus mit Gesängen an und stellten wieder Fallen auf. Sie fingen einen dürren braunen Hasen, und als sie ihm den Bauch aufschlitzten und in den Organen lasen, erkannte Zwei Himmel, dass die Zeichen günstig waren.
Als die Dämmerung hereinbrach, befahl ihr Weiße Wolke, das Kleid und die Schuhe auszuziehen. Mit seinem britischen Messer durchschnitt er ihr beide Schultern, bis sich auf jeder Seite ein Fleischriemen abheben ließ, der den Epauletten weißer Offiziere glich. Er zog ein Seil durch diese blutigen Schlitze, warf dann das Seil über einen Ast und zog sie daran hoch, bis sie knapp über dem Erdboden hing, gehalten nur von ihrem blutenden Fleisch.
Mit dünnen Eichenstäben, deren Spitzen er im Feuer hatte glühend werden lassen, brannte er ihr die Zeichen der Geister des Stammes und die Symbole der Manitus in beide Brüste.
Die halbe Nacht lang versuchte Zwei Himmel, sich zu befreien. Sie zappelte und warf sich herum, bis schließlich der Fleischriemen an ihrer linken Schulter riss. Bald darauf gab auch der Schlitz an der rechten Schulter nach, und sie fiel zu Boden. Da ihr Bewusstsein an dem kleinen, weit entfernten Ort weilte, wo es den Schmerz nicht spürte, war es möglich, dass sie einschlief.
Im schwachen Licht des dämmernden Morgens wachte sie auf und hörte das Schnüffeln eines Bären, der auf der gegenüber liegenden Seite auf die Lichtung kam. Das Tier witterte sie nicht, da es sich in Windrichtung bewegte, und es trottete so gemütlich dahin, dass Zwei Himmel seine schneeweiße Schnauze erkennen konnte und auch, dass es ein Weibchen war. Ein zweiter Bär folgte, ein schwarzes, junges Männchen, das sich zur Paarung anschickte, obwohl das Weibchen warnend knurrte. Zwei Himmel sah deutlich seinen riesigen, steifen coska in einem Busch starrer, grauer Haare, als er hinter dem Weibchen hersprang und versuchte, es zu besteigen. Das Weibchen wirbelte fauchend herum und schnappte nach ihm, und das Männchen floh. Einen Augenblick lang setzte das Weibchen ihm nach, doch dann entdeckte es den toten Hasen, nahm ihn in die Schnauze und machte sich davon.
Unter großen Schmerzen stand Zwei Himmel schließlich auf. Der Prophet hatte ihre Kleider mitgenommen. Auf der festgetretenen Erde der Lichtung konnte sie keine Bärenspuren erkennen, doch in der feinen Asche des erloschenen Feuers sah sie deutlich eine einzelne Fuchsspur. War in der Nacht ein Fuchs vorbeigekommen und hatte den Hasen mitgenommen? Hatte sie die Bären vielleicht nur geträumt, oder waren es Manitus gewesen?
Den ganzen Tag lang wanderte sie. Einmal hörte sie Pferde näher kommen, und sie versteckte sich im Unterholz, bis zwei junge Sioux vorbeigeritten waren. Es war noch hell, als sie, von Geistern begleitet, den nackten Körper mit Staub und Blut bedeckt, Prophetstown betrat. Drei Männer unterbrachen ihr Gespräch, als sie vorbeiging, und eine Frau hielt beim Maismahlen inne. Zum erstenmal entdeckte sie Furcht in den Gesichtern, die sie ansahen.
Der Prophet selbst wusch sie. Während er ihre zerschundenen Schultern und die Verbrennungen behandelte, fragte er sie, ob sie geträumt habe. Als sie ihm von den Bären erzählte, strahlten seine Augen. »Das stärkste Zeichen!« murmelte er. Es bedeute, erklärte er ihr, dass die Manitus immer bei ihr sein würden, solange sie nicht mit einem Mann das Lager teile.
Während sie noch darüber nachdachte, eröffnete er ihr, dass sie nun nicht mehr Zwei Himmel noch Sarah zwei sei. In dieser Nacht in Prophetstown war sie Makwa-ikwa, die Bärenfrau, geworden.
Wieder hatte der Große Vater in Washington die Sauks angelogen. Die Armee hatte Keokuks Sippe versprochen, sie könnten für alle Zeiten auf dem Land der Iowas am Westufer des Masesibowi leben, aber schon bald drangen auch hier weiße Siedler ein. Gegenüber Rock Island wurde eine weitere weiße Stadt gegründet. Sie erhielt den Namen Davenport, zum Andenken an jenen Händler, der den Sauks geraten hatte, Sauk-e-nuk und die Gebeine ihrer Vorfahren zu verlassen, und der dann ihr Land von der Regierung gekauft hatte, um sich selbst zu bereichern.
Jetzt behauptete die Armee, Keokuks Sippe schulde der Regierung eine große Menge amerikanischen Geldes, und sie müsse deshalb das neue Land im Iowa-Territorium verkaufen und in ein Reservat ziehen, das die Vereinigten Staaten tief im Südwesten, im Territorium der Kansas, eingerichtet hatten.
Der Prophet schärfte Bärenfrau ein, solange sie lebe, nie dem Wort eines Weißen zu trauen.
In diesem Jahr wurde Gelber Vogel von einer Schlange gebissen. Ihr Körper schwoll an und füllte sich mit Wasser, und schließlich starb sie. Mond hatte einen Ehemann gefunden, einen Sauk mit dem Namen Der singend einhergeht, und sie hatte ihm bereits Kinder geboren. Rauchfrau heiratete nicht. Sie schlief mit so vielen Männern und war dabei so glücklich, dass die Leute lächelten, wenn sie ihren Namen nannten. Manchmal überkam auch Makwa-ikwa die fleischliche Lust, doch sie lernte, dieses Verlangen zu beherrschen wie den Schmerz. Sie bedauerte nur, dass sie keine Kinder hatte. Manchmal dachte sie daran, wie sie sich während des Massakers am Bad Axe mit Der Land besitzt versteckt hatte und wie sich das Saugen ihres kleinen Bruders an ihrer Brustwarze angefühlt hatte. Doch sie fand sich mit ihrem Los ab, sie lebte in zu engem Kontakt mit den Manitus, um deren Entscheidung, dass sie nie Mutter sein dürfe, in Frage zu stellen. Die letzten beiden Zelte der Weisheit waren der Schwarzen Magie vorbehalten. Makwa-ikwa lernte, wie man mit einem Zauberspruch Gesunde krank machen und Schicksalsschläge heraufbeschwören und lenken konnte. Sie lernte die kleinen Kobolde der Hinterlist, die sogenannten watawinonas, kennen, dazu Geister, Hexen und Panguk, den Dämon des Todes. Diesen Geistern durfte man sich erst in den letzten Zelten nähern, denn eine Medizinfrau musste sich vollständig selbst in der Gewalt haben, bevor sie sie anrief, um nicht in Versuchung zu kommen, beim bösen Treiben der watawinonas mitzumachen. Die Schwarze Magie war die höchste Stufe der Verantwortung. Die watawinonas raubten Makwa-ikwa ihr Lächeln. Sie wurde blass. Ihr Fleisch schmolz, bis ihre Knochen grob wirkten, und manchmal blieb ihre Monatsblutung aus. Sie sah, dass die watawinonas auch das Leben aus Weiße Wolkes Körper saugten, denn er wurde immer schwächer und kleiner; doch er versprach ihr, er werde noch nicht sterben.
Tochter der Mide’wiwin
Nachdem zwei weitere Jahre verstrichen waren, führte der Prophet sie durch das letzte Zelt. In früheren Tagen hätte man dazu alle weitverstreuten Sauk-Clans zusammengerufen, hätte Rennen und Spiele veranstaltet, kalumet geraucht und ein Geheimtreffen der Mide’wiwin, des Rates der Medizinmänner der Algonquin-Stämme, einberufen. Doch diese Zeit war vorüber. Der rote Mann wurde verfolgt und geknechtet. Der Prophet konnte deshalb nur drei alte Männer aufbieten, die als Richter fungieren sollten: Verlorenes Messer von den Mesquakies, Unfruchtbares Pferd von den Ojiba und Kleine große Schlange von den Menomini. Die Frauen von Prophetstown nähten Makwa-ikwa ein Kleid aus weißem Hirschkuhleder, und sie trug ihre z’zze-Riemen und ihre Arm- und Halsbänder, die klirrten, wenn sie sich bewegte. Sie tötete zwei Hunde mit dem Würgestab und überwachte die Reinigung und Zubereitung des Fleisches. Nach dem Festmahl saßen sie und die alten Männer die ganze Nacht lang um das Feuer.
Der Rat befragte sie, und sie antwortete ehrerbietig, aber freimütig- als Gleichberechtigte. Sie sang und spielte auf ihrer Wassertrommel, um die Manitus anzurufen und die Geister zu besänftigen. Die alten Männer enthüllten ihr die Mysterien der Mide’wiwin, bewahrten jedoch ihre ganz persönlichen Geheimnisse, wie sie von nun an das ihre bewahren würde. Als der Morgen dämmerte, war sie eine Schamanin geworden.
In früheren Zeiten hätte sie das zu einer mächtigen Frau gemacht. Doch dem Gebot der Stunde gehorchend, half Weiße Wolke ihr, die Kräuter zu sammeln, die dort, wo sie hingehen würde, nicht wuchsen. Zusammen mit ihren Trommeln und dem Medizinbeutel packten sie die Kräuter auf ein geschecktes Maultier, das der Prophet ihr schenkte. Sie verabschiedete sich zum letzten Mal von dem alten Mann und ritt auf seinem zweiten Geschenk, einem grauen Pony, zum entfernten Territorium der Kansas, wo die Sauks jetzt lebten.
Das Land, auf dem das Reservat sich befand, war noch flacher als die Ebenen von Illinois. Und trocken. Es gab gerade genug Trinkwasser, doch es musste über eine weite Strecke herbeigeschafft werden.
Diesmal hatten die Weißen den Sauks Land gegeben, das eigentlich so fruchtbar war, dass sie alles mögliche darauf anbauen konnten. Was sie aussäten, spross im Frühjahr auch kräftig, doch schon in den ersten Tagen des Sommers vertrocknete alles und starb ab. Der Wind wirbelte Staub hoch, durch den die Sonne wie ein rundes, rotes Auge brannte. Also aßen sie die Nahrung des weißen Mannes, die die Soldaten ihnen brachte: verdorbenes Rindfleisch, stinkendes Schweinefett, altes Gemüse. Krumen vom Festmahl der Bleichgesichter. Es gab auch keine hedonoso-te. Die Sauks lebten in Hütten aus frisch geschlagenem Holz, das sich verzog und schrumpfte, so dass im Winter der Schnee durch die Ritzen hereindrang. Zweimal im Jahr kam ein nervöser, kleiner Indianerbevollmächtigter mit einigen Soldaten und lud einen Haufen Waren inmitten der Prärie ab: billige Spiegel, Glasperlen, kaputte Pferdegeschirre aus rissigem Leder mit Glöckchen daran, alte Kleidung, madenzerfressenes Fleisch. Anfangs stürzten sich alle Sauks auf den Stapel, doch dann fragte jemand den Indianerbevollmächtigten, warum er diese Sachen bringe, und er antwortete, sie seien die Bezahlung für das Sauk-Land, das die Regierung konfisziert hatte. Danach nahmen nur noch die Ärmsten und die von allen Verachteten etwas. Alle sechs Monate wurde der Stapel größer, doch nur um in Wind und Wetter zu verrotten.
Von Makwa-ikwa hatten sie bereits gehört. Als sie ankam, empfingen sie sie mit Respekt, aber sie waren kein richtiger Stamm, der noch eine Schamanin brauchte. Die Mutigsten hatten sich Schwarzer Falke angeschlossen und waren von den Weißen getötet worden, oder sie waren verhungert oder im Masesibowi ertrunken oder den Sioux in die Hände gefallen. Doch es gab immer noch welche im Reservat, die die tapferen Herzen der Sauks früherer Zeiten besaßen. Ihren Mut mussten sie in den Kämpfen mit den in der Region heimischen Stämmen ständig auf die Probe stellen, denn der Wildbestand wurde immer dünner. Die Comanchen, die Kiowas, die Cheyenne und die Osages ärgerten sich über die Jagdkonkurrenz der Stämme aus dem Osten, die die Weißen hierher verfrachtet hatten. Die Weißen aber machten es den Sauks sehr schwer, sich zu verteidigen, denn sie versorgten sie mit Unmengen schlechten Whiskeys und nahmen ihnen dafür fast alle Felle ab, die ihre Fallen einbrachten. Immer mehr Sauks verbrachten ihre Tage im Alkoholrausch.
Makwa-ikwa lebte über ein Jahr im Reservat. In diesem Frühjahr wanderte eine kleine Büffelherde über die Prärie. Monds Gatte, Der singend einhergeht, ritt mit anderen Jägern hinaus und erlegte einige Tiere. Makwa-ikwa rief einen Büffeltanz aus und unterwies die Summer und Sänger. Die Leute tanzten wieder auf die alte Art, und in den Augen so mancher entdeckte sie ein Leuchten, das sie schon lange nicht mehr gesehen hatte, ein Leuchten, das sie mit Freude erfüllte. Andere spürten es ebenfalls. Nach dem Büffeltanz kam Der singend einhergeht zu ihr und sagte, dass einige Sauks das Reservat verlassen und leben wollten, wie ihre Väter gelebt hatten. Sie ließen fragen, ob ihre Schamanin mit ihnen gehen wolle. Sie fragte Der singend einhergeht, wohin sie gingen. »Heim«, sagte er.
So verließen die Jüngsten und Stärksten das Reservat, und sie ging mit ihnen. Im Herbst hatten sie das Land erreicht, das ihren Herzen Freude und gleichzeitig Kummer bereitete. Es war schwer, dem weißen Mann aus dem Weg zu gehen, obwohl sie um jede Siedlung einen großen Bogen machten. Die Jagd brachte wenig ein, und der Winter traf sie unvorbereitet. Weiße Wolke hatte in diesem Sommer das Zeitliche gesegnet, und Prophetstown war verlassen. An Weiße konnte Makwa-ikwa sich nicht um Hilfe wenden, denn sie wusste noch zu gut, was der Prophet ihr eingeschärft hatte: Nie dürfe sie einem Weißen trauen.
Doch dann hatte sie gebetet, und die Manitus hatten ihr Hilfe in der Gestalt eines weißen Arztes, der Cole hieß, geschickt, und trotz der Warnung des Propheten hatte sie den Eindruck gewonnen, er sei ihres Vertrauens würdig.
Als er deshalb in das Lager der Sauks geritten kam und ihr sagte, dass er jetzt ihre Hilfe brauche, um seine Medizin zu praktizieren, war sie ohne Zögern bereit, mit ihm zu gehen.
Steine
Rob J. versuchte, Makwa-ikwa zu erklären, was ein Blasenstein ist, aber er wusste nicht, ob sie glaubte, dass Sarah Bledsoes Krankheit wirklich von einem Blasenstein herrührte. Makwa-ikwa fragte ihn, ob er die Steine heraussaugen werde, und während der Unterhaltung wurde ihm klar, dass sie einen Taschenspielertrick von ihm erwartete, mit dem er die Patientin glauben machen wollte, er habe sie von der Ursache ihres Leidens erlöst. Er erklärte ihr wiederholt, dass die Steine wirklich in der Blase der Patientin vorhanden seien und ihr Schmerzen bereiteten und dass er mit einem Instrument in Sarahs Körper eindringen und die Steine entfernen werde.
Ihre Verwirrung wurde nicht geringer, als sie zu seiner Hütte kamen und er anfing, den Tisch, den Alden ihm gezimmert hatte und der ihm jetzt als Operationstisch dienen sollte, mit Kernseife und Wasser abzuschrubben.
Dann holten sie Sarah Bledsoe gemeinsam im Buckboard ab. Der kleine Junge, Alex, war bei Alma Schroeder, und seine Mutter wartete mit großen Augen im ausgezehrten, bleichen Gesicht auf den Arzt. Während der Rückfahrt schwieg Makwa-ikwa, und Sarah Bledsoe hatte es vor Angst die Sprache verschlagen. Rob J.
versuchte, die Situation mit Geplauder zu entspannen, doch mit wenig Erfolg.
Vor seiner Hütte angekommen, sprang Makwa-ikwa behende vom Wagen. Sie half der weißen Frau mit einer Behutsamkeit, die ihn überraschte, vom Sitz herunter und redete zum erstenmal. »Früher hieß ich auch einmal Sarah.«
Sarah war an Alkohol nicht gewöhnt. Sie hustete, als sie versuchte, die drei Finger hoch Whiskey zu schlucken, die er ihr gab, und den zusätzlichen Schluck, den er in die Tasse goss, hätte sie beinahe wieder hochgewürgt. Er wollte, dass sie benommen und schmerzunempfindlich war, aber noch fähig zur Mitarbeit. Während sie warteten, bis der Whiskey seine Wirkung zeigte, stellte er um den Tisch herum Kerzen auf und zündete sie trotz der sommerlichen Hitze an, denn das Tageslicht in der Hütte war nur schwach. Als sie Sarah auszogen, sah er, dass ihr Körper rot geschrubbt war. Ihre Hinterbacken waren klein wie die eines Kindes und die bläulichen Schenkel so dünn, dass sie beinahe konkav wirkten. Sie verzog das Gesicht, als er einen Katheter einführte und ihre Blase mit Wasser füllte. Er zeigte Makwa-ikwa, wie sie Sarahs Knie halten musste, und fettete dann den Lithotripter mit sauberem Schmalz ein, wobei er darauf achtete, nichts auf die kleine Zange zu bekommen, mit der er die Steine würde packen müssen. Die Frau keuchte auf, als er das Instrument in ihre Harnröhre einführte. »Ich weiß, dass es weh tut, Sarah. Das Einführen ist sehr schmerzhaft, aber... So... Jetzt wird’s gleich besser.«
Sie war an starke Schmerzen gewöhnt, und ihr Stöhnen wurde schwächer, aber er war trotzdem besorgt. Es war einige Jahre her, seit er das letztemal nach Steinen getastet hatte, und damals war es unter den aufmerksamen Augen eines Mannes geschehen, der zweifellos zu den besten Chirurgen der Welt gehörte. Am Tag zuvor hatte er stundenlang mit dem Lithotripter geübt, hatte Rosinen und Nüsse in eine Schüssel mit Wasser gelegt und versucht, sie mit der Zange zu packen und die Schalen der Nüsse zu knacken. Aber das war natürlich etwas ganz anderes, als in der verletzlichen Blase eines lebenden Wesens herumzustochern, denn er wusste, wenn er nur einmal unvorsichtig zustieß oder statt eines Steins ein Gewebefältchen zwischen die Backen seiner Zange bekam, würde ein Riss entstehen, der eine schreckliche Infektion und einen qualvollen Tod verursachen könnte.
Da ihm seine Augen nichts nützten, schloss er sie und bewegte den Lithotripter langsam und vorsichtig. Sein ganzes Wesen verschmolz mit dem Nerv, der das Instrument führte. Die Spitze stieß auf etwas. Er öffnete die Augen und betrachtete Bauch und Unterleib der Frau, als könnte er durch das Fleisch sehen.
Makwa-ikwa beobachtete seine Hände und sein Gesicht und ließ sich nicht das geringste entgehen. Er verscheuchte eine Fliege und konzentrierte sich dann nur noch auf seine Aufgabe, die Patientin vor sich und den Lithotripter in seiner Hand. Der Stein... Mein Gott! Er spürte sofort, wie groß er war. Etwa so groß wie sein Daumennagel, schätzte er, während er den Lithotripter mit äußerster Vorsicht handhabte. Um festzustellen, ob der Stein sich bewegen ließ, umschloss er ihn fest mit den Backen der Zange, doch als er nur ganz sanft an dem Instrument zog, öffnete die Frau auf dem Tisch den Mund und schrie auf. »Ich habe den größten Stein«, sagte er ruhig. »Aber er ist zu groß, um ihn in einem Stück herauszubekommen, ich versuche, ihn deshalb zu zerbrechen.« Noch während er sprach, bewegten sich seine Finger zu der Schraubenmutter am Ende des Instruments. Es war, als würde jede Umdrehung der Schraube auch die Spannung in ihm erhöhen, denn er wusste, wenn der Stein nicht zerbrach, stand es schlecht um die Frau. Doch er hatte Glück, und nach einigen weiteren Umdrehungen war ein dumpfes Knirschen zu hören, ein Geräusch, als zertrete jemand eine Tonscherbe unter dem Stiefelabsatz.
Der Stein zerbrach in drei Teile. Obwohl er sehr behutsam vorging, tat er Sarah Bledsoe weh, als er den ersten entfernte. Makwa-ikwa benetzte ein Tuch und wischte der Patientin den Schweiß vom Gesicht. Rob J. griff nach Sarahs geballter Faust, öffnete die Finger und legte ihr das Bruchstück des Steins in die weiße Hand. Es war ein hässliches Ding, braun und schwarz. Das eine Fragment war glatt und eiförmig, doch die beiden anderen war unregelmäßig geformt, mit nadelfeinen Spitzen und scharfen Kanten. Als Sarah schließlich alle drei Stücke in der Hand hielt, führte er wieder einen Katheter ein und spülte die Blase. Sie schied eine große Menge Kristalle aus, die sich beim Brechen vom Stein gelöst hatten.
Sarah Beldsoe war erschöpft. »Das reicht jetzt«, sagte er. »Sie haben noch einen Stein in der Blase, aber der ist nur klein und dürfte leicht zu entfernen sein. Den holen wir ein andermal.«
Innerhalb einer Stunde begann sie, vor Fieber zu glühen, was die Folge fast jedes chirurgischen Eingriffs ist. Sie flößten ihr Flüssigkeit ein, unter anderem auch Makwa-ikwas sehr wirkungsvollen Weidenrindentee. Am nächsten Morgen war Sarah immer noch leicht fiebrig, doch so kräftig, dass sie sie nach Hause bringen konnten.
Rob J. wusste, wie wund und entzündet sie war, doch sie ließ die holprige Fahrt klaglos über sich ergehen. Das Fieber war noch nicht ganz aus ihren Augen verschwunden, es war aber auch ein neues Leuchten in ihnen, das er als Hoffnung erkannte.
Ein paar Tage später lud Nick Holden ihn aufs neue zur Geißenjagd ein, doch Rob J. nahm nur widerwillig an.
Diesmal fuhren sie mit einem Schiff Flussaufwärts nach Dexter, wo in einer Taverne die LaSalle-Schwestern auf sie warteten. Nick nahm sich die jüngere, attraktivere Polly, und Rob J. musste sich mit Lydia begnügen, einer ältlichen Frau mit verbittertem Blick und einer Oberlippe, auf der auch eine dicke Schicht Reispuder den dunklen Schnurrbart nicht verbergen konnte. Lydia zeigte deutlich ihre Verärgerung, als Rob J. auf Kernseife, Wasser und dem Gebrauch von Old Horny bestand, aber sie erledigte ihren Teil der Transaktion mit professioneller Schnelligkeit. In dieser Nacht lag er neben ihr in einem Zimmer, in dem noch schwach die Dünste früherer bezahlter Leidenschaften hingen, und fragte sich, was er hier eigentlich tat. Aus dem angrenzenden Zimmer kamen wütende Stimmen, das heisere Schreien einer Frau und hässliche, aber unverkennbare Schlaggeräusche.
»Mein Gott!« Rob J. hämmerte gegen die dünne Wand. »Nick! Ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens. Verdammt, Cole. Jetzt schlafen Sie doch endlich! Oder tun Sie, was Sie wollen. Haben Sie verstanden?« rief Holden zurück, und seine Stimme war belegt vom Whiskey und vor Verärgerung. Beim Frühstück am nächsten Morgen hatte Polly eine rote Schwellung auf der linken Gesichtshälfte. Nick musste ihr die Schläge gut bezahlt haben, denn ihre Stimme klang beim Abschied trotzdem freundlich. Auf der Rückfahrt ließ sich eine Erwähnung des Vorfalls nicht vermeiden. Nick legte Rob J. die Hand auf den Arm. »Manchmal wollen’s die Frauen ein bisschen brutal - das wissen Sie doch, oder? Die lechzen richtig danach, das bringt sie erst in Schwung.« Rob betrachtete ihn schweigend, und er wusste plötzlich, dass das seine letzte Geißenjagd gewesen war. Einen Augenblick später nahm Nick die Hand von Robs Arm und begann, ihm von der bevorstehenden Wahl zu erzählen. Er hatte beschlossen, sich um ein Staatsamt zu bewerben, und wollte sich zum Vertreter ihres Distrikts in der Legislative wählen lassen. Es wäre sehr hilfreich, sagte er allen Ernstes, wenn Doc Cole bei seinen Hausbesuchen die Leute auffordere, seinen guten Freund zu wählen.
Eine Veränderung
Zwei Wochen nach der Entfernung des großen Steins wollte Rob J. Sarah Bledsoe von dem kleineren Stein in ihrer Blase befreien, doch sie sträubte sich. In den ersten Tagen nach dem Eingriff hatte sie noch mehrmals mit dem Urin Kristalle ausgeschieden, manchmal unter Schmerzen. Doch seit die letzten Reste des zertrümmerten Steins ihre Blase verlassen hatten, war sie symptomfrei. Zum erstenmal seit dem Beginn ihrer Krankheit hatte sie keine lähmenden Schmerzen mehr, und ohne diese Krämpfe gewann sie auch die Kontrolle über ihren Körper zurück.
»Sie haben noch immer einen Stein in Ihrer Blase«, erinnerte er sie. »Ich will ihn nicht entfernen lassen. Er tut nicht weh.« Sie sah ihn trotzig an, senkte dann aber den Blick. »Ich habe jetzt mehr Angst als beim erstenmal.«
Ihm fiel auf, dass sie bereits besser aussah. Ihrem Gesicht war zwar das lange Leiden noch immer anzusehen, doch sie hatte etwas mehr Fleisch auf die Wangen bekommen und wirkte nicht mehr so abgezehrt. »Der große Stein, den wir entfernt haben, war früher auch ein kleiner. Sie wachsen, Sarah«, sagte er sanft.
Also stimmte sie zu. Wieder saß Makwa-ikwa bei ihr, während er den kleinen Stein, der nur etwa ein Viertel so groß war wie der andere, aus ihrer Blase entfernte. Sie hatte kaum Schmerzen, und danach überkam sie ein Gefühl des Triumphes.
Doch als diesmal nach der Operation das Fieber einsetzte, begann ihr Körper zu glühen. Er erkannte sehr früh die drohende Gefahr und verfluchte sich, weil er ihr den falschen Rat gegeben hatte. Noch vor Einbruch der Nacht bestätigte sich Sarahs angstvolle Vorahnung: Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hatte der kleinere Eingriff zu einer massiven Infektion geführt. Vier Nächte und fünf Tage lang hielten er und Makwa-ikwa Wache an Sarahs Bett, während in ihrem Körper ein verzweifelter Kampf wütete. Wenn Rob ihre Hände in die seinen nahm, spürte er das Schwinden ihrer Lebenskraft. Manchmal schien Makwa-ikwa etwas anzustarren, das gar nicht da war. Sie sang dann in ihrer Sprache und erklärte Rob J., sie bitte Panguk, den Dämon des Todes, diese Frau zu verschonen. Viel mehr konnten sie nicht tun für Sarah, außer sie mit feuchten Tüchern zu waschen, ihr Flüssigkeit einzuflößen und ihre gesprungenen Lippen mit Fett einzureihen. Eine Zeitlang wurde sie immer schwächer, doch am fünften Morgen - war es Panguk oder ihr eigener Geist, oder vielleicht der Weidenrindentee? - begann sie zu schwitzen. Ihre Nachthemden waren schneller durchnässt, als sie sie wechseln konnten. Nach einigen Stunden fiel sie in einen tiefen, erholsamen Schlaf, und als Rob J. am Nachmittag Sarahs Stirn berührte, fühlte die sich beinahe so kühl an wie seine eigene.
Makwa-ikwas Gesichtsausdruck veränderte sich kaum, doch inzwischen kannte er sie, und er glaubte zu erkennen, dass sie sich über seinen Vorschlag freute, auch wenn sie ihn zunächst nicht ernst nahm. »Mit dir arbeiten? Die ganze Zeit?«
Er nickte. Es schien ihm durchaus sinnvoll zu sein. Er hatte gesehen, dass sie wusste, wie ein Patient zu behandeln war, und sie hatte prompt getan, was er bei der Operation jeweils verlangte. Die Zusammenarbeit konne für beide von Vorteil sein, sagte er ihr. »Du kannst etwas von meiner Art der Medizin lernen, und mir kannst du so vieles beibringen über Pflanzen und Kräuter: wo sie helfen und wie man sie anwendet. Zum erstenmal sprachen sie im Buckboard darüber, nachdem sie Sarah heimgebracht hatten. Doch er drängte sie nicht. Er sagte nichts mehr und ließ sie darüber nachdenken.
Ein paar Tage später besuchte er das Sauk-Lager, und sie unterhielten sich bei einer Schüssel Haseneintopf noch einmal darüber. Am wenigsten gefiel ihr an seinem Angebot, dass er darauf bestand, sie müsse in der Nähe seiner Hütte leben, damit er sie in einem Notfall schnell erreichen könne.
»Ich muss bei meinen Leuten sein.«
Über den Sauk-Clan hatte er bereits nachgedacht. »Früher oder später beanspruchen die Weißen jedes Fleckchen Land, auf dem ihr euer Dorf oder euer Winterlager aufschlagen wollt. Es wird keinen Platz mehr für euch geben, außer in dem Reservat, aus dem ihr weggelaufen seid.« Sie müssten lernen, sagte er, in der veränderten Welt zu leben. »Ich brauche Hilfe auf meiner Farm, Alden Kimball schafft es nicht mehr alleine. Ein Paar wie Mond und Der singend einhergeht könnte ich gut gebrauchen. Ihr könntet euch auf meinem Grund Hütten bauen. Ich würde euch mit Dollars und Erzeugnissen der Farm bezahlen. Wenn es funktioniert, gibt es vielleicht auch auf anderen Farmen Arbeit für Sauks. Und wenn ihr genug Geld verdient und spart, könnt ihr euch vielleicht früher oder später Land kaufen, wie es bei den Weißen Brauch und Gesetz ist, und das kann euch dann niemand mehr wegnehmen.« Sie sah ihn an.
»Ich weiß, es verletzt euch, dass ihr euer ureigenes Land zurückkaufen müsst. Die weißen Männer haben euch belogen und betrogen. Und viele von euch getötet. Aber auch rote Männer haben einander angelogen. Und sich bestohlen. Und die verschiedenen Stämme haben sich untereinander bekriegt und einander getötet, das hast du mir selber erzählt. Die Hautfarbe ist gleichgültig, alle möglichen Leute können Schweinehunde sein. Aber nicht jeder ist ein Schweinehund.« Zwei Tage später kamen Makwa-ikwa, Mond und Der singend einhergeht nebst deren zwei Kindern auf sein Land geritten. Sie bauten sich ein hedonoso-te mit zwei Rauchabzügen, ein einziges Langhaus, das die Schamanin mit der Sauk-Familie teilen wollte und das groß genug war, um auch das dritte Kind zu beherbergen, das bereits in Monds Bauch wuchs. Sie errichteten es am Flussufer, etwa eine Viertelmeile Flussabwärts von Rob J.s Hütte. Daneben bauten sie ein Schwitzhaus und ein Frauenhaus für die Zeiten der Menstruation. Alden Kimball stolzierte tiefgekränkt umher. »Hier gibt’s weiße Männer, die Arbeit suchen«, sagte er eisig zu Rob J. »Weiße Männer. Sie haben wohl nie daran gedacht, dass ich vielleicht gar nicht mit diesen verdammten Indianern arbeiten will, hm?«
»Nein«, erwiderte Rob J., »das habe ich nicht. Ich habe mir gedacht, wenn Sie einen guten weißen Arbeiter gefunden hätten, wären Sie längst zu mir gekommen. Ich kenne diese Leute inzwischen gut, Sie taugen wirklich viel. Ich weiß, Alden, dass Sie ohne Schwierigkeiten bei mir kündigen können. Jeder, der Sie nicht einstellt, wäre ein Trottel. Ich will nicht, dass dergleichen passiert, weil ich keinen besseren Mann als Sie für diese Farm finde. Also hoffe ich, dass Sie bleiben.«
Alden starrte ihn verwirrt an. Das Lob schmeichelte ihm, aber die unmissverständliche Botschaft verletzte ihn auch. Schließlich drehte er sich um und begann, Zaunpfosten auf den Buckboard zu laden. Die Sache wendete sich schließlich zum Guten, weil Der singend einhergeht mit seiner beeindruckenden Kraft und Größe und seinem freundlichen Wesen einen großartigen Knecht abgab. Mond hatte in der evangelischen Schule gelernt, für Weiße zu kochen. Für die beiden alleinstehenden Männer war es ein Leckerbissen, wenn sie heiße Waffeln oder Pasteten und regelmäßig schmackhaftes Essen vorgesetzt bekamen. Schon nach einer Woche war offensichtlich, dass die Sauks ein Teil der Farm werden würden, auch wenn Alden distanziert blieb und seine Niederlage nie zugeben wollte.
Eine kleine Rebellion erlebte Rob J. auch unter seinen Patienten. Nick Holden warnte ihn bei einer Tasse Cider:
»Ein paar Siedler fangen an, Sie Injun Cole zu nennen - Indianer-Cole . Sie sagen, Sie seien ein Indianerfreund.
Und dass Sie selber ein bisschen Sauk-Blut in den Adern hätten.«
Rob J. lächelte, denn die Vorstellung gefiel ihm. »Ich will Ihnen mal was sagen. Wenn sich jemand bei Ihnen über den Doktor beschwert, geben Sie ihm doch einen dieser Handzettel, die Sie so gerne austeilen. Einen, auf dem steht, wie glücklich der Ort ist, einen Arzt mit Doktor Coles Ausbildung und Erfahrung zu haben. Wenn einer von denen wieder mal krank ist oder sich verletzt, wird er kaum über meine angebliche Herkunft klagen.
Oder über die Farbe der Hände meiner Assistentin.«
Als er das nächstemal zu Sarahs Hütte ritt, um sich von ihrer Genesung zu überzeugen, sah er, dass der Pfad zu ihrer Behausung eingefasst, geebnet und gefegt war. Neu angelegte Beete mit Waldpflanzen schmückten die Vorderfront des kleinen Gebäudes. Im Inneren waren die Wände frisch getüncht, und es roch angenehm nach Seife und nach Lavendel, Minze, Salbei und Kerbel, die gebündelt von den Dachsparren hingen.
»Alma Schroeder hat mir die Kräuter geschenkt«, sagte Sarah. »Heuer ist es schon zu spät, um einen Garten anzulegen, aber nächstes Jahr will ich meinen eigenen haben.« Sie zeigte ihm das Gartenstückchen, das zum Teil schon von Unkraut und Strauchwerk befreit war. Die Veränderung der Frau war noch erstaunlicher als die ihres Anwesens. Sie habe begonnen, täglich selber zu kochen, erzählte sie, um nicht mehr von den gelegentlichen heißen Mahlzeiten abhängig zu sein, die die großzügige Alma ihr brachte. Dank der regelmäßigen und besseren Ernährung war die bleiche Hagerkeit einer anmutigen Weiblichkeit gewichen. Sarah bückte sich, um ein paar grüne Zwiebeln zu ernten, die auf dem Gartenstückchen sprossen, und er betrachtete ihren rosigen Nacken. Bald würde man ihn nicht mehr sehen, denn ihr Haar wuchs nach wie ein gelber Pelz.
Einem kleinen blonden Tier gleich trippelte ihr Junge hinter ihr her. Auch er war sauber, und Rob J. bemerkte Sarahs Unmut, als sie versuchte, Erdflecken vom Knie des Sohnes wegzuwischen. »Ein Junge macht sich eben immer schmutzig«, sagte er leichthin. Das Kind sah ihn mit wildem, angsterfülltem Blick an. Er hatte immer etwas Süßes in der Tasche, um sich leichter mit seinen kleinen Patienten anzufreunden, und so nahm er ein Bonbon heraus und wickelte es aus. Fast eine halbe Stunde lang musste er dem kleinen Alex ruhig zureden, bis er nahe genug an ihn heran durfte, um ihm die Süßigkeit geben zu können. Als die kleine Hand schließlich nach dem Bonbon schnappte, hörte Rob J. Sarah erleichtert aufatmen. Er hob den Kopf und sah, dass sie sein Gesicht betrachtete. Sie hatte wunderbare Augen voller Leben.
»Ich habe eine Wildpastete gemacht. Wenn Sie mit uns essen wollen...«
Er wollte schon höflich ablehnen, doch zwei Gesichter starrten ihn an: der Junge verzückt an dem Bonbon lutschend, die Mutter ernst und erwartungsvoll. Die Gesichter schienen ihm Fragen zu stellen, die er nicht verstehen konnte. »Ich liebe Wildpastete«, sagte er.
Sarahs Verehrer
Es war medizinisch durchaus vertretbar, dass Rob J. in der nächsten Woche mehrmals auf der Rückfahrt von Hausbesuchen bei Sarah Bledsoe vorbeischaute, denn es war immer nur ein sehr kleiner Umweg, und als ihr Arzt musste er sich überzeugen, dass ihre Genesung gut verlief. Und in der Tat verlief sie prächtig. Über ihre Gesundheit gab es kaum etwas zu bemerken, er konnte höchstens feststellen, dass aus der Leichenblässe ihrer Haut eine rosa-pfirsichfarbene Tönung geworden war, die ihr sehr gut stand, und dass ihre Augen vor Vitalität und einer faszinierenden Intelligenz funkelten. An einem Nachmittag bot sie ihm Tee und Maisbrot an, in der folgenden Woche hielt er dreimal bei ihrer Hütte, und zweimal nahm er ihre Einladung an, zum Essen zu bleiben. Sie kochte noch besser als Mond, und er konnte nicht genug von ihren Gerichten bekommen, die, wie sie sagte, typisch für Virginia waren. Er wusste, dass ihre Vorräte dürftig waren, also brachte er immer wieder Kleinigkeiten mit, einen Sack Kartoffeln oder einen kleinen Schinken. Eines Morgens erhielt er von einem Farmer, der gerade knapp bei Kasse war, vier frisch geschossene Moorhühner als Anzahlung, und mit diesen Vögeln am Sattel ritt er zur Bledsoe-Hütte. Als er dort ankam, sah er Sarah und Alex auf der Erde sitzen. Neben ihnen grub ein schwitzender, hemdloser Mann mit kräftigen Muskeln und gebräunter Haut gerade den Garten um. Sarah stellte ihn als Samuel Merriam vor, einen Farmer aus Hooppole. Merriam war mit einem Karren voller Schweinsdung aus Hooppole gekommen, und die Hälfte davon hatte er bereits unter die Gartenerde gegraben. »Es gibt nichts Besseres für das Wachstum«, erklärte er Rob J. fröhlich. Verglichen mit diesem fürstlichen Geschenk einer Wagenladung Scheiße, die noch dazu gleich verarbeitet wurde, waren Robs kleine Vögel nur ein dürftiges Mitbringsel, doch er händigte sie ihr trotzdem aus, und sie schien aufrichtig dankbar zu sein. Er lehnte höflich ab, als sie ihn einlud, doch mit ihr und Samuel Merriam zu Mittag zu essen, und besuchte statt dessen Alma Schroeder, die begeistert von seinen Erfolgen bei der Heilung Sarahs plapperte. »Und wie Sie sehen, hat sie auch schon einen Verehrer.« Merriams Frau war im vergangenen Herbst an Fieber gestorben, und er brauchte möglichst bald eine neue Frau, die sich um seine fünf Kinder kümmerte und ihm bei den Schweinen half. »Eine gute Partie für Sarah«, sagte sie. »Aber hier an der Grenze sind Frauen ja so rar, da hat sie alle Chancen.«
Auf dem Heimweg zog es Rob J. noch einmal zur Bledsoe-Hütte. Er ritt, bis er vor Sarah stand, blieb aber im Sattel sitzen und sah sie nur an. Sie lächelte ihn an, doch es war ein verwirrtes Lächeln, und er sah, dass Merriam seine Arbeit unterbrach und ihn forschend anstarrte. Rob öffnete den Mund, ohne eigentlich zu wissen, was er sagen wollte. »Sie müssen möglichst viel Arbeit selbst verrichten«, kam schließlich über seine Lippen. »Die körperliche Anstrengung ist für Ihre vollständige Genesung notwendig.« Dann tippte er an seinen Hut und ritt übelgelaunt nach Hause.
Als er drei Tage später wieder vor der Hütte anhielt, war von dem Verehrer nichts zu sehen. Sarah mühte sich mit einem großen, alten Rhabarberstock ab, den sie aufteilen und neu einpflanzen wollte, und er löste das Problem, indem er den Stock mit der Axt zerhackte. Gemeinsam gruben sie Löcher in den Lehm, pflanzten die Setzlinge ein und bedeckten sie mit warmer Erde, eine Arbeit, die ihm Freude machte und eine Portion Welsragout und einen Krug kühles Quellwasser einbrachte.
Danach saßen sie am Flussufer und angelten, während Alex im Schatten eines Baumes schlief. Rob J. erzählte ihr von Schottland, und sie sagte ihm, dass sie gerne eine Kirche in der Nachbarschaft hätte, damit ihr Sohn im Glauben erzogen werden könne. »Ich denke jetzt sehr oft an Gott«, erzählte sie. »Als ich noch geglaubt habe, dass ich sterben muss und Alex dann alleine ist, habe ich gebetet. Und Er hat Sie geschickt.« Nicht ohne eine gewisse Verlegenheit gestand er ihr, dass er nicht an die Existenz Gottes glaube. »Ich glaube, Götter sind eine Erfindung des Menschen, und das war immer so«, sagte er. Er sah das Entsetzen in ihrem Blick und fürchtete schon, sie zu einem Leben der Frömmigkeit auf einer Schweinefarm ermuntert zu haben. Aber sie ging nicht weiter auf die Religion ein, sondern erzählte von ihrem früheren Leben in Virginia, wo ihre Eltern eine Farm besaßen. Ihre großen Augen waren so dunkelblau, dass sie beinahe violett wirkten. Es sprach zwar keine Sentimentalität aus ihrem Blick, doch er erkannte in ihm die Sehnsucht nach dieser einfacheren, wärmeren Zeit.
»Pferde!« sagte sie. »Ich bin mit Pferden aufgewachsen.«
Das bot ihm die Gelegenheit, sie für den folgenden Tag zu einem Ausritt einzuladen, zu einem alten Mann, der an Schwindsucht starb, und sie versuchte gar nicht, ihre Begeisterung über das Angebot zu verbergen, und nahm an. Am nächsten Morgen holte er sie auf Margaret Holland und mit Monica Grenville am Zügel ab. Alex ließen sie bei Alma Schroeder, die vor Freude strahlte, als sie erfuhr, dass Sarah mit dem Doktor ausritt.
Es schien ein guter Tag für einen Ausritt. Zur Abwechslung war es einmal nicht zu heiß, und sie nahmen sich Zeit und ließen die Tiere im Schritt gehen. Sarah hatte Brot und Käse in ihre Satteltasche gepackt, und sie picknickten im Schatten einer Immergrünen Eiche. Im Haus des lungenkranken Mannes blieb Sarah im Hintergrund, sie horchte nur auf das Rasseln seines Atems und sah zu, wie Rob J. die Hände des Patienten hielt.
Er wartete, bis Wasser auf der Feuerstelle heiß geworden war, wusch dann die dürren Glieder und flößte dem Alten löffelweise einen Betäubungstrunk ein, damit der Schlaf die Wartezeit erleichterte. Sarah hörte, wie er dem mürrischen Sohn und der Schwiegertochter sagte, dass der alte Mann nur noch wenige Stunden zu leben habe.
Als sie das Haus verließen, war Sarah bewegt und sprach wenig. Rob, der die Ungezwungenheit des Hinritts wiederherstellen wollte, schlug vor, die Pferde zu tauschen, da sie eine gute Reiterin sei und mit Margaret Holland bestimmt keine Probleme haben werde. Sie genoss den Ritt auf dem lebhafteren Pferd. »Heißen eigentlich die beiden Stuten nach Frauen, die Sie gekannt haben?« fragte sie, und er musste zugeben, dass das so war.
Sie nickte nachdenklich. Trotz seiner Bemühungen verlief der Rückweg recht schweigsam.
Bei seinem nächsten Besuch zwei Tage später war schon wieder ein neuer Mann in ihrer Hütte, ein spindeldürrer Hausierer namens Timothy Mead, der die Welt aus traurigen braunen Augen betrachtete und ehrerbietig mit dem Doktor sprach, als er ihm vorgestellt wurde. Mead schenkte Sarah vier Rollen verschiedenfarbiges Garn. Rob J.
holte einen Dorn aus Alex’ nacktem Fuß, wobei ihm auffiel, dass der Sommer zu Ende ging, der Junge aber keine ordentlichen Schuhe hatte. Er nahm deshalb an dessen Füßen Maß, und bei seinem nächsten Abstecher nach Rock Island ging er zum Schuhmacher und bestellte ein Paar Kinderstiefel. Es war ihm ein großes Vergnügen, das für sie tun zu können. Als er die kleinen Stiefel zwei Wochen später ablieferte, sah er, dass das Geschenk Sarah verlegen machte. Sie war immer noch ein Rätsel für ihn, und er wusste nicht, ob sie dankbar war oder verärgert.
An dem Vormittag, nachdem Nick Holden in die Legislative gewählt worden war, kam er auf die Lichtung vor Rob J.s Hütte geritten. In zwei Tagen würde er nach Springfield reiten und Gesetze machen, die dem Gedeih von Holden’s Crossing förderlich seien. Holden spuckte großspurig aus und brachte das Gespräch auf die inzwischen allgemein bekannte Tatsache, dass der Doktor mit der Witwe Bledsoe ausritt. »Da gibt es gewisse Dinge, die Sie wissen sollten, Doktor.»
Rob sah ihn an.
»Na, das Kind, ihr Sohn. Sie wissen doch, dass es ein Kind der Liebe ist. Es wurde fast zwei Jahre nach dem Tod ihres Gatten geboren.«
Rob stand auf. »Leben Sie wohl, Nick! Ich wünsche Ihnen eine gute Reise nach Springfield.«
Sein Ton war unmissverständlich, und Holden richtete sich auf. »Ich wollte doch nur sagen, dass ein Mann wie Sie es nicht nötig hat...« begann er, doch was er in Rob J.s Gesicht sah, ließ ihn den Rest des Satzes verschlucken. Einen Augenblick später verabschiedete er sich verlegen und ritt weg.
Rob J. sah eine verwirrende Mischung von Gefühlen in ihrem Gesicht: Freude, ihn zu sehen und in seiner Gesellschaft zu sein, Zärtlichkeit, wenn sie sie sich zugestand, manchmal aber auch etwas wie Entsetzen. Es kam der Abend, an dem er sie küsste. Zunächst war ihr Mund weich und willig, und sie schmiegte sich an ihn, doch plötzlich war alles anders, und sie wand sich aus seinen Armen. Zum Teufel, dachte er, sie mag mich nicht, und damit hat sich’s. Aber er zwang sich, sie sanft zu fragen, was denn los sei.
»Wie kann ich dir denn gefallen? Hast du mich denn nicht elend gesehen, in einem abscheulichen Zustand? Du hast doch... meinen Unrat gerochen«, sagte sie mit hochrotem Gesicht. »Sarah«, erwiderte er und sah ihr in die Augen, »als du krank warst, war ich dein Arzt. Doch inzwischen sehe ich dich als charmante Frau voll Intelligenz, mit der es mir große Freude macht, Gedanken auszutauschen und meine Träume zu teilen. Ich möchte dich - in jeder Hinsicht. Ich kann an nichts anderes mehr denken als an dich. Ich liebe dich.«
Nur ihre Hände berührten sich, die ihren lagen in den seinen. Ihr Griff verstärkte sich, doch Sarah sagte nichts.
»Vielleicht kannst du lernen, mich zu lieben.«
»Lernen? Wie sollte ich dich denn nicht lieben?« fragte sie aufbrausend. »Dich, der du mir mein Leben zurückgegeben hast, als wärst du Gott.«
»Nein, verdammt noch mal! Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mann. Und das muss ich auch sein, um...« Jetzt küssten sie sich. Der Kuss dauerte und dauerte und war doch nicht genug. Sarah war es schließlich, die verhinderte, was leicht hätte geschehen können, indem sie ihn grob wegstieß, sich abwandte und ihre Kleider ordnete. »Heirate mich, Sarah!«
Als sie nichts erwiderte, redete er weiter. «Du bist nicht dazu geschaffen, den ganzen Tag in einem Schweinestall zu stehen oder mit einem Hausiererbündel auf dem Rücken durch die Gegend zu stolpern.«
»Wozu bin ich denn dann geschaffen?« fragte sie mit leiser, verbitterter Stimme.
»Na, zur Frau eines Arztes. Das ist doch offensichtlich«, sagte er feierlich.
Sie musste ihre Ernsthaftigkeit nicht vortäuschen. »Es gibt Leute, die werden nichts eiliger zu tun haben, als dir von Alex und seiner Abstammung zu erzählen. Also werde ich es dir lieber gleich selber sagen.«
»Ich will Alex’ Vater sein. Ich mache mir Gedanken über sein Heute und sein Morgen; das Gestern brauche ich nicht zu wissen. Auch in meinem Gestern hat es Schreckliches gegeben. Heirate mich, Sarah!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch es gab noch etwas, das sie ihm sagen musste: »Es heißt, die Indianerfrau lebt mit dir. Du musst sie wegschicken.«
»>Es heißt.< Und >Es gibt Leute, die dir erzählen werden.< Jetzt will ich dir mal was erzählen, Sarah Bledsoe: Wenn du mich heiraten willst, musst du lernen, dich einen Dreck um die Leute zu scheren.« Er holte tief Atem.
»Makwa-ikwa ist eine gute, schwer arbeitende Frau. Sie lebt in ihrem eigenen Haus auf meinem Land. Sie wegzuschicken wäre Ungerechtigkeit ihr und mir gegenüber, und ich werde es nicht tun. Es wäre der schlechtestmögliche Anfang für unser beider gemeinsames Leben.« Er hielt inne. »Du musst mir glauben, dass es keinen Grund zur Eifersucht gibt.« Er drückte ihre Hände und ließ sie nicht los. »Noch andere Bedingungen?«
»Ja«, erwiderte sie erregt. »Du musst die Namen deiner Stuten ändern. Sie heißen nach Frauen, die du geritten hast, oder etwa nicht?« Er lächelte, doch aus ihren Augen funkelte echter Zorn. »Nur die eine. Die andere war eine alternde Schönheit, die ich als kleiner Junge gekannt habe, eine Freundin meiner Mutter. Ich habe sie begehrt, aber für sie war ich nur ein Kind.«
Sie fragte nicht, welches Pferd nach welcher Frau benannt war. »Es ist ein grausamer und gemeiner Männerwitz.
Aber du bist kein grausamer und gemeiner Mann, und deshalb wirst du die Namen der Stuten ändern.«
»Dann gib du ihnen neue Namen!« sagte er ohne Zögern.
»Und du musst versprechen, dass du nie ein Pferd nach mir benennst, gleichgültig, was in Zukunft zwischen uns passiert.«
»Ich schwöre es! Allerdings« - er konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen - »habe ich vor, bei Samuel Merriam ein Schwein zu bestellen und es...«
Zum Glück hielt er ihre Hände, und er ließ sie auch nicht los, bis sie seinen Kuss aufrichtig erwiderte. Als ihre Lippen sich trennten, sah er, dass sie weinte.
»Was ist denn?« fragte er, und ihn beschlich die Vorahnung, dass es nicht einfach sein würde, mit dieser Frau verheiratet zu sein.
Ihre nassen Augen strahlten. »Briefe mit der Postkutsche zu verschicken kostet zwar schrecklich viel Geld«, sagte sie. »Aber jetzt kann ich doch endlich meinem Bruder und meiner Schwester in Virginia etwas Erfreuliches berichten.«
Die Große Erweckung
Sich zur Heirat zu entschließen war einfacher als dann einen Geistlichen zu finden. Deshalb kümmerten sich die Paare im Grenzland meistens nicht groß um das förmliche Treuegelöbnis, doch Sarah weigerte sich, »verheiratet zu sein, ohne verheiratet zu sein.« Sie hatte die Fähigkeit, alles sehr unverblümt zu sagen: »Ich weiß, was es heißt, ein vaterloses Kind zu tragen und aufzuziehen, und es wird mir nie wieder passieren.«
Er verstand. Doch der Herbst war angebrochen, und er wusste, wenn erst einmal der Schnee die Prärie bedeckte, würde viele Monate lang kein Wanderprediger oder über Land reitender Priester durch Holden’s Crossing kommen. Die Lösung ihres Problems tauchte eines Tages mit einem Flugzettel auf, der eine Erweckungswoche ankündigte, und den Rob J. zufällig im Gemischtwarenladen las. »Sie nennen es die Große Erweckung von 1842. Die Woche wird in Belding Creek abgehalten. Dort müssen wir hin, Sarah, dort gibt’s genügend Priester.«
Er bestand darauf, Alex mitzunehmen, und Sarah stimmte freudig zu. Sie nahmen den Buckboard. Es war eine eineinhalbtägige Reise auf einer passierbaren, wenn auch steinigen Straße, und in der ersten Nacht schliefen sie in der Scheune eines gastfreundlichen Farmers, in der sie ihre Decken im duftenden, frischen Heu ausbreiteten.
Am nächsten Morgen verbrachte Rob J. eine halbe Stunde damit, als Gegenleistung für die Unterkunft die beiden Bullen des Farmers zu kastrieren und eine Wucherung aus der Flanke einer Kuh zu entfernen. Trotz dieser Verzögerung trafen sie vor Mittag in Belding Creek ein. Auch diese Siedlung war ziemlich neu, nur fünf Jahre älter als Holden’s Crossing, aber schon viel größer. Als sie durch den Ort fuhren, bekam Sarah große Augen. Sie drückte sich an Rob J. und hielt Alex’ Hand, denn an so viele Menschen war sie nicht gewöhnt. Die Große Erweckung von 1842 fand draußen in der Prärie in der Nähe eines schattigen Weidenwäldchens statt. Aus der ganzen Region hatte das Ereignis Leute angezogen, überall waren Zelte zum Schutz gegen die mittägliche Sonne und den Herbstwind aufgestellt. Sie sahen Wagen aller Arten und überall angebundene Pferde und Ochsen. Fliegende Händler versorgten die Menge, und die drei Reisenden aus Holden’s Crossing fuhren an Feuern mit brutzelnden und schmorenden Köstlichkeiten vorbei, deren Duft ihnen den Mund wässrig machte: Wildeintopf, Flussfischsuppe, Schweinebraten, Süßmais, geschmorter Hase. Als Rob J. das Pferd an einen Busch band - es war die frühere Margaret Holland und jetzige Vicky, die ihren Namen der Queen Victoria verdankte (»Die junge Queen hast du doch nie geritten, oder?« hatte Sarah gefragt) -, waren sie sehr hungrig, doch sie brauchten kein Geld für Essen auszugeben. Alma Schroeder hatte ihnen einen Proviantkorb mitgegeben, der für ein siebentägiges Hochzeitsmahl ausgereicht hätte, und sie labten sich an kaltem Hühnchen und Apfelküchlein.
Sie aßen schnell, denn die Aufregung hatte sie erfasst, das bunte Treiben der Menge, ihr Geschrei und ihre Gespräche. Dann nahmen sie den kleinen Jungen in die Mitte und schlenderten durch den Versammlungsort. Es waren eigentlich zwei Erweckungstreffen in einem, denn es herrschte ein ununterbrochener religiöser Wettstreit zwischen Methodisten und Baptisten, deren Prediger miteinander konkurrierten. Eine Zeitlang hörten sie einem Baptisten auf einer Lichtung des Wäldchens zu. Sein Name war Charles Prentiss Willard, und er schrie und zeterte so, dass Sarah erschauerte. Er warnte sie, dass Gott namentlich in Seinem Buch festhalte, wer des ewigen Lebens und wer des ewigen Todes teilhaftig werde. Was einen Sünder zum ewigen Tod verurteile, sagte er, sei ein unmoralisches und unchristliches Verhalten, und er nannte Beispiele: Ehebruch, das Erschießen eines christlichen Bruders, Schlägereien und Fluchen, Whiskeytrinken und das Hervorbringen illegitimer Brut.
Rob J. sah düster drein, und Sarah war zittrig und blass, als sie wieder auf die Prärie hinaustraten, um einem Methodisten zuzuhören, der Arthur Johnson hieß. Er war bei weitem kein so wortgewaltiger Redner wie Mr.
Willard, aber er sagte, dass die Rettung für jeden möglich sei, der Gutes tue, seine Sünden beichte und Gott um Vergebung bitte. Sarah nickte, als Rob J. sie fragte, ob sie nicht auch glaube, dass Mr. Johnson der Richtige für die Trauung sei. Mr. Johnson war erfreut, als Rob J. sich nach der Predigt an ihn wandte. Er beabsichtigte, die beiden vor der versammelten Gemeinde zu trauen, doch weder Rob J. noch Sarah wollten der allgemeinen Unterhaltung dienlich sein. Für drei Dollar war er einverstanden, sie etwa eine Meile außerhalb der Stadt am Ufer des Mississippi zu trauen. Dort angekommen, nahmen sie unter einem Baum Aufstellung, der kleine Junge saß daneben am Boden und sah zu, und eine sanfte, dicke Frau, die Mr. Johnson als Schwester Jane vorstellte, fungierte als Trauzeugin. »Ich habe einen Ring«, sagte Rob J. und holte das Schmuckstück aus der Tasche. Sarah riss die Augen auf, denn vom Ehering seiner Mutter hatte er ihr nichts erzählt. Ihre langen Finger waren sehr schmal, und der Ring erwies sich als zu weit. Sie hatte ihre gelben Haare mit einem dunkelblauen Band zusammengebunden, das Alma Schroeder ihr geschenkt hatte und das sie jetzt abnahm. Sie schüttelte die Haare, bis sie locker ihr Gesicht umspielten, und sagte, sie werde den Ring an dem Band um den Hals tragen, bis sie ihn enger machen lassen könne. Sie drückte Rob J. fest die Hand, während Mr. Johnson mit langjähriger Routiniertheit die Zeremonie vollzog. Rob J. wiederholte die Worte mit einer Stimme, deren Heiserkeit ihn selbst überraschte. Sarahs Stimme bebte, und sie sah beinahe ungläubig aus, so, als könne das alles eigentlich gar nicht wahr sein. Nach der Zeremonie, als sie sich anhaltend küssten, versuchte Mr. Johnson, sie zu überreden, zum Erweckungstreffen zurückzukehren, da bei den Abendversammlungen die meisten Seelen errettet würden.
Aber sie dankten ihm, verabschiedeten sich und machten sich auf den Heimweg. Der kleine Junge wurde bald übellaunig und quengelig, aber Sarah sang ihm fröhliche Lieder vor und erzählte ihm Geschichten, und sooft Rob J. das Pferd anhielt, nahm sie Alex vom Wagen und hüpfte und rannte mit ihm umher.
Sie aßen früh zu Abend, es gab Almas Rindfleisch- und Nierenpastetchen, Früchtekuchen mit Zuckerguss sowie frisches Quellwasser, und danach überlegten sie in Ruhe, welche Unterkunft sie sich für die Nacht suchen sollten. Ein paar Stunden entfernt gab es einen Gasthof, und Sarah freute sich offensichtlich auf eine Übernachtung dort, denn für so etwas hatte sie noch nie Geld gehabt. Als ihr aber Rob J. von den Wanzen und der allgemeinen Unsauberkeit in solchen Etablissements erzählte, stimmte sie sofort seinem Vorschlag zu, dieselbe Scheune aufzusuchen, in der sie in der vergangenen Nacht geschlafen hatten. Sie erreichten sie bei Einbruch der Dämmerung. Der Farmer nahm sie bereitwillig wieder auf, und sie kletterten beinahe mit dem Gefühl, als würden sie nach Hause zurückkehren, hinauf in das warme Dunkel. Erschöpft von der Anstrengung und weil er unterwegs zuwenig geschlafen hatte, fiel Alex sofort in einen tiefen Schlaf. Nachdem sie ihn gut zugedeckt hatten, breiteten sie in der Nähe eine Decke aus und fielen sich in die Arme, noch bevor sie ganz ausgezogen waren. Es gefiel ihm, dass sie nicht die Unschuldige spielte und dass ihre Leidenschaft füreinander aufrichtig und wissend war. Sie liebten sich stürmisch und laut, und danach lagen sie da und horchten, ob sie Alex aufgeweckt hatten, doch der kleine Junge schlief weiter. Er zog sie nun vollends aus und wollte sie ansehen. Da es inzwischen in der Scheune dunkel geworden war, krochen sie gemeinsam zu der kleinen Luke, durch die das Heu auf die Tenne gehievt wurde. Als er die Klappe öffnete, warf der zunehmende Mond ein Lichtrechteck in die Scheune, in dem sie sich gegenseitig betrachteten. Das Mondlicht zeigte ihm vergoldete Schultern und Arme, glänzende Brüste, einen Schamhügel wie das silbrige Nest eines kleinen Vogels, und einen gespenstisch weißen Hintern. Er hätte sie gern im Licht geliebt, doch die Luft war herbstlich frisch, und Sarah fürchtete, vom Farmer gesehen zu werden. Sie schlossen deshalb die Luke. Diesmal waren sie langsam und sehr zärtlich, und als er es in sich aufwallen spürte, rief er überschwänglich jubelnd: »Das wird unser bairn. Ja!« Das heisere Stöhnen seiner Mutter weckte den schlafenden Jungen, und er fing an zu weinen.
Danach lagen sie da, mit Alex in ihrer Mitte. Rob J. streichelte sie und wischte ihr Halme von der Haut, und seine Fingerspitzen prägten sich ihre Konturen ein.
»Du darfst nicht sterben«, flüsterte sie.
»Keiner von uns muss das, noch sehr lange nicht.«
»Ein bairn, ist das ein Kind?«
»Ja.«
»Und du glaubst, wir haben schon eins gemacht?«
»Vielleicht?«
Er hörte sie schlucken. »Dann sollten wir es noch mal versuchen, um sicherzugehen.«
Als ihr Gatte und ihr Arzt schien ihm das ein vernünftiger Vorschlag zu sein. Auf Händen und Knien kroch er durch das duftende Heu, und das reife Schimmern der bleichen Flanken seiner Frau lockte ihn weg von dem schlafenden Sohn.