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Vierter Teil. Der taube Junge

12. Oktober 1851

Lektionen

Die Eisenbahn nahm ihren Ausgangspunkt in Chicago. Neuankömmlinge aus Deutschland, Irland und Skandinavien waren es, die die glänzenden Schienen im überwiegend flachen Land immer weiter vorschoben, bis sie schließlich das Ostufer des Mississippi bei Rock Island erreichten. Gleichzeitig baute die Mississippi and Missouri Railroad Company eine Bahn quer durch Iowa von Davenport nach Council Bluffs, und die neugegründete Mississippi River Bridge Company arbeitete daran, die beiden Schienenstränge mit einer Brücke über den großen Fluss zu verbinden.

Am 1. September 1852, kurz nach Einbruch der Nacht, verwandelten sich in den geheimnisvollen Gründen des strömenden Wassers Millionen zappelnder Larven in Köcherfliegen. In zitternden Schwärmen erhoben sich diese libellenartigen Insekten mit ihren vier silbernen Flügeln aus dem Wasser und fielen über Davenport herein wie ein Blizzard aus schimmernden Schneeflocken. Sie bedeckten die Fensterscheiben, setzten sich an Augen, Ohren und Mündern von Mensch und Tier fest und waren für jeden, der sich vor die Tür wagte, eine schreckliche Plage.

Die Köcherfliegen lebten nur eine einzige Nacht. Ihr kurzer Überfall war ein Phänomen, das ein- oder zweimal im Jahr auftrat, und die Menschen am Mississippi nahmen es gelassen hin. Bei Sonnenaufgang war die Invasion vorbei, waren die Fliegen tot. Um acht Uhr morgens saßen vier Männer im dünnen Schein der Herbstsonne auf verschiedenen Bänken am Ufer, rauchten und sahen zu, wie Arbeitstrupps die Kadaver zu Haufen zusammenfegten und auf Karren schaufelten, von denen sie anschließend in den Fluss gekippt wurden. Wenig später kam ein fünfter Mann auf einem Pferd, der vier andere Pferde hinter sich mitführte. Die Männer verließen die Bänke und stiegen auf.

Es war ein Donnerstagvormittag. Zahltag. Im Büro der Chicago and Rock Island Railroad stellten der Zahlmeister und zwei Gehilfen eben die Lohnliste für die beim Brückenbau beschäftigten Arbeiter zusammen.

Um acht Uhr neunzehn ritten fünf Männer vor dem Büro vor. Vier stiegen ab und gingen hinein, der fünfte blieb bei den Pferden. Sie waren nicht maskiert, und wären sie nicht bewaffnet gewesen, hätten sie ausgesehen wie gewöhnliche Farmer. Sie sagten leise und höflich, was sie wollten, doch einer der Gehilfen war so töricht, nach einer Pistole auf einem Regal in seiner Nähe zu greifen, und er bekam eine Kugel in den Kopf. Danach gab es keinen Widerstand mehr, und die vier Räuber steckten in aller Ruhe das gesamte Lohngeld in Höhe von über eintausendeinhundert Dollar in einen schmutzigen Leinensack, bevor sie sich aus dem Staub machten. Der Zahlmeister berichtete später den Behörden, er sei sicher, dass der Anführer der Banditen ein Mann namens Frank Mosby gewesen war, der einige Jahre lang etwas weiter südlich am anderen Flussufer in der Nähe von Holden’s Crossing Land bewirtschaftet hatte.

Sarah hätte keinen unglücklicheren Zeitpunkt wählen können. Am Sonntagvormittag wartete sie, bis Reverend Perkins die Gläubigen aufforderte, ihre Verfehlungen zu bekennen. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, erhob sich und ging nach vorne. Mit leiser Stimme berichtete sie dem Priester und der Gemeinde, dass sie, nachdem sie schon in jungen Jahren Witwe geworden war, Verkehr außerhalb des heiligen Bundes der Ehe gehabt habe und dass daraus ein Kind entstanden sei. Jetzt aber, so fuhr sie fort, suche sie in der öffentlichen Beichte Erlösung von ihrer Sünde durch die reinigende Gnade Jesu Christi.

Danach hob sie ihr blasses Gesicht und schaute in die tränenfeuchten Augen von Reverend Perkins. »Lobe den Herrn«, flüsterte er. Mit seinen langen, schmalen Fingern umfasste er ihren Kopf und zwang sie auf die Knie.

»Gott«, betete er dann mit strenger Stimme, »sprich diese gute Frau von ihrem Fehltritt frei! Denn sie hat am heutigen Tag in diesem deinem Haus gebeichtet, hat das Blut der Sünde von ihrer Seele gewaschen und sie weiß gemacht wie die Rose, rein wie den ersten Schnee.«

Das Murmeln der Gemeinde schwoll an zu kräftigen Rufen: »Lobet den Herrn! Amen! Halleluja! Amen. Amen.«

Sarah spürte, wie ihre Seele leichter wurde. Während die Kraft des Herrn durch Mr. Perkins’ Fingerspitzen in ihren Körper strömte, war ihr, als schwebte sie noch in diesem Augenblick ins Paradies. Die Gemeinde platzte förmlich vor Aufregung. Jeder wusste von dem Überfall auf das Eisenbahnbüro und dass als Anführer der Gesetzlosen Frank Mosby erkannt worden war, dessen verstorbener Bruder Bill, so das Gerücht, Sarah Coles ersten Sohn gezeugt hatte. Deshalb ergötzten sich alle in der Kirche am Drama dieser Beichte, sie beglotzten Sarah Coles Gesicht und Körper und stellten sich alle möglichen lasziven Szenen vor, die sie später schockiert flüsternd als mutmaßliche Tatsachen unter Freunden und Nachbarn weiterverbreiteten. Als Mr. Perkins Sarah schließlich gestattete, in ihre Bank zurückzukehren, streckten sich ihr eifrige Hände entgegen, und viele Stimmen murmelten Worte der Freude und Glückwünsche. Für Sarah war es die wunderbare Erfüllung eines Traumes, der sie seit Jahren beschäftigt hatte. Es war der Beweis, dass Gott gut war, dass christliche Vergebung neues Hoffen möglich machte und dass man sie in eine Welt aufgenommen hatte, in der Liebe und Barmherzigkeit regierten. Es war der glücklichste Augenblick ihres Lebens.

Am nächsten Morgen fand die Eröffnung der Schule statt, die Kinder hatten ihren ersten Unterrichtstag. Shaman genoss die Gesellschaft von achtzehn Kindern unterschiedlichen Alters und den scharfen Geruch nach frischem Holz, der vom Gebäude und dem Mobiliar ausging. Er freute sich über seine Tafel und die bunten Kreidestifte und über sein Lesebuch, das abgenutzt und zerfleddert war. Die Schule in Rock Island hatte nämlich für ihre Schüler die neuere Ausgabe dieses Lesebuchs angeschafft und die alte Auflage nach Holden’s Crossing verkauft.

Doch beinahe vom ersten Augenblick an stürzten Probleme auf Shaman ein.

Mr. Byers hatte seine Schüler in vier Altersgruppen unterteilt und in alphabetischer Sitzordnung platziert, so dass Shaman an einem Ende des langen Gemeinschaftstisches saß, zu weit von Alex entfernt, um seine Hilfe beanspruchen zu können. Der Lehrer sprach vor Nervosität so schnell, dass Shaman Schwierigkeiten hatte, von seinen Lippen abzulesen. Die Schüler erhielten die Aufgabe, ein Bild von ihrem Zuhause auf die Schiefertafel zu malen und ihren Namen, ihr Alter sowie den Namen und den Beruf ihres Vaters dazuzuschreiben. Mit einer Begeisterung, wie sie nur Schulanfänger aufbringen können, drehten sie sich zum Tisch um und machten sich an die Arbeit. Dass etwas nicht stimmte, merkte Shaman erst, als er den hölzernen Zeigestock auf seiner Schulter spürte.

Mr. Byers hatte der Klasse befohlen, die Arbeit zu beenden und sich wieder zu ihm umzudrehen. Alle hatten gehorcht bis auf den tauben Jungen, der nichts gehört hatte. Als Shaman sich verängstigt umdrehte, sah er, dass die anderen Kinder ihn auslachten. »Wir lesen jetzt vor, was wir geschrieben haben, und zeigen der Klasse unsere Bilder. Wir beginnen mit dir«, sagte der Lehrer, und Shaman spürte wieder den Zeigestock auf seiner Schulter. Er las und stotterte dabei bei einigen Wörtern. Nachdem er sein Bild hergezeigt und sich wieder gesetzt hatte, rief Mr. Byers Rachel Geiger auf, die am anderen Ende des langen Tisches saß. Obwohl Shaman sich vorbeugte, so weit es ging, konnte er weder ihr Gesicht sehen noch von ihren Lippen ablesen. Er hob die Hand.

»Was ist?«

»Bitte«, sagte er höflich, wie seine Mutter es ihm eingeschärft hatte, »ich kann von hier aus die Gesichter nicht sehen. Darf ich mich vor die Klasse hinstellen?«

In seiner letzten Stellung hatte Marshall Byers sich mit Disziplinproblemen herumschlagen müssen, die manchmal so schlimm waren, dass er Angst gehabt hatte, das Klassenzimmer zu betreten. Diese Schule bot ihm eine neue Chance, und er war entschlossen, die jungen Wilden fest an die Kandare zu nehmen. Ein geeignetes Mittel schien ihm eine straffe Sitzordnung zu sein. Alphabetisch und in vier kleinen Gruppen, dem Alter entsprechend. Jeder Schüler an seinem Platz. Er konnte also nicht zulassen, dass dieser Junge beim Vorlesen vor den Schülern stand, ihnen auf den Mund starrte und vielleicht auch noch hinter seinem Rücken Grimassen schnitt, um sie zum Lachen oder zu Flegeleien zu verleiten. »Nein, das darfst du nicht.« Folglich saß Shaman den Großteil des Vormittags einfach da, ohne verstehen zu können, was um ihn herum vorging. In der Mittagspause gingen die Kinder nach draußen und spielten Fangen. Es machte ihm Spaß, bis Lucas Stebbins, der größte Junge in der Schule, Alex beim Abklatschen so anrempelte, dass der zu Boden stürzte. Als Alex sich wieder hochrappelte und wütend die Fäuste ballte, baute Stebbins sich vor ihm auf. »Wülste Schlägern, du Scheißkerl? Wir sollten dich eigentlich gar nich’ mitspielen lassen. Bist ‘n Bastard, sagt mein Pa.«

»Was ist ein Bastard?« fragte Davey Geiger.

»Weißte das nicht?« erwiderte Luke Stebbins. »Das bedeutet, dass ein andrer als sein Pa, ein dreckiger Gauner, der Bill Mosby hieß, Mrs. Cole sein Ding in ihr Pissloch gesteckt hat.« Als Alex sich auf den größeren Jungen warf, versetzte der ihm einen solchen Schlag, dass seine Nase zu bluten anfing und er wieder zu Boden stürzte.

Shaman stürmte auf den Peiniger seines Bruder zu und wurde mit einem solchen Hagel von Schlägen auf die Ohren empfangen, dass einige der Kinder davonliefen, weil sie Angst vor Lucas bekamen.

»Hör auf damit! Du tust ihm weh!« rief Rachel Geiger wütend. Normalerweise hörte Luke auf sie, denn es verwirrte ihn, dass sie mit zwölf Jahren schon Brüste hatte, aber diesmal grinste er nur. »Der ist doch schon taub.

Seinen Ohren kann nichts mehr passieren. Und komisch reden tut der Blödmann außerdem noch«, sagte er fröhlich und versetzte Shaman einen letzten Schlag, bevor er wegging. Wenn Shaman es zugelassen hätte, hätte Rachel die Arme um ihn gelegt und ihn getröstet. So aber saß er mit Alex nur auf der Erde und weinte vor den Augen der anderen Schüler.

Nach der Mittagspause stand Musik auf dem Stundenplan. Der Unterricht bestand im Einstudieren von Liedern und Chorälen, und den Kindern gefiel es, denn es bedeutete eine Abwechslung zum Lernen aus dem Büchern.

Dem tauben Jungen wies Mr. Byers die Aufgabe zu, während der Musikstunde den Aschenkübel neben dem Ofen zu leeren und die Holzkiste mit schweren Scheiten zu füllen, die Shaman von draußen hereinschleppen musste. Shaman kam zu der Einsicht, dass er die Schule hasste.

Alma Schroeder berichtete Rob J. im Glauben, dass er es bereits wisse, voller Bewunderung von der öffentlichen Beichte in der Kirche. Nachdem er alle Einzelheiten erfahren hatte, stritt er sich mit Sarah. Er hatte ihre Pein wahrgenommen und spürte jetzt ihre Erleichterung, aber trotzdem verwirrte und kränkte es ihn, dass sie vor Fremden so intime Details ihres Lebens preisgab.

»Nicht vor Fremden«, korrigierte sie ihn, »vor Brüdern in der Gnade und Schwestern in Christi, die teilgenommen haben an meinem Bekenntnis und meiner Lossprechung.« Mr. Perkins habe ihnen gesagt, dass jeder, der sich im kommenden Frühjahr taufen lassen wolle, sich zuerst in einer Beichte von seinen Sünden befreien müsse, erklärte sie ihm. Es verblüffte sie, dass Rob J. das nicht verstand; für sie war es sonnenklar.

Als die Jungen immer wieder mit Kampfspuren von der Schule nach Hause kamen, drängte sich Rob J. der Verdacht auf, dass zumindest einige der Brüder in der Gnade und Schwestern in Christi sich nicht scheuten, über die Beichte, deren Zeugen sie in der Kirche geworden waren, zu plaudern. Die Jungen schwiegen sich über ihre Blessuren aus, und er brachte es nicht übers Herz, mit seinen Söhnen anders als liebend und bewundernd über ihre Mutter zu reden. Aber er sprach mit ihnen über das Raufen: »Es steht einfach nicht dafür, jemanden zu schlagen, wenn man wütend ist. So was kann leicht ins Auge gehen und sogar zum Tod führen. Nichts rechtfertigt das Töten.« Die Jungen waren verwirrt. Sie redeten über Schulhofprügeleien, nicht übers Töten.

»Aber was soll man denn tun außer zurückschlagen, wenn ein anderer einen angreift, Pa?« fragte Shaman. Rob J.

nickte mitfühlend, »Ich weiß, dass das ein Problem ist. Du musst dein Hirn benutzen, nicht deine Fäuste.«

Alden Kimball hatte die Unterhaltung mitgehört. Wenig später ging er zu den beiden Brüdern und spuckte angewidert aus. »Verdammt noch mal! Euer Vater ist bestimmt einer der gescheitesten Köpfe unter der Sonne, aber ich glaube, er kann sich auch mal täuschen. Ich sag’ euch eins, wenn einer euch schlägt, müsst ihr dem Saukerl eine verpassen, sonst schlägt er weiter.«

»Luke ist furchtbar groß, Alden«, sagte Shaman. Sein Bruder dachte das gleiche.

»Luke? Ist das dieser Ochse von Stebbins-Junge? Lucas Stebbins?« fragte Alden und spuckte noch einmal aus, als die beiden traurig nickten. »Wisst ihr, dass ich als junger Kerl ein Jahrmarktsboxer war? Jeder, der einen halben Dollar zahlte, durfte drei Minuten gegen mich boxen. Wenn mich einer geschlagen hätte, hätte er drei Dollar bekommen. Und glaubt bloß nicht, dass nicht ‘ne ganze Menge starker Männer das versucht haben.«

»Hast du viel Geld verdient, Alden?« fragte Alex. Aldens Miene verdüsterte sich. »Nö. Mein Direktor, der hat viel Geld kassiert. Zwei Jahre lang hab’ ich das gemacht, immer im Sommer und im Herbst. Aber dann hat mich einer geschlagen. Der Direktor hat dem Kerl die drei Dollar gegeben und ihn dann an meiner Stelle angeheuert.«

Dann sah er sie direkt an. »Was ich sagen möchte, ich kann euch das Boxen beibringen, wenn ihr wollt.«

Zwei junge Gesichter sahen zu ihm hoch. Dann nickten zwei Köpfe. »Lasst das! Sagt doch einfach ja, oder könnt ihr das nicht?« sagte Alden unwirsch. »Ihr seht ja aus wie zwei blöde Schafe.«

»Ein bisschen Angst ist eine gute Sache«, erklärte er ihnen. »Das bringt das Blut in Schwung. Aber wenn ihr euch zuviel Angst einjagen lasst, könnt ihr nur verlieren. Und ihr dürft euch auch nicht zu sehr aufbringen lassen.

Ein Boxer mit einer Riesenwut im Bauch fängt an, wild um sich zu schlagen und macht dabei seine Deckung auf.« Shaman und Alex grinsten unsicher, aber Alden war sehr ernst, als er ihnen zeigte, wie sie die Hände halten mussten, die linke in Augenhöhe, um den Kopf zu schützen, die rechte etwas tiefer als Deckung für den Oberkörper. Umständlich erklärte er ihnen, dass sie beim Fäusteballen die Finger fest in die Handflächen pressen mussten, damit die Knöchel hart wurden und die Schläge ihre Gegner trafen, als wären es Steine.

»Beim Boxen gibt’s nur vier Schläge«, sagte er. »Linker Jab, linker Haken, rechter Cross, rechte Gerade. Der Jab ist wie ein Schlangenbiss. Muss ein bisschen brennen, tut aber dem Gegner nicht viel, wirft ihn nur etwas aus dem Gleichgewicht und macht ihn auf für schwerere Geschütze. Ein linker Haken reicht zwar nicht weit, aber er wirkt - du drehst dich nach links, verlagerst das Gewicht auf das rechte Bein und knallst ihm die Faust mit aller Kraft an den Kopf. Dann der rechte Cross, da verlagerst du das Gewicht auf das andere Bein und holst dir den Schwung mit einer schnellen Drehung aus der Hüfte, ungefähr so. Mein Lieblingsschlag ist die rechte Gerade auf den Körper, ich nenn’ ihn den Knüppel. Du duckst dich nach links, verlagerst das Gewicht auf das linke Bein und jagst ihm deine rechte Faust in den Bauch, so als wäre dein Arm ein Speer.« Er brachte ihnen die Schläge einen nach dem anderen bei, um sie nicht zu verwirren. Am ersten Tag ließ er sie zwei Stunden lang den Jab üben, bis sie sich an den Bewegungsablauf gewöhnt hatten und ihre Schläge koordinierter wurden. Am folgenden Nachmittag waren sie wieder auf der kleinen Lichtung hinter Aldens Hütte, wo keiner sie störte, und von da an jeden Tag. Immer und immer wieder mussten sie die Schläge üben, bevor er sie gegeneinander boxen ließ. Alex war dreieinhalb Jahre älter, doch dank Shamans außergewöhnlicher Größe schien der Unterschied nur ein Jahr zu sein. Sie gingen sehr behutsam miteinander um. Deshalb ließ er die Jungen abwechselnd gegen sich boxen und drängte sie, so fest zuzuschlagen wie in einem richtigen Kampf. Zu ihrer Überraschung duckte er sich und wich zur Seite aus, oder er blockte die Schläge mit dem Unterarm oder der Faust ab. »Wisst ihr, was ich euch hier beibringe, ist kein großes Geheimnis. Auch andere wissen, wie man boxt. Ihr müsst lernen, euch zu verteidigen.« Er schärfte ihnen ein, das Kinn fest gegen das Brustbein zu drücken, um es vor Schlägen zu schützen. Er zeigte ihnen, wie man einen Gegner in einen Clinch zog, schärfte aber Alex ein, bei Luke den Clinch unter allen Umständen zu vermeiden. »Der Kerl ist viel stärker als du, du musst Abstand halten, sonst drückt er dich zu Boden.« Insgeheim hielt Alden es für unwahrscheinlich, dass Alex einen so großen Jungen wirklich besiegen konnte, er hoffte aber, Alex werde Lucas mit ein paar plazierten Schlägen davon überzeugen können, dass es besser war, die beiden Brüder in Ruhe zu lassen. Er wollte aus den Cole-Jungen keine Jahrmarktsboxer machen. Er wollte nur, dass sie in der Lage wären, sich zu verteidigen, und er brachte ihnen kaum mehr als die Grundbegriffe bei, denn er beherrschte selber lediglich die Fausttechnik. Was sie mit ihren Füßen machen sollten, versuchte er erst gar nicht, ihnen zu erklären. Erst Jahre später gestand er Shaman, wenn er selber nur ein bisschen besser gewusst hätte, was er mit seinen Füßen anfangen solle, hätte dieser Drei-Dollar-Boxer ihn wahrscheinlich nicht geschlagen.

Des öfteren glaubte Alex, er sei jetzt bereit, gegen Luke anzutreten, doch Alden erwiderte immer, er werde es ihm schon sagen, wenn er soweit sei. Also gingen Shaman und Alex jeden Tag mit dem Bewusstsein in die Schule, dass die Pause wieder eine Leidenszeit für sie werden würde. Luke hatte es sich angewöhnt, seine Spielchen mit den Cole-Brüdern zu treiben. Er schlug und beleidigte sie nach Lust und Laune und nannte sie nur noch Blödmann und Bastard. Beim Fangen rempelte er sie brutal an, und wenn er mit ihnen raufte, drückte er ihre Gesichter in den Staub.

Für Shaman war Luke nicht das einzige Problem in der Schule. Er konnte nur einen kleinen Teil von dem sehen, was während des Unterrichts gesagt wurde, und so blieb er gleich von Anfang an hoffnungslos zurück. Marshall Byers war nicht unzufrieden mit dieser Entwicklung, hatte er doch versucht, dem Vater des Jungen zu erklären, dass eine normale Schule nicht der richtige Ort für einen Tauben sei. Aber der Lehrer ging die Sache behutsam an, er wusste, wenn das Thema wieder zur Sprache kam, musste er Beweise auf den Tisch legen können. So führte er sorgfältig Buch über Robert J. Coles immer schlechter werdende Noten und behielt den Jungen häufig nach dem Unterricht für zusätzliche Übungsstunden da, die aber dessen Leistungen nicht merklich verbesserten.

Manchmal behielt Mr. Byers auch Rachel Geiger nach dem Unterricht da, was Shaman überraschte, denn Rachel galt als die intelligenteste Schülerin der Klasse. Wenn das passierte, trotteten die beiden gemeinsam nach Hause.

An einem dieser Nachmittage, es war ein grauer Tag, an dem es zum erstenmal in diesem Jahr schneite, erschreckte Rachel Rob, indem sie mitten im Gehen in Tränen ausbrach. Er konnte sie nur bestürzt ansehen.

Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm hin, damit er ihre Lippen sehen konnte. »Dieser Mr. Byers! Er... er kommt mir immer so nahe. Und dann fasst er mich an.«

»Fasst dich an?«

»Hier«, sagte sie und deutete mit ihrer Hand auf das Revers ihres blauen Mantels.

Shaman wusste nicht, wie er auf diese Enthüllung reagieren sollte, denn er hatte so etwas noch nie erlebt. »Was können wir da tun?« fragte er, mehr sich selbst als sie. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«

Erschrocken musste er mit ansehen, wie Rachel wieder zu weinen begann. »Ich werd’ ihn umbringen müssen«, sagte er seelenruhig. Das zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn, und sie hörte auf zu weinen. »Das ist doch albern.«

»Nein. Ich werde es tun.«

Der Schnee fiel inzwischen dichter. Er sammelte sich auf ihrer Haube und ihren Haaren. Ihre braunen Augen, deren dicke, lange Wimpern noch immer von Tränen funkelten, sahen ihn erstaunt an. Eine große, weiße Flocke schmolz auf ihrer glatten Wange, die dunkler war als seine, ein Teint, der irgendwo zwischen der Hellhäutigkeit ihrer Mutter und Makwas bräunlich-dunkler Gesichtsfarbe lag. »Würdest du das wirklich für mich tun?«

Er versuchte, sachlich darüber nachzudenken. Auch er wäre Mr. Byers gern losgeworden, aber Rachels Probleme mit dem Lehrer waren das Zünglein an der Waage, und so konnte er überzeugt nicken. Ihr Lächeln, das merkte Shaman plötzlich, schenkte ihm ein Wohlgefühl, wie er es zuvor noch nie erlebt hatte.

Sie berührte feierlich seine Brust, genau an der Stelle, an der sie es hasste, von Mr. Byers berührt zu werden.

»Du bist mein treuer Freund, und ich bin deine treue Freundin«, sagte sie, und er wusste sofort, dass sie damit recht hatte. Als sie dann weitergingen, stellte er erstaunt fest, dass die behandschuhte Hand des Mädchens einen Weg zu der seinen fand. Wie ihre blauen Fäustlinge waren auch seine roten von ihrer Mutter gestrickt, die den Coles zu Geburtstagen immer Handschuhe schenkte. Durch die Wolle hindurch verströmte ihre Hand eine Wärme, die von seiner Hand beinahe bis zum Ellbogen hinaufstieg. Doch schon Augenblicke später blieb sie wieder stehen und sah ihn an.

»Wie... wie wirst du es tun?«

Er zögerte, bis ihm aus der kalten Luft eine Formulierung zuflog, die er von seinem Vater oft gehört hatte. »Das will reiflich überlegt sein.«

Schultage

Rob J. genoss die Versammlungen der Medical Society. Manchmal waren sie sogar lehrreich. Meistens jedoch waren es einfach nur Abende in der Gesellschaft von Männern, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie er und mit denen er eine gemeinsame Sprache sprach. Auf der Novemberversammlung sprach Julius Barton, ein junger Arzt aus dem nördlichen County, über Schlangenbisse und erzählte dann von einigen ungewöhnlichen Tierbissen, die er behandelt hatte, darunter auch der Fall einer Frau, die so kräftig in ihr dralles Hinterteil gebissen worden war, dass es geblutet hatte. »Ihr Mann hat behauptet, es sei der Hund gewesen, und das war höchst ungewöhnlich, denn an dem Biss sah man deutlich, dass der Hund ein menschliches Gebiss gehabt haben musste.«

Um sich nicht ausstechen zu lassen, erzählte Tom Beckermann von einem Katzenfreund mit Risswunden an den Hoden, die von einer Katze hätten stammen können oder auch nicht. Tobias Barr bemerkte, das sei nichts Ungewöhnliches. Erst vor ein paar Monaten habe er einen Patienten mit einem zerkratzten Gesicht behandelt.

»Auch der hat behauptet, eine Katze habe ihn so zugerichtet, aber wenn das wahr gewesen wäre, hätte die Katze nur drei Krallen gehabt und die wären so breit gewesen wie die eines menschlichen Kätzchens«, schloss Dr. Barr unter allgemeinem Gelächter.

Er wollte gleich mit einer zweiten Anekdote fortfahren und ärgerte sich deshalb, als Rob Cole ihn unterbrach, um ihn zu fragen, ob er sich noch erinnere, wann genau er diesen Patienten behandelt habe. »Nein«, erwiderte Dr. Barr kurz und kehrte wieder zu seiner Geschichte zurück.

Nach der Versammlung nahm sich Rob den Kollegen noch einmal vor: »Tobias, dieser Patient mit dem zerkratzten Gesicht. Könnte es sein, dass Sie ihn am Sonntag, den dritten September, behandelt haben?«

»Das weiß ich nicht mehr so genau. Hab’s mir nicht aufgeschrieben.« Dr. Barr wusste nur zu gut, dass Dr. Cole gewissenhafter praktizierte als er, und er fühlte sich ertappt, weil er nur unzureichend Buch führte. »Mein Gott, man muss sich doch nicht jede Kleinigkeit aufschreiben, oder? Vor allem bei einem Patienten wie dem, einem Wanderprediger aus einem anderen County, der nur auf der Durchreise war. Wahrscheinlich sehe ich ihn nie wieder, geschweige denn, dass ich ihn noch einmal behandeln muss.«

»Prediger? Erinnern Sie sich an seinen Namen?« Dr. Barr runzelte die Stirn, dachte angestrengt nach und schüttelte den Kopf.

»Vielleicht Patterson?« fragte Rob J. »Ellwood R. Patterson?«

Dr. Barr starrte ihn an. Soweit er sich erinnern konnte, hatte der Patient keine genaue Adresse hinterlassen. »Ich glaube, er hat gesagt, er sei aus Springfield.«

»Zu mir hat er gesagt: aus Chicago.«

»Ist er wegen seiner Syphilis zu Ihnen gekommen?«

»Drittes Stadium.«

»Genau, Syphilis im dritten Stadium«, sagte Dr. Barr. »Hat mich deswegen um Rat gefragt, nachdem ich sein Gesicht behandelt hatte. Das war so ein Kerl, der so viel wie möglich für seinen Dollar herausschlagen wollte.

Wenn er ein Hühnerauge am kleinen Zeh gehabt hätte, hätte ich ihm das auch noch herausschneiden müssen. Ich hab’ ihm etwas Salbe für seine Syphilis verkauft.«

»Ich auch«, sagte Rob J., und beide lächelten.

Dr. Barr machte ein verwirrtes Gesicht. »Der ist wohl abgehauen, ohne Sie zu bezahlen, hm? Suchen Sie deshalb nach ihm?«

»Nein. Ich habe eine Autopsie an einer Frau durchgeführt, die an dem Tag ermordet wurde, an dem Sie den Mann untersuchten. Sie wurde von mehreren Männern vergewaltigt. Unter ihren Fingernägeln fand ich Haut, und ich vermute, dass sie einem der Männer das Gesicht zerkratzt hat.«

Dr. Barr räusperte sich. »Ich erinnere mich, dass zwei Männer vor meiner Praxis auf ihn gewartet haben. Die stiegen ab und setzten sich einfach auf das Vordertreppchen. Einer von ihnen war kräftig gebaut und hatte, wie ein Bär kurz vor dem Winterschlaf, eine anständige Fettschicht unter der Haut. Der andere war eher dürr und jünger. Muttermal unter einem Auge, ich glaube dem rechten. Die Namen der beiden habe ich nicht gehört, und auch sonst fällt mir nichts mehr ein.« Der Präsident der Medical Society neigte zu beruflichen Eifersüchteleien und konnte gelegentlich etwas aufgeblasen sein, aber Rob J. mochte ihn. Er dankte Tobias Barr und verabschiedete sich von ihm.

Mort London hatte sich seit ihrem letzten Zusammentreffen wieder beruhigt, vielleicht weil er sich in Nick Holdens Abwesenheit unsicher fühlte, vielleicht aber auch weil er erkannt hatte, dass es sich für einen gewählten Amtsinhaber nicht auszahlte, seine Zunge nicht im Zaum halten zu können. Der Sheriff hörte Rob J. zu, notierte sich die Beschreibungen von Ellwood R. Patterson und den beiden anderen Männern und versprach ölig, Nachforschungen anzustellen. Rob drängte sich der Verdacht auf, dass die Notizen im Papierkorb landen würden, sobald er Londons Büro verließ. Hätte er die Wahl gehabt zwischen einem wütenden und einem aalglatt-diplomatischen Mort, er hätte den wütenden vorgezogen.

Also stellte er seine eigenen Nachforschungen an. Carroll Wilkenson, der Immobilien- und Versicherungsmakler, war Vorsitzender des Pfarrgemeinderats und hatte sich vor der Berufung von Mr. Perkins um die Einladung der Gastprediger gekümmert. Als guter Geschäftsmann führte er über alles Buch. »Da ist es«, sagte er und zog ein zusammengefaltetes Flugblatt heraus. »Das hab’ ich bei einem Versicherungskongress in Galesburg mitgenommen.« Das Flugblatt bot christlichen Kirchen den Besuch eines Predigers an, der über Gottes Pläne für das Mississippi-Tal sprechen würde. Der Besuch wäre für die akzeptierende Gemeinde mit keinen Kosten verbunden, da sämtliche Ausgaben für den Prediger vom Stars and Stripes Religious Institute, 282

Palmer Avenue, Chicago, übernommen würden. »Ich habe ihnen einen Brief geschrieben und ihnen drei freie Sonntage genannt. Und sie haben mir mitgeteilt, dass Ellwood Patterson am dritten September predigen werde.

Sie haben sich um alles gekümmert.« Er räumte ein, dass Pattersons Predigt nicht besonders populär gewesen sei. »Hauptsächlich hat er uns ja vor den Katholiken gewarnt.« Er lächelte. »Und um ehrlich zu sein, dagegen hatte keiner was. Aber dann hat er mit den Leuten angefangen, die aus anderen Ländern ins Mississippi-Tal kommen. Dass sie den Einheimischen die Arbeit wegnehmen. Und dass alle, die nicht von hier stammen, wie Eiterbeulen sind.« Eine Nachsendeadresse für Patterson hatte er nicht. »Es hat doch niemand daran gedacht, ihn noch einmal einzuladen. Das letzte, was eine junge Kirche wie die unsere braucht, ist ein Prediger, der die Gemeindemitglieder gegeneinander aufbringen will.« Ike Nelson, der Saloon-Besitzer, erinnerte sich an Ellwood Patterson. »Die war’n bis spät in die Nacht da an dem Samstag. Ein übler Suffkopf, dieser Patterson, und die zwei Typen, die er dabeihatte, war’n auch nich’ viel besser. Das Geld saß ihnen ziemlich locker, aber so viel konnten die gar nich’ dalassen, wie ich Schwierigkeiten mit ihnen hatte. Der große, Hank, hat mich immer angebrüllt, ich soll ‘n paar Huren besorgen, aber dann hat sich der Fettwanst zugesoffen und wollt’ von Frauen nichts mehr wissen.«

»Wie hieß der denn mit Nachnamen, dieser Hank?«

»Warten Sie mal. Ach ja... Cough. Hank Cough. Der andere Kerl, der dünnere, junge, den nannten sie Len.

Manchmal auch Lenny. An ‘nen Nachnamen kann ich mich nich’ erinnern. Hatte so’n dunkelroten Fleck auf der Wange. Und er hinkte, als hätt’ er ein Bein kürzer als das andere.«

Das Hinken hatte Toby Barr nicht erwähnt; aber vermutlich hatte er den Mann nicht gehen sehen. »Auf welchem Bein hinkte er denn?« fragte er, aber das brachte ihm nur einen verwirrten Blick des Kneipenwirts ein.

»Ging er so?« fragte Rob und hinkte auf dem rechten Bein. »Oder so?« Nun war das linke dran.

»Nicht so stark, es war ja kaum zu bemerken. Aber auf welcher Seite, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass alle drei ‘n ganzen Stiefel vertragen konnten. Patterson hat mir ‘n ordentlichen Packen Scheine auf die Theke geknallt und gesagt, ich soll nur immer nachgießen und mir auch was nehmen. Am Ende musste ich dann nach Mort London und Fritzie Graham schicken und ihnen ‘n paar Dollar von dem Packen zustecken, damit sie die drei zu Anna Wiley schafften und in der Pension ins Bett steckten. Aber ich hab’ gehört, dass Patterson am nächsten Morgen in der Kirche so frisch und heilig war, wie man sich’s nur wünschen kann.« Ike strahle. »So

‘nen Prediger lass ich mir gefallen!«

Acht Tage vor Weihnachten kam Alex Cole mit Aldens Erlaubnis, er dürfe nun kämpfen, in die Schule.

Während der Pause sah Shaman seinen Bruder über den Schulhof gehen. Erschrocken stellte er fest, dass Biggers Beine zitterten. Alex ging direkt auf Lucas Stebbins zu, der mit anderen Jungen im weichen Schnee einer nicht geräumten Ecke des Hofes Weitsprung übte. Das Glück war ihm gnädig, denn Luke hatte bereits zwei wenig erfolgreiche Sprünge hinter sich und deshalb seine schwere Rindlederjacke ausgezogen. Wenn er die Jacke anbehalten hätte, hätte Alex ebensogut mit der Faust auf ein Stück Holz schlagen können. Luke glaubte, Alex wolle beim Weitspringen mitmachen, und freute sich schon darauf, ihn schikanieren zu können. Doch Alex stellte sich vor ihn hin und jagte ihm die Rechte ins grinsende Gesicht.

Es war ein Fehler, der Beginn eines ungeschickten Schlagabtausches. Dabei hatte Alden ihn so sorgfältig vorbereitet. Der erste Überraschungsschlag hätte auf den Magen zielen sollen, damit, wenn er richtig traf, Luke die Luft wegblieb, aber Alex’ Angst hatte die Vernunft verdrängt. Lukes Unterlippe blutete, und er stürzte sich wütend auf Alex. Der angreifende Luke, das war ein Anblick, bei dem Alex noch vor zwei Monaten vor Schreck erstarrt wäre, doch inzwischen war er daran gewöhnt, dass Alden auf ihn zustürmte, und er wich aus. Als Luke an ihm vorbeirauschte, versetzte er ihm noch einen schmerzhaften linken Jab auf den bereits verletzten Mund.

Der größere Junge bremste ab, doch bevor er sich in Position stellen konnte, versetzte ihm Alex zwei weitere Jabs auf die gleiche Stelle. Shaman hatte schon beim ersten Schlag zu jubeln begonnen, und jetzt rannten die Schüler aus allen Ecken des Hofes herbei und umringten die Kämpf enden.

Alex’ zweiter großer Fehler war es, dass er zu Shaman hinübersah, als er dessen Stimme hörte. Lukes Faust traf ihn knapp unterhalb des rechten Auges und schickte ihn zu Boden. Aber Alden hatte seine Sache gut gemacht, denn Alex rollte sich ab, sprang sofort wieder hoch und erwartete Luke, der auf ihn zustürzte.

Alex’ Gesicht fühlte sich taub an, und das rechte Auge schwoll sofort zu, aber er stand fest und sicher auf den Beinen, was ihn selber erstaunte. Er konzentrierte sich und nahm die Stellung ein, die ihm während seines täglichen Trainings zur Routine geworden war. Sein linkes Auge war noch in Ordnung, und er heftete den Blick genau auf die Stelle, die Alden ihm eingeschärft hatte, nämlich auf Lukes Brust, damit er erkennen konnte, in welche Richtung der seinen Körper drehte und mit welchem Arm er ausholte. Er versuchte nur einmal, einen Schlag abzublocken, danach war sein ganzer Arm taub; Luke war einfach zu stark. Alex wurde allmählich müde, aber er pendelte und sprang hin und her und versuchte nicht an den Schaden zu denken, den Luke anrichten konnte, wenn er noch einen Treffer landete. Immer wieder ließ er seine Linke vorschnellen und traf Luke ins Gesicht und auf den Mund. Der kräftige erste Schlag zu Beginn des Kampfes hatte einen von Lukes Schneidezähnen gelockert, und der stetige Hagel von Jabs erledigte den Rest. Shaman staunte, als Luke heftig den Kopf schüttelte und den Zahn in den Schnee spuckte.

Alex reagierte mit einem weiteren linken Jab und einem etwas ungeschickten rechten Cross, der auf Lukes Nase landete und sie zum Bluten brachte. Verwirrt hob Luke die Hände vors Gesicht. »Den Knüppel, Bigger!« schrie Shaman. »Den Knüppel!« Alex hörte seinen Bruder und trieb seine Rechte mit solcher Gewalt in Lukes Magen, dass der zusammenklappte und nach Luft schnappte. Es war das Ende des Kampfes, denn die zusehenden Kinder flüchteten bereits vor dem Zorn des Lehrers. Finger aus Stahl verdrehten Alex’ Ohr, und plötzlich starrte Mr.

Byers zornig auf die beiden Kampfhähne hinab und erklärte die Pause für beendet.

Im Klassenzimmer wurden Lucas und Alex dann den anderen Kindern unter dem großen Schild mit der Aufschrift Frieden auf Erden als üble Vorbilder vorgeführt. »In meiner Schule dulde ich keine Schlägereien«, sagte Mr. Byers kalt, griff nach der Gerte, die er als Zeigestab benutzte, und bestrafte die beiden Boxer mit je fünf herzhaften Streichen auf die offene Hand. Luke schluchzte. Alex’ Unterlippe zitterte, als er seine Strafe erhielt. Sein geschwollenes Auge hatte die Farbe einer alten Aubergine angenommen, und seine rechte Hand schmerzte innen und außen: die Knöchel abgeschürft vom Boxen, die Handfläche geschwollen und rot von Mr.

Byers Streichen. Aber als er zu Shaman hinübersah, durchströmte beide Brüder ein Gefühl der Erfüllung.

Als die Kinder nach dem Unterricht das Schulhaus verließen und sich zerstreuten, scharten sich einige lachend um Alex und stellten bewundernde Fragen. Lucas Stebbins trottete alleine nach Hause, mürrisch und noch immer verwirrt. Als Shaman Cole hinter ihm herlief, dachte Luke verstört, nun wolle auch noch der jüngere Bruder gegen ihn antreten, und er hob die Hände, die linke zur Faust geballt, die rechte in einer beinahe flehenden Geste geöffnet.

Shaman sprach freundlich, aber bestimmt mit ihm. »Von jetzt an nennst du meinen Bruder Alexander. Und mich nennst du Robert«, sagte er.

Rob J. schrieb an das Stars and Stripes Religious Institute einen Brief, in dem er mitteilte, dass er sich in einer kirchlichen Frage an Reverend Ellwood R. Patterson wenden wolle, und um Mr. Pattersons Adresse bat.

Es würde Wochen dauern, bis eine Erwiderung ihn erreichte, wenn sie überhaupt antworteten. Unterdessen erzählte er niemandem, was er wusste oder welchen Verdacht er hatte, bis er eines Abends wieder einmal mit den Geigers musizierte. Sie hatten eben »Eine kleine Nachtmusik« zu Ende gespielt. Sarah und Lillian standen plaudernd in der Küche, kochten Tee und schnitten Früchtekuchen auf, da schüttete Rob J. Jay sein Herz aus.

»Was soll ich tun, wenn ich diesen Prediger mit dem zerkratzten Gesicht wirklich finde? Ich weiß, dass Mort London nicht gerade erpicht darauf ist, ihn vor den Richter zu bringen.«

»Dann musst du Tamtam machen, dass man es bis nach Springfield hört«, erwiderte Jay. »Und wenn die Behörden dort dir nicht helfen wollen, musst du dich an Washington wenden.«

»Bisher war kein Politiker bereit, sich wegen einer toten Indianerin ins Zeug zu legen.«

»Wenn das so bleibt«, sagte Jay, »und wenn du Beweise für seine Schuld hast, dann müssen wir einige rechtschaffene Männer um uns versammeln, die mit Gewehren umgehen können.«

»Würdest du das wirklich tun?«

Jay sah ihn erstaunt an. »Natürlich. Du nicht?«

Rob erzählte Jay von seinem Gelübde der Gewaltlosigkeit.

»Solche Skrupel habe ich nicht. Wenn ein schlechter Mensch mich bedroht, habe ich das Recht, mich zu verteidigen.«

»Deine Bibel sagt: >Du sollst nicht töten!<«

»Ah! Sie sagt aber auch: >Auge um Auge, Zahn um Zahn.< Und: >Wer einen Menschen schlägt, so dass er stirbt, soll mit dem Tod bestraft werden.<«

»>Wer dich auf die Wange schlägt, dem halte auch die andere hin.<«

»Das ist nicht aus meiner Bibel«, sagte Geiger.

»Ach, Jay, das ist ja das Problem, es gibt zu viele verschiedene Bibeln, die alle behaupten, die Wahrheit zu verkünden.«

Geiger lächelte verständnisvoll. »Rob, ich würde nie versuchen, dich von deinem Freidenkertum abzubringen.

Aber ich möchte dir zum Abschluss nur noch einen Gedanken mitgeben. >Die Furcht vor dem Herrn ist der Anfang der Weisheit.<«

Dann kamen die Frauen mit dem Tee herein, und die Unterhaltung wandte sich anderen Dingen zu.

In der folgenden Zeit dachte Rob J. oft an seinen Freund, manchmal sogar mit einem gewissen Groll. Für Jay war es einfach. Er wickelte sich mehrmals am Tag in seinen fransenbesetzten Gebetsschal, der ihm Sicherheit und Beruhigung über das Gestern und das Morgen gab. Alles war vorgeschrieben: Das ist erlaubt, das ist verboten, man kann nicht fehlgehen. Jay glaubte an die Gesetze Jahwes und der Menschheit, er musste nur den uralten Geboten und den Gesetzen des Parlaments von Illinois gehorchen. Rob J.s Offenbarung aber war die Wissenschaft, ein Glaube, der weniger bequem und noch viel weniger tröstend war. Die Wahrheit stellte seine Gottheit dar, der Beweis seine Gnade und der Zweifel seine Liturgie. Dieser Glaube barg so viele Geheimnisse wie andere Religionen, und er war durchzogen von düsteren Pfaden, die zu großen Gefahren, zu furchterregenden Klippen und tiefen Abgründen führten. Keine höhere Macht erhellte die dunkle, trübe Reise, und Rob hatte nur sein eigenes, schwaches Urteilsvermögen, um einen sicheren Weg zu finden.

An dem der Jahreszeit entsprechend frostigen vierten Tag des Jahres 1852 hielt die Gewalt noch einmal Einzug in der Schule. Rachel kam an diesem eisigkalten Morgen zu spät zur Schule. Als sie eintraf, glitt sie still auf ihren Platz auf der Bank, ohne Shaman zuzulächeln oder grüßend die Lippen zu bewegen, wie sie es sonst tat.

Überrascht bemerkte Shaman, dass ihr Vater sie ins Schulhaus begleitet hatte. Jason Geiger ging zum Pult und blieb vor Mr. Byers stehen. »Nanu, Mr. Geiger. Es ist mir ein Vergnügen, Sir. Was kann ich für Sie tun?«

Auf dem Pult lag Mr. Byers Zeigestab. Jay Geiger nahm ihn und schlug damit dem Lehrer ins Gesicht.

Mr. Byers sprang auf und warf dabei seinen Stuhl um. Er war einen Kopf größter als Jay, aber nur von gewöhnlicher Statur. Später erinnerten sich alle daran, wie komisch die Szene gewirkt hatte: dieser kleine, dicke Mann, der den viel jüngeren, größeren Lehrer mit dessen eigener Gerte schlug, das Auf und Ab seines Armes und die verdatterte Miene Mr. Byers’. Aber an diesem Morgen lachte niemand. Die Schüler saßen stocksteif da und wagten kaum zu atmen. Sie waren nicht weniger verblüfft als Mr. Byers. Was da vor ihren Augen passierte, war noch unglaublicher als Alex’ Boxkampf mit Luke. Shaman sah Rachel an und bemerkte, dass ihr Gesicht, das zuvor noch die Röte der Verlegenheit überzogen hatte, sehr blass geworden war. Es kam ihm vor, als wolle sie sich so taub stellen, wie er es war, und dazu noch blind für alles, was um sie herum passierte.

»Was zum Teufel soll das?« Mr.Byers hielt schützend die Arme vor sein Gesicht und schrie vor Schmerz auf, als der Zeigestab seine Rippen traf. Er machte drohend einen Schritt auf Jay zu. »Sie verdammter Idiot! Sie verrückter kleiner Jude!«

Jay schlug weiter auf den Lehrer ein und trieb ihn zur Tür, bis Mr. Byers hinausstürzte und hinter sich die Tür zuknallte. Dann nahm er den Mantel des Lehrers und warf ihn hinaus in den Schnee, kam zurück und setzte sich schwer atmend auf den Lehrerstuhl. »Der Unterricht ist für heute beendet«, sagte er schließlich, nahm Rachel an der Hand und brachte sie auf seinem Pferd nach Hause. Draußen war es wirklich kalt. Shaman trug zwei Schals, den einen um den Kopf und unter dem Kinn, den anderen vor Mund und Nase, aber trotzdem hatte er bei jedem Atemzug das Gefühl, als würden seine Nasenlöcher zufrieren.

Zu Hause angelangt, lief Alex sofort hinein, um seiner Mutter zu erzählen, was in der Schule passiert war, aber Shaman ging am Haus vorbei hinunter zum Fluss. Das Eis auf der Wasseroberfläche hatte in der Kälte Risse bekommen, es musste ein wundervolles Geräusch gewesen sein. Auch eine große Pappel in der Nähe von Makwa-ikwas schneebedecktem bedonoso-te hatte der Frost zum Bersten gebracht. Es sah aus, als hätte ein Blitz in ihn eingeschlagen. Shaman war froh, dass Rachel sich ihrem Vater anvertraut hatte. Er war erleichtert, dass er Mr. Byers nun doch nicht umbringen musste und dass man folglich ihn aller Wahrscheinlichkeit nach in seinem Leben nicht mehr aufhängen würde. Aber etwas quälte ihn doch wie ein Ausschlag, der nicht verheilte: Wenn Alden es für richtig hielt zu kämpfen, wenn man dazu gezwungen war, und wenn Jay es für richtig hielt, seine Tochter so tatkräftig zu beschützen, was war dann mit seinem Vater los?

Eine nächtliche Behandlung

Schon Stunden nach Marshall Byers’ Flucht aus Holden’s Crossing wurde ein Ausschuss ernannt, der einen neuen Lehrer suchen sollte. Paul Williams gehörte dazu; man wollte dem Schmied zeigen, dass niemand ihm grollte, weil sein Cousin sich so danebenbenommen hatte. Jason Geiger gehörte dazu, denn ihm wollte man zeigen, dass er sich richtig verhalten hatte, indem er Mr. Byers davonjagte. Auch Carroll Wilkenson gehörte zu dem Ausschuss, und das war ein Glück, denn der Makler hatte erst vor kurzem an John Meredith, einen Ladenbesitzer in Rock Island, die Lebensversicherung seines verstorbenen Vaters ausgezahlt. Meredith wiederum hatte Carroll erzählt, wie dankbar er seiner Nichte Dorothy Burnham sei, weil sie ihre Stellung als Lehrerin aufgegeben habe, um seinen Vater während der letzten Tage zu pflegen. Als der Ausschuss Dorothy Burnham zu einem Gespräch einlud, gefiel sie Wilkenson wegen ihres unscheinbaren, reizlosen Gesichts und der Tatsache, dass sie mit Ende zwanzig noch unverheiratet war. Denn so, meinte er, stehe kaum zu befürchten, dass eine Ehe sie der Schule wieder entreißen werde. Jay fühlte sich zu ihr hingezogen, weil sie vom Unterrichten mit einer ruhigen Selbstsicherheit sprach und mit einer Wärme, die darauf hindeutete, dass sie es als Berufung empfand. Für siebzehneinhalb Dollar pro zwölf Wochen stellten sie Miss Burnham ein, eineinhalb Dollar erhielt sie weniger als Mr. Byers, weil sie eine Frau war.

Acht Tage nach Marshall Byers’ Flucht aus dem Schulhaus war sie bereits die neue Lehrerin. Die Sitzordnung ihres Vorgängers behielt sie bei, da die Kinder bereits daran gewöhnt waren. Sie hatte zuvor in zwei Schulen unterrichtet - einer kleineren in dem Dorf Bloom und einer größeren in Chicago. Was Behinderungen angeht, hatte sie bis dahin nur Erfahrungen mit einem lahmen Kind gemacht, und es interessierte sie sehr, jetzt einen tauben Jungen in ihrer Obhut zu haben. Bei ihrer ersten Unterhaltung mit dem jungen Robert Cole überraschte und faszinierte es sie, dass er alles von ihren Lippen ablesen konnte. Aber sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie beinahe einen halben Tag brauchte, um zu begreifen, dass Rob von seinem Platz aus nicht sehen konnte, was die meisten der Kinder sagten. Es gab im Klassenzimmer noch einen einzelnen Stuhl für Besucher, und den stellte Miss Burnham seitlich vor die lange Bank. Sie ließ Shaman sich darauf setzen, damit er sowohl ihre Lippen wie die seiner Schulkameraden sehen konnte. Von da ab war dies sein fester Platz.

Die zweite große Veränderung für Shaman trat zu Beginn der Musikstunde ein. Wie es seine Gewohnheit geworden war, stand er auf, um die Asche hinauszutragen und frisches Feuerholz zu holen, doch diesmal hielt Miss Burnham ihn zurück und befahl ihm, wieder auf seinen Platz zu gehen.

Dorothy Burnham gab den Kindern mit einer Okarina den Ton an und ließ sie dann die aufsteigende Tonleiter mit den Worten »Die-Schu-le-ist-ein-teu-rer-Ort« und die absteigende zu den Worten »Und-wir-ler-nen-hier-fürs-Le-ben« singen. Doch schon während des ersten Lieds wurde deutlich, dass sie dem tauben Jungen mit der Aufnahme in den Unterricht keinen Gefallen getan hatte, denn der junge Cole saß nur da und starrte die anderen an, und bald trübte sich sein Blick und signalisierte eine leidende Geduld, die Miss Burnham unerträglich fand.

Er brauchte ein Instrument, durch dessen Schwingungen er den Rhythmus der Musik wahrnehmen konnte, beschloss sie. Eine Trommel vielleicht? Aber der Lärm einer Trommel würde den Gesang der anderen Kinder stören.

Nachdem sie eine Weile über das Problem nachgedacht hatte, ging sie zu Haskin ins Geschäft und erbat von ihm eine Zigarrenkiste, in die sie sechs rote Murmeln legte. Die Murmeln machten zunächst zu viel Lärm, wenn die Kiste geschüttelt wurde, doch als sie diese dann mit weichem, blauem Stoff von einem alten Unterhemd ausgekleidet hatte, erhielt sie ein zufriedenstellendes Ergebnis.

Am nächsten Morgen gab sie Shaman die Kiste in die Hand und schüttelte sie im Rhythmus, während die anderen Kinder »America« sangen. Er reagierte und las der Lehrerin die Worte von den Lippen ab, um selber im Takt mitschütteln zu können. Er konnte zwar nicht singen, aber er wurde vertraut mit Rhythmus und Takt, und er formte mit den Lippen stumm die Wörter der Lieder, die seine Klassenkameraden sangen. Bald hatten sich alle an das gedämpfte Klappern von »Roberts Kiste« gewöhnt. Shaman liebt die Zigarrenkiste. Auf dem Deckel prangten das Bild einer dunkelhaarigen Königin mit einem ausgeprägten, chiffonverhüllten Busen und die Worte Panatellas de las Jardines de la Reina mit dem Namenszug Gottlieb Tobacco Importing Company of New York City darunter. Wenn er die Kiste an die Nase hob, konnte er den aromatischen Geruch von Zedernholz und den schwachen Duft des Havanna-Tabaks riechen.

Miss Burnham ließ bald alle Jungen der Klasse abwechselnd früher kommen, damit sie die Asche hinaustrugen und frisches Feuerholz holten. Obwohl Shaman es nie von diesem Standpunkt aus betrachtete, hatte sein Leben doch eine einschneidende Veränderung erfahren, nur weil Marshall Byers nicht in der Lage gewesen war, seine Hände von jugendlichen Brüsten fernzuhalten.

Der März begann frostig, und die Prärie war noch hart gefroren wie Feuerstein, und so zwang Rob J. sich jeden Tag, wenn sein übervolles Wartezimmer sich endlich geleert hatte, noch so viele Hausbesuche wie möglich zu erledigen, denn in wenigen Wochen würde der Schlamm die Ausritte zur Qual machen. War Shaman nicht in der Schule, erlaubte ihm sein Vater, ihn bei diesen Hausbesuchen zu begleiten, denn der Junge versorgte das Pferd und ermöglichte es so dem Arzt, sich gleich um die Patienten zu kümmern. Spät an einem bleiernen Nachmittag ritten sie nach einem Besuch bei Freddy Wall, der an Rippenfellentzündung erkrankt war, die Flussstraße entlang. Rob J. überlegte eben, ob er noch zu Anne Frazier reiten solle, die den ganzen Winter über kränklich gewesen war, oder ob am nächsten Tag auch noch Zeit dafür sei, als drei Männer auf ihren Pferden zwischen den Bäumen hervorkamen. Wie die beiden Coles waren sie gegen die Kälte dick in Mäntel und Schals eingemummt, doch Rob J. entging nicht, dass alle drei Schusswaffen trugen, zwei im Gürtel über dem schweren Mantel, der dritte in einem Halfter, das vorne am Sattel befestigt war.

»Sie sind doch der Doktor, oder?«

Rob J. nickte. »Und Sie?«

»Wir haben einen Freund, der dringend einen Arzt braucht, ‘n kleiner Unfall.«

»Was für ein Unfall? Hat er sich etwas gebrochen?«

»Nein... Na ja, so genau weiß ich das nicht. Vielleicht. Wurde angeschossen. Hier oben.« Er berührte seinen linken Arm unterhalb der Schulter. »Verliert er viel Blut?«

»Nein.«

»Na gut, ich komme. Aber zuerst bringe ich den Jungen nach Hause.«

»Nein«, sagte der Mann noch einmal, und Rob J. sah ihn an. »Ich weiß, wo Sie wohnen, am anderen Ende des Orts. Es ist ein langer Ritt bis zu unserem Freund, in die entgegengesetzte Richtung, fast eine Stunde.«

Rob J. seufzte. »Dann zeigen Sie mir den Weg!« sagte er. Der Mann, der gesprochen hatte, setzte sich an die Spitze. Rob J. entging nicht, dass die beiden anderen warteten, bis er ihm folgte, und dann so knapp hinter seinem Pferd herritten, dass er nicht ausbrechen konnte.

Anfangs ritten sie nach Nordwesten, da war Rob J. sich ziemlich sicher. Er merkte, dass sie immer wieder die Richtung änderten und von Zeit zu Zeit die eigene Spur kreuzten - wie ein Fuchs, der von Hunden gejagt wird.

Die List war erfolgreich, denn Rob J. hatte bald die Orientierung verloren. Nach etwa einer halben Stunde erreichten sie eine Kette bewaldeter Hügel zwischen dem Fluss und der offenen Prärie. Zwischen den Hügeln lagen Sümpfe, die noch zugefroren und deshalb passierbar waren, sich aber in unüberwindliche Schlammlöcher verwandeln würden, sobald die Schneeschmelze einsetzte. Der Anführer hielt sein Pferd an. »Muss Ihnen die Augen verbinden.« Rob J. hütete sich zu protestieren. »Einen Augenblick«, sagte er und drehte sich zu Shaman um. »Sie werden dir jetzt die Augen verbinden, aber du brauchst keine Angst zu haben.« Er sah erleichtert, dass Shaman ruhig nickte. Das Tuch, das Rob J. die Sicht nahm, war alles andere als sauber, und er hoffte, dass Shaman mehr Glück hatte, denn er ekelte sich bei dem Gedanken, dass der Schweiß und der getrocknete Rotz eines Fremden die Haut seines Sohnes berührten. Sie nahmen Rob J.s Pferd an die Leine, und es kam ihm so vor, als ritten sie sehr lange zwischen den Hügeln hindurch, doch vermutlich verging für ihn die Zeit einfach langsamer, weil er nichts sah. Schließlich spürte er, dass das Pferd unter ihm einen Hügel hinaufklomm, und kurze Zeit später hielten sie an. Als man ihm die Binde abnahm, sah er, dass sie vor einer kleinen Hütte unter hohen Bäumen standen, eher einem Schuppen als einem Blockhaus. Es dämmerte bereits, doch die Augen gewöhnten sich schnell daran. Er sah, dass sein Sohn blinzelte. »Alles in Ordnung, Shaman?«

»Alles in Ordnung, Pa.«

Er kannte dieses Gesicht. Und als er in ihm forschte, sah er, dass Shaman vernünftig genug war, Angst zu verspüren. Doch als sie mit den Füßen aufstampften, um die Blutzirkulation wieder in Schwung zu bringen, und dann die Hütte betraten, stellte er beinahe belustigt fest, dass in Shamans Augen neben der Angst auch die Neugier aufblitzte, und er machte sich Vorwürfe, weil es ihm nicht gelungen war, den Jungen irgendwo zurückzulassen, wo er in Sicherheit war.

Drinnen glühten rote Kohlen im Kamin, und die Luft war warm, aber sehr schlecht. Möbel fehlten. Ein feister Mann lag, gegen einen Sattel gelehnt, auf dem Boden, und im Schein des Feuers sah Shaman, dass er kahlköpfig war, dafür aber im Gesicht so viele kräftige, schwarze Haare hatte wie andere Männer auf dem Kopf. Zerwühlte Decken auf dem Boden zeigten an, wo die anderen geschlafen hatten. »Habt aber ganz schön lange gebraucht!«

sagte der Feiste. Er trank einen Schluck aus dem dunklen Krug in seiner Hand und hustete. »Haben aber nicht getrödelt«, erwiderte der Mann, der sie hierhergeführt hatte, mürrisch. Als er den Schal abnahm, der sein Gesicht geschützt hatte, sah Shaman, dass er einen kleinen weißen Bart hatte und älter aussah als die anderen. Der Mann legte Shaman die Hand auf die Schulter und drückte ihn nieder. »Sitz!« sagte er wie zu einem Hund. Shaman kauerte sich in der Nähe des Feuers nieder. Es war ein guter Platz für ihn, denn von dort hatte er sowohl den Mund des Verletzten wie den seines Vaters im Blick.

Der ältere Mann zog seine Pistole aus dem Halfter und richtete den Lauf auf Shaman. »Flicken Sie unseren Freund hier besser ordentlich zusammen, Doc!« Shaman hatte große Angst. Das Loch am Ende des Laufs sah aus wie ein nacktes Auge, das ihn direkt anstarrte. »Ich tue überhaupt nichts, solange jemand eine Waffe in der Hand hält«, sagte sein Vater zu dem Mann auf dem Boden. Der Feiste schien zu überlegen. »Raus mit euch!«

sagte er dann zu seinen Gefolgsleuten.

»Bevor Sie gehen«, befahl nun Shamans Vater, »holen Sie Holz, und machen Sie ein größeres Feuer! Und setzen Sie Wasser zum Kochen auf. Haben Sie noch eine Lampe?«

»‘ne Laterne«, sagte der alte Mann.

»Holen Sie sie!« Shamans Vater legte dem Feisten die Hand auf die Stirn. Dann knöpfte er dessen Hemd auf und schob es beiseite. »Wann ist das passiert?«

»Gestern früh?« Der Mann sah Shaman mit zugekniffenen Augen an. »Ihr Junge?«

»Mein jüngster Sohn.«

»Der Taube.«

»... Sie wissen wohl einiges über meine Familie...« Der Mann nickte. »Der Ältere, der soll angeblich von meinem Bruder Bill sein. Wenn der auch nur ein bisschen nach meinem Billy geraten ist, dann muss er jetzt schon ein tüchtiger Bengel sein. Wissen Sie, wer ich bin?«

»Ich kann’s mir denken.« Jetzt sah Shaman, dass sein Vater sich vorbeugte und den Mann scharf fixierte. »Sie sind beide meine Jungen. Wenn Sie von meinem älteren Sohn reden - er ist mein älterer Sohn. Und Sie werden sich auch in Zukunft von ihm fernhalten, so wie Sie es in der Vergangenheit getan haben.«

Der Mann auf dem Boden lächelte. »Na, wieso sollt’ ich eigentlich keinen Anspruch auf ihn erheben?«

»Vor allem, weil er ein guter, ordentlicher Junge ist, der alle Chancen für ein anständiges Leben hat. Und falls Ihr Bruder wirklich sein Vater war, werden Sie ihn kaum sehen wollen, so wie Sie hier liegen wie ein gejagtes, verwundetes Tier in diesem stinkenden, dreckigen Schweinestall von einem Versteck.«

Einen Augenblick lang starrten sich die beiden nur an. Dann schnitt der Mann eine Grimasse und wandte sich ab, und Shamans Vater begann, ihn zu behandeln. Er nahm dem Mann den Krug weg und zog ihm das Hemd aus.

»Keine Austrittswunde.«

»Ja, das Mistding steckt noch drin, das hätt’ ich Ihnen gleich sagen können. Wird vermutlich verflucht weh tun, wenn Sie da rumbohren, was? Kann ich noch ein Schlückchen oder zwei haben?«

»Nein, ich geb’ Ihnen was, das wird Sie besser betäuben.« Der Mann funkelte ihn böse an. »Ich lass’ mich doch nicht einschläfern, damit Sie mit mir anstellen können, wozu Sie grad Lust haben, und ich kann mich nicht wehren.«

»Ihre Entscheidung«, sagte Shamans Vater. Er gab ihm den Krug zurück und ließ ihn trinken, während er wartete, bis das Wasser kochte. Dann wusch er mit der braunen Seife und einem sauberen Tuch aus seiner Arzttasche die Gegend um die Wunde, die Shaman nicht deutlich erkennen konnte. Sein Vater nahm eine dünne Stahlsonde und führte sie in die Schusswunde ein, und der feiste Mann erstarrte, öffnete den Mund und streckte seine dicke, rote Zunge heraus, so weit er konnte.

»... Ist fast bis zum Knochen gedrungen, hat ihn aber nicht zersplittert. Die Kugel muss schon ziemlich matt gewesen sein, als sie Sie traf.«

»Glückstreffer«, sagte der Mann. »Der Hurensohn war ziemlich weit weg.« Sein Bart war schweißverklebt und seine Haut grau. Shamans Vater holte eine Fremdkörperzange aus seiner Tasche. »Damit werde ich die Kugel entfernen. Sie ist um einiges dicker als die Sonde, und es wird noch viel mehr weh tun. Es ist wohl besser, wenn Sie mir vertrauen«, sagte er.

Der Patient drehte den Kopf, und Shaman konnte nicht sehen, was er sagte, aber offensichtlich hatte er um etwas Stärkeres als Whiskey gebeten. Sein Vater nahm eine Äthermaske aus seiner Tasche und winkte Shaman zu sich, der schon öfters bei der Narkose zugesehen, aber nie mitgeholfen hatte. Jetzt drückte er dem feisten Mann die Maske vorsichtig auf Mund und Nase, während sein Vater den Äther daraufträufelte. Das Kugelloch war größer, als Shaman erwartet hatte, und am Rand dunkelrot verfärbt. Sobald der Äther Wirkung zeigte, begann sein Vater, die Zange vorsichtig und Stück für Stück in die Wunde hineinzuschieben. Ein hellroter Tropfen erschien am Rand des Lochs und lief am Arm des Mannes hinunter. Doch als die Zange wieder zum Vorschein kam, steckte eine Bleikugel zwischen den Greifern.

Sein Vater wusch die Kugel und legte sie auf die Decke, damit der Mann sie fand, wenn er aufwachte.

Als sein Vater die Männer wieder aus der Kälte hereinrief, brachten sie einen Topf weißer Bohnen mit, die sie gefroren auf dem Dach aufbewahrt hatten. Sie ließen sie über dem Feuer auftauen und gaben dann Shaman und seinem Vater etwas davon. Es waren irgendwelche Fleischstücke darin, vielleicht von einem Hasen, und Shaman dachte, dass das Gericht etwas Gewürz hätte vertragen können. Aber er verschlang es hungrig.

Nach dem Essen erhitzte sein Vater noch einmal Wasser und begann, den ganzen Körper des Patienten zu waschen, was die anderen Männer zuerst mit Argwohn und dann gelangweilt verfolgten. Sie legten sich hin und schliefen einer nach dem ändern ein, aber Shaman blieb wach. Bald darauf musste er zusehen, wie der Patient ekelerregend würgte und sich übergab.

»Whiskey und Äther passen nicht zusammen«, erklärte sein Vater. »Du legst dich jetzt hin und schläfst. Ich pass’ schon auf.« Shaman gehorchte, und als sein Vater ihn wach rüttelte und ihm befahl, seinen Mantel anzuziehen, sickerte bereits graues Licht durch die Ritzen in den Bretterwänden. Der feiste Mann lag auf dem Boden und sah ihnen zu.

»Zwei oder drei Wochen lang werden Sie ziemlich starke Schmerzen haben«, sagte sein Vater. »Ich lasse Ihnen etwas Morphium da, es ist nicht viel, aber alles, was ich bei mir habe. Am wichtigsten ist, dass Sie die Wunde sauberhalten. Sollte sie brandig werden, rufen Sie mich, und ich komme noch einmal her.«

Der Mann schnaubte. »Pah, wir sind doch längst weg von hier, bevor Sie zurückkommen können.«

»Ganz gleich, falls Sie Schwierigkeiten bekommen, schicken Sie nach mir! Ich komme zu Ihnen, egal wo Sie sind.«

Der Mann nickte. »Bezahl ihn gut!« sagte er zu dem Alten mit dem weißen Bart, der einen Stapel Scheine aus einem Bündel zog und sie dem Arzt gab. Shamans Vater nahm zwei Scheine und warf den Rest auf die Decke.

»Eineinhalb Dollar für den nächtlichen Hausbesuch, fünfzig Cent für den Äther.« Er ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um. »Weiß einer von Ihnen vielleicht etwas über einen Mann namens Ellwood R. Patterson?

Ist manchmal mit einem Kerl namens Hank Cough und einem Jüngeren namens Len oder Lenny unterwegs.«

Alle vier starrten ihn nur verständnislos an. Der Mann auf dem Boden schüttelte den Kopf. Shamans Vater nickte, und sie traten hinaus in eine Luft, die nach nichts anderem als nach Bäumen roch.

Diesmal kam nur der Mann, der am Abend zuvor an der Spitze geritten war, mit ihnen. Er wartete, bis sie aufgesessen waren, bevor er ihnen Taschentücher vor die Augen band. Rob J. hörte, wie der Atem seines Sohnes plötzlich schneller wurde, und er wünschte, er hätte mit Shaman gesprochen, solange der noch seine Lippen sehen konnte. Sein Gehör war aufs äußerste angespannt. Sein Pferd wurde geführt, er konnte das Klappern der Hufe vor sich hören, hinter sich hörte er jedoch nichts. Aber es war ja kein Problem für die Männer, jemanden unterwegs auf die Zeugen warten zu lassen. Derjenige müsste sie dann nur vorbeireiten lassen, sich ein wenig vorbeugen, auf einen Kopf mit einer Augenbinde zielen und abdrücken.

Es war ein langer Ritt. Als sie schließlich anhielten, wusste Rob, wenn sie noch eine Kugel erwartete, würde sie jetzt kommen. Aber es wurden ihnen lediglich die Augenbinden abgenommen. »Sie reiten einfach in dieser Richtung weiter, verstanden? Dann werden Sie sich bald wieder auskennen.«

Rob J. nickte blinzelnd, er sagte nicht, dass er bereits wusste, wo sie waren. Sie ritten in die eine Richtung, der Bewaffnete in die andere. Nach einer Weile hielt Rob J. an einem Gehölz an, damit sie austreten und sich die Beine vertreten konnten.

»Shaman!« sagte er. »Gestern abend. Hast du meine Unterhaltung mit dem Angeschossenen beobachtet?«

Der Junge nickte und sah ihn an.

»Mein Sohn, hast du verstanden, worüber wir gesprochen haben?«

Der Junge nickte wieder.

Rob J. glaubte ihm. »Aber wie kommt es, dass du das gleich verstanden hast? Hat irgend jemand Sachen über...«

- er brachte es nicht über die Lippen, »deine Mutter« zu sagen - »... deinen Bruder gesagt?«

»Ein paar Jungen in der Schule...«

Rob J. seufzte. Die Augen eines alten Mannes in einem so jungen Gesicht, dachte er. »Also, Shaman, hör mal zu! Ich glaube, alles, was passiert ist - dass wir bei diesen Leuten waren, dass ich diesen Angeschossenen behandelt habe und vor allem, was ich mit ihm besprochen habe -, ich glaube, das alles sollte unser Geheimnis bleiben. Deins und meins. Wenn wir es nämlich deinem Bruder und deiner Mutter erzählen, wird sie das sehr schmerzen. Und ihnen Angst einjagen.«

»Ja, Pa.«

Sie bestiegen wieder die Pferde. Ein warmer Wind war aufgekommen. Der Kerl hat recht gehabt, dachte Rob J., es fängt jetzt an zu tauen. In ein paar Tagen würden hier überall Bäche fließen, und da mussten sie längst weg sein. Wenig später riss ihn von hinten Shamans hölzerne Stimme aus seinen Gedanken.

»Ich will genauso sein wie du, Pa. Ich möcht’ ein guter Arzt werden.« Rob J. stiegen die Tränen in die Augen.

Die Umstände - er mit dem Rücken zu Shaman und der Junge durchgefroren, hungrig und müde-verboten es, ihm beizubringen, dass man sich einige Wünsche nicht erfüllen kann, wenn man taub ist. So musste er sich damit begnügen, seine langen Arme nach hinten auszustrecken und seinen Sohn an sich zu drücken. Er spürte Shamans Stirn an seinem Rücken, und er hörte einfach auf, sich zu quälen. Während das Pferd dahintrottete und sie langsam nach Hause brachte, gestattete er sich, vom Schlaf zu naschen wie ein Verhungernder, der Angst hat, einen ganzen Teller voll Essen zu verschlingen.

Antworten und Fragen

Stars and Stripes Religious Institute

Palmer Avenue Nr. 282, Chicago, Illinois

18. Mai 1852

Dr. Robert J.Cole

Holden’s Crossing, Illinois

Sehr geehrter Dr. Cole,

wir haben Ihre Anfrage bezüglich des Aufenthaltsortes und der Adresse von Reverend Ellwood R. Patterson erhalten, doch müssen wir Ihnen leider mitteilen, Ihnen in dieser Angelegenheit nicht behilflich sein zu können.

Wie Sie vielleicht wissen, unterstützt unser Institut sowohl die Kirchen wie auch die American Workingmen of Illinois bei ihrer Aufgabe, den aufrechten, im Lande geborenen Arbeitern dieses Staates Gottes christliche Botschaft zu bringen. Im letzten Jahr wandte sich Mr. Patterson an uns und erbot sich, uns seelsorgerisch zu helfen. Hieraus ergab sich sein Besuch in Ihrer Gemeinde und Ihrer geschätzten Kirche. Doch Mr. Patterson ist inzwischen aus Chicago weggezogen, und wir besitzen keinerlei Informationen über seinen derzeitigen Aufenthaltsort. Seien Sie versichert, dass wir, sollten uns diesbezügliche Informationen erreichen, diese unverzüglich an Sie weiterleiten werden. Doch falls in der Zwischenzeit Probleme auftauchen, bei denen ein anderer unserer aufrechten Diener Gottes Ihnen weiterhelfen kann, oder theologische Fragen, die ich persönlich Ihnen beantworten würde, so zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden.

Ihr ergebener Diener in Christo

Dr. theol. Oliver G. Prescott

(Direktor des Stars and Stripes Religious Institute)

Die Antwort entsprach mehr oder weniger dem, was Rob J. erwartet hatte. Als nächstes schrieb er in Briefform eine Bestandsaufnahme all dessen, was er über den Mord an Makwa-ikwa wusste. In diesem Brief berichtete er von der Anwesenheit dreier Fremder in Holden’s Crossing. Er erwähnte seinen Fund von Hautpartikeln unter drei Fingernägeln Makwas und die Tatsache, dass Dr. Barr Reverend Ellwood R. Patterson am Nachmittag nach dem Mord wegen drei tiefer Kratzwunden im Gesicht behandelt hatte.

Dann schickte er identische Abschriften dieses Briefes an den Gouverneur von Illinois in Springfield und an die beiden zuständigen Senatoren in Washington. Er zwang sich, auch seinem Kongressabgeordneten Nick Holden einen formellen Brief mit diesen Informationen zu schicken. Er bat die Behörden, den entsprechenden Dienststellen Anweisung zu geben, Patterson und seine beiden Kumpane aufzuspüren und eine mögliche Verbindung zwischen ihnen und dem Tod von Bärenfrau zu untersuchen.

Bei der Juniversammlung der Medical Society war ein Gast zugegen, ein Arzt namens Naismith aus Hannibal in Missouri. Während des geselligen Beisammenseins vor der eigentlichen Versammlung erzählte er von einem Prozess, den ein Sklave in Missouri angestrengt hatte, um seine Freiheit zu erlangen.

»Vor dem Krieg des Schwarzen Falken war Dr. John Emerson als Feldscher hier in Illinois stationiert, in Fort Armstrong. Er besaß einen Negersklaven namens Dred Scott, und als die Regierung das ehemalige Indianerland zur Besiedelung freigab, erwarb er eine Parzelle im damaligen Stephenson, dem jetzigen Rock Island. Sein Sklave baute sich eine Hütte auf dem Land und lebte dort einige Jahre, damit sein Herr als Siedler auf diesem Land gelten konnte. Dred Scott ging mit Emerson nach Wisconsin, als der dorthin versetzt wurde, und kehrte dann mit ihm nach Missouri zurück, wo der Arzt starb. Der Neger versuchte, sich von der Witwe seine Freiheit und die seiner Frau und seiner Töchter zu erkaufen. Aus verständlichen Gründen weigerte sich Mrs. Emerson aber. Daraufhin versuchte der schwarze Halunke, sich seine Freiheit vor Gericht zu erstreiten, mit dem Argument, dass er drei Jahre lang in Illinois und Wisconsin als freier Mann gelebt habe.« Tom Beckermann lachte schallend auf. »Ein prozessierender Neger!«

»Na ja«, sagte Julius Barton, »mir scheint, dass sein Anspruch berechtigt ist. In Illinois und in Wisconsin ist die Sklaverei verboten.« Dr. Naismith lächelte noch immer. »Ja, aber er wurde doch in Missouri, einem Sklavenstaat, gekauft und ist auch dorthin zurückgekehrt.« Tobias Barr machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Was halten denn Sie von der Sklaverei, Dr. Cole?«

»Ich glaube«, sagte Rob J. bedächtig, »dass ein Mensch das Recht hat, ein Tier zu besitzen, wenn er es gut behandelt und ausreichend mit Futter und Wasser versorgt, aber ich glaube nicht, dass ein menschliches Wesen das Recht hat, ein anderes menschliches Wesen zu besitzen.«

Dr. Naismith gab sich alle Mühe, freundlich zu bleiben. »Meine Herren, ich bin froh, dass Sie meine Ärztekollegen sind und nicht Staatsanwälte und Richter.«

Dr. Barr nickte nur, da der Mann offensichtlich nicht bereit war, sich auf eine unangenehme Diskussion einzulassen. »Gibt es bei Ihnen in Missouri dieses Jahr eigentlich viele Cholerafälle, Dr. Naismith?«

»Cholera kaum, aber wir hatten eine ganze Reihe von Krankheitsfällen, die einige die Kalte Pest nennen«, antwortete Dr. Naismith. Er beschrieb dann die Ursachen und das Erscheinungsbild dieser Krankheit, soweit beide bekannt waren, und den Rest des Treffens nahm die Diskussion medizinischer Angelegenheiten in Anspruch.

Einige Tage später ritt Rob J. am Konvent der Schwestern des heiligen Franz von Assisi vorbei, und aus einer spontanen Eingebung heraus bog er in den Zuweg ein.

Diesmal wurde sein Kommen schon frühzeitig bemerkt, von einer jungen Nonne, die sofort den Garten verließ und eilig ins Haus lief. Mater Miriam Ferocia bot ihm mit einem stillen Lächeln den Bischofsstuhl an. »Wir haben heute Nachmittag Kaffee«, sagte sie auf eine Art, die andeutete, dass das nicht immer der Fall sei.

»Wollen Sie eine Tasse?«

Er hatte nicht die Absicht, die Vorräte der Franziskanerinnen aufzubrauchen, doch etwas in ihrer Miene brachte ihn dazu, das Angebot dankend anzunehmen. Der Kaffee war schwarz und heiß, als er hereingebracht wurde. Er war sehr stark und schmeckte irgendwie alt, wie ihre ganze Religion.

»Ohne Milch«, sagte Mater Miriam Ferocia fröhlich. »Gott hat uns noch nicht mit einer Kuh gesegnet.«

Als er fragte, wie es dem Konvent denn ergehe, erwiderte sie etwas steif, um ihr Überleben brauchten sie sich keine Sorgen zu machen. »Es gäbe eine Möglichkeit, Geld für Ihren Konvent zu beschaffen.«

»Es ist immer klug, jemandem Gehör zu schenken, der von Geld spricht«, erwiderte sie gelassen.

»Sie sind ein Pflegeorden ohne einen Platz, wo Sie pflegen könnten. Ich behandle Patienten, die Pflege dringend nötig haben. Einige von ihnen können zahlen.«

Aber er erzielte keine andere Reaktion als bei seiner ersten Erwähnung dieses Themas. Die Mutter Oberin schnitt ein Gesicht. »Wir sind ein wohltätiger Orden.«

»Einige meiner Patienten können nichts bezahlen. Pflegen Sie die, und Sie sind wohltätig. Andere können bezahlen. Pflegen Sie die auch, und Sie unterhalten damit Ihren Konvent.«

»Wenn der Herr uns ein Krankenhaus schenkt, in dem wir pflegen können, werden wir pflegen.«

Er war enttäuscht. »Können Sie mir sagen, warum Sie Ihren Nonnen nicht gestatten, Patienten zu Hause zu pflegen?«

»Nein. Sie würden es nicht verstehen.«

»Versuchen Sie es doch!«

Doch sie sah ihn aus eisigen Augen nur finster an, die grimmige Miriam.

Rob J. seufzte und schlürfte ihr bitteres Gebräu. »Da ist noch etwas anderes.« Und er berichtete ihr von seinen Bemühungen, Ellwood Patterson aufzuspüren. »Ich frage mich, ob Sie etwas über diesen Mann wissen.«

»Nichts über Reverend Patterson. Aber ich weiß einiges über das Stars and Stripes Religious Institute. Es handelt sich dabei um eine antikatholische Organisation, hinter der ein Geheimbund steht, der gleichzeitig die American Party unterstützt. Man nennt ihn den Supreme Order of the Star-Spangled Banner«, erwiderte Miriam Ferocia, und man merkte ihr an, was sie von diesem Obersten Orden des Sternenbanners hielt.

»Woher wissen Sie von diesem... Supreme...«

»... Order of the Star-Spangled Banner. Sie nennen sich selber den SSSB.« Sie sah ihn durchdringend an.

»Unsere Kirche ist eine weit verzweigte Organisation. Sie hat Mittel und Wege, etwas in Erfahrung zu bringen.

Wir halten zwar unseren Feinden auch die andere Wange hin, aber es wäre doch töricht, nicht nachzuforschen, aus welcher Richtung der nächste Schlag vermutlich kommt.«

»Vielleicht kann die Kirche mir helfen, diesen Patterson zu finden.«

»Der ist Ihnen wohl ziemlich wichtig.«

»Ich glaube, dass er eine gute Freundin von mir umgebracht hat. Man sollte nicht zulassen, dass er noch andere tötet.«

»Und können Sie ihn nicht Gott überlassen?« fragte sie ruhig.

»Nein.«

Sie seufzte. »Es ist unwahrscheinlich, dass Sie ihn durch mich finden werden. In der unendlichen Kette unserer Kirche dringt eine Anfrage manchmal nur ein oder zwei Glieder weiter. Oft fragt man, ohne je eine Antwort zu erhalten. Aber ich werde nachforschen.« Nach dem Besuch im Konvent ritt er zu Daniel Rayners Farm, um sich mit wenig Erfolg um Lydia-Beile Rayners steifen Rücken zu kümmern, und dann weiter zur Ziegenfarm von Lester Shedd. Shedd wäre beinahe an einer Lungenentzündung gestorben und war eins der besten Exempel dafür, von welch unschätzbarem Wert der Pflegedienst der Nonnen gewesen wäre. Rob J. hatte Lester den halben Winter und den ganzen Frühling hindurch so oft wie möglich besucht und es dank Mrs. Shedds tätiger Mithilfe geschafft, dem Mann die Gesundheit zurückzugeben.

Als Rob J. diesmal erklärte, dass keine weiteren Besuche mehr nötig seien, war Shedd erleichtert, brachte dann aber verlegen die Arztrechnung zur Sprache.

»Haben Sie vielleicht zufällig eine gute Milchziege?« fragte Rob J. und war erstaunt über sich selbst, als er sich so reden hörte.

»Eine Milchziege nicht. Aber ich hab’ da eine kleine Schönheit, die ist nur noch ein bisschen jung fürs Decken.

In ein oder zwei Monaten liefre ich die bewährten Dienste meines Bockes nach. Und fünf Monate später haben sie jede Menge Milch!«

Rob J. zog das widerstrebende Tier an einem Strick hinter seinem Pferd her, allerdings nur bis zum Konvent.

Mutter Miriam dankte ihm, wie es sich gehörte, bemerkte dann aber schnippisch, dass er, wenn er sie in sieben Monaten wieder besuche, Sahne für seinen Kaffee bekomme, so als werfe sie ihm vor, nur aus Eigennutz zu schenken. Doch dabei zwinkerte sie ihm zu. Und das Lächeln, das sie ihm schenkte, verlieh ihren harten, strengen Zügen etwas Herzliches und Gelöstes, so dass er in der Gewissheit nach Hause reiten konnte, den Tag zu etwas Gutem genutzt zu haben.

Dorothy Burnham kannte den kleinen Robert Cole nur als fleißigen und intelligenten Schüler. Deshalb war sie anfangs verwirrt über die schlechten Noten, die sie neben seinem Namen in Mr. Byers’ Klassenbuch fand, und dann verärgert, weil offensichtlich war, dass der Junge einen außergewöhnlichen Verstand besaß und nur schlecht behandelt worden war.

Sie hatte überhaupt keine Erfahrung mit Taubheit, aber sie war eine Lehrerin, die sich über jede neue Herausforderung freute. Als sie, der Regelung entsprechend, für zwei Wochen bei den Coles Herberge fand, wartete sie auf den passenden Augenblick, um allein mit Dr.Cole zu reden. »Es geht um Roberts Aussprache«, sagte sie und erkannte an seinem Nicken, dass sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. »Wir haben Glück, dass er deutlich spricht. Aber wie Sie wissen, gibt es andere Probleme.«

Rob J. nickte noch einmal. »Seine Stimme klingt hölzern und flach. Ich habe ihm schon gesagt, er soll die Tonhöhe variieren, aber...« Er schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, er spricht so monoton, weil er vergisst, wie eine menschliche Stimme klingt, wie sie steigt und fällt.

Aber ich glaube auch, es gibt einen Weg, ihm das wieder ins Gedächtnis zu rufen.« Zwei Tage später brachte die Lehrerin mit Lillians Erlaubnis Shaman ins Haus der Geigers. Sie stellte ihn neben das Klavier und hieß ihn, seine Hand mit der Handfläche nach unten auf das Holzgehäuse legen. Dann schlug sie die erste Note im Bass an und ließ den Finger auf der Taste, damit die Schwingung über Schallbrett und Gehäuse bis zur Hand des Jungen dringen konnte. Sie sah ihn an und sagte: »Die!« Ihre rechte Hand ruhte dabei mit der Handfläche nach oben auf dem Instrument.

Sie drückte die nächste Taste. »Schu-!« Ihre rechte Hand hob sich ein wenig.

Die dritte Taste: »-le!« Und ihre Hand ging noch ein Stückchen höher. So ging sie mit ihm die aufsteigende Tonleiter durch und sagte ihm zu jeder Note den entsprechenden Teil jener Litanei vor, die er bereits aus der Schule kannte: »Die-Schu-le-ist-ein-teu-rer-Ort.« Anschließend führte sie ihn durch die absteigende Tonleiter:

»Und-wir-ler-nen-hier-fürs-Le-ben.«

Immer und immer wieder spielte sie die Tonleitern, damit er sich mit den Unterschieden in den Schwingungen, die seine Hand erreichten, vertraut machen konnte, und dabei achtete sie darauf, dass er auch das graduelle Heben und Senken ihrer Hand bei jeder Note mitbekam. Dann forderte sie ihn auf, die Worte zu singen, die zu den Tonleitern gehörten, nicht nur stumm die Lippen zu bewegen, wie er es in der Schule tat, sondern laut zu singen. Das Ergebnis war alles andere als musikalisch, doch Miss Burnham ging es nicht um Musik. Sie wollte, dass Shaman eine gewisse Kontrolle über die Tonhöhe seiner Stimme erlangte, und nach einigen Versuchen reagierte er wirklich auf das immer energischer werdende Hochsteigen ihrer rechten Hand und hob die Stimme.

Freilich stieg sie um mehr als eine ganze Note, und Shaman starrte wie versteinert Daumen und Zeigefinger seiner Lehrerin an, die ihm vor seinen Augen einen winzigen Abstand signalisierten. Auf diese Weise bedrängte und drangsalierte sie ihn, und Shaman gefiel dieser Unterricht überhaupt nicht. Beharrlich wanderte ihre linke Hand über die Tastatur, nach rechts die Tonleiter hinauf, nach links wieder hinunter, und ihre rechte Hand hob und senkte sich mit den Tönen. Shaman krächzte dazu immer und immer wieder seine Liebe zur Schule heraus.

Manchmal machte er dabei ein mürrisches Gesicht, und zweimal füllten sich seine Augen mit Tränen, doch Miss Burnham schien es nicht zu bemerken.

Schließlich hörte die Lehrerin auf zu spielen. Sie nahm den jungen Robert Cole in die Arme, drückte ihn an sich und strich ihm über die dichten, schwarzen Haare auf seinem Hinterkopf.

»Geh jetzt nach Hause!« sagte sie, nachdem sie ihn wieder losgelassen hatte. Doch als er sich umdrehte, hielt sie ihn noch einmal zurück.

»Morgen nach der Schule probieren wir es wieder.«

Er machte ein langes Gesicht. »Ja, MissBurnham«, sagte er. Seine Stimme war ohne Modulation, doch sie ließ sich nicht entmutigen.

Nachdem er gegangen war, saß sie am Klavier und spielte ein letztes Mal die Tonleiter.

»Ja«, sagte sie.

Dieses Jahr bescherte ihnen nur einen kurzen Frühling. Schon nach wenigen Wochen angenehmer Wärme folgte eine sengende Hitze, die sich wie eine Decke über die Prärie legte. An einem glühendheißen Freitag Mitte Mai wurde Rob J. in Rock Island mitten auf der Hauptstraße von George Cliburn angehalten, einem Quäker und ehemaligen Farmer, der sich auf den Getreidehandel verlegt hatte. »Haben Sie wohl ein wenig Zeit für mich, Doktor?« fragte Cliburn höflich, und ganz automatisch gingen sie gemeinsam aus dem gleißenden Sonnenlicht in den Kühle spendenden Schatten eines Hickorybaumes. »Man hat mir gesagt, Sie haben Mitleid mit Sklaven.«

Rob J. war verblüfft über diese Bemerkung. Er kannte den Getreidehändler nur vom Sehen. George Cliburn stand in dem Ruf, ein guter Geschäftsmann zu sein, schlau, aber fair.

»Meine persönlichen Ansichten gehen niemanden etwas an. Von wem haben Sie denn das?«

»Von Dr. Barr.«

Rob J. erinnerte sich an die Unterhaltung mit Dr. Naismith bei der Versammlung der Medical Society. Er bemerkte, dass Cliburn sich schnell umsah, um sicherzugehen, dass sie ungestört waren. »Obwohl der Staat Illinois die Sklaverei abgeschafft hat, respektieren unsere Behörden das Recht auf Sklavenbesitz anderer Staaten.

Deshalb werden Sklaven, die aus den Südstaaten davongelaufen sind, hier bei uns verhaftet und an ihre Herren zurückgegeben. Man behandelt sie grausam. Ich habe in Springfield mit eigenen Augen ein großes Haus gesehen, das in winzige Zellen unterteilt war, und in jeder dieser Zellen waren schwere Hand- und Fußringe in die Wände eingelassen. Einige von uns... Gleichgesinnte, die alle die Sklaverei für etwas Schlechtes halten, versuchen diesen Menschen beizustehen, die davongelaufen sind, um die Freiheit zu erlangen. Wir möchten Sie einladen, mit uns gemeinsam Gottes Werk zu tun.«

Rob J. wartete darauf, dass Cliburn fortfuhr, bis er merkte, dass der ihm gerade eine Art Angebot gemacht hatte.

»Ihnen beistehen... wie denn?«

»Wir wissen nicht, woher sie kommen. Wir wissen nicht, wohin sie gehen. In mondlosen Nächten werden sie zu uns gebracht und wieder abgeholt. Ihr müsst bloß ein sicheres Versteck vorbereiten, das groß genug ist, einen Mann zu verbergen. Einen Keller, eine Wandnische, ein Erdloch. Und Proviant für drei oder vier Tage.«

Rob J. überlegte nicht lange. Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«

Der Ausdruck auf Cliburns Gesicht verriet weder Überraschung noch Verärgerung, kam Rob J. aber irgendwie vertraut vor.

»Werden Sie Stillschweigen über unsere Unterhaltung bewahren?«

»Ja. Ja, natürlich.«

Cliburn atmete auf und nickte. »Möge Gott mit Ihnen sein!« sagte er, wappnete sich gegen die Hitze und trat aus dem Schatten.

Zwei Tage später waren die Geigers bei den Coles zum Sonntagsmahl eingeladen. Die Cole-Jungen freuten sich, wenn die Geigers kamen, denn dann gab es immer reichlich zu essen. Sarah war anfangs verstimmt gewesen, dass die Geigers, sooft sie zum Essen kamen, immer ihren Braten ablehnten, da er nicht koscher war. Doch sie hatte gelernt, das zu tolerieren und für Ersatz zu sorgen. Wenn die Geigers nun zum Essen kamen, bot sie immer etwas Besonderes an, eine fleischlose Suppe, zusätzliche Aufläufe und Gemüse und verschiedene Nachspeisen.

Jay hatte ein Exemplar des »Rock Island Weekly Guardian« mitgebracht, der einen Artikel über den Dred-Scott-Prozess enthielt, und er bemerkte dazu, dass der Sklave wohl nur sehr geringe oder überhaupt keine Erfolgschancen habe.

»Malcolm Howard sagt, dass bei ihnen zu Hause in Louisiana jeder Sklaven hat«, sagte Alex, und seine Mutter lächelte.

»Nicht jeder«, sagte sie mit dünner Stimme. »Ich bezweifle, dass Malcolm Howards Papa je viel besessen hat, geschweige denn Sklaven.«

»Hat dein Papa in Virginia auch Sklaven gehabt?« fragte Shaman. »Mein Papa hatte nur ein kleines Sägewerk«, erwiderte Sarah. »Er hatte drei Sklaven, doch dann kam eine schlimme Zeit, und er musste die Sklaven und die Sägemühle verkaufen und für seinen Papa arbeiten, der eine große Farm mit mehr als vierzig Sklaven hatte.«

»Und was ist mit der Familie von meinem Papa in Virginia?« wollte Alex wissen.

»Die Bledsoes waren Ladenbesitzer«, sagte Sarah. »Die hielten sich keine Sklaven.«

»Warum will denn überhaupt jemand Sklave sein?« fragte Shaman. »Die wollen es gar nicht sein«, erklärte Rob J. seinem Sohn. »Das sind einfach nur arme, unglückliche Menschen, die in eine ausweglose Situation geraten sind.«

Jay trank einen Schluck Quellwasser und spitzte die Lippen. »Weißt du, Shaman, so ist das Leben, und so war es im Süden in den letzten zweihundert Jahren. Es gibt Radikale, die schreiben, man müsse alle Schwarzen freilassen. Aber wenn ein Staat wie South Carolina ihnen plötzlich allen die Freiheit gibt, wo sollen die dann leben? Weißt du, jetzt arbeiten sie für die Weißen, und die Weißen kümmern sich um sie. Noch vor ein paar Jahren hatte Lillians Cousin, Judah Benjamin, auf seiner Zuckerplantage in Louisiana einhundertvierzig Sklaven.

Und er hat sich wirklich um sie gekümmert. Mein Vater in Charleston hat zwei Hausneger. Die gehören ihm schon, solange ich denken kann. Er behandelt sie so gut, dass man sie wahrscheinlich aus dem Haus jagen müsste, damit sie ihn verlassen.«

»Ja, so ist es«, sagte Sarah. Rob J. öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder und reichte Rachel die Erbsen und die Karotten. Sarah ging in die Küche und kehrte mit einem riesigen Kartoffelauflauf zurück, den sie nach Lillian Geigers Rezept gebacken hatte. Jay stöhnte und meinte, er sei schon voll, streckte ihr aber trotzdem den Teller hin.

Als die Geigers aufbrachen, um die Kinder nach Hause zu bringen, drängte Jay Rob J. mit ihnen zu kommen, damit sie zu dritt musizieren konnten. Aber Rob J. erwiderte, er sei müde. In Wirklichkeit fühlte er sich gereizt und nicht zu Geselligkeit aufgelegt. Um diese Stimmung loszuwerden und etwas Luft zu schnappen, spazierte er den kurzen Weg zum Fluss hinunter. Auf Makwas Grab bemerkte er Unkraut, und er riss wütend an den Stängeln, bis nichts mehr davon zu sehen war.

Ihm fiel ein, warum ihm der Ausdruck auf George Cliburns Gesicht so vertraut vorgekommen war. Es war der gleiche Ausdruck, den er schon in Schottland auf Andrew Geroulds Gesicht gesehen hatte, als der ihn zum erstenmal bat, ein Pamphlet gegen die englische Verwaltung zu schreiben, und abgewiesen wurde. Die Gesichter beider Männer hatten eine Mischung von Gefühlen verraten: Fatalismus, beharrliche Kraft und die Unbehaglichkeit zu wissen, dass sie sich von seinem Charakter und seinem Stillschweigen abhängig gemacht hatten.

Die Rückkehr

An einem Morgen, an dem der Frühnebel wie schwerer Rauch über dem Wasser und zwischen den Bäumen hing, verließ Shaman das Haus und ging am Klosetthäuschen vorbei, um träge in den großen Fluss zu pinkeln.

Als orangefarbene Scheibe brannte die Sonne durch die oberen Schichten des Nebels und ließ die unteren in einem fahlen Glanz erstrahlen. Die Welt war neu und kühl und roch gut, und was er vom Fluss und dem Wald sehen konnte, entsprach dem permanenten Frieden in seinen Ohren. Wer heute fischen will, muss früh aufstehen, dachte er.

Der Junge wandte sich vom Fluss ab. Zwischen ihm und dem Haus lag das Grab, und als er nun die Gestalt in den Nebelschwaden sah, spürte er keine Angst, sondern nur einen kurzen Kampf zwischen Unglauben und einer überwältigenden Freude und Dankbarkeit. Geist, ich rufe dich heute. Geist, ich spreche zu dir. »Makwa!« rief er fröhlich und ging auf sie zu. »Shaman?«

Als er die Gestalt erreichte, musste er betrübt feststellen, dass es gar nicht Makwa war.

»Mond?« sagte er, und der Name war eine Frage, weil die Frau so schlecht aussah.

Hinter Mond entdeckte er nun noch zwei weitere Indianer. Den einen kannte er nicht, der andere war Steinhund, der für Jay Geiger gearbeitet hatte. Steinhunds Oberkörper war nackt, er trug nur eine Hirschlederhose. Der Fremde hatte eine grobe Wollhose und ein zerrissenes Hemd an. Beide Männer liefen in Mokassins, aber Mond trug die Arbeitsstiefel eines Weißen und ein altes, schmutziges blaues Kleid, das an der rechten Schulter aufgerissen war. Die Männer hatten Lebensmittel bei sich, die Shaman bekannt vorkamen, ein Stück Käse, einen geräucherten Schinken, ein rohes Hammelbein, und er schloss daraus, dass sie das Kühlhaus über der Quelle aufgebrochen hatten. »Whiskey holen?« sagte Steinhund und deutete auf das Haus, doch Mond fauchte ihn in der Sauk-Sprache an. Dann brach sie zusammen.

»Mond, bist du in Ordnung?« fragte Shaman.

»Shaman. So groß.« Sie sah ihn bewundernd an. Er kniete sich neben sie. »Wo warst du? Sind die anderen auch hier?«

»Nein... Anderen in Kansas. Reservat. Hab’ Kinder dortgelassen, aber...« Sie schloss die Augen.

»Ich hole meinen Vater«, sagte er, und ihre Augen öffneten sich wieder.

»Sie waren so böse zu uns, Shaman«, flüsterte sie. Ihre Hände tasteten nach den seinen und hielten sie fest.

Shaman spürte, dass etwas aus ihrem Körper in sein Bewusstsein wanderte. So als könnte er wieder hören und es hätte gedonnert, und er wusste zugleich, was mit ihr passieren würde - irgendwie wusste er es. Seine Hände kribbelten. Er öffnete den Mund, doch er konnte nicht schreien, konnte Mond nicht warnen. Er war wie versteinert. Eine Angst ergriff ihn, die ihm vollkommen neu war, die noch grausamer war als das Entsetzen über die plötzliche Taubheit, schlimmer als alles, was er bisher erlebt hatte.

Schließlich fand er die Kraft, ihre Hände wegzustoßen. Er rannte auf das Haus zu, als wäre es seine einzige Rettung. »Pa!« schrie er.

Rob J. war daran gewöhnt, von Notrufen geweckt zu werden, aber nicht vom hysterischen Schreien seines Sohnes. Shaman stammelte vor sich hin, dass Mond zurück sei und sterbe. Es dauerte einige Minuten, bis sie ihn verstanden und dazu gebracht hatten, seinen Eltern auf den Mund zu schauen, damit sie ihm Fragen stellen konnten. Als sie endlich begriffen, dass Mond wirklich zurückgekehrt war und sterbenskrank am Flussufer lag, liefen sie sofort aus dem Haus. Der Nebel lichtete sich schnell. Die Sicht war besser geworden, und sie erkannten bald, dass niemand da war. Sie nahmen Shaman ins Gebet, doch er beharrte darauf, dass Mond und Steinhund hiergewesen seien. Er beschrieb, was sie bei sich gehabt, was sie gesagt und wie sie ausgesehen hatten.

Sarah eilte davon, als sie hörte, was die Indianer mit sich schleppten, und kam wütend zurück, weil das Kühlhaus tatsächlich aufgebrochen war und einige wertvolle Nahrungsmittel fehlten. »Robert Cole«, sagte sie zornig zu ihrem Sohn, »hast du die Sachen vielleicht selber genommen und dir dann die Geschichte mit den Indianern ausgedacht?«

Rob J. ging am Flussufer auf und ab und rief Monds Namen, doch niemand antwortete.

Shaman weinte hemmungslos. »Sie stirbt, Pa.«

»Woher weißt du denn das?«

»Sie hat meine Hände gehalten, und sie...« Der Junge erschauerte. Rob J. sah den Jungen an und seufzte. Dann nickte er. Er ging zu Shaman, nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. »Hab keine Angst! Es ist nicht deine Schuld, was mit Mond passiert ist«, sagte er. »Ich werde später mit dir darüber reden und versuchen, es dir zu erklären. Aber zuerst werd’ ich mich wohl besser auf die Suche nach ihr machen.«

Er suchte zu Pferd. Den ganzen Vormittag konzentrierte er sich auf den dichten Waldstreifen am Flussufer, denn wenn sie auf der Flucht waren und sich verstecken wollten, waren sie bestimmt dorthin verschwunden. Er ritt zuerst nach Norden in Richtung Wisconsin, kam dann zurück und ritt nach Süden. Alle paar Minuten rief er ihren Namen, doch er erhielt nie eine Antwort.

Möglicherweise war er ihnen bei der Suche sogar sehr nahe gekommen. Die Sauks konnten sich im Unterholz verstecken und ihn vorbeireiten lassen, vielleicht sogar mehrere Male. Am frühen Nachmittag musste er sich eingestehen, dass er nicht wusste, wie Sauks auf der Flucht dachten, denn er war kein Sauk auf der Flucht.

Vielleicht hatten sie das Ufer sofort verlassen. Jetzt gegen Ende des Sommers stand das Gras so hoch auf der Prärie, dass drei Leute leicht darin verschwinden konnten, und auch der mannshohe Mais auf den Feldern bot guten Schutz. So gab er schließlich auf und kehrte nach Hause zurück. Shaman war sichtlich enttäuscht, als er erfuhr, dass sein Vater ergebnislos gesucht hatte. Rob J. setzte sich alleine mit seinem Sohn unter einen Baum am Flussufer und erzählte ihm von der Gabe und dass, solange die Erinnerung zurückreichte, immer einige aus der Cole-Familie mit ihr gesegnet waren. »Nicht alle. Manchmal fehlt sie auch in einer Generation. Mein Vater hatte sie, mein Bruder und mein Onkel hatten sie nicht. Bei einigen Coles zeigt sie sich schon in frühester Jugend.«

»Hast du sie, Pa?«

»Ja, ich habe sie.«

»Und wie alt warst du, als...«

»Ich habe sie zum erstenmal verspürt, als ich schon fast fünf Jahre älter war, als du jetzt bist.«

»Was hat es mit ihr auf sich?« fragte der Junge leise. »Hm, Shaman... ich weiß es eigentlich nicht. Ich weiß nur, dass nichts Magisches an ihr ist. Ich glaube, sie ist eine Art Sinneswahrnehmung wie das Sehen, das Hören oder das Riechen. Einige von uns haben eben die Fähigkeit zu spüren, ob ein Mensch stirbt, wenn sie seine Hände nehmen. Ich glaube, diese Gabe ist einfach ein zusätzliches Talent, ähnlich der Fähigkeit, den Puls eines Menschen an verschiedenen Körperteilen zu ertasten. Manchmal...« Er zuckte mit den Achseln. »Manchmal kann sie recht nützlich sein, wenn man Arzt ist.« Shaman nickte zaghaft. »Dann wird sie mir wohl auch nützlich sein, wenn ich mal Arzt bin.«

Rob J. wurde klar, dass der Junge, wenn er alt genug war, die Colesche Gabe zu begreifen, auch reif genug war, anderen Tatsachen ins Auge zu sehen. »Du kannst kein Arzt werden, Shaman«, sagte er sanft. »Ein Arzt muss hören können. Ich brauche mein Gehör Tag für Tag zur Behandlung meiner Patienten. Ich horche ihnen die Brust ab, ich horche auf ihren Atem und auf den Klang ihrer Stimme. Ein Arzt muss auch einen Hilfeschrei hören können. Ein Arzt braucht ganz einfach alle fünf Sinne.«

Der Blick, mit dem sein Sohn ihn ansah, traf Rob J. tief ins Herz. »Was werde ich dann tun, wenn ich ein Mann bin?«

»Wir haben eine schöne Farm. Du kannst sie zusammen mit Bigger bewirtschaften«, sagte Rob J., aber der Junge schüttelte den Kopf. »Du kannst aber auch ein Geschäftsmann werden und vielleicht einen Laden führen. Miss Burnham sagt, du bist so ziemlich der intelligenteste Schüler, den sie je hatte. Vielleicht willst du mal selber in einer Schule unterrichten.«

»Nein, ich will in keiner Schule unterrichten.«

»Shaman, du bist doch noch ein Junge. Entscheiden musst du dich erst in einigen Jahren. Halt in der Zwischenzeit die Augen offen! Schau dir die erwachsenen Männer an und die Berufe, die sie ausüben. Es gibt die verschiedensten Arten, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Du kannst dir alles mögliche aussuchen.«

»Nur eins nicht«, sagte Shaman.

Rob J. wollte seinem Jungen unnötigen Kummer ersparen und ließ sich deshalb nicht dazu hinreißen, ihn in dem Glauben zu wiegen, ein Traum, der seiner festen Überzeugung nach nicht zu verwirklichen war, könne in Erfüllung gehen. »Ja«, sagte er bestimmt, »nur eins nicht.«

Es war ein trauriger Tag gewesen, und in Rob J. blieb eine erbitterte Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens zurück. Es schmerzte ihn, dass er seinem Sohn diesen schönen und strahlenden Traum hatte ausreden müssen.

Das war ebenso schlimm, wie einem Menschen, der das Leben liebt, zu sagen, dass es keinen Sinn habe, langfristige Pläne zu schmieden.

Er machte eine Runde durch die Farm. In der Nähe des Flusses waren die Moskitos eine Plage, sie kämpften mit ihm um den Platz im Schatten und gewannen. Mond würde er nie mehr wiedersehen, das wusste er. Er hätte ihr gern Lebewohl gesagt. Er hätte sie gefragt, wo Der singend einhergeht begraben liegt. Es wäre ihm ein Anliegen gewesen, sie beide anständig zu begraben, doch jetzt lag wahrscheinlich auch Mond in einem unmarkierten Erdloch, verscharrt wie Hundescheiße. Es machte ihn wütend, wenn er daran dachte, und gleichzeitig fühlte er sich schuldig, denn auch er war ein Grund für ihre Probleme und seine Farm ebenso. Früher hatten die Sauks ertragreiche Felder besessen und Totendörfer, in denen die Gräber gekennzeichnet waren. »Sie waren so böse zu uns«, hatte sie zu Shaman gesagt.

Amerika besaß eine gute Verfassung, er hatte sie sorgfältig gelesen. Sie schenkte den Bürgern Freiheit, doch er erkannte auch, dass sie nur für Menschen mit einer Hautfarbe von Rosa bis Hellbraun galt. Wer dunklere Haut hatte, konnte ebensogut einen Pelz oder Federn haben. Während der ganzen Zeit, die er auf der Farm herumstreifte, suchte er etwas. Zuerst merkte er es gar nicht, und als er sich dessen bewusst wurde, fühlte er sich ein wenig besser, aber nur ein wenig. Der Platz, den er suchte, durfte nicht auf dem Feld oder im Wald liegen, wo Alden, einer der Jungen oder sogar ein Wilderer darüberstolpern konnte. Das Haus selbst war ungeeignet, denn er musste ja auch vor den anderen Familienmitgliedern Geheimhaltung wahren, und das behagte ihm ganz und gar nicht. Seine Praxis war zwar manchmal leer, doch wenn sie geöffnet war, drängten sich in ihr die Patienten. Auch im Stall ging jeder aus und ein. Aber...

An der Rückwand des Stalles war ein Schuppen angebaut, Rob J.s Schuppen. Dort bewahrte er seine Arzneien und Elixiere und andere medizinische Utensilien auf. Neben den zum Trocknen aufgehängten Kräutern und den Regalen voller Flaschen und Töpfe befanden sich in diesem Schuppen auch ein Holztisch und ein Satz Nierenschalen, denn Rob J. führte hier seine Obduktionen durch. Der Anbau war mit einer soliden Holztür und einem starken Schloss gesichert. Die schmale Nordseite des Schuppens war wie die gesamte Nordseite des Stalls in den Hügel hineingebaut, so dass ein Teil dieser natürlichen Wand aus Fels bestand.

Der folgende Tag war angefüllt mit langen Praxisstunden und zahlreichen Hausbesuchen, doch am Morgen danach konnte er sich von seinen ärztlichen Aufgaben losreißen. Er hatte Glück, denn Alden und Shaman waren damit beschäftigt, im abgelegenen Teil der Farm Zäune zu reparieren und eine Futterkrippe zu errichten, und Sarah hatte in der Kirche zu tun. Nur Kate Stryker, die Sarah nach Monds Flucht als Hilfskraft eingestellt hatte, war im Haus, aber Kate würde ihn nicht stören.

Er trug Pickel und Schaufel in den Schuppen und machte sich ans Werk. Es war schon eine Weile her, seit er das letzte Mal körperlich schwer gearbeitet hatte, und er ließ es deshalb gemächlich angehen. Der Boden am Fuße der Nordwand war steinig und so schwer wie fast überall auf der Farm, aber seine Pickelschläge lockerten die Erde problemlos. Von Zeit zu Zeit schaufelte er sie in einen Schubkarren und fuhr sie zu einer ein gutes Stück von dem Stall entfernten Mulde. Er hatte sich darauf eingerichtet, einige Tage lang zu graben, doch schon am frühen Nachmittag stieß er auf Fels. Die Gesteinswand wich jedoch ein Stückchen nach Norden zurück, so dass er einen Hohlraum freischaufeln konnte, der an einem Ende etwa einen halben Meter tief, am anderen etwa eineinhalb Meter tief und knapp eineinhalb Meter breit war. Die so entstandene Nische war kaum groß genug, um darin zu liegen, vor allem, wenn Proviant und anderes darin gelagert wurde, doch Rob J. wusste, dass sie reichen würde. Er vernagelte die Öffnung mit zolldicken Holzbrettern, die fast ein Jahr im Freien gelegen hatten, so dass sie so alt aussahen wie der übrige Schuppen. Mit einer Ahle vergrößerte er mehrere Nagellöcher und ölte die Nägel ein, damit ein paar der Bretter einfach und geräuschlos entfernt und wieder befestigt werden konnten.

Er war sehr vorsichtig und holte mit dem Schubkarren verfaulende Blätter aus dem Wald, die er über die Mulde streute, um den frischen Aushub zu verbergen.

Am nächsten Morgen fuhr er nach Rock Island, um ein kurzes, aber folgenschweres Gespräch mit George Cliburn zu führen.

Die geheime Nische

In diesem Herbst begann sich für Shaman die Welt zu verändern. Es war kein abrupter, erschreckender Wechsel wie damals beim Verlust seines Gehörs, sondern eine komplexe Verschiebung der Pole, die trotz ihrer Gemächlichkeit nicht weniger radikal war. Alex und Mal Howard waren enge Freunde geworden, und ihre lärmende, ausgelassene Kameradschaft schloss Shaman die meiste Zeit aus. Rob J. und Sarah missbilligten die Freundschaft; sie wussten, dass Mollie Howard eine ewig jammernde Schlampe war und ihr Mann Julian ein fauler Kerl, und sie sahen es nicht gern, dass ihr Sohn sich in der engen, unordentlichen Hütte der Howards aufhielt, denn dort ging auch ein Großteil der Männer des Ortes aus und ein, um sich mit dem Selbstgebrannten zu versorgen, den Julian heimlich und mit großer Ernsthaftigkeit aus Maismaische destillierte.

Zu Halloween dieses Jahres bestätigten sich ihre Befürchtungen, denn an diesem Tag probierten Alex und Mal den Whiskey, den Mal für diesen Zweck beiseite geschafft hatte, als er eine Produktion seines Vaters auf Flaschen ziehen geholfen hatte. So beflügelt, machten sie sich daran, eine Spur umgestürzter Aborthäuschen durch den Ort zu ziehen, die erst endete, als Alma Schroeder schreiend aus ihrem am Boden liegenden Klo krabbelte und GUS Schroeder der alkoholisierten Fröhlichkeit mit dem Fuchteln seiner Büffelflinte Einhalt gebot. Der Vorfall zog einen erbitterten Dauerstreit zwischen Alex und seinen Eltern nach sich, den Shaman am liebsten ungeschehen gemacht hätte, und schon nach den ersten Wortwechseln konnte er sich nicht mehr dazu überwinden, das Weitere von ihren Lippen abzulesen. Eine Aussprache zwischen den beiden Übeltätern, ihren Vätern und Sheriff London verlief noch unangenehmer.

Julian Howard spuckte aus und meinte, das Ganze sei »ein unnötiger Wirbel wegen zwei Jungs, die an Halloween ‘n bisschen die Sau rausgelassen haben«.

Rob J. versuchte, seine Abneigung gegenüber Howard zu vergessen, dem er es zutraute, ein Mitglied des Supreme Order of the Star-Spangled Banner zu sein, falls es diesen in Holden’s Crossing gab, und der selber ein übler Unruhestifter sein konnte. Er teilte Howards Meinung, dass die Jungen keine Mörder oder Verbrecher waren; da er aber in seinem Beruf die menschliche Verdauung sehr ernst nahm, teilte er nicht die allgemeine Ansicht, dass alles, was mit Scheiße zu tun habe, lustig sei - bis hin zur Zerstörung von Aborthäuschen. Er wusste, dass der Sheriff ein halbes Dutzend Beschwerden wegen der Jungen zur Hand hatte und nur zu bereit war, Maßnahmen gegen sie zu ergreifen, da er beide Väter nicht mochte. Rob J. schlug vor, man solle Alex und Mal für die Behebung des Schadens heranziehen. Drei der Außenklos waren zersplittert oder auseinandergefallen. Zwei konnten nicht mehr über den gleichen Gruben aufgebaut werden, da diese voll waren.

Als Wiedergutmachung sollten die Jungen neue Gruben ausheben und die Häuschen reparieren. Falls neue Bretter nötig waren, wollte Rob J. für sie aufkommen; Alex und Mal sollten ihre Schulden dann bei ihm auf der Farm abarbeiten. Erst wenn sie sich nicht an die Abmachung halten sollten, würde der Sheriff gegen sie vorgehen. Mort London gab widerstrebend zu, dass er an dem Vorschlag nichts Verkehrtes entdecken könne.

Julian Howard war anfangs dagegen, doch als Rob J. ihm sagte, dass sein Sohn und der Cole-Junge nebenbei ihre gewohnte Arbeit verrichten müssten, stimmte auch er zu. Alex und Mal wurden erst gar nicht um ihre Meinung gefragt, und so wurden die beiden im Verlauf eines Monats zu Experten in der Wiederherstellung von Latrinen. Sie begannen mit dem Aushub der Gruben, um damit fertig zu sein, bevor der Boden hartfror, und erledigten dann die Schreinerarbeiten mit vor Kälte gefühllosen Händen.

Doch Alex blieb unbezähmbar. Eines Nachts kam er in das Schlafzimmer, das er mit Shaman teilte, hielt dem Bruder die Öllampe vors Gesicht und verkündete mit tiefer Befriedigung, dass er es getan habe. »Was getan?«

fragte Shaman und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Du weißt schon. Ich hab’s getan. Mit Pattie Drucker.«

Shaman war nun hellwach. »Nie. Du bist ein verdammter Lügner, Bigger.«

»Nein, ich hab’s mit Pattie Drucker getan. Bei ihr zu Hause, während ihre Eltern bei ihrem Onkel waren.«

Shaman starrte ihn mit schmerzlichem Entzücken an; er konnte ihm nicht glauben und hätte es doch so gern getan. »Wie war’s denn, wenn du’s wirklich getan hast?«

Alex lächelte blasiert und holte lustvoll zu einer anschaulichen Antwort aus: »Wenn du dein Ding da unten bei den Haaren und so reinschiebst, ist es warm und gemütlich. Sehr warm und gemütlich. Aber irgendwie wirst du dann furchtbar aufgeregt, und du fängst an, dich vor und zurück zu bewegen. Vor und zurück, wie der Bock beim Schaf.«

»Bewegt sich das Mädchen auch vor und zurück?«

»Nein«, erwiderte Alex, »das Mädchen liegt nur ganz glücklich da und lässt dich machen.«

»Und was passiert dann?«

»Na ja, du verdrehst die Augen. Und das Zeug schießt aus deinem Schwanz raus wie ‘ne Gewehrladung.«

»Wie ‘ne Gewehrladung? O Mann! Tut das dem Mädchen weh?«

»Nein, du Trottel. Ich mein’ doch: so schnell wie ‘ne Gewehrladung, nicht so hart. Es ist weicher als Pudding, genau wie wenn du’s dir selber machst. Na ja, und dann ist’s so ziemlich vorbei.«

Die Unmenge von Einzelheiten, von denen er noch nie etwas gehört hatte, überzeugte Shaman. »Heißt das, dass Pattie Drucker jetzt dein Mädchen ist?«

»Nein!« sagte Alex.

»Bist du sicher?« fragte Shaman ängstlich. Pattie Drucker war schon beinahe so groß wie ihre teiggesichtige Mutter und hatte ein Lachen, das an den Schrei eines Esels erinnerte.

»Bist noch zu jung, um das zu verstehen«, murmelte Alex verstimmt und aus der Fassung gebracht, und er löschte die Lampe, um das Gespräch zu beenden.

Shaman lag im Dunkeln und dachte erregt und gleichzeitig besorgt darüber nach, was Alex gesagt hatte. Die Sache mit dem Augenverdrehen behagte ihm nicht. Luke Stebbins hatte ihm erzählt, man könne blind werden, wenn man an sich selber herumspiele. Das Taubsein reichte ihm schon, er wollte nicht noch einen Sinn verlieren.

Vielleicht bin ich schon dabei, blind zu werden, dachte er, und gleich am nächsten Morgen lief er aufgeregt herum, um sein Sehvermögen an nahen und fernen Gegenständen zu prüfen.

Je weniger Zeit Bigger für Shaman hatte, desto mehr Zeit verbrachte Shaman über Büchern. Er las sehr schnell und bettelte schamlos jeden um neue Bücher an. Die Geigers besaßen eine umfangreiche Bibliothek und erlaubten ihm, sich Lesestoff auszuleihen. Zum Geburtstag und zu Weihnachten bekam er Bücher, Nachschub für das Feuer, das er gegen die Kälte der Einsamkeit entzündet hatte. Miss Burnham sagte, sie habe noch nie eine solche Leseratte gesehen wie ihn. Sie hielt ihn gnadenlos zur Verbesserung seiner Aussprache an. Während der Schulferien erhielt sie bei den Coles freie Kost und Logis, und Rob J. ließ es sich nicht nehmen, sie für ihre Mühe mit seinem Sohn zusätzlich zu entschädigen. Doch sie arbeitete nicht aus Eigennutz mit Shaman, sondern weil ihr seine Aussprache zu einem persönlichen Anliegen geworden war. Die Übungen mit dem Geigerschen Klavier wurden beharrlich fortgesetzt. Fasziniert beobachtete sie, wie feinfühlig Shaman auf die Schwingungsunterschiede reagierte, und es dauerte nicht lange, bis er die einzelnen Töne erkennen konnte, sobald sie sie angeschlagen hatte. Shamans Wortschatz wuchs mit seiner Lektüre, doch er hatte Schwierigkeiten mit der Aussprache neuer Wörter, weil er nicht von anderen hören konnte, wie sie korrekt ausgesprochen wurden. So betonte er zum Beispiel das Wort »Kathedrale« auf der zweiten Silbe, und Miss Burnham erkannte, dass ihm die Aussprache meistens deshalb Schwierigkeiten machte, weil er nicht wusste, wo die Worte betont wurden. Um ihm das zu erklären, benutzte sie einen Gummiball, den sie bei unbetonten Silben nur leicht, bei betonten aber fester vom Boden aufspringen ließ. Doch auch das brauchte seine Zeit, denn selbst das Ballfangen bereitete Shaman große Schwierigkeiten. Miss Burnham merkte, dass sie sich beim Fangen an dem Geräusch orientierte, das der Ball beim Aufprallen auf dem Boden von sich gab. Shaman hatte dieses Hilfsmittel nicht, und so musste er lernen, sich die entsprechende Zeitspanne einzuprägen, die ein mit einer bestimmten Kraft geschleuderter Ball brauchte, um zu seiner Hand zurückzuspringen. Sobald er begriffen hatte, dass der unterschiedlich hoch springende Ball verschiedene Betonungen bedeutete, setzte sie das in Übungen mit Tafel und Kreide um. Zu diesem Zweck schrieb sie ein Wort auf die Tafel und kennzeichnete die betonten Silben mit einem Akzent: Ka-the-drä-le, Gü-ten Mör-gen, Bil-der, Fei-er, Ge-bir-ge. Rob J. unterstützte die Ballübungen, indem er Shaman das Jonglieren beibrachte. Häufig gesellten sich auch Alex und Mal hinzu. Rob hatte manchmal zur Unterhaltung der Kinder jongliert, und es gefiel ihnen, dies nachzumachen. Doch anfangs hatten sie große Schwierigkeiten damit. Trotzdem ermutigte er sie zum Weitermachen. »In Kilmarnock lernen alle Cole-Kinder das Jonglieren. Es ist eine alte Familientradition. Und wenn die in Schottland das lernen können, könnt ihr es auch. Zu seiner Enttäuschung erwies sich ausgerechnet der Howard-Junge als der beste Jongleur, denn er konnte schon bald mit vier Bällen umgehen. Doch Shaman war knapp hinter ihm, und Alex übte beharrlich weiter, bis er drei Bälle sicher in der Luft halten konnte. Der Zweck der Übung war freilich nicht, große Artisten hervorzubringen, sondern Shaman ein Gefühl für wechselnde Rhythmen zu geben. Bei einer der nachmittäglichen Übungen an Lillian Geigers Klavier nahm Miss Burnham Shamans Hand vom Klavierdeckel und legte sie an ihre Kehle. »Wenn ich spreche«, sagte sie, »schwingen die Bänder in meinem Kehlkopf - so wie die Drahtsaiten im Klavier. Spürst du die Schwingungen, wie sie sich bei den verschiedenen Wörtern ändern?«

Er nickte verzückt, und die beiden lächelten sich an.

»Ach, Shaman«, sagte Dorothy Burnham, nahm seine Hand von ihrem Hals, hielt sie aber weiter fest. »Du lernst ja so schnell! Aber du brauchst beständige Übung, mehr als ich dir bieten kann, wenn erst die Schule wieder beginnt. Wenn es nur jemanden gäbe, der dir sonst noch helfen kann!«

Shaman wusste, dass sein Vater mit seiner Praxis voll ausgelastet war. Seine Mutter beschäftigte sich vorwiegend mit ihrer Kirchenarbeit, und er spürte bei ihr auch eine gewisse Abneigung, mit seiner Taubheit umzugehen, was ihn zwar verwirrte, aber alles andere als Einbildung war. Und Alex war mit Mal unterwegs, sooft ihm die Arbeit Zeit dazu ließ.

Dorothy Burnham seufzte. »Finden wir denn niemanden, der in der Lage ist, regelmäßig mit dir zu arbeiten?«

»Ich würde sehr gerne helfen«, sagte plötzlich eine Stimme. Sie kam aus dem großen Ohrensessel, der mit dem Rücken zum Klavier stand, und zu Miss Burnhams Überraschung tauchte Rachel Geiger hinter der Lehne auf und kam schnell zu ihnen.

Wie oft, fragte die Lehrerin, war das Mädchen wohl schon unbemerkt dabeigesessen und hatte den Übungen gelauscht?

»Ich weiß, dass ich es kann, Miss Burnham«, sagte Rachel etwas atemlos.

Shaman schien nicht abgeneigt zu sein.

Miss Burnham strahlte und drückte Rachel die Hand. »Ich bin mir sicher, du wirst es ganz hervorragend machen, meine Liebe«, sagte sie.

Rob J. hatte auf keinen seiner Makwas Tod betreffenden Briefe eine Antwort bekommen. Eines Abends setzte er sich an den Tisch, um sich seine Enttäuschung von der Seele zu schreiben. So entstand ein Brief, der in einem schärferen Ton als der vorige gehalten war und mit dem er in der trägen, verfilzten Bürokratie etwas Staub aufzuwirbeln hoffte.

... Die Verbrechen der Vergewaltigung und des Mordes werden von den Vertretern der Regierung und der Gerichtsbarkeit so bedenkenlos übergangen, dass sich die Frage stellt, ob der Staat Illinois -und mit ihm die ganzen Vereinigten Staaten - wirklich ein zivilisiertes Land ist oder nicht vielmehr ein Ort, an dem Männer sich aufführen dürfen wie die niedersten Tiere, ohne die geringste Strafe fürchten zu müssen.

Er schickte Abschriften des Briefes an dieselben Behörden wie zuvor und erwartete, dass der schärfere Ton Ergebnisse zeitigen werde. In der anderen Sache wendet sich auch niemand an mich, dachte er schmollend.

Beinahe überstürzt hatte er die Nische im Schuppen gegraben, doch jetzt, da sie bereit stand, ließ George Cliburn nichts von sich hören. In den ersten Wochen hatte er sich noch gefragt, wie man ihn wohl benachrichtigen werde, doch dann begann er nach Erklärungen zu suchen, weshalb man ihn ignorierte. Er verdrängte den Gedanken an die geheime Nische und gab sich statt dessen dem vertrauten Kürzerwerden der Tage hin, dem Anblick der Gänse, die in einem langgestreckten V über den blauen Himmel nach Süden zogen, dem Rauschen des Flusses, das immer kristalliner wurde, je mehr das Wasser abkühlte.

Eines Morgens ritt Rob J. in den Ort, und Carroll Wilkenson verließ seinen Platz auf der Veranda der Gemischtwarenhandlung und schlenderte auf ihn zu, als er eben von einer kleinen, gescheckten Stute mit hängendem Hals abstieg. »Neues Pferd, Doc?«

»Ich probier’ sie nur aus. Unsere Vicky ist inzwischen schon fast blind. Taugt zwar noch für die Kinder, um auf die Weide zu reiten, aber... Die Stute gehört Tom Beckermann.« Beckermann hatte ihm versichert, die Stute sei fünf Jahre alt, doch ihre unteren Schneidezähne waren so abgenutzt, dass sie mindestens doppelt so alt sein musste. Außerdem scheute sie bei jedem Insekt und jedem Schatten. »Mögen Sie Stuten?«

»Nicht unbedingt. Allerdings sind sie zuverlässiger als Hengste, und wenn man an den Preis denkt...«

»Da haben Sie recht. Verdammt recht. Übrigens, ich bin gestern George Cliburn begegnet. Ich soll Ihnen ausrichten, dass der einige neue Bücher hat - und ob Sie vielleicht Interesse hätten, sie sich anzusehen.«

Das war das Signal, und es traf ihn überraschend. »Vielen Dank, Carroll. George hat eine wunderbare Bibliothek«, sagte er und hoffte, dass seine Stimme dabei nicht zitterte.

»Ja, die hat er.« Wilkenson hob zum Abschied die Hand. »Na, dann werd’ ich mal weitersagen, dass Sie ein neues Pferd suchen.«

»Das wäre sehr nett«, erwiderte Rob J.

Nach dem Abendessen studierte er den Himmel, bis er sicher war, dass es eine mondlose Nacht werden würde.

Schon seit dem frühen Nachmittag trieben dichte, schwere Wolken über den Horizont. Die Luft war wie in einer Waschküche nach zwei Tagen großer Wäsche und versprach Regen noch vor der Morgendämmerung. Er ging früh zu Bett und schlief ein paar Stunden. Als Arzt war er es gewöhnt, immer nur kurz zu ruhen, und so war er um ein Uhr wieder frisch und munter. Um nicht in Zeitnot zu geraten, löste er sich schon deutlich vor zwei Uhr aus Sarahs Wärme. Er war in der Unterwäsche zu Bett gegangen, und jetzt nahm er leise, und ohne Licht zu machen, seine Kleider und ging hinunter. Sarah war daran gewöhnt, dass er zu jeder Tages- und Nachtzeit wegging, um Patienten zu behandeln. Sie schlief deshalb seelenruhig weiter.

Seine Schuhe standen in der Diele, wo auch sein Mantel hing. Im Stall sattelte er Queen Victoria, denn er musste nur bis zu jener Stelle reiten, wo die Zufahrt der Coles in die öffentliche Straße mündete, und Vicky kannte den Weg so gut, dass sie nicht viel zu sehen brauchte. Vor Nervosität brach er zu früh auf, weshalb er zehn Minuten lang in einem leichten Nieselregen am Wegesrand warten musste. Dem Pferd über den Hals streichelnd, horchte er auf eingebildete Geräusche, bis schließlich Geräusche sein Ohr trafen, die er sich nicht einbildete: das Knarzen und Klimpern eines Pferdegeschirrs, das Hufeklappern eines Arbeitspferdes. Bald darauf löste sich ein schwer mit Heu beladener Wagen aus der Dunkelheit. »Sind Sie es?« fragte George Cliburn ruhig. Rob J.

unterdrückte den plötzlichen Impuls, seine Identität zu leugnen, und saß ruhig auf seinem Pferd, während Cliburn im Heu wühlte, worauf eine zweite Gestalt herauskrabbelte. Cliburn hatte dem ehemaligen Sklaven offensichtlich strikte Anweisungen gegeben, denn der Mann fasste, ohne ein einziges Wort zu sagen, nach Vickys Sattel und schwang sich hinter Rob J. auf das Pferd.

»Geht mit Gott!« sagte Cliburn fröhlich, ließ die Zügel schnalzen und fuhr los. Irgendwann in der letzten Zeit hatte der Schwarze offensichtlich sein Wasser nicht mehr halten können. Rob J.s erfahrene Nase sagte ihm, dass der Urin bereits getrocknet war, wahrscheinlich schon seit Tagen, aber er rückte trotzdem von dem Ammoniakgestank hinter seinem Rücken etwas ab. Alles war dunkel, als sie am Haus vorbeiritten. Er hatte vorgehabt, den Mann schnell in der Nische zu verstecken, das Pferd zu versorgen und dann sofort wieder in sein warmes Bett zu kriechen. Doch im Schuppen wurde die Sache dann doch komplizierter. Als er die Lampe anzündete, sah er einen Mann zwischen dreißig und vierzig Jahren vor sich; ängstliche, wachsame Augen wie die eines in die Enge getriebenen Tiers, eine große Hakennase und ungekämmtes Kraushaar, das an die Wolle eines schwarzen Schafbocks erinnerte, bekleidet mit soliden Schuhen, einem ausreichend intakten Hemd und einer Hose, die so zerrissen und löchrig war, dass sie diese Bezeichnung kaum noch verdiente.

Rob J. hätte ihn gern gefragt, wie er heiße und woher er komme, aber Cliburn hatte ihm eingeschärft, keine Fragen zu stellen, das sei gegen die Regeln. Rob löste einige der Bretter und erklärte dem Mann den Inhalt des Verschlages: ein Topf mit Deckel für die menschlichen Bedürfnisse, Zeitungspapier zum Abwischen, ein Krug mit Trinkwasser und eine Tüte ungesüßte Kekse. Der Schwarze sagte nichts, er bückte sich nur und kroch in die Nische, und Rob befestigte die Bretter wieder.

Auf dem kalten Herd im Schuppen stand ein Topf mit Wasser. Rob J. zündete Feuer an. An einem Nagel im Stall fand er seine älteste Arbeitshose, die für den Schwarzen viel zu groß und zu lang war, und ein Paar ehemals rote Hosenträger, die inzwischen grau waren vom Staub. Eine aufgerollte Hose konnte gefährlich sein, wenn der, der sie trug, laufen musste. Rob schnitt deshalb mit seiner medizinischen Schere von beiden Beinen etwa zwanzig Zentimeter ab. Als er das Pferd versorgt hatte, war auch das Wasser auf dem Herd warm geworden. Er öffnete den Verschlag noch einmal, reichte Wasser, Lumpen, Seife und die Hose hinein und befestigte das Brett wieder.

Dann löschte er das Feuer im Herd und blies die Lampe aus. Er zögerte einen Augenblick, bevor er ging. »Gute Nacht«, sagte er dann in Richtung der Bretter. Ein Rascheln war zu hören wie von einem Bären in seinem Bau -

offensichtlich wusch sich der Mann gerade.

»Dankee, Söh«, kam schließlich ein heiseres Flüstern, als rede jemand in einer Kirche.

Der erste Gast in meiner Herberge, so nannte ihn Rob J. bei sich. Er blieb dreiundsiebzig Stunden. Wieder war es eine pechschwarze Nacht, als George Cliburn - wie immer entspannt und fröhlich und so höflich, dass es beinahe formell wirkte - ihn abholte und wegbrachte. Obwohl Rob J. in der Dunkelheit keine Einzelheiten erkennen konnte, war er sicher, dass die Haare des Quäkers ordentlich über die Glatze gekämmt und die rosigen Wangen so glatt rasiert waren, als wäre es Mittag.

Etwa eine Woche später bekam Rob J. Angst, dass er, Cliburn, Dr. Barr und Carroll Wilkenson wegen Beihilfe zum Diebstahl verhaftet werden könnten, weil er hörte, dass Mort London einen entflohenen Sklaven festgenommen hatte. Aber es zeigte sich, dass es sich nicht um »seinen« Schwarzen handelte, sondern um einen Sklaven, der ohne jede Hilfe von anderen aus Louisiana geflohen war und sich auf einem Flusskahn versteckt hatte.

Für Mort London war es eine gute Woche. Ein paar Tage nachdem er die Belohnung für die Rückführung des Sklaven erhalten hatte, belohnte Nick Holden seine langjährige Treue mit der Ernennung zum Deputy United States Marshal von Rock Island. Sein Amt als Sheriff legte er sofort nieder, und auf seine Empfehlung hin ernannte Bürgermeister Andreson für den Rest der Wahlperiode Londons einzigen Stellvertreter Fritzie Graham zu dessen Nachfolger. Rob J. mochte Graham nicht besonders, doch gleich bei ihrer ersten Begegnung machte der Interimssheriff deutlich, dass er nicht vorhatte, Mort Londons Linie beizubehalten.

»Ich hoffe doch, dass Sie Ihre Arbeit als Leichenbeschauer wieder aufnehmen, Doc. Wir brauchen Sie.«

»Sehr gerne«, erwiderte Rob J. Und das war die Wahrheit, denn ihm fehlten diese Gelegenheiten zur Übung seiner chirurgischen Fertigkeiten sehr. So ermutigt, konnte er nicht widerstehen, Graham um die Wiederaufnahme von Makwas Fall zu bitten. Doch der argwöhnischungläubige Blick, den Graham ihm daraufhin zuwarf, sagte ihm mehr als dessen Versprechen zu tun, was in seiner Macht stehe. »Darauf können Sie sich verlassen, Sir.«

Der graue Star trübte Queen Victorias Augen, und die sanfte alte Stute sah überhaupt nichts mehr. Wäre sie jünger gewesen, hätte Rob J. sie operiert, aber ihre Arbeitskraft war verbraucht, und er sah keinen Grund, ihr noch Schmerzen zuzufügen. Er schläferte sie auch nicht ein, denn ihr schien es zu gefallen, einfach nur auf der Weide herumzustehen, wo immer wieder jemand vorbeikam und ihr einen Apfel oder eine Karotte gab.

Die Familie musste jedoch ein Pferd zur Verfügung haben, wenn er unterwegs war. Bess, die andere Stute, war noch älter als Vicky und würde auch bald ersetzt werden müssen. Deshalb hielt Rob J. weiterhin nach einem geeigneten Pferd Ausschau. Er war ein Gewohnheitsmensch, der sich nur sehr ungern auf ein neues Tier umstellte, doch im November kaufte er schließlich von den Schroeders ein Allzweckpferd, eine kleine braune Stute, die weder besonders jung noch besonders alt war. Der Preis hielt sich in so vernünftigen Grenzen, dass er den Verlust würde verschmerzen können, falls sich das Pferd nicht als das Tier erwies, das sie brauchten. Die Schroeders hatten die Stute Trude genannt, und er und Sarah sahen keinen Grund, sie umzutaufen. Er unternahm kleine Ausritte mit ihr und wartete immer auf irgendeine Enttäuschung, doch tief im Inneren war er überzeugt, dass Alma und Gus ihm nie ein schlechtes Pferd andrehen würden. An einem klaren, kühlen Nachmittag ritt er zum erstenmal auf ihr zu seinen Hausbesuchen, die ihn weit über die Gemeindegrenze hinausführten. Sie war kleiner als Vicky oder Bess und wirkte knochiger unter dem Sattel, aber sie war folgsam und alles andere als nervös. Als sie in der Dämmerung des früh hereinbrechenden Abends heimkehrten, wusste er, dass sie ihm gute Dienste leisten würde, und er nahm sich viel Zeit, sie zu striegeln und zu füttern. Die Schroeders hatten nur Deutsch mit ihr gesprochen, Rob J. dagegen den ganzen Tag nur Englisch. Doch jetzt klopfte er ihr auf die Flanke und grinste. »Gute Nacht, meine gnadige Liebchen«, sagte er in verwegenem Deutsch, wobei er seinen gesamten Wortschatz dieser Sprache mobilisierte. Er nahm die Laterne und wandte sich zum Gehen. Doch er kam nur bis zur Tür, da knallte es plötzlich. Er zögerte, weil er nicht glauben wollte, dass es sich wirklich um einen Flintenschuss gehandelt hatte, doch unmittelbar nach dem Pulverknall schlug kaum zwanzig Zentimeter über seinem Kopf krachend eine Kugel in den Türsturz ein. Das brachte ihn zur Besinnung. Er trat schnell in den Stall zurück und blies die Laterne aus. Er hörte die Hintertür des Hauses auf- und zugehen, hörte Laufschritte.

»Pa? Alles in Ordnung?« rief Alex.

»Ja. Geh wieder ins Haus!«

»Was...«

»Auf der Stelle!«

Wieder Schritte, das Öffnen und Schließen der Tür. Während er angestrengt in die Dunkelheit spähte, merkte er, dass er zitterte. Die drei Pferde bewegten sich unruhig in ihren Boxen. Vicky wieherte. Die Zeit schien stehenzubleiben.

»Dr. Cole?« Aldens Stimme kam näher. »Haben Sie geschossen?«

»Nein, ein anderer hat geschossen und den Türsturz getroffen. Und mich beinahe auch.«

»Bleiben Sie, wo Sie sind!« rief Alden entschieden.

Rob J. wusste, wie sein Knecht dachte. Es würde ihn selbst zu viel Zeit kosten, die Schrotflinte aus seiner Hütte zu holen, statt dessen würde er die Jagdbüchse aus dem Haupthaus holen. Rob hörte seine Schritte, sein warnendes: »Bin nur ich«, und das Öffnen und Schließen der Tür. Und wieder das Aufgehen der Tür. Er hörte Alden weggehen, dann nichts mehr. Ein paar Minuten dehnten sich zu einem Jahrhundert, bis sich wieder Schritte dem Stall näherten.

»Kein Mensch da, soweit ich das sehen kann, Dr. Cole, und ich hab’ gründlich nachgesehen. Wo hat die Kugel denn genau eingeschlagen?«

Als Rob J. ihm die zersplitterte Stelle am Türsturz zeigte, musste Alden sich auf die Zehenspitzen stellen, um sie untersuchen zu können.

»Nein, so was!« sagte Alden. »Schlimm genug, dass er auf Ihrem Land wildert. Aber so nah am Haus und bei dem schlechten Licht! Wenn ich den zu fassen kriege, nimmt er keine Flinte mehr in die Hand.«

»Ist ja nichts passiert! Ich bin froh, dass Sie da waren«, sagte Rob J. und legte Alden die Hand auf die Schulter.

Gemeinsam gingen sie ins Haus, um die Familie zu beruhigen und das Beinahe-Unglück zu verdauen.

Rob J. goss Alden einen Brandy ein und nahm sich selber auch einen, was sehr selten vorkam.

Sarah bereitete ihm sein Lieblingsessen zu, grüne Paprikaschoten und junge Moschuskürbisse, gefüllt mit gewürztem Hackfleisch und mit Kartoffeln und Karotten gedünstet. Er aß mit Appetit und lobte die Kochkünste seiner Frau, doch danach suchte er die Abgeschiedenheit der Veranda und setzte sich dort auf einen Stuhl.

Er kannte keinen Jäger, der so sorglos in der Nähe eines Wohnhauses und bei solchen Lichtverhältnissen schoss.

Zuerst dachte er an eine mögliche Verbindung zwischen dem Vorfall und der geheimen Nische, kam aber dann zu dem Schluss, dass es keine geben konnte. Wenn ihm jemand Schwierigkeiten machen wollte, weil er entflohenen Sklaven half, würde derjenige warten, bis er wieder einen Schwarzen bei sich versteckte. Dann würde er den törichten Dr. Cole verhaften lassen und das Kopfgeld für den Sklaven kassieren. Doch er wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Schuss eine Warnung war, dass jemand ihm einen Denkzettel verpassen wollte. Der Mond stand hoch am Himmel. Es war eine helle Nacht, keine, in der man Verfolgte fortschaffte. Während er so dasaß und die tanzenden Mondschatten der im Wind schwankenden Äste betrachtete, kam ihm die Erkenntnis, dass er nun doch eine Antwort auf seine Briefe erhalten hatte.

Der erste Jude

Rachel fürchtete Jom Kippur, aber sie liebte Pessach, denn dieses achttägige jüdische Osterfest entschädigte sie dafür, dass andere Leute Weihnachten feierten. An Pessach blieben die Geigers in ihrem Haus, das Rachel dann vorkam wie ein sicherer Hafen voller Wärme und Licht. Es war ein Fest der Musik, des Tanzes und der Spiele, der furchteinflößenden biblischen Geschichten mit glücklichem Ausgang und der besonderen Gerichte beim Seder-Mahl, köstliche Matzen, die sie extra aus Chicago kommen ließen, und selbstgebackene Biskuitkuchen, die so hoch und so locker waren, dass sie als Kind ihrem Vater geglaubt hatte, wenn er ihr erzählte, sie müsse nur lange genug hinsehen, dann könne sie sie davonschweben sehen. Ganz anders verliefen dagegen Rosch ha-Schana mit dem abschließenden Jom Kippur: Jeden Herbst packte die Familie nach wochenlanger Planung und Vorbereitung ihre Sachen und brach auf zu einer Reise, die beinahe einen ganzen Tag dauerte. Zuerst fuhren sie mit dem Wagen nach Galesburg, von dort mit dem Zug zu einem Kai am Illinois River und schließlich mit dem Dampfschiff nach Peoria, wo es eine jüdische Gemeinde und eine Synagoge gab. Obwohl sie vom ganzen Jahr nur diese zwei heiligen Wochen in Peoria verbrachten, galten sie als gebührenpflichtige Mitglieder der Gemeinde mit Sitzplätzen in der Synagoge, die auf ihren Namen reserviert waren. Während der Feiertage wohnten die Geigers immer im Haus von Morris Goldwasser, einem Textilhändler und prominenten Mitglied der Schul. Alles an Mr. Goldwasser war groß und üppig: sein Körper, seine Familie und sein Haus. Er weigerte sich, Geld von Jason Geiger anzunehmen, mit der Begründung, es gehöre zu den Mizwa, einem anderen Juden die Anbetung Gottes zu ermöglichen, und wenn die Geigers ihn für seine Gastfreundschaft bezahlten, beraubten sie ihn damit der göttlichen Gnade. Und so machten sich Lillian und Jason wochenlang über ein Geschenk Gedanken, das ihre Dankbarkeit angemessen zum Ausdruck bringen könnte.

Rachel hasste die gesamte Prozedur, die ihr jedes Jahr den Herbst verdarb - die Vorbereitungen, die Probleme bei der Auswahl des Geschenkes, die anstrengende Reise, die Quälerei, vierzehn Tage im Haus von Fremden verbringen zu müssen, den Schmerz und das Schwindelgefühl während des vierundzwanzigstündigen Fastens an Jom Kippur.

Für ihre Eltern war jeder Besuch in Peoria eine Gelegenheit zur Erneuerung ihres Judentums. Gesellschaftlich waren sie sehr begehrt, denn Lillians Cousin Judah Benjamin war zum Senator für Louisiana gewählt worden -

als erstes jüdisches Mitglied eines Senats -, und alle wollten mit den Geigers über ihn reden, die bei jeder Gelegenheit die Synagoge besuchten. Lillian tauschte Rezepte aus und hörte den neuesten Klatsch, Jay unterhielt sich mit den Männern über Politik, trank ein Gläschen Schnaps mit ihnen und rauchte Zigarren. Er erzählte ihnen enthusiastisch von Holden’s Crossing und berichtete ihnen, dass er versuche, noch andere Juden in den Ort zu ziehen, um irgendwann die zehn Männer zusammenzubekommen, die für die Feier des Gemeindegottesdienstes vorgeschrieben waren. Die anderen begegneten ihm mit Anteilnahme und Verständnis. Aus dem ganzen Kreis waren nur Jay und der aus Newport stammende Ralph Seixas echte Amerikaner, alle anderen waren Einwanderer und wussten nur zu gut, was es hieß, Pionier zu sein. In einem stimmten sie alle überein: Es war schwer, der erste Jude an einem Ort zu sein. Die Goldwassers hatten zwei dickliche Töchter, Rose, die knapp ein Jahr, und Clara, die drei Jahre älter war als Rachel. Solange sie ein Kind gewesen war, hatte Rachel gern mit den Goldwasser-Mädchen Schule, Kochen oder Erwachsensein gespielt, aber in dem Jahr, in dem Rachel zwölf wurde, heiratete Clara einen Hutmacher namens Harold Green. Das Paar lebte bei Claras Eltern, und als die Geigers in diesem Jahr nach Peoria kamen, fand Rachel einiges verändert vor. Clara wollte längst nicht mehr Erwachsensein spielen, sie war inzwischen eine richtige Erwachsene, eine verheiratete Frau. Sie sprach leise und herablassend mit ihrer Schwester und mit Rachel, sie kümmerte sich unermüdlich um ihren Gatten, und am Sabbat durfte sie sogar die Kerzen segnen, eine Ehre, die der Dame des Hauses vorbehalten war. Eines Abends waren die drei Mädchen alleine in dem großen Haus, sie tranken in Roses Zimmer Wein, und die sechzehnjährige Clara Goldwasser-Green vergaß, dass sie eine Dame war. Sie erzählte ihrer Schwester und Rachel alles über den Ehestand. Die bestgehüteten Geheimnisse des intimen Zusammenlebens verriet sie ihnen und ließ sich dabei mit großer Freude am Detail vor allem über die körperliche Beschaffenheit und die Gewohnheiten des jüdischen Mannes aus. Rose und Rachel hatten schon öfters einen Penis gesehen, aber nur im Kleinformat bei jüngeren Brüdern oder Cousins, wenn sie gebadet wurden: ein kleines, rosiges Anhängsel mit einem beschnittenen Köpfchen aus glattem Fleisch und darin ein Loch an der Spitze, aus dem das Wasser kam.

Clara, die mit geschlossenen Augen den Rest ihres Weines hinunterstürzte, ließ sich nun schalkhaft über die Unterschiede zwischen jüdischen Babys und jüdischen Männern aus. Und während sie die letzten Tropfen von der Außenseite ihres Glases leckte, beschrieb sie, wie das süße, harmlose Fleisch sich veränderte, wenn ein Mann sich neben seine Frau legte, und was dann passierte.

Keins der beiden anderen Mädchen schrie entsetzt auf, aber Rose drückte sich mit beiden Händen ein Kissen vors Gesicht. »Und das passiert oft?« fragte sie mit dumpfer Stimme.

»Sehr oft«, bestätigte Clara, und unweigerlich am Sabbat und an Feiertagen, denn Gott habe den jüdischen Mann wissen lassen, dass das eine Gnade sei. »Außer natürlich während der Blutung.« Über die Blutung wusste Rachel Bescheid. Es war das einzige Geheimnis, das ihre Mutter ihr anvertraut hatte. Passiert war es ihr allerdings noch nicht, doch das verriet sie den beiden Schwestern nicht. Ihr machte etwas ganz anderes Sorge, eine Frage der Größenverhältnisse und des gesunden Menschenverstandes, denn sie hatte im Geist einen beunruhigenden Vergleich angestellt. Unbewusst schützte sie ihren Schoß mit der Hand. »Aber das geht doch gar nicht«, sagte sie erblassend.

Manchmal, erklärte Clara, benutze ihr Harold reine koschere Butter. Rose Goldwasser nahm das Kissen vom Gesicht, und aus ihren Augen leuchtete die Erkenntnis. »Ach, deshalb geht uns immer, die Butter aus!« rief sie.

Die nächsten Tage waren für Rachel sehr schwierig. Vor die Wahl gestellt, Claras Enthüllungen als furchterregend oder als komisch zu betrachten, entschieden sie und Rose sich aus Selbstschutz für letzteres.

Beim Frühstück und beim Mittagessen, immer, wenn Butter serviert wurde, brauchten sie sich nur anzusehen, um in ein so albernes Gekicher auszubrechen, dass sie einige Male vom Tisch verbannt wurden. Beim Abendessen, an dem auch die Männer der beiden Familien teilnahmen, war es noch schlimmer für Rachel, denn sie konnte Harold Green nicht gegenübersitzen, ihn ansehen und mit ihm reden, ohne ihn sich eingebuttert vorzustellen.

Als die Geigers im Jahr darauf Peoria besuchten, musste Rachel enttäuscht feststellen, dass sowohl Clara wie Rose das Haus ihrer Eltern verlassen hatten. Clara und Harold waren Eltern eines Jungen geworden und wohnten in ihrem eigenen kleinen Haus am Fluss. Als sie einmal die Goldwassers besuchten, beschäftigte Clara sich nur mit ihrem Sohn und schenkte Rachel kaum Beachtung. Rose hatte im vergangenen Juli einen Mann namens Samuel Bielfield geheiratet und war mit ihm nach St. Louis gezogen.

An diesem Jom Kippur wurden Rachel und ihre Eltern vor der Synagoge von einem älteren Mann namens Benjamin Schoenberg angesprochen. Mr. Schoenberg trug einen Zylinder, ein weißes, baumwollenes Rüschenhemd und eine schwarze, schmale Krawatte. Er unterhielt sich mit Jay über die Lage im Apothekergewerbe und erkundigte sich dann mit freundlichen Worten bei Rachel, wie es ihr in der Schule gehe und ob sie ihrer Mutter auch eifrig im Haushalt helfe. Lillian Geiger lächelte den alten Mann an und schüttelte dann geheimnisvoll den Kopf. »Es ist noch zu früh«, sagte sie, und Mr. Schoenberg erwiderte ihr Lächeln und verabschiedete sich nach ein paar abschließenden Höflichkeiten.

An diesem Abend bekam Rachel Bruchstücke eines Gesprächs zwischen ihrer Mutter und Mrs. Goldwasser mit und erfuhr auf diesem Weg, dass Benjamin Schoenberg ein Schadchan war, ein Heiratsvermittler, der bereits die Ehen von Clara und Rose gestiftet hatte. Rachel fuhr der Schreck in die Glieder, doch dann erinnerte sie sich erleichtert daran, was ihre Mutter dem Heiratsvermittler gesagt hatte. Sie sei zu jung für die Ehe und ihre Eltern wüssten das, redete sie sich ein, ohne daran zu denken, dass Rose Goldwasser-Bielfield nur acht Monate älter war als sie.

Während des ganzen Herbstes und eben auch in den beiden Wochen, die sie in Peoria verbrachte, veränderte sich ihr Körper. Ihre Brüste entwickelten sich und waren von Anfang an sehr weiblich, weshalb sie sich sehr schnell mit stützenden Kleidungsstücken, Muskelerschlaffung und Rückenschmerzen abfinden musste. Es war das Jahr, in dem Mr. Byers sie betatscht und ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte, bis ihr Vater gegen ihn vorgegangen war. Wenn Rachel sich im Spiegel ihrer Mutter betrachtete, tröstete sie sich damit, dass kein Mann ein Mädchen begehren würde, das glatte, schwarze Haare und schmale Schultern hatte, einen zu langen Hals und zu schwere Brüste, eine altmodische blasse Haut und unscheinbare, braune Kuhaugen. Doch dann kam ihr der Gedanke, dass ein Mann, der ein solches Mädchen akzeptierte, selber hässlich, dumm und sehr arm sein musste, und sie wusste, dass jeder Tag sie einer Zukunft näher brachte, von der sie gar nichts wissen wollte. Sie ärgerte sich über ihre Brüder und behandelte sie gehässig, weil ihnen nicht bewusst war, welche Geschenke und Privilegien sie mit ihrer Männlichkeit erhalten hatten; das Recht etwa, in der Geborgenheit des Elternhauses zu leben, solange sie wollten, oder das Recht, ohne jede Beschränkung zur Schule zu gehen und zu lernen.

Ihre Menstruation setzte erst spät ein. Lillian hatte ihr von Zeit zu Zeit beiläufig Fragen gestellt und sich dabei besorgt gezeigt, dass es noch nicht passiert war, aber eines Nachmittags, Rachel stand gerade in der Küche und half beim Einkochen von Erdbeermarmelade, überfielen sie unvermittelt so heftige Krämpfe, dass sie sich zusammenkrümmte.

Ihre Mutter befahl ihr nachzusehen, und sie fand wirklich Blut. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch es kam nicht unerwartet, und sie war auch nicht allein. Ihre Mutter war bei ihr, tröstete sie und zeigte ihr, was sie tun musste. Alles war in Ordnung, bis ihre Mutter sie auf die Wange küsste und ihr sagte, dass sie jetzt eine Frau sei.

Rachel fing an zu weinen. Sie konnte nicht mehr aufhören. Stundenlang schluchzte sie, und nichts konnte sie trösten. Jay Geiger kam in ihr Zimmer und legte sich neben sie auf das Bett, wie er es seit Jahren nicht mehr getan hatte. Er streichelte ihr über den Kopf und fragte sie, was denn los sei. Ihre Schultern zuckten so heftig, dass es ihm beinahe das Herz brach, und er musste seine Frage einige Male wiederholen. Schließlich flüsterte sie: »Papa, ich will nicht heiraten. Ich will nicht weg von euch und unserem Zuhause.«

Jay küsste sie auf die Wange und verließ sie, um sich mit seiner Frau zu besprechen. Lillian war sehr besorgt.

Viele Mädchen wurden mit dreizehn verheiratet, und sie glaubte, es sei besser für ihre Tochter, wenn sie und Jay ihrem Leben durch eine solide jüdische Verbindung eine Ordnung gaben, anstatt auf ihre törichte Angst einzugehen. Aber ihr Gatte erwiderte, als er sie geheiratet habe, sei sie bereits sechzehn gewesen, und was gut für die Mutter gewesen sei, müsse auch gut für die Tochter sein, die Zeit brauche, um erwachsen zu werden und sich mit dem Gedanken an eine Ehe anzufreunden.

So erhielt Rachel eine lange Gnadenfrist. Und sofort wurde das Leben wieder schön. Miss Burnham berichtete Jay, sie habe ein ausgesprochenes Talent zum Lernen und eine Fortsetzung der Ausbildung werde ihr von großem Nutzen sein. Die Eltern beschlossen, sie in der Schule zu lassen und nicht ganztägig zur Hausarbeit heranzuziehen, wie es üblich gewesen wäre, und die Freude und die Lebendigkeit, die nun wieder aus Rachels Augen strahlte, entschädigte sie. Rachel besaß eine angeborene Freundlichkeit, und ihr eigenes Unglück machte sie um so empfänglicher für die Leiden anderer. Den Coles stand sie so nahe, als wären sie Blutsverwandte. Als Shaman noch ein kleiner Junge war, hatte er einmal in ihrem Bett gelegen und sein Wasser nicht halten können.

Damals hatte Rachel ihn getröstet, ihm über seine Verlegenheit hinweggeholfen und ihn vor den Sticheleien der anderen Kinder bewahrt. Die Krankheit, die ihm sein Gehör raubte, hatte sie sehr beunruhigt, weil sie zum erstenmal in ihrem Leben die Existenz unbekannter und unerwarteter Gefahren spürte. Shamans Schwierigkeiten beobachtete sie mit der Zerrissenheit eines Menschen, der helfen will, aber nicht kann, und über seine Erfolge freute sie sich so, als wäre er ihr Bruder. Während sie sich entwickelte, sah sie auch Shaman sich von einem kleinen Jungen zu einem großgewachsenen Burschen verwandeln, der Alex um einiges überragte. Weil sein Körper früh heranreifte, war er in den ersten Jahren der Entwicklung oft tolpatschig und ungelenk wie ein im Wachstum begriffenes Tierjunges, und sie verfolgte das mit besonderer Zärtlichkeit. Einige Male hatte sie unentdeckt in dem Ohrensessel gesessen und Shamans Zuversicht und Hartnäckigkeit sowie Dorothy Burnhams Geschick als Lehrerin bewundert. Als Miss Burnham dann überlegte, wer Shaman helfen könne, hatte sie spontan reagiert, denn auf eine solche Gelegenheit hatte sie nur gewartet. Dr. Cole und seine Frau waren dankbar gewesen für ihre Bereitschaft, mit ihm zu arbeiten, und auch ihre Eltern hatten sich über die, wie sie es sahen, großzügige Geste gefreut. Doch sie wusste, dass sie ihm unter anderem deshalb helfen wollte, weil er ihr treuer Freund war, der ihr einst in vollem Ernst angeboten hatte, einen Mann zu töten, der ihr Böses tat.

Das Fundament des Förderunterrichts waren lange Stunden zähen, geduldigen Übens, und Shaman begann sehr bald, Rachels Autorität auf eine Art auf die Probe zu stellen, wie er es sich bei Miss Burnham nicht getraut hätte.

»Heute nicht mehr. Ich bin zu müde«, hatte er schon bei der zweiten Übungsstunde gesagt, die sie ohne Miss Burnhams Aufsicht abhielten.

»Nein, Shaman«, hatte Rachel entschlossen erwidert, »wir sind noch lange nicht fertig.«

Doch er war ihr entwischt.

Als es das zweitemal passierte, ließ sie ihrer Verärgerung freien Lauf, erntete aber nur ein Grinsen von ihm, und sie wusste sich schließlich nicht mehr anders zu helfen, als ihn, wie in ihrer Kinderzeit, wüst zu beschimpfen.

Als er es tags darauf schon wieder versuchte, traten ihr die Tränen in die Augen, und dagegen war er machtlos.

»Na, dann probieren wir’s eben noch mal«, sagte er widerwillig. Rachel war froh, doch sie gab der Versuchung nicht nach, ihn auf diese Art zu beeinflussen, da sie spürte, dass er von ihrer Entschlossenheit und Unerbittlichkeit mehr profitieren würde. Nach einer Weile wurden die langen Stunden für die beiden zur Routine. Shaman machte große Fortschritte, und nach einigen Monaten beherrschte er Miss Burnhams Übungen so gut, dass die beiden sich weiterführenden Aufgaben zuwenden konnten.

Lange Zeit beschäftigten sie sich mit der Technik, die Bedeutung eines Satzes durch die Verschiebung der Betonung zu verändern.

Das >Kind< ist krank.

Das Kind >ist< krank.

Das Kind ist >kränk<.

Manchmal hielt Rachel seine Hand und drückte sie bei dem Wort, das er betonen sollte, was ihm sehr gefiel. Die Übungen am Klavier mochte er inzwischen nicht mehr besonders, denn seine Mutter sah sie als Kunststück an, das sie ihn manchmal vor anderen vorführen ließ.

Doch Rachel arbeitete weiter mit ihm am Klavier, und es faszinierte sie, wenn sie die Tonleiter in einer anderen Tonart spielte, und er sogar diesen feinen Schwingungsunterschied erkennen konnte.

Mit der Zeit lernte er, nicht nur die unterschiedlichen Töne am Klavier zu erfühlen, sondern auch andere Schwingungen in seiner Umgebung zu unterscheiden. Bald konnte er wahrnehmen, dass jemand an die Tür klopfte, obwohl er das Klopfen selbst nicht hörte. Und er spürte sogar Schritte auf einer Treppe, die andere in seiner Nähe nicht einmal hörten.

Eines Tages nahm Rachel seine Hand und legte sie, wie Dorothy Burnham es getan hatte, an ihre Kehle. Zuerst sprach sie sonor mit ihm. Dann veränderte sie die Lautstärke ihrer Stimme und flüsterte nur noch. »Spürst du den Unterschied?«

Ihr Fleisch war warm und sehr glatt, zart und doch fest. Shaman spürte Muskeln und Sehnen. Er dachte an einen Schwan und dann an einen kleinen Vogel, als er ihren Puls unter seinen Fingern flattern spürte, wie er es an Miss Burnhams kräftigerem Hals nicht wahrgenommen hatte.

Er strahlte sie an. »Ja«, sagte er.

Spuren des Wassers

Niemand schoss mehr auf Rob J. Sollte der Vorfall am Stall wirklich die Mahnung gewesen sein, er müsse aufhören, weiter auf eine Wiederaufnahme von Makwas Fall zu drängen, hatte der Schütze offensichtlich Grund zu der Annahme, seine Warnung werde befolgt. Rob J. unternahm nichts Neues mehr, weil er nicht wusste, was er noch unternehmen sollte. Irgendwann erhielt er höfliche Briefe vom Kongressabgeordneten Nick Holden und vom Gouverneur von Illinois. Es waren die einzigen Offiziellen, die ihm antworteten, und ihre Briefe waren freundliche, aber unmissverständliche Absagen. Es ärgerte ihn, doch er hatte drängendere Probleme, denen er sich zuwenden musste. Anfangs bat man ihn nur sehr unregelmäßig um die Gastfreundschaft seiner Nische, doch nachdem er einige Jahre lang Sklaven bei der Flucht geholfen hatte, wurde aus dem Tröpfeln ein beständiges Strömen, und zu manchen Zeiten herrschte in seinem Versteck ein reger Wechsel.

Die Negerfrage war von allgemeinem und sehr kontroversem Interesse. Dred Scott hatte den Prozess um seine Freiheit vor einem Gericht in Missouri gewonnen, der Oberste Gerichtshof des Staates entschied jedoch, er sei weiterhin Sklave, woraufhin seine der Abschaffung der Sklaverei verschriebenen Anwälte vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten Berufung einlegten. Unterdessen lieferten sich Schriftsteller und Prediger, Journalisten und Politiker aus beiden Lagern erregte Wortgefechte. Fritz Graham begann seine fünfjährige Amtszeit nach der Wahl zum regulären Sheriff mit der Anschaffung einer Meute »Niggerhunde«, denn die ausgesetzten Belohnungen waren zu lukrativen Nebeneinkünften geworden. Es gab mehr Geld für die Ergreifung von Ausreißern, und die Strafen für die Beihilfe zur Flucht waren entsprechend härter geworden. Rob J. bekam weiterhin Angst, wenn er daran dachte, was ihm passieren könnte, falls man ihn ertappte, doch meistens verbot er sich solche Gedanken. Wenn er George Cliburn zufällig auf der Straße traf, begrüßte der ihn mit zerstreuter Höflichkeit, als würden die beiden sich nie im Dunkel der Nacht unter ganz anderen Umständen begegnen.

Sozusagen als Nebenwirkung dieser Verbindung erhielt Rob J. Zugang zu Cliburns umfangreicher Bibliothek, und er lieh sich häufig Bücher aus, die er dann Shaman mitbrachte oder manchmal auch selber las. Rob J. fand die Sammlung des Getreidehändlers zwar umfassend, was Religion und Theologie betraf, doch eher unvollständig im Hinblick auf die Naturwissenschaften, und das gleiche traf auf die Bildung ihres Besitzers zu.

Er war bereits fast ein Jahr Sklavenschmuggler, als Cliburn ihn zu einer Quäkerversammlung einlud, seine Absage allerdings verständnisvoll und beinahe eingeschüchtert akzeptierte. »Ich dachte mir, Sie würden es vielleicht hilfreich finden, da Sie doch das Werk des Herrn tun.« Rob J. wollte ihn schon korrigieren und sagen, dass er Menschenwerk tue und nicht das Werk Gottes, doch allein der Gedanke war schon schwülstig genug, und so verzichtete er darauf, ihn auszusprechen. Er lächelte deshalb nur und schüttelte den Kopf.

Er wusste natürlich, dass sein Versteck nur ein Glied in einer zweifellos sehr langen Kette darstellte, hatte aber keine Ahnung, wie das gesamte System funktionierte. Mit Dr. Barr sprach er nie darüber, dass er eigentlich auf dessen Empfehlung hin zum Gesetzesbrecher geworden war. Heimliche Kontakte unterhielt er nur mit Cliburn und dem Makler Carroll Wilkenson, der ihm jedesmal Bescheid sagte, wenn der Quäker ein »interessantes neues Buch« hatte. Rob J. war sicher, dass die Flüchtlinge nach ihrem Aufenthalt bei ihm in Richtung Norden gebracht wurden, durch Wisconsin nach Kanada. Wahrscheinlich mit einem Boot über den Lake Superior. Zumindest hätte er diese Route gewählt, wenn er die Flucht geplant hätte.

Gelegentlich brachte Cliburn auch Frauen, doch die meisten Flüchtlinge waren Männer. Trotz der sich gleichenden zerrissenen Kleider aus grobem Tuch waren sie vom Aussehen her höchst unterschiedlich. Die Haut von einigen war so tiefschwarz, dass sie ihm vorkam wie die Definition von Schwärze: das dunkel glänzende Violett reifer Pflaumen, der Gagatton verbrannter Knochen, das satte Pechschwarz eines Rabenflügels. Andere hatten eine Hautfarbe, der man die Vermischung mit der Blässe ihrer Unterdrücker ansah: Schattierungen von Milchkaffeebraun bis zur Farbe gerösteten Brotes. Überwiegend waren es große Männer mit harten, muskulösen Körpern, aber einer war ein schlanker junger Bursche mit beinahe weißer Haut und einer Nickelbrille. Er sagte, er sei der Sohn einer Hausnegerin und eines Plantagenbesitzers aus Louisiana. Er konnte lesen und war sehr dankbar, als Rob J. ihm Kerzen, Streichhölzer und alte Ausgaben der Zeitung von Rock Island gab.

Als Arzt fühlte Rob J. sich unbefriedigt, weil er die Flüchtlinge nicht lange genug hatte, um ihre körperlichen Beschwerden behandeln zu können. So hatte er auch bemerkt, dass die Brille des hellhäutigen Schwarzen viel zu stark für ihn war. Wochen nachdem der Junge ihn wieder verlassen hatte, fand Rob J. eine Brille, die ihm passender erschien. Als er das nächste Mal nach Rock Island fuhr, besuchte er Cliburn und fragte ihn, ob er die Brille weiterleiten könne, doch der Getreidehändler starrte die Augengläser nur an und schüttelte den Kopf.

»Sind Sie denn noch bei Verstand, Dr. Cole?« sagte er und wandte sich grußlos ab.

Ein anderes Mal blieb ein großer Mann mit sehr dunkler Haut drei Tage lang in dem Versteck, lange genug, um Rob vor Augen zu führen, dass der Schwarze nervös war und an Darmbeschwerden litt. Manchmal war sein Gesicht grau und eingefallen, und sein Appetit wechselte sehr. Rob war sicher, dass der Mann einen Bandwurm hatte. Er gab ihm eine Flasche Spezifikum, schärfte ihm aber ein, es erst einzunehmen, wenn er seinen Bestimmungsort erreicht habe. »Sonst sind Sie zu schwach zum Reisen, und Sie lassen eine Durchfallspur hinter sich, der jeder Sheriff im County folgen kann.«

An jeden einzelnen von ihnen würde er sich sein Leben lang erinnern. Von Anfang an konnte er ihre Ängste und ihre Gefühle gut nachvollziehen, und das lag nicht nur daran, dass er selbst einmal Flüchtling gewesen war. Er erkannte, dass er vor allem deshalb mit ihnen fühlte, weil ihm ihr Leid vertraut war, schließlich hatte er bei den Sauks ganz ähnliches erlebt.

Er hielt sich schon lange nicht mehr an Cliburns Anweisung, sie nicht auszufragen. Einige waren gesprächig, andere verschlossen. Zumindest den Namen versuchte er von jedem zu erfahren. Bis auf den Jungen mit der Brille, der sich Nero nannte, hatten fast alle anderen jüdisch-christliche Namen: Moses, Abraham, Isaac, Aaron, Peter, Paul, Joseph. Immer und immer wieder hörte er die gleichen Namen, und sie erinnerten ihn an die Geschichte, die Makwa-ikwa ihm über die biblischen Namen an der evangelischen Schule für Indianermädchen erzählt hatte. Mit den Gesprächigen verbrachte er so viel Zeit, wie ihm, ohne ein Risiko einzugehen, möglich war. Ein Mann aus Kentucky war zuvor schon einmal ausgebrochen und wieder eingefangen worden. Er zeigte Rob J. die vernarbten Striemen auf seinem Rücken. Ein anderer aus Tennessee erzählte, er sei von seinem Herrn nicht schlecht behandelt worden. Rob J. fragte ihn, warum er dann weggelaufen sei, und der Mann spitzte die Lippen und sah ihn schräg an, als suche er nach einer Antwort. »Wollt nicht aufs Jubeljahr warten«, sagte er dann.

Rob fragte Jay nach diesem Jubeljahr. Im alten Palästina ließ man, so wie es die Bibel vorschrieb, das Ackerland alle sieben Jahre brach liegen, damit es sich erholen konnte. Nach sieben solchen Brachjahren wurde das fünfzigste Jahr zu einem Jubeljahr erklärt, in dem die Sklaven ein Geschenk erhielten und freigelassen wurden.

Rob J. meinte, ein solches Jubeljahr sei immer noch besser, als Menschen in ewiger Knechtschaft zu halten, aber wohl kaum ein Höchstmaß an Menschenliebe, da fünfzig Jahre Sklaverei in den meisten Fällen länger als ein Menschenleben dauerten.

Rob J. und Jay umkreisten sich vorsichtig bei diesem Thema, denn sie wussten seit langem, wie grundverschieden ihre Meinungen waren. »Weißt du, wie viele Sklaven es in den Südstaaten gibt?« fragte Jay.

»Vier Millionen. Das entspricht einem Schwarzen auf jeden zweiten Weißen. Befrei sie, und die Farmen und Plantagen, die viele der Befreiungsanhänger hier im Norden mit Nahrung versorgen, müssen schließen. Und was willst du dann mit diesen vier Millionen Schwarzen tun? Wie sollen sie leben? Und was soll aus ihnen werden?«

»Irgendwann werden sie leben wie alle anderen auch. Wenn man ihnen eine Ausbildung ermöglicht, können sie alles werden, zum Beispiel Apotheker«, fügte Rob hinzu, weil er der Versuchung nicht widerstehen konnte.

Jay schüttelte den Kopf. »Du verstehst das einfach nicht. Das Überleben des Südens hängt von der Sklaverei ab.

Deshalb ist es ja sogar in den Staaten, die die Sklaverei abgeschafft haben, ein Verbrechen, einem Entlaufenen zu helfen.«

Jay hatte einen Nerv getroffen. »Erzähl mir doch nichts von Verbrechen!« erwiderte Rob. »Der afrikanische Sklavenhandel ist seit 1808 illegal, und trotzdem werden immer noch Afrikaner mit Waffengewalt in Schiffe verfrachtet, in die Südstaaten geschafft und dort meistbietend versteigert.«

»Du sprichst von einem nationalen Gesetz. Aber jeder Bundesstaat macht seine eigenen Gesetze, und die zählen.«

Rob J. schnaubte, und damit war das Gespräch beendet.

Er und Jay blieben in enger Verbindung und halfen sich gegenseitig in allen Lebensbereichen, aber die Frage der Sklaverei errichtete eine Barriere zwischen ihnen, die sie beide bedauerten. Rob war jedoch ein Mann, der eine geruhsame Unterhaltung mit einem Freund sehr schätzte, und so gewöhnte er es sich an, Trude in den Zuweg zum Konvent des heiligen Franziskus zu lenken, wann immer er in die Gegend kam.

Er konnte nicht exakt sagen, wann genau er und Mater Miriam Ferocia Freunde geworden waren. Sarah schenkte ihm noch immer die körperliche Leidenschaft, die für ihn so wichtig war wie Essen und Trinken, doch sie unterhielt sich öfter mit ihrem Pastor als mit ihrem Gatten. In seiner Beziehung zu Makwa hatte Rob erkannt, dass er auch ohne Sex ein enges Verhältnis zu einer Frau haben konnte. Das zeigte sich auch jetzt wieder an dieser Franziskanerin, einer Frau, fünfzehn Jahre älter als er, mit strengem Blick und einem ausgeprägten, von einer Haube eingerahmten Gesicht.

Bis zu diesem Frühjahr hatte er sie nur sehr unregelmäßig besucht. Der Winter war ungewöhnlich mild gewesen, was heftige Regenfälle mit sich brachte. Der Wasserstand stieg unmerklich, bis Flüsse und Bäche plötzlich kaum noch zu überwinden waren, und ab März musste der Ort dafür büßen, dass er zwischen zwei Wasserläufen lag, denn die Situation glich bereits einer Überschwemmung. Rob sah den Fluss über die Ufer des Cole-Anwesens steigen. Das Wasser breitete sich aus und spülte Makwas Schwitzhaus und das Frauenhaus weg. Ihr hedonoso-te blieb verschont, weil es auf einem kleinen Hügel stand. Auch das Farmhaus lag höher als der Flutpegel. Doch kaum war das Wasser wieder zurückgewichen, rief man Rob zum ersten Fieberpatienten. Bald darauf erkrankte eine zweite Person. Dann eine dritte. Sarah musste als Krankenschwester aushelfen, doch schon bald wuchs ihr, Rob J. und Tom Beckermann die Arbeit über den Kopf. Eines Morgens nun kam Rob zur Farm der Haskeils und fand einen zwar fiebrigen, aber bereits gebadeten Ben Haskeil vor. Zwei Nonnen kümmerten sich um ihn.

Sämtliche »braune Käfer« waren unterwegs und pflegten Kranke. Rob J. sah sofort und mit großer Erleichterung, dass sie alle ausgezeichnete Krankenschwestern waren. Allerdings traten sie immer nur paarweise auf. Sogar die Oberin pflegte mit einer Begleiterin. Als Rob bei ihr protestierte, weil er glaubte, dass es sich nur um eine Marotte handle, antwortete Miriam Ferocia ihm mit kalter Heftigkeit und machte ihm klar, dass seine Einwände nutzlos seien. Es kam ihm der Gedanke, dass sie paarweise arbeiteten, um sich gegenseitig vor den Verlockungen des Fleisches oder eines Irrglaubens zu schützen. Einige Abende später beendete er den Tag mit einer Tasse Kaffee im Konvent und fragte Miriam Ferocia, ob sie denn Angst habe, ihre Nonnen allein in ein protestantisches Haus gehen zu lassen? »Ist Ihr Glaube denn so schwach?«

»Unser Glaube ist stark. Aber auch wir brauchen Zuneigung und Trost wie alle anderen Menschen. Das Leben, das wir uns erwählt haben, ist karg. Und auch ohne zusätzliche Versuchungen grausam genug.« Er verstand. Und er nahm nun gern die Hilfe der Nonnen zu Miriam Ferocias Bedingungen an, denn ohne sie hätte er die Epidemie nicht in den Griff bekommen.

Die Bemerkung, die die Oberin nun über ihn fallenließ, troff vor Spott, wie bei ihr nicht anders zu erwarten.

»Haben Sie eigentlich keine andere Arzttasche, Dr. Cole, außer diesem schäbigen Lederding mit den Schweinsborsten?«

»Das ist mein mee-shome, mein Medizinerbündel, das die Sauks mir geschenkt haben. Die Riemen sind aus izze.

Wenn ich sie trage, kann keine Kugel mir etwas tun.«

Sie sah ihn mit weitaufgerissenen Augen an. »An unseren Retter glauben Sie nicht, aber auf den Schutz dieses indianischen Heidenzeugs vertrauen Sie?«

»Na ja, immerhin wirkt er.« Er erzählte ihr von dem Schuss, der vor seinem Stall auf ihn abgefeuert worden war.

»Sie müssen sehr vorsichtig sein«, ermahnte sie ihn, während sie ihm Kaffee nachgoss. Die Geiß, die er dem Kloster gestiftet hatte, hatte bereits zweimal geworfen, zwei männliche Tiere. Einen Bock hatte Miriam Ferocia geschickt gegen drei weitere Geißen eingetauscht, und jetzt träumte sie von einer Käsefabrikation. Doch Rob J.

musste seinen Kaffee noch immer schwarz trinken, denn sämtliche Geißen schienen beständig trächtig zu sein oder zu säugen. Also trank er ihn ohne Milch wie die Nonnen auch, und allmählich gewöhnte er sich daran. Ihre Unterhaltung wandte sich wieder ernsthaften Themen zu. Rob J. war enttäuscht, dass ihre kirchlichen Nachforschungen nichts über Ellwood R. Patterson ergeben hatten. Er habe sich einen Plan ausgedacht, vertraute er ihr an. »Wie wär’s, wenn wir es schaffen, einen Mann in den Supreme Order of the Star-Spangled Banner einzuschleusen? Vielleicht erfahren wir auf diese Weise früh genug von ihren geplanten Untaten, um sie zu verhindern.«

»Und wie wollen Sie das anstellen?«

Er hatte gründlich darüber nachgedacht. Dazu brauchte er einen im Land geborenen Amerikaner, der ihm nahestand und absolut vertrauenswürdig war. Jay Geiger schied aus, da der SSSB einen Juden aller Wahrscheinlichkeit nach abweisen würde. »Da ist mein Knecht, geboren in Vermont, ein durch und durch anständiger Mann.« Sie schüttelte besorgt den Kopf. »Dass er ein anständiger Mann ist, macht die Sache nur noch schlimmer. Mit einem solchen Vorhaben gehen Sie nämlich das Risiko ein, ihn zu opfern und auch sich selbst. Diese Männer sind extrem gefährlich.«

Er musste sich eingestehen, dass sie recht hatte. Und auch, dass man Alden langsam sein Alter anmerkte. Er gehörte zwar noch nicht zum alten Eisen, aber der Jüngste war er bestimmt nicht mehr. Und er trank zuviel.

»Sie müssen Geduld haben«, sagte sie sanft. »Ich werde mich noch einmal umhören. In der Zwischenzeit sollten Sie nichts unternehmen.« Sie räumte seine Tasse ab, und er wusste, dass es Zeit für ihn war, sich von dem Bischofsstuhl zu erheben und zu gehen, damit sie sich auf die Vesper vorbereiten konnte. Er nahm seinen borstigen Kugelschild und lächelte, als er den herausfordernden Blick sah, den sie seinem mee-shome zuwarf.

»Vielen Dank, Mutter Oberin«, sagte er.

Musik hören

Die schulische Ausbildung endete für die meisten Kinder in Holden’s Crossing schon nach einem oder zwei Halbjahren, wenn sie gerade genug gelernt hatten, um ein wenig lesen, etwas zusammenzählen und mit Mühe schreiben zu können. Danach begann für sie das Erwachsenenleben als Farmarbeiter. Als Alex sechzehn war, sagte er, er habe genug von der Schule. Trotz Rob J.’s Angebot, ihm eine weiterführende Ausbildung zu finanzieren, arbeitete er von da an ganztags mit Alden auf der Farm, und so waren Shaman und Rachel plötzlich die ältesten Schüler der Klasse.

Shaman erweiterte sein Wissen sehr gerne, und Rachel war froh, im gleichmäßigen Strom der Tage dahintreiben zu können, denn sie klammerte sich an die Unveränderlichkeit ihres Lebens wie an eine Rettungsleine. Dorothy Burnham war sich bewusst, welches Glück sie mit den beiden hatte; den meisten Lehrern war in ihrem Leben nicht einmal ein einziger solcher Schüler vergönnt. Sie behandelte die beiden wie einen Schatz, brachte ihnen alles bei, was sie wusste, und tat alles, um ihnen immer Neues bieten zu können. Das Mädchen war drei Jahre älter als Shaman und besaß ein umfangreicheres Wissen, doch schon bald unterrichtete sie die beiden gemeinsam. So war es ganz natürlich, dass sie miteinander viel Zeit beim Lernen verbrachten.

Waren die Schularbeiten beendet, ging Rachel sogleich zu Shamans Sprachunterricht über. Zweimal im Monat traf sich das junge Paar mit Miss Burnham, und Shaman zeigte der Lehrerin, was er gelernt hatte. Manchmal schlug Miss Burnham eine Veränderung oder eine neue Übung vor. Sie freute sich sehr über seine Fortschritte und war glücklich, dass Rachel Geiger ihm so viel helfen konnte. So vertiefte sich die Freundschaft zwischen Rachel und Shaman, und manchmal gewährten sie einander Einblicke in ihr Innenleben. Rachel erzählte ihm, wie sie es hasste, jedes Jahr zu den jüdischen Feiertagen nach Peoria fahren zu müssen, und er erregte ihr Mitgefühl, als er ihr, ohne es direkt anzusprechen, gestand, er leide unter der kühlen Behandlung durch seine Mutter. »Makwa war viel mehr eine Mutter für mich als sie, und das weiß sie auch. Es wurmt sie zwar, aber so ist es.«

Rachel war aufgefallen, dass Mrs. Cole ihren Sohn nie mit Shaman anredete, wie es alle anderen taten, sondern immer mit Robert - fast formell, so wie Miss Burnham es in der Schule tat. Sie fragte sich, ob es daran lag, dass Mrs. Cole keine indianischen Wörter mochte, denn sie hatte gehört, wie Sarah ihrer Mutter erzählte, sie sei sehr froh, dass die Sauks nun endgültig verschwunden seien.

Shaman und Rachel machten Stimmübungen, wo sie auch waren, ob sie nun in Aldens Kahn auf dem Fluss trieben oder am Ufer fischten und Wasserkresse pflückten, ob sie über die Prärie wanderten oder auf der Veranda für Lillian Obst oder Gemüse putzten. Und mehrmals in der Woche übten sie an Lillians Klavier. Er konnte den Klangcharakter ihrer Stimme spüren, wenn er sie am Rücken oder am Kopf berührte, doch am liebsten legte er seine Hand auf das glatte, warme Fleisch ihrer Kehle, während sie sprach.

»Wenn ich mich nur an den Klang deiner Stimme erinnern könnte!«

»Kannst du dich an Musik erinnern?«

»Erinnern eigentlich nicht... Aber letztes Jahr am Tag nach Weihnachten habe ich Musik gehört.«

Sie starrte ihn verwundert an.

»Hab’ es geträumt.«

»Und in diesem Traum hast du die Musik wirklich gehört?«

Er nickte.

»Gesehen habe ich nur die Füße und die Beine eines Mannes; ich glaube, es waren die meines Vaters. Weißt du noch, wie uns unsere Eltern manchmal auf den Fußboden schlafen gelegt haben, während sie spielten? Deine Mutter und deinen Vater habe ich nicht gesehen, aber ich habe die Geige und das Klavier gehört. Ich weiß nicht mehr, was sie gespielt haben. Ich weiß nur noch, dass es... Musik war.« Rachel musste sich anstrengen, um ein Wort herauszubringen. »Sie mögen Mozart sehr gern, vielleicht war die Musik von ihm«, sagte sie und spielte etwas auf dem Klavier.

Doch nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Das sind für mich nur Schwingungen. Das andere war richtige Musik. Seitdem versuche ich immer wieder, davon zu träumen, aber es geht nicht.« Er bemerkte, dass ihre Augen strahlten, und zu seiner Verblüffung beugte sie sich vor und küsste ihn voll auf den Mund. Er erwiderte ihren Kuss, und es war etwas vollkommen Neues für ihn. Fast wie eine andere Art von Musik, dachte er.

Irgendwie fand seine Hand den Weg zu ihrer Brust, und dort blieb sie, als sie aufhörten, sich zu küssen.

Vielleicht wäre alles nicht so schlimm geworden, wenn er sie gleich wieder weggezogen hätte. Aber unter seinen Fingern spürte er, fast wie die Schwingung eines Tons, das Hartwerden und die leichte Bewegung ihrer Knospe.

Er drückte, und sie holte aus und schlug ihn auf den Mund.

Der zweite Schlag landete knapp unter seinem rechten Auge. Er saß wie betäubt da und versuchte erst gar nicht, sich zu verteidigen. Sie hätte ihn töten können, wenn sie es gewollt hätte, aber sie schlug nur noch einmal zu.

Die Mitarbeit auf der Farm hatte sie kräftig gemacht, und sie schlug mit der geschlossenen Faust zu. Seine Oberlippe war aufgeplatzt, aus der Nase tröpfelte Blut. Als sie davonlief, sah er, dass sie stoßweise schluchzte.

Er lief ihr in die Diele nach; glücklicherweise war niemand zu Hause. »Rachel«, rief er hinter ihr her, aber er wusste nicht, ob sie ihm antwortete, und er traute sich nicht, ihr nach oben zu folgen. Er verließ das Haus und trottete schniefend, damit er sein Taschentuch nicht mit Blut beflecken musste, zur elterlichen Farm hinüber. Auf dem Weg zum Haus lief ihm, vom Stall kommend, Alden über den Weg.

»O je! Wo hast du dir denn das geholt?«

»...beim Raufen.«

»Na, das seh’ ich. Endlich! Ich hab’ schon gedacht, Alex ist der einzige Cole mit Mumm in den Knochen. Und wie sieht der andre Halunke aus?«

»Furchtbar. Noch viel schlimmer als ich.«

»Das ist auch gut so«, sagte Alden fröhlich und ließ ihn stehen. Beim Abendessen musste Shaman eine lange Strafpredigt gegen das Raufen über sich ergehen lassen.

Am nächsten Morgen beguckten sich die Kinder in der Schule respektvoll seine Blessuren, während Miss Burnham sie absichtsvoll übersah. Während des Tages sprachen er und Rachel kaum miteinander, doch zu seiner Überraschung wartete sie nach Ende des Unterrichts wie immer vor der Tür auf ihn, und sie gingen gemeinsam in betretenem Schweigen nach Hause.

»Hast du deinem Vater gesagt, dass ich dich angefasst hab’?«

»Nein!« erwiderte sie scharf.

»Das ist gut. Ich will nämlich nicht, dass er mir mit der Pferdegerte eins überzieht«, sagte er und meinte es auch.

Da er sie ansehen musste, um sie zu verstehen, konnte er erkennen, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg, doch zu seiner Verwirrung sah er auch, dass sie lachte. »O Shaman! Dein armes Gesicht! Es tut mir wirklich leid«, sagte sie und drückte seine Hand.

»Mir tut’s auch leid«, entgegnete er, obwohl er gar nicht genau wusste, wofür er sich entschuldigte.

Zu Hause setzte Rachels Mutter ihnen Ingwerkuchen vor. Sie aßen und saßen sich dann gegenüber am Tisch, um Schularbeiten zu machen. Anschließend gingen sie ins Wohnzimmer. Er saß neben ihr auf der Klavierbank, achtete aber darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen. Was am Tag zuvor passiert war, hatte, wie er befürchtet hatte, einiges verändert, doch zu seiner Überraschung war es kein schlechtes Gefühl. Es stand zwischen ihnen als etwas Warmes, etwas, das nur ihnen beiden gehörte wie eine gemeinsam benutzte Tasse.

Ein amtliches Schreiben bestellte Rob J. »für den einundzwanzigsten Tag des Juni im Jahr des Herrn eintausendachthundertsiebenundfünfzig zum Behufe der Einbürgerung« in das Gerichtsgebäude von Rock Island.

Es war ein klarer, warmer Tag, doch die Fenster im Gerichtssaal waren geschlossen, denn den Vorsitz führte Honourable Daniel P. Allan, und der mochte keine Fliegen. Es herrschte nur schwacher Publikumsverkehr, und Rob J. hegte die begründete Hoffnung, die Sache schnell hinter sich bringen zu können, bis Richter Allan begann, die Eidesformel zu verlesen.

»Also dann. Schwören Sie, hiermit jeden Anspruch auf fremde Titel und Staatsangehörigkeiten aufzugeben?«

»Ich schwöre es«, erwiderte Rob J.

»Und schwören Sie, für die Verfassung einzutreten, sie zu verteidigen und im Namen der Vereinigten Staaten von Amerika Waffen zu tragen?«

»Aber nein, Sir! Euer Ehren, das schwöre ich nicht.« Durch diese Antwort aus seiner Apathie gerissen, starrte Allan ihn an. »Ich will nicht töten, Euer Ehren, und deshalb werde ich nie in den Krieg ziehen.« Honourable Allan schien verärgert. Roger Murray am Tisch des Protokollführers neben der Richterbank räusperte sich. »Das Gesetz besagt, dass der Anwärter in solchen Fällen beweisen muss, dass er ein Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen ist, dessen Glauben es ihm verbietet, Waffen zu tragen. Das heißt, er muss zu einer Gruppe wie den Quäkern gehören, die öffentlich verkünden, dass sie nicht kämpfen.«

»Ich kenne das Gesetz und weiß, was es bedeutet«, erwiderte der Richter giftig, verärgert darüber, dass Murray ihn immer in aller Öffentlichkeit belehren musste. Er spähte Rob J. über seine Brille hinweg an. »Sind Sie ein Quäker, Dr. Cole?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Was zum Teufel sind Sie dann?«

»Ich gehöre keiner Religion an«, antwortete Rob J. und sah, dass der Richter ein Gesicht machte, als hätte er ihn persönlich beleidigt. »Euer Ehren, darf ich vortreten?« kam eine Stimme von den Zuschauerbänken. Rob J.

erkannte Stephen Hume, der als Anwalt für die Eisenbahn arbeitete, seit Nick Holden ihm seinen Sitz im Kongress abgenommen hatte.

Richter Allan bedeutete ihm, näher zu treten. »Herr Abgeordneter.«

»Herr Richter«, sagte Hume mit einem Lächeln, »wollen Sie, dass ich persönlich für Dr. Cole bürge? Für einen der herausragendsten Männer in ganz Illinois, der als Arzt Tag und Nacht für die Menschen da ist. Jeder weiß, dass sein Wort Gold wert ist. Wenn er sagt, dass er aus seiner Überzeugung heraus nicht im Krieg kämpfen kann, sollte das jedem vernünftigen Mann als Beweis genügen.«

Richter Allan runzelte die Stirn, unsicher darüber, ob dieser politisch einflussreiche Anwalt ihn eben unvernünftig genannt hatte oder nicht, und er beschloss, um sicherzugehen, nur Murray böse anzufunkeln. »Wir fahren fort mit der Einbürgerung«, sagte er, und so wurde Rob J. ohne weitere Verzögerung ein amerikanischer Staatsbürger. Auf dem Rückweg nach Holden’s Crossing überfielen ihn ein paar schmerzliche Erinnerungen an sein schottisches Heimatland, dem er eben abgeschworen hatte, aber dennoch war es ein gutes Gefühl für ihn, jetzt Amerikaner zu sein. Und das trotz der Probleme, die das Land im Augenblick erschütterten. Erst vor kurzem hatte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten in letzter Instanz entschieden, dass Dred Scott ein Sklave sei, da der Kongress nicht das Recht habe, die Sklaverei in den Einzelstaaten zu verbieten. Anfangs hatten die Südstaatler gejubelt, doch inzwischen tobten sie schon wieder, da die Führer der republikanischen Partei angekündigt hatten, sie würden die Gerichtsentscheidung nicht als verbindlich hinnehmen. Und auch Rob J. wollte das nicht, obwohl seine Frau und sein Sohn inzwischen zu heißblütigen Südstaatensympathisanten geworden waren. Er hatte schon Dutzende von entflohenen Sklaven durch seine geheime Nische nach Kanada geschleust und war dabei des öfteren in sehr gefährliche Situationen geraten.

Eines Tages beispielsweise erzählte ihm Alex, er habe in der Nacht zuvor George Cliburn nur etwa eine Meile von ihrer Farm entfernt auf der Straße gesehen. »Sitzt der morgens um drei auf einem Wagen voller Heu. Was soll man denn davon halten?«

»Na, ich glaub’, du musst dich ziemlich anstrengen, wenn du früher aufstehen willst als ein fleißiger Quäker.

Aber was hattest du denn morgens um drei draußen verloren?« sagte Rob J., und Alex bemühte sich so eilig, von seinen nächtlichen Saufereien und Schürzenjägereien mit Mal Howard abzulenken, dass George Cliburns eigenartige Arbeitsmoral nicht weiter erörtert wurde.

Mitten in einer anderen Nacht schloss Rob J. eben die Schuppentür, als Alden ihm in die Quere kam. »Konnt’

nich’ schlafen. Mein Rachenputzer is’ mir ausgegangen, und da is’ mir eingefallen, dass ich das da im Stall versteckt habe.« Er hielt eine Keramikflasche in die Höhe und bot sie seinem Arbeitgeber an. Obwohl Rob J. nur selten Lust auf einen Drink hatte und wusste, dass Alkohol die Gabe beeinträchtigte, wollte er etwas mit Alden teilen. Er zog deshalb den Korken heraus, trank einen Schluck und hustete. Alden grinste.

Rob hätte seinen Knecht gern etwas von dem Schuppen weggelockt. In dem Versteck hinter der Tür saß ein Schwarzer mittleren Alters mit einem leichten asthmatischen Keuchen. Rob befürchtete, dass das Keuchen von Zeit zu Zeit lauter werden könnte, und war sich nicht sicher, ob das Geräusch nicht bis zu der Stelle drang, wo er sich mit Alden unterhielt. Aber Alden hatte sich inzwischen hingekauert und führte vor, wie ein Meister Whiskey trank: den Finger durch den Henkel, die Flasche auf den Unterarm gestützt und den Unterarm gerade so weit gehoben, dass die richtige Menge der scharfen Flüssigkeit in den Mund floss.

»Haben Sie in letzter Zeit Schlafschwierigkeiten?« Alden zuckte mit den Achseln. »Die meisten Nächte bin ich gleich weg, weil ich müde von der Arbeit bin. Und wenn nicht, hilft mir ein kleiner Schluck beim Einschlafen.«

Seit dem Tod von Der singend einhergeht sah Alden von Jahr zu Jahr verbrauchter aus. »Ich sollte einen zweiten Mann einstellen, der Ihnen bei der Arbeit hilft«, sagte Rob wohl schon zum zwanzigstenmal. »Ein guter Weißer, der für andere arbeitet, ist schwer zu finden. Und mit ‘nem Nigger würd’ ich nich’ arbeiten«, erwiderte Alden, und jetzt fragte sich Rob, wie weit Geräusche wohl in die andere Richtung drangen, nämlich in den Schuppen hinein. »Außerdem arbeitet ja jetzt Alex mit, und der macht sich wirklich gut.«

»Ist das wahr?«

Etwas schwankend stand Alden auf, offensichtlich hatte er schon eine ganze Menge von dem Rachenputzer gehabt, bevor er ihm ausgegangen war. »Verdammt, Doc«, sagte er mit Nachdruck, »sei’n Sie doch nicht immer so ungerecht mit Ihren Jungs.« Und damit schwankte er, die Flasche fest umklammernd, zu seiner Hütte.

Eines Tages gegen Ende jenes Sommers verschlug es einen Chinesen mittleren Alters, dessen Namen niemand kannte, nach Holden’s Crossing. Da ihm im Saloon die Bedienung verweigert wurde, gab er einer Prostituierten namens Penny Davis Geld, damit sie ihm eine Flasche Whiskey besorgte und ihn mit in ihre Hütte nahm, wo er am Morgen darauf in ihrem Bett starb. Sheriff Graham sagte, er wolle in seiner Stadt keine Hure, die ihren Schlitz an ein Schlitzauge verkaufe und dann an weiße Männer weiterverhökere, und er sorgte persönlich dafür, dass Penny Davis Holden’s Crossing verließ. Die Leiche des Chinesen ließ er auf einen Karren werfen und zum Leichenbeschauer bringen.

Als Rob J. an diesem Nachmittag zu seinem Schuppen ging, wartete dort Shaman auf ihn. »Hab’ noch nie einen Orientalen gesehen.«

»Der da ist aber tot. Das weißt du doch, Shaman, oder?«

»Ja, Pa.«

Rob J. nickte und öffnete die Schuppentür.

Die Leiche war mit einem Tuch bedeckt, das Rob nun wegzog und zusammengefaltet auf den alten Holzstuhl legte. Sein Sohn war blass, aber gefasst und betrachtete aufmerksam die Gestalt auf dem Tisch. Der Chinese war ein kleiner Mann, schlank, aber muskulös. Jemand hatte ihm die Augen geschlossen. Seine Hautfarbe lag zwischen der Blässe der Weißen und der rötlichen Bräune der Indianer. Seine holzigen, gelben Zehennägel hatten schon lange keine Schere mehr gesehen. Rob J. wurde unruhig, als er versuchte, sie mit den Augen seines Sohnes zu sehen.

»Ich muss mich jetzt an die Arbeit machen, Shaman.«

»Kann ich zusehen?«

»Willst du das wirklich?«

»Ja, Pa.«

Rob nahm sein Skalpell und öffnete die Brust. Oliver Wendeil Holmes hatte eine sehr extravagante Art gehabt, den Tod zu präsentieren, doch Rob J. bevorzugte einen sachlicheren, einfacheren Stil. Er warnte seinen Sohn, dass die Eingeweide eines Menschen schlimmer stänken als jedes Wild, das der Junge je ausgenommen hatte, und riet ihm, durch den Mund zu atmen. Dann wies er ihn darauf hin, dass das tote Gewebe vor ihnen kein Mensch mehr sei. »Was es auch war, das diesen Menschen lebendig gemacht hat - manche nennen es Seele -, es hat seinen Körper verlassen.«

Shamans Gesicht schien bleich, aber seine Augen waren hellwach. »Ist das der Teil, der in den Himmel geht?«

»Ich weiß nicht, wohin er geht«, sagte Rob sanft. Er wog die Organe und ließ Shaman das jeweilige Gewicht notieren, eine einfache Beschäftigung, die ihm aber wirklich die Arbeit erleichterte. »William Fergusson, mein Lehrer, hat immer gesagt, dass die Seele den Körper hinter sich lässt, wie man aus einem Haus auszieht, und dass wir den Körper deshalb aus Respekt vor dem Menschen, der in ihm wohnte, vorsichtig und mit Würde behandeln müssen. - Das hier ist das Herz, und daran ist er gestorben.« Rob nahm das Organ heraus und legte es Shaman in die Hände, damit er den dunklen Wulst toten Gewebes, der sich aus der Muskelwand herauswölbte, genau betrachten konnte.

»Was ist mit ihm passiert, Pa?«

»Das weiß ich nicht, Shaman.«

Er legte die Organe wieder in die Körperhöhle und nähte diese zu, und als sie dann gemeinsam die Instrumente wuschen, kehrte die Farbe wieder in Shamans Gesicht zurück.

Rob J. war beeindruckt, wie gut sich der Junge gehalten hatte. »Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Möchtest du ab und zu mit mir hier arbeiten?«

»Sehr gerne, Pa!« rief Shaman mit strahlendem Gesicht.

»Mir ist nämlich eingefallen, dass du vielleicht ein Diplom in den Naturwissenschaften machen könntest. Du könntest dir dann deinen Lebensunterhalt als Lehrkraft verdienen, vielleicht sogar an einer Universität. Würde dir das gefallen, mein Sohn?«

Shaman sah ihn ernüchtert an, und sein Gesicht verdüsterte sich wieder, als er über die Frage nachdachte. Dann hob er die Schultern.

»Vielleicht«, sagte er.

Lehrer

In diesem Januar packte Rob J. zusätzliche Decken in das Versteck, denn die Flüchtlinge aus dem tiefen Süden litten sehr unter der Kälte. Es gab zwar weniger Schnee als gewöhnlich, aber immer noch genug, um die Äcker mit einer weißen Schicht zu bedecken und sie wie winterliche Prärie aussehen zu lassen. Manchmal, wenn er mitten in der Nacht von einem Hausbesuch heimritt, stellte er sich vor, er brauche nur den Kopf zu heben, um eine lange Reihe roter Männer zu sehen, die auf guten Pferden hinter ihren Schamanen und Häuptlingen über die unberührte Ebene ritten, oder riesige, buckelige Tiere, die sich in der Dunkelheit auf ihn zubewegten, Reif auf dem zotteligen braunen Pelz und das Mondlicht auf den geschwungenen Hörnern mit den gefährlichen Spitzen.

Aber er sah nie etwas, denn er glaubte noch weniger an Geister als an Gott.

Der Frühling brachte nur wenig Schmelzwasser, und die Flüsse und Bäche blieben in ihrem Bett. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er diesmal weniger Fieberkranke zu behandeln hatte, aber aus einem anderen Grund gab es unter den Erkrankten mehr Todesfälle als gewöhnlich. Eine der Patientinnen, die er verlor, war Matilda Cowan, deren Mann Simeon auf einer Parzelle guten, wenn auch etwas trockenen Bodens im nördlichen Teil der Gemarkung Mais anbaute. Wenn eine junge Frau starb und drei Kinder hinterließ, erwartete man allgemein, dass sich der Witwer sehr schnell wieder verheiratete, doch als Cowan Dorothy Burnham um ihre Hand bat, waren viele überrascht. Sie nahm an, ohne zu zögern.

Eines Morgens erzählte Rob J. beim Frühstück Sarah lachend, dass im Schulausschuss helle Aufregung herrsche.

»Wir haben geglaubt, wir könnten uns darauf verlassen, dass Dorothy ewig Jungfer bleibt. Cowan ist schlau. Sie wird ihm eine gute Frau sein.«

»Sie hat großes Glück«, erwiderte Sarah trocken. »Ist ja um einiges älter als er.«

»Ach, Simeon Cowan ist nur drei oder vier Jahre jünger als Dorothy«, sagte Rob J. und bestrich sich ein Brötchen. »Ein so großer Unterschied ist das auch wieder nicht.« Und er grinste erstaunt, als er sah, dass sein Sohn Shaman zustimmend nickte und sich eifrig an dem Klatsch über die Lehrerin beteiligte.

An Miss Burnhams letztem Tag in der Schule trödelte Shaman, bis alle anderen Schüler das Gebäude verlassen hatten, und ging dann zu ihr, um sich zu verabschieden: »Wir werden uns ja sicher in der Stadt öfter sehen. Ich bin froh, dass Sie nicht woandershin geheiratet haben.«

»Ich bin auch froh, in Holden’s Crossing bleiben zu können, Robert.«

»Wollt’ Ihnen nur danken«, sagte er verlegen. Er wusste, was diese warmherzige, einfache Frau für sein Leben bedeutet hatte. »Ich habe es doch gern getan, mein Lieber.« Seinen Eltern hatte sie mitgeteilt, dass sie nicht mehr an seiner Aussprache arbeiten könne, da sie sich jetzt um eine Farm und drei Kinder kümmern müsse. »Ich bin aber sicher, dass ihr beide, du und Rachel, auch ohne mich ganz wunderbar zurechtkommen werdet. Außerdem bist du so weit, dass du bald keine Stimmübungen mehr brauchst.«

»Glauben Sie denn, dass meine Stimme schon so klingt wie die anderer Leute?«

»Nun ja...« Sie nahm die Frage sehr ernst. »Wenn du müde bist, hörst du dich immer noch kehlig an. Du weißt inzwischen sehr genau, wie die Worte klingen sollten, und deshalb verschleifst du die Silben nicht so, wie es viele andere tun. Einen kleinen Unterschied gibt es also schon noch.« Als sie sah, dass ihn das bekümmerte, nahm sie seine Hand und drückte sie. »Aber es ist ein sehr charmanter Unterschied«, sagte sie und freute sich, als sein Gesicht sich wieder aufhellte.

Er hatte ihr von seinem eigenen Geld in Rock Island ein kleines Geschenk gekauft: Taschentücher mit einem Rand aus hellblauer Spitze.

»Ich habe auch etwas für dich«, sagte sie und schenkte ihm einen Band mit Shakespeares Sonetten. »Wenn du sie liest, musst du an mich denken!« befahl sie ihm. »Außer natürlich bei den romantischen!« fügte sie schnippisch hinzu, und dann lachte sie mit ihm in dem Bewusstsein, als Mrs. Cowan Dinge tun und sagen zu können, von denen die arme Schullehrerin nicht einmal zu träumen gewagt hatte.

Bei dem regen Schiffsverkehr im Frühling kam es auf dem Mississippi immer wieder zu Unfällen durch Ertrinken. Ein junger Matrose fiel von einem Schleppkahn und wurde davongetrieben, die starke Strömung riss ihn in die Tiefe und gab ihn erst im Gerichtsbezirk von Holden’s Crossing wieder frei. Die Kahnbesatzung wusste nichts über ihn, außer dass er Billy geheißen hatte, und Sheriff Graham überließ ihn Rob J.

So erlebte Shaman seine zweite Autopsie. Er schrieb das Gewicht der Organe in das Notizbuch seines Vaters und erfuhr, was mit der Lunge passiert, wenn jemand ertrinkt. Doch diesmal fiel ihm das Zusehen schwerer. Der Chinese war ein Exote gewesen und viel älter als er selbst, dieser hier aber war ein junger Mann, nur wenige Jahre älter als sein Bruder Bigger, und der Tod dieses Matrosen erinnerte ihn an seine eigene Sterblichkeit.

Trotzdem gelang es ihm, diesen Gedanken so weit zu verdrängen, dass er aufmerksam beobachten und lernen konnte.

Nach der Autopsie begann Rob J., von Billys rechtem Handgelenk ausgehend, zu sezieren. »Die meisten Chirurgen haben eine Heidenangst vor der Hand«, vertraute er Shaman an. »Das kommt daher, dass sie sich nie genug Zeit genommen haben, sie genau zu studieren. Wenn du ein Lehrer für Anatomie oder Physiologie werden willst, musst du die Hand kennen.«

Shaman verstand, warum viele sich fürchteten, eine Hand zu operieren, denn sie besteht nur aus Muskeln, Sehnen und Gelenken, und er war erstaunt und erschrocken, als sein Vater, nachdem er mit der rechten Hand fertig war, ihn aufforderte, die linke zu sezieren. Rob J. lächelte ihn an, er schien ganz genau zu wissen, wie sein Sohn sich fühlte. »Denk dir nichts! Egal, was du tust, ihm tut es nicht mehr weh.«

Also verbrachte Shaman fast den ganzen Tag damit, zu schneiden und zu tasten, sich die Namen all der winzigen Knochen einzuprägen und zu lernen, wie die Handgelenke eines Lebenden funktionieren.

Einige Wochen später brachte der Sheriff die Leiche einer alten Frau, die im Armenhaus des Bezirks gestorben war. Shaman freute sich schon darauf, seine Studien weiterführen zu können, doch sein Vater versperrte ihm den Weg in den Schuppen.

»Shaman, hast du schon einmal eine Frau ohne ihre Kleider gesehen?«

»... Makwa hab’ ich einmal gesehen. Sie hat mich ins Schwitzhaus mitgenommen und mir Lieder vorgesungen, damit ich mein Gehör zurückbekomme.«

Der Vater sah ihn verwundert an, fühlte sich dann aber verpflichtet, ihm seine Vorbehalte zu erklären. »Ich wollte nicht, dass die erste Frau, die du nackt siehst, alt, hässlich und tot ist.«

Shaman nickte und spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. »Es ist nicht das erstemal, Pa. Und Makwa war nicht alt und hässlich.«

»Nein, das war sie nicht«, sagte sein Vater und klopfte ihm auf die Schulter. Dann gingen sie gemeinsam in den Schuppen und schlossen die Tür hinter sich.

Im Juli bot der Schulausschuss Rachel Geiger die Stelle als Lehrerin an. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine ehemalige Schülerin Gelegenheit erhielt, in ihrer Schule zu unterrichten, wenn die Stelle frei wurde, und Dorothy Burnham hatte das Mädchen in ihrem Kündigungsschreiben begeistert empfohlen. Carroll Wilkenson wies darauf hin, dass sie Rachel außerdem für ein Anfängergehalt einstellen könnten und sich nicht um ihre Unterbringung zu kümmern brauchten, da sie bei ihren Eltern wohnte.

Das Angebot brachte Verwirrung und Unentschlossenheit in den Haushalt der Geigers und führte zu einer ernsten, mit gedämpfter Stimme geführten Unterhaltung zwischen Lillian und Jay. »Wir haben es bereits zu lange hinausgeschoben«, sagte Jay. »Aber ein Jahr als Lehrerin wäre ein großer Vorteil für sie, sie könnte dann in ganz andere Kreise einheiraten. Eine Lehrerin ist etwas so typisch Amerikanisches!«

Jason seufzte. Er liebte seine drei Söhne, Davey, Herrn und Cubby. Gute, liebenswerte Jungen. Alle drei spielten Klavier wie ihre Mutter, allerdings mit unterschiedlichem Talent, und Dave und Herrn hätten gern Blasinstrumente erlernt, wenn sie nur einen Lehrer dafür gefunden hätten. Rachel war seine einzige Tochter und sein erstgeborenes Kind, dem er das Geigenspiel beigebracht hatte. Er wusste, der Tag würde kommen, an dem sie das Elternhaus verlassen musste und ihm von ihr nichts anderes blieb als seltene Briefe und noch seltenere Besuche aus einer weit entfernten Stadt.

Kein Wunder, dass er beschloss, selbstsüchtig zu sein und sie noch eine Weile länger im Schoß der Familie zu behalten. »Also gut«, sagte er zu Lillian, »dann lassen wir sie Lehrerin werden.«

Einige Zeit war vergangen, seit das Hochwasser Makwas Schwitzhaus weggespült hatte. Übriggeblieben waren nur zwei Steinwände, knapp zwei Meter lang, nicht einmal einen Meter hoch und sechs Handbreit voneinander entfernt. Im August begann Shaman, eine Kuppel aus dürren Ästen über den Mauern zu errichten. Zwischen die Äste flocht er grüne Weidenzweige, doch er stellte sich ungeschickt an, und die Arbeit ging ihm nur langsam von der Hand. Als sein Vater sah, was er vorhatte, fragte er, ob er helfen könne, und gemeinsam schafften sie es, in ihrer Freizeit innerhalb von zwei Wochen ein neues Schwitzhaus zu errichten, das in etwa jenem glich, das Makwa mit Mond und Der singend einhergeht in wenigen Stunden gebaut hatte. Aus weiteren Ästen und Weidenzweigen flochten sie einen Rost, den sie auf die Mauern legten.

Rob J. besaß ein ramponiertes Büffelfell und eine Hirschdecke. Als sie die Tierhäute über das Flechtwerk der Kuppel spannten, blieb ein großes Stück offen.

»Vielleicht eine Wolldecke?« schlug Shaman vor. »Besser zwei, eine doppelte Lage, sonst entweicht zuviel Dampf!« Am ersten kalten Tag im September probierten sie das Schwitzbad aus. Makwas Hitzesteine waren noch genau dort, wo sie sie liegengelassen hatte, und sie errichteten ein großes Holzfeuer und ließen die Steine darin sehr heiß werden. Nur in eine Decke gehüllt, betrat Shaman das Schwitzhaus, warf die Decke vor die Tür und legte sich zitternd auf den Weidenrost. Mit Hilfe von Astgabeln schleppte Rob J. die heißen Steine zum Schwitzhaus, legte sie unter den Rost, begoss sie mit kaltem Wasser und verschloss dann die Kuppel. Shaman lag im aufsteigenden Dampf, und während er spürte, wie die Hitze aufblühte, erinnerte er sich an die Angst, die er beim erstenmal verspürt hatte, als er vor der Hitze und dem nebeligen Dunkel in Makwas Arme geflüchtet war. Er erinnerte sich an die fremdartigen Zeichen auf ihren Brüsten und wie sich die Narben an seiner Wange angefühlt hatten. Rachel war dünner und größer als Makwa, hatte aber schwerere Brüste. Der Gedanke an Rachel rief eine Erektion hervor, und er fürchtete, dass sein Vater zurückkehren und ihn so sehen könne. Er zwang sich, wieder an Makwa zu denken, an die stille Zuneigung, die sie ihm entgegengebracht hatte, so tröstend und besänftigend wie die ersten warmen Schwaden des Dampfes. Es war eigenartig, in dem Schwitzhaus an der Stelle zu liegen, wo sie oft gewesen war. Die Erinnerung an sie wurde mit jedem Jahr verschwommener, und er fragte sich, warum sie hatte sterben müssen, warum es schlechte Menschen auf der Welt gab. Fast ohne es zu merken, begann er eins der alten Lieder zu singen, die sie ihm beigebracht hatte: Wi-a-ya-ni,

Ni-na ne-gi-se ke-wi-to-se-me-ne ni-na.

Wohin du auch gehst,

Ich gehe mit dir, mein Sohn.

Einige Zeit später brachte sein Vater frische heiße Steine und übergoss sie mit Wasser, und bald füllte wieder dichtester Dampf jeden Winkel der Hütte. Shaman blieb, bis er es nicht mehr aushielt und nach Atem ringend und schweißnass dalag, dann stand er auf, lief in die Kälte hinaus und sprang in das eisige Wasser des Flusses.

Im ersten Augenblick glaubte er, er sei soeben einen sehr sauberen Tod gestorben, doch als er dann die ersten Schwimmbewegungen machte, spürte er das Blut durch seinen Körper pulsieren. Kreischend wie ein Sauk kletterte er ans Ufer und stürmte in den Stall, wo er sich kräftig abrubbelte und warme Kleidung überzog.

Offensichtlich hatte er sich sein Vergnügen zu deutlich anmerken lassen, denn als er wieder aus dem Stall kam, wartete sein Vater bereits vor dem Schwitzhaus, und jetzt war Shaman an der Reihe, die Steine zu erhitzen, zur Hütte zu schleppen und mit Wasser zu übergießen. Als die beiden schließlich glühend und lachend ins Haus zurückkehrten, mussten sie feststellen, dass sie über dem Schwitzen das Abendessen vergessen hatten. Sarah hatte, verärgert wie sie war, die Teller der beiden auf dem Tisch stehenlassen, und das Essen war inzwischen kalt. Zwar bekamen Shaman und sein Vater keine Suppe mehr, und sie mussten das geronnene Fett von ihrem Hammelfleisch kratzen, doch sie waren sich einig, dass es das wert gewesen war. Makwa hatte wirklich gewusst, wie man anständig badet.

Bei Schulbeginn hatte Rachel keine Schwierigkeiten, sich in ihrer neuen Rolle als Lehrerin zurechtzufinden. Der Tagesablauf war ihr vertraut: neue Lektionen, Klassenarbeiten, gemeinsames Singen, Hausaufgaben. In Mathematik war Shaman besser als sie, und sie bat ihn deshalb, den Rechenunterricht zu übernehmen. Er erhielt zwar keine Bezahlung, doch sie lobte ihn sehr vor den Eltern und dem Schulausschuss, und ihm machte es Spaß, gemeinsam mit ihr die Stunden vorzubereiten.

Keiner von beiden erwähnte Miss Burnhams Meinung, dass Shamans Stimmschulung vermutlich gar nicht länger notwendig sei. Da Rachel nun Lehrerin war, übten sie im Schulgebäude, nachdem die anderen Kinder nach Hause gegangen waren, und sie gingen nur noch zu den Geigers, wenn sie Lillians Klavier brauchten.

Shaman saß gerne neben Rachel auf der Klavierbank, aber es gefiel ihm noch besser, wenn sie alleine im Schulhaus waren.

Die Schüler hatten sich immer darüber lustig gemacht, dass Miss Burnham offensichtlich nie austreten musste, und jetzt legte Rachel die gleiche Disziplin an den Tag. Doch sobald die Kinder draußen waren, stürzte sie zum Häuschen. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, dachte Shaman häufig darüber nach, was sie wohl unter ihren Röcken trug. Bigger hatte ihm erzählt, wenn er es mit Pattie Drucker treibe, müsse er ihr immer aus der alten, löchrigen Unterwäsche ihres Vaters helfen, doch Shaman wusste, dass die meisten Frauen Fischbeinkrinolinen trugen oder Rosshaargarnituren, die zwar kratzten, aber schön wärmten. Rachel mochte die Kälte überhaupt nicht. Kaum war sie ins Klassenzimmer zurückgekehrt und hatte ihren Mantel auf den Haken hängt, lief sie schon zum Ofen, um sich zuerst von vorne und dann von hinten aufzuwärmen.

Schon nach einem knappen Monat musste Rachel mit ihren Eltern nach Peoria fahren, und Shaman sprang für den halben Oktober als Aushilfslehrer ein, wofür er auch bezahlt wurde. Die Schüler kannten ihn ja bereits als Lehrer aus dem Rechenunterricht. Sie wussten, dass er ihre Lippen sehen musste, um sie zu verstehen, und gleich am ersten Morgen sagte Randy Williams, der jüngste Sohn des Schmieds, mit dem Rücken zum Lehrer etwas Freches. Shaman nickte ungerührt, als die Kinder lachten, und fragte Randy, ob er ihn ein wenig an den Fußknöcheln in die Höhe halten solle. Shaman war größer als die meisten Männer, die sie kannten, und den Kindern verging das Grinsen, als Randy eingeschüchtert erwiderte, nein, das wolle er nicht. Danach war das Unterrichten für Shaman kein Problem mehr. An ihrem ersten Schultag nach der Rückkehr war Rachel bedrückter Stimmung. Nachdem die Kinder gegangen waren, kam sie zitternd und weinend vom Häuschen zurück. Shaman ging zu ihr und legte die Arme um sie. Sie wehrte sich nicht, stand einfach nur da zwischen ihm und dem Ofen, die Augen geschlossen. »Ich hasse Peoria«, sagte sie leise. »Es ist schrecklich, so viele Leute um einen herum. Meine Mutter und mein Vater... sie haben mich vorgeführt.«

Für Shaman war es durchaus einsichtig, dass die Eltern stolz auf Rachel waren. Außerdem brauchte sie jetzt ein ganzes Jahr lang nicht mehr nach Peoria zu fahren. Er sagte nichts. Er träumte nicht einmal davon, sie zu küssen.

Es reichte ihm, einfach nur dazustehen und ihr sanftes Fleisch zu spüren, und er war überzeugt, dass nichts, was ein Mann und eine Frau miteinander tun, schöner sein konnte als das. Nur einen kurzen Augenblick lang löste sie sich von ihm und sah ihn aus tränenfeuchten Augen ernst an. »Mein treuer Freund.«

»Ja«, erwiderte er.

Zwei Ereignisse öffneten Rob J. die Augen. An einem kalten Novembermorgen hielt Shaman seinen Vater auf dem Weg zum Stall an. »Ich habe gestern Miss Burnham besucht- ich meine Mrs. Cowan. Ich soll dir und Mutter schöne Grüße ausrichten.«

Rob J. lächelte. »Wirklich? Das ist aber nett. Hat sie sich schon an das Leben auf der Farm gewöhnt?«

»Ja. Die kleinen Mädchen scheinen sie zu mögen. Es gibt natürlich eine Menge Arbeit, und sie sind ja nur zu zweit.«

Er warf seinem Vater einen schüchternen Blick zu. »Pa. Gibt es eigentlich viele Ehen wie die ihre - ich meine, wo die Frau älter ist als der Mann?«

»Weißt du, Shaman, normalerweise ist es ja andersherum, aber nicht immer. Ich glaube, es gibt einige solche Ehen.« Er wartete darauf, dass das Gespräch sich in eine bestimmte Richtung entwickle, doch sein Sohn nickte nur und machte sich auf den Weg zur Schule. Daraufhin ging Rob J. in den Stall und sattelte sein Pferd.

Einige Tage später arbeiteten er und der Junge im Haus. Sarah hatte in einigen Häusern in Rock Island bestimmte Bodenbeläge gesehen, und war dann Rob J. so lange in den Ohren gelegen, bis er versprach, dass auch sie solche bekommen werde. Für diese Beläge musste Leinwand mit Harz getränkt und anschließend mit fünf Schichten Farbe überzogen werden. Das Ergebnis war leicht zu reinigen, wasserdicht und dekorativ. Sarah hatte Alden und Alex das Harz und die ersten vier Farbschichten auftragen lassen, für den letzten Schliff aber ihren Gatten herangezogen.

Rob J. hatte die Farbe für alle fünf Schichten aus Buttermilch, gekauftem Öl und feingemahlenen braunen Eierschalen selbst hergestellt. Entstanden war auf diese Weise ein Farbton, der an jungen Weizen erinnerte. Rob und Shaman hatten die letzte Schicht gemeinsam aufgetragen und mühten sich an diesem sonnigen Sonntagvormittag damit ab, einen dünnen schwarzen Randstreifen um jede Bodenfläche zu ziehen, eine Fleißarbeit, die sie beendet haben wollten, bevor Sarah aus der Kirche zurückkam.

Shaman war geduldig. Rob J. wusste, dass in der Küche Rachel auf ihn wartete, doch er sah, dass der Junge auch im letzten der drei Zimmer nicht versuchte, die Arbeit schnell hinter sich zu bringen. »Pa?« fragte Shaman.

»Braucht man eigentlich viel Geld zum Heiraten?«

»Hm. Schon einiges.« Rob wischte seinen schmalen Pinsel an einem Lappen ab. »Na ja, das ist natürlich unterschiedlich. Manche Paare wohnen bei der Familie der Frau, andere bei der des Mannes, bis sie es schaffen, einen eigenen Hausstand zu gründen.« Er hatte zur Arbeitserleichterung aus dünnem Holz eine Schablone geschnitten, die Shaman am Rand entlangführte, während er die schwarze Farbe auftrug. Ein letztes Verrücken der Schablone, ein letzter Pinselstrich, und sie waren fertig.

Sie reinigten die Pinsel und stellten sie an ihren Platz im Stall. Auf dem Weg zum Haus nickte Shaman plötzlich.

»Ich kann mir schon vorstellen, warum das unterschiedlich ist.«

»Was soll unterschiedlich sein?« fragte Rob J. geistesabwesend, denn in Gedanken war er bereits bei dem Problem, wie er am besten die Gewebeflüssigkeit in Harold Hayses dick angeschwollenem Knie drainieren konnte.

»Das Geld, das man zum Heiraten braucht. Es hängt davon ab, wieviel man mit seiner Arbeit verdient, wie schnell ein Kind kommt, von solchen Sachen.«

»Genau«, erwiderte Rob J. verwirrt, weil er das Gefühl hatte, den wichtigsten Teil ihrer Unterhaltung nicht mitbekommen zu haben. Aber ein paar Minuten später sah er Shaman und Rachel Geiger am Stall vorbei zur Straße gehen. Shamans Augen ruhten auf Rachels Gesicht, damit er erkennen konnte, was sie sagte, doch Rob J.

sah sofort, was der Ausdruck im Gesicht seines Sohnes darüber hinaus bedeutete.

Plötzlich wurde ihm einiges klar, und er brummte. Noch bevor er sich um Harold Hayses Knie kümmerte, ritt er zur Farm der Geigers. Sein Freund stand im Geräteschuppen und schärfte Sensen. Jay lächelte Rob zur Begrüßung zu, ohne die Arbeit zu unterbrechen.

»Rob J.!«

»Jason!«

Auf der Werkbank lag ein zweiter Wetzstein. Rob J. nahm ihn und begann, die zweite Sense zu schärfen. »Ich habe ein Problem, das ich mit dir besprechen muss«, sagte er.

Erwachsen werden

Der letzte, zählebige Schnee des Winters überzog die Weiden noch wie eine dünne Glasur, als Rob J. mit der Planung der Frühjahrsarbeiten auf der Schaffarm begann, und zu Shamans Überraschung und Freude bezog sein Vater ihn in diesem Jahr zum erstenmal voll mit ein. Bis dahin hatte der Jüngere nur gelegentlich auf der Farm mitgeholfen und sich ansonsten ganz dem Lernen und seiner Sprechtherapie widmen können.

»Dieses Jahr brauchen wir deine Hilfe dringend«, sagte Rob J. zu ihm. »Alden und Alex wollen es zwar nicht zugeben, aber nicht einmal drei Männer schaffen die Arbeit, die Der singend einhergeht ganz alleine erledigt hat.« Außerdem, sagte er, werde die Herde jedes Jahr größer, und sie müssten immer neue Weiden einzäunen.

»Ich habe mit Dorothy Cowan und mit Rachel gesprochen. Beide haben den Eindruck, dass du alles gelernt hast, was du in unserer Schule lernen kannst. Außerdem meinen sie, dass du keine Sprechübungen mehr brauchst, und« - er grinste Shaman an - »ich muss sagen, ich bin ganz ihrer Meinung. Für mich klingt deine Aussprache ganz in Ordnung.« Rob J. fügte aber sofort hinzu, dass Shamans Mitarbeit kein Dauerzustand werden solle. »Ich weiß, dass du kein Farmer werden willst. Aber wenn du uns jetzt hilfst, können wir uns später überlegen, was du als nächstes tun sollst.« Alden und Alex übernahmen das Schlachten der Lämmer. Shamans Aufgabe war es, Zaunhecken zu säen, sobald die Erde aufgegraben werden konnte. Die üblichen Weidezäune hatten bei Schafen wenig Sinn, da die Tiere ohne Schwierigkeiten zwischen den Pfosten hindurchschlüpften, und außerdem konnten Raubtiere leicht eindringen. Um eine neue Weide einzugrenzen, pflügte Shaman am Rand entlang einen schmalen Streifen und säte Osagedorn an. Er musste vorsichtig säen, denn der Samen kostete zehn Dollar pro Kilo. Die Pflanzen wuchsen kräftig und buschig und hatten lange, spitze Dornen, die die Schafe drinnen und Kojoten und Wölfe draußen hielten. Der Osagedorn brauchte drei Jahre, um eine dichte Hecke zu bilden, aber Rob J. hatte von Anfang an solche Dornenhecken gepflanzt, und als Shaman mit der Aussaat fertig war, nahm er eine Leiter und machte sich daran, die alten zurechtzustutzen. Das Zuschneiden dauerte einige Tage, und danach musste er Steine von den Weiden auflesen, Feuerholz hacken, Zaunpfosten zurechtschneiden und dort, wo die Weiden an den Wald grenzten, Baumstümpfe ausgraben.

Seine Hände und Arme waren von den Dornen zerkratzt, seine Handflächen wurden schwielig, seine Muskeln schmerzten zuerst und wurden dann hart. Sein Körper veränderte sich, seine Stimme wurde tiefer. Nachts hatte er sexuelle Träume. Manchmal konnte er sich nicht an den Traum erinnern oder wusste nicht mehr, welche Frau darin vorgekommen war, doch einige Male hatte er nach dem Aufwachen deutlich Rachels Bild vor sich.

Zumindest einmal, das wusste er, war Makwa die Frau gewesen, was ihn verwirrte und ängstigte. Er versuchte vergeblich, die verräterischen Spuren von seinem Laken zu entfernen, bevor es in die Wäsche kam.

Jahrelang hatte er Rachel jeden Tag gesehen, jetzt sah er sie kaum noch. An einem Sonntagnachmittag ging er zu ihr hinüber, doch ihre Mutter öffnete ihm. »Rachel ist im Augenblick beschäftigt und kann dich nicht sehen. Ich soll dir viele Grüße ausrichten, Rob J.«, sagte sie nicht unfreundlich. Manchmal, wenn die Familien sich an einem Samstagabend zu Musik und Gesprächen trafen, gelang es ihm, sich neben Rachel zu setzen und mit ihr über die Schule zu reden. Er vermisste das Unterrichten und die Schüler, fragte nach ihnen und half ihr, Stunden vorzubereiten. Aber sie wirkte eigentümlich befangen.- Die Wärme und die helle Fröhlichkeit, die er an ihr immer so gemocht hatte, schienen fast erstickt - wie ein Feuer mit zuviel Holz. Wenn er einen Spaziergang vorschlug, war es, als würden die Erwachsenen im Zimmer auf Rachels Antwort lauern und sich erst entspannen, wenn sie ablehnte und sagte, sie habe im Augenblick keine Lust auf einen Spaziergang, aber vielen Dank, Shaman.

Ihre Mutter und ihr Vater hatten Rachel die Situation erklärt, hatten ihr mit viel Verständnis von der Vernarrtheit eines Jungen erzählt, ihr aber auch klargemacht, dass es ihre Aufgabe sei, diese Vernarrtheit auf keinen Fall zu ermutigen. Es fiel ihr sehr schwer. Shaman war ihr Freund, er fehlte ihr. Sie machte sich Sorgen um seine Zukunft, doch auch in ihrem Leben tat sich ein Abgrund auf, und es erforderte einen Großteil ihrer Angst und Sorge, dessen düstere Tiefen zu erkunden. Sie hätte eigentlich erkennen müssen, dass Shamans Vernarrtheit die Veränderung ihres Lebens beschleunigte, doch ihre Abneigung gegen das, was ihr bevorstand, war so stark, dass sie Johann C. Regensberg, als er für ein Wochenende zu Besuch kam, lediglich als Freund ihres Vaters betrachtete. Er war ein freundlicher, mittelgroßer und leicht übergewichtiger Mann Ende der Dreißig, der seinen Gastgeber respektvoll mit Mr. Geiger anredete, ihn aber bat, ihn Joe zu nennen.

Seine lebendigen, leicht schielenden Augen schauten durch eine Nickelbrille nachdenklich in die Welt. Sein nicht unangenehmes Gesicht war eingerahmt von einem kurzen Bart und einem schütteren, stark zurückweichenden Schöpf brauner Haare. Wenn Lillian ihn später Bekannten beschrieb, pflegte sie immer zu sagen, er habe »eine hohe Stirn«.

Joe Regensberg kam an einem Freitag auf die Farm, gerade rechtzeitig zum Sabbat-Mahl. Den Abend und den folgenden Tag verbrachte er in entspannter Atmosphäre im Kreis der Geiger-Familie. Am Samstagmorgen las er mit Jason in der Heiligen Schrift und studierte das Buch Leviticus. Nach einem kalten Mittagessen besichtigte er den Stall und die Apotheke und spazierte dann, dick eingehüllt gegen die Kälte eines trüben Tages, mit der Familie zu den Feldern, die auf die Aussaat warteten.

Die Geigers beendeten den Sabbat mit einem Cholent, einer Mahlzeit aus Bohnen, Fleisch, Perlgraupen und Dörrpflaumen, die bereits seit dem Freitagnachmittag auf heißen Kohlen schmorte, denn den Juden war es verboten, während des Sabbats ein Feuer anzuzünden. Danach gab es Musik, wobei Jason den ersten Teil einer Violinsonate von Beethoven spielte und dann das Instrument an seine Tochter weitergab. Rachel machte es Spaß, das Stück zu beenden, während der Fremde ihr mit offensichtlichem Vergnügen zusah. Am Ende des Abends ging Joe Regensberg zu seiner großen, gewirkten Reisetasche und packte Geschenke aus: einen Satz Backformen für Lillian aus der Blechwarenfabrik, die er in Chicago besaß, eine Flasche guten, alten Brandys für Jay und für Rachel ein Buch, »Die Pickwickier«.

Rachel fiel auf, dass ihre Brüder keine Geschenke erhielten. Auf einen Schlag wurde ihr die Bedeutung dieses Besuchs bewusst, Verwirrung und Angst überfielen sie. Mit Lippen, die sich steif und taub anfühlten, dankte sie Regensberg und sagte, sie schätze die Werke von Mr. Dickens, habe bis jetzt aber nur »Nickolas Nickleby«

gelesen. >»Die Pickwickier< ist eins meiner Lieblingsbücher«, sagte er. »Wir müssen uns darüber unterhalten, wenn Sie es gelesen haben.« Man konnte Joe Regensberg nicht ernsthaft als attraktiv bezeichnen, aber er hatte ein intelligentes Gesicht. Nur ein außergewöhnlicher Mann, dachte sie hoffnungsvoll, schenkt einer Frau in einer solchen Situation ein Buch.

»Ich dachte mir, es ist ein passendes Geschenk für eine Lehrerin«, sagte als könne er ihre Gedanken lesen. Sein Anzug saß besser als die Anzüge aller Männer, die sie kannte, wahrscheinlich hatte er einen besseren Schneider.

Wenn er lächelte, bekam er lustige kleine Fältchen um die Augen.

Jason hatte an Benjamin Schoenberg, den Schadchan in Peoria, geschrieben und zur Sicherheit auch noch an einen Heiratsvermittler namens Solomon Rosen in Chicago, wo es eine immer größer werdende jüdische Gemeinde gab. Schoenberg hatte in einem blumigen Brief geantwortet, er habe eine Reihe junger Männer bei der Hand, die wunderbare Gatten abgeben würden und die er den Geigers bei ihrem nächsten Besuch in Peoria vorstellen werde. Solomon Rosen dagegen hatte gehandelt. Einer seiner besten Heiratsanwärter war Johann C.

Regensberg. Als dieser erwähnte, er müsse ins westliche Illinois reisen, um Geschäfte zu besuchen, die seine Blechwaren führten, darunter auch einige in Rock Island und Davenport, hatte Solomon Rosen für ihn den Besuch bei den Geigers arrangiert. Einige Wochen nach dem Besuch traf ein Brief von Mr. Rosen ein. Rachel habe auf Johann Regensberg einen sehr vorteilhaften Eindruck gemacht. Mr. Rosen teilte ihnen mit, dass die Familie Regensberg Jichuss habe, die wahre Vornehmheit, die von einer langen Ahnenreihe herausragender Gemeindemitglieder herrühre. Mr. Regensbergs Vorfahren ließen sich bis ins vierzehnte Jahrhundert zurückverfolgen, und unter ihnen seien viele Lehrer und Schriftgelehrte. Doch dann verdüsterte sich Jay s Gesicht, als er weiter vorlas, denn was nun folgte, fasste er als Beleidigung auf. Johanns Eltern, Leon und Golda Regensberg, waren tot. Ihre Aufgabe in dieser Angelegenheit hatte Mrs. Harriett Ferber übernommen, die Schwester des verstorbenen Leon. Und diese Mrs. Ferber forderte auf Grund der Familientradition ein Attest oder einen anderen Beweis für die Jungfräulichkeit der zukünftigen Braut.

»Wir sind doch nicht in Europa! Und sie kaufen keine Kuh!« sagte Jason gekränkt.

Seine kühl formulierte Ablehnung erwiderte Mr. Rosen unverzüglich mit einem Brief, in dem er die Forderung zurückzog und statt dessen anfragte, ob die Geigers nicht Johanns Tante einladen könnten. So kam einige Wochen später Mrs. Ferber nach Holden’s Crossing, eine kleine, sich sehr gerade haltende Frau mit schneeweißen, straff nach hinten gekämmten und zu einem Knoten zusammengeschlungenen Haaren. Auch sie kam mit ihrem Korb voller kandierter Früchte, brandygetränkter Kuchen und einem Dutzend Flaschen koscheren Weins gerade rechtzeitig zum Sabbat. Sie genoss Lillians Kochkünste und die musikalischen Darbietungen der Familie, vor allem aber beobachtete sie Rachel. Sie unterhielt sich intensiv mit ihr und wie es aussah, hatte sie das Mädchen von Anfang an in ihr Herz geschlossen. Sie war bei weitem nicht so streng, wie die Geigers befürchtet hatten. Spät am Abend, während Rachel die Küche aufräumte, setzte Mrs. Ferber sich mit Lillian und Jay zusammen, und sie erzählten einander von ihren Familien.

Lillians Vorfahren waren spanische Juden, die vor der Inquisition zuerst nach Holland und dann nach England geflohen waren. In Amerika hatte ihre Familie politische Tradition. Väterlicherseits war sie mit Francis Salvador verwandt, der von seinen christlichen Nachbarn in den Provinzkongress von South Carolina gewählt worden war und im Dienst der Patrioten wenige Wochen nach der Unabhängigkeitserklärung als erster Jude für die Vereinigten Staaten starb -überfallen und skalpiert von Torys und Indianern. Mütterlicherseits war sie eine Mendez und eine Cousine von Judah Benjamin, dem Senator von Louisiana. Jasons Familie, in Deutschland alteingesessene Arzneimittelhersteller, war 1819 nach Charleston gekommen, auf der Flucht vor dem Pöbel, der damals mit dem Schlachtruf »Hep! Hep! Hep!« Jagd auf Juden machte, einem Schrei, der zurückreicht bis zu den Kreuzzügen und aus den Anfangsbuchstaben von Hierosolym est perdita, Jerusalem ist verloren, gebildet wurde.

Die Regensbergs hatten Deutschland ein Jahrzehnt vor den Hep-Unruhen verlassen, berichtete Mrs. Ferber. Die Familie hatte im Rheinland Weinberge besessen. Sie war zwar nicht sehr reich, erfreute sich aber doch eines gewissen Wohlstands, und Joe Regensbergs Blechwarenfabrik florierte. Er gehörte zum Zweig der Kohanim, das Blut von Hohepriestern in Salomons Tempel floss in seinen Adern. Falls es zu einer Heirat kommen sollte, so gab sie Lillian und Jay leise zu verstehen, würden deren Enkel von zwei Oberrabbis des alten Jerusalem abstammen. So saßen die drei beisammen, betrachteten einander mit Wohlgefallen und tranken guten englischen Tee, der ebenfalls aus Mrs. Ferbers üppigem Korb stammte. »Die Schwester meiner Mutter hieß auch Harriett«, sagte Lillian. »Wir haben sie nur Hattie genannt.«

Sie habe man nie anders genannt als Harriett, erwiderte Mrs. Ferber, zwinkerte dabei aber so humorvoll mit den Augen, dass die Geigers ihre Einladung nach Chicago sehr gerne annahmen. Einige Wochen später, es war ein Mittwoch, bestiegen alle sechs Mitglieder der Familie in Rock Island einen Zug, der sie in fünf Stunden direkt und ohne Umsteigen nach Chicago bringen sollte. Chicago war groß, wuchernd, schmutzig, überfüllt, schäbig, laut und - für Rachel - sehr aufregend. Ihre Familie bezog Zimmer im vierten Stock von Palmer’s Illinois Home Hotel. Am Donnerstag und Freitag lernten sie bei zwei Diners in Harrietts Wohnung an der South Wabash Avenue andere Verwandte kennen, und am Samstagmorgen besuchten sie den Gottesdienst in der Familiensynagoge der Regensbergs, der Kehilath-Anshe-Maarib-Kongregation, wo man Jason die Ehre erwies, ihn zur Thora zu rufen und einen Segensspruch anstimmen zu lassen. Am Abend besuchten sie ein Theater, in dem eine Tourneebühne »Der Freischütz« von Carl Maria von Weber aufführte. Rachel hatte noch nie eine Oper gesehen, und die gefühlvollen romantischen Arien verzückten sie. In der Pause nach dem ersten Akt führte Joe Regensberg sie nach draußen und fragte sie, ob sie seine Frau werden wolle, und sie nahm an. Das Ganze ging ohne große Seelenqual vonstatten, denn den eigentlichen Antrag und die Zusage hatten die Älteren bereits vollzogen. Anschließend holte er einen Ring aus der Tasche, der seiner Mutter gehört hatte. Der Diamant - der erste, den Rachel je gesehen hatte - war bescheiden, aber wundervoll gefasst. Der Ring war ein bisschen groß, und sie ballte die Faust, damit er ihr nicht vom Finger glitt und verlorenging. Als sie auf ihre Plätze zurückkehrten, begann eben der zweite Akt. Rachel, die neben ihrer Mutter saß, nahm im Dunkeln deren Hand, legte sie auf den Ring und lachte lautlos, als Lillian überrascht den Mund aufriss. Und während sie sich von der herrlichen Musik wieder in den deutschen Wald versetzen ließ, dämmerte ihr, dass das Ereignis, das sie so gefürchtet hatte, für sie ein Tor zur Freiheit und eine angenehme Art, Macht auszuüben, sein konnte.

Es war ein heißer Vormittag im Mai, als Rachel zur Schaffarm kam, und Shaman war verschwitzt und staubig, denn er hatte schon einige Stunden lang die Sense geschwungen und anschließend begonnen, das Gras zusammenzurechen. Rachel trug ein vertrautes, altes, graues Kleid, in dessen Achseln sich bereits dunkle Schweißflecken zeigten, ein leichtes, graues Häubchen, das er noch nicht kannte, und weiße Baumwollhandschuhe. Als sie ihn bat, sie nach Hause zu begleiten, ließ er bereitwillig den Rechen fallen.

Eine Weile sprachen sie über die Schule, doch schon bald begann sie, von sich zu erzählen, von dem, was sich in ihrem Leben ändern würde. Sie lächelte ihn an, zog ihren linken Handschuh aus, zeigte ihm den Ring, und er begriff sofort, dass sie verlobt war. »Dann ziehst du also von hier weg?«

Sie nahm seine Hand. Noch Jahre später schämte er sich dafür, dass er in diesem Augenblick sonst nichts zu ihr gesagt hatte, ihr nicht alles Gute für ihr Leben gewünscht und ihr gestanden hatte, wieviel sie ihm bedeute, ihr nicht gedankt und Lebewohl gesagt hatte. Als er sich vor der Geigerschen Hofeinfahrt von ihr abwandte und sich auf den Heimweg machte, schmerzte seine Hand, so fest hatte sie sie gehalten.

Einen Tag nachdem die Geigers nach Chicago gefahren waren, wo in einer Synagoge unter einem Baldachin die Hochzeit stattfinden sollte, kam Rob J. nach Hause und wurde von Alex abgefangen, der sagte, er werde sich um das Pferd kümmern. »Schau mal nach! Mit Shaman stimmt was nicht.«

Kurz darauf stand Rob J. vor Shamans Tür und horchte auf das heisere, gutturale Schluchzen. Als er in Shamans Alter gewesen war, hatte er auch so geweint, weil seine Hündin böse und bissig geworden war und seine Mutter sie einem Häusler gegeben hatte, der alleine in den Hügeln lebte. Aber er wusste, dass sein Sohn um einen Menschen trauerte, nicht um ein Tier.

Er ging hinein und setzte sich aufs Bett. »Ich glaube, ich muss dir einiges erklären: Weißt du, es gibt nur mehr wenige Juden, und die meisten von ihnen sind umgeben von einer Menge Andersgläubiger. Deshalb glauben sie, nur überleben zu können, wenn sie wieder Juden heiraten.«

Shaman schien zuzuhören.

»Und da kommst du nicht in Frage. Du hast nie auch nur die geringste Chance gehabt.« Er strich seinem Sohn die feuchten Haare aus der Stirn und ließ die Hand auf Shamans Kopf ruhen. »Schau, sie ist eine Frau«, sagte er,

»und du bist nur ein Junge.«

Im Sommer bot der Schulausschuss, der die Chance witterte, einen wegen seiner Jugend billigen, aber doch guten Lehrer zu bekommen, Shaman die Stelle in der Schule an. Aber Shaman lehnte ab. »Was willst du denn dann tun?« fragte sein Vater. »Ich weiß es nicht.«

»In Galesburg gibt es eine höhere Schule, das Knox College«, sagte Rob J. »Man sagt, ein sehr gutes Institut.

Möchtest du weiter auf die Schule gehen? Und mal in eine andere Umgebung kommen?« Sein Sohn nickte. »Ich glaube schon«, sagte er. Und so verließ Shaman zwei Tage nach seinem fünfzehnten Geburtstag sein Zuhause.

Gewinner und Verlierer

Im September des Jahres 1858 wurde Reverend Joseph Hills Perkins zum Pfarrer der größten Baptistenkirche in Springfield berufen. Zu seiner wohlhabenden neuen Gemeinde gehörten der Gouverneur und einige Abgeordnete, und Mr. Perkins war noch mehr verblüfft über sein Glück als die Mitglieder seiner Kirche in Holden’s Crossing, die in seinem Aufstieg eine Bestätigung ihrer früheren Entscheidung sahen. Eine Zeitlang war Sarah mit der Organisation von Abschiedsessen und Abschiedsfeiern beschäftigt, und nachdem die Familie Perkins ausgezogen war, begann die Suche nach einem neuen Geistlichen. Als Kandidaten meldeten sich eine ganze Reihe von Gastpredigern, die es zu versorgen galt, und wieder gab es Streitereien und Diskussionen über die Vorzüge der einzelnen Bewerber.

Eine Zeitlang wurde ein Mann aus dem nördlichen Illinois favorisiert, ein leidenschaftlicher Prediger gegen die Sünde, doch zur Erleichterung all derer, denen sein Stil nicht gefiel - zu ihnen gehörte auch Sarah -, fiel die Entscheidung nicht auf ihn, weil er sechs Kinder hatte und seine Frau ein siebtes erwartete, das Pfarrhaus aber nur klein war. Man einigte sich schließlich auf Mr. Sydney Blackmer, einen rotwangigen Mann mit gewölbter Brust, der erst kurz zuvor in den Westen gekommen war. Mr. Blackmer machte, als Carrol Wilkenson ihn vorstellte, einen freundlichen Eindruck auf Rob J., doch der Anblick seiner Frau deprimierte den Arzt. Julia Blackmer war dünn und nervös, ihre blasse Gesichtsfarbe und der heftige Husten deuteten auf eine fortgeschrittene Lungenkrankheit hin. Während Rob sie willkommen hieß, spürte er den Blick ihres Gatten auf sich, als setze der seine ganze Hoffnung darauf, dass Dr. Cole ein sicheres Heilmittel wisse.

Holden’s Crossing,

Illinois, 12. Oktober 1858

Mein lieber Shaman,

mit großer Freude habe ich in Deinem Brief gelesen, dass Du Dich in Galesburg inzwischen eingelebt hast, Dich guter Gesundheit erfreust und Dich mit Begeisterung Deinem Studium widmest. Uns allen hier geht es gut. Alden und Alex sind mit dem Schweineschlachten fertig, und wir schwelgen in frischem Speck, Rippchen, Schulter, Schinken (gekocht, geräuchert und gepökelt), Sülze, Presskopf und Schmalz. Wie man hört, soll der neue Geistliche, was seine Predigten angeht, ein recht interessanter Kerl sein. Mut hat er, das muss man ihm lassen, denn seine erste Predigt handelte von moralischen Fragen, die die Sklaverei aufwirft, und während ihm die meisten Anwesenden zustimmten, haben doch einige (darunter Deine Mutter) nach der Kirche lautstark ihr Missfallen ausgedrückt.

Mit großem Interesse habe ich erfahren, dass Abraham Lincoln aus Springfield und Senator Douglas im Knox College debattiert haben, und ich hoffe, dass Du an der Diskussion teilnehmen konntest. Bei dieser Senatswahl werde auch ich zum erstenmal als Bürger der Vereinigten Staaten wählen dürfen, und ich weiß eigentlich nicht, welcher Kandidat der schlechtere ist. Douglas wettert zwar gegen die ignorante Engstirnigkeit der Nichtswisser-Partei, schmiert aber den Sklavenbesitzern Honig ums Maul. Lincoln verteufelt die Sklaverei, akzeptiert aber die Unterstützung der Nichtswisser, ja, er umwirbt sie richtig. Über beide ärgere ich mich sehr. Diese Politiker!

Deine Fächerwahl klingt interessant. Vergiss aber nicht, dass neben der Botanik, der Astronomie und der Physiologie auch die Poesie Geheimnisse birgt.

Vielleicht macht das Beigefügte es für Dich etwas einfacher, Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Ich freue mich schon, Dich in den Ferien wiederzusehen.

Dein Dich liebender

Vater

Shaman fehlte ihm. Seine Beziehung zu Alex war eher von Vorsicht als von Herzlichkeit bestimmt. Sarah hatte nur noch die Kirche im Kopf. Er genoss zwar das gelegentliche abendliche Musizieren mit den Geigers, doch wenn sie zu spielen aufhörten, standen die politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen. So kam es immer häufiger vor, dass er am späten Nachmittag im Anschluss an seine Hausbesuche das Pferd zum Konvent der Franziskanerinnen lenkte. Mit jedem Jahr wurde ihm deutlicher bewusst, dass Mutter Miriam eher mutig war als grimmig, eher gastfreundlich als abweisend. »Ich habe etwas für Sie«, sagte sie eines Nachmittags und gab ihm einen Stapel brauner Papiere, bedeckt mit einer kleinen, verkrampften Handschrift in wässriger, schwarzer Tinte. Er las sie, während er auf dem Lederthron saß und seinen Kaffee trank, und erkannte sofort, dass es eine Beschreibung des inneren Aufbaus des Supreme Order of die Star-Spangled Banner war, die nur von einem Mitglied stammen konnte.

Die Beschreibung begann mit einem Überblick über die nationale Struktur dieser politischen Geheimgesellschaft. Ihre Basis bestand aus Distrikträten, die selbständig Funktionäre ernennen, Statuten erlassen und neue Mitglieder aufnehmen konnten. Über ihnen standen die County Councils, die sich aus je einem Delegierten der verschiedenen Distrikträte zusammensetzten. Die County Councils überwachten die politischen Aktivitäten der Distrikträte und wählten die Lokalpolitiker aus, die vom Geheimbund unterstützt werden sollten.

Alle Vereinigungen in einem Staat wurden von einem Grand Council kontrolliert, das aus je drei Delegierten der einzelnen Distrikträte bestand und von einer Art Großmeister und anderen gewählten Funktionären geleitet wurde. An der Spitze der gesamten Organisation stand ein Nationaler Rat, der alle politischen Entscheidungen von übergreifender Bedeutung traf, so auch die Auswahl der Kandidaten des Supreme Order für das Amt des Präsidenten und des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten. Der Nationale Rat entschied auch über die Bestrafung von pflichtvergessenen Mitgliedern und legte die umfangreichen Rituale der Vereinigung fest.

Es gab zwei Arten der Mitgliedschaft. Um den ersten Grad zu erlangen, musste der Kandidat ein erwachsener Mann sein, der in den Vereinigten Staaten als Kind protestantischer Eltern geboren und nicht mit einer Katholikin verheiratet war.

Jedem Bewerber wurde eine einfache Frage gestellt: »Sind Sie bereit, bei Wahlen zu allen Ehren-, Vertrauens-oder bezahlten Ämtern, die das Volk zu vergeben hat, Ihren Einfluss und Ihre Stimme ohne Ansehen der Parteizugehörigkeit nur für im Lande geborene amerikanische Staatsbürger zu verwenden sowie für den Ausschluss aller Fremden, insbesondere Katholiken, aus diesen Ämtern einzutreten?« Ein Mann, der das gelobte, musste jede andere Parteizugehörigkeit aufgeben, sich dem politischen Willen des Supreme Order unterwerfen und auf eine Änderung des Einbürgerungsgesetzes hinarbeiten. Er wurde dafür in Geheimnisse eingeweiht, die in dem Bericht ausführlich beschrieben wurden: bestimmte Erkennungszeichen, eine besondere Form des Händedrucks, Codewörter und Warnsignale. Um den zweiten Grad der Mitgliedschaft zu erreichen, musste der Betreffende ein bewährtes, langjähriges Mitglied sein. Nur Kandidaten des zweiten Grades konnten Ämter innerhalb des Order bekleiden, durften an dessen geheimen Aktivitäten teilnehmen und erhielten entsprechende Unterstützung für ihre Bewerbung bei kommunalen oder nationalen Wahlen. Als Amtsträger hatten sie Anweisung, alle Ausländer, Fremden und Katholiken, die unter ihnen arbeiteten, zu entlassen und keinesfalls

»Ämter, die Sie zu vergeben haben, mit solchen zu besetzen«.

Rob J. starrte Miriam Ferocia an. »Wie viele sind es denn?« Sie zuckte mit den Achseln. »Wir glauben nicht, dass der Geheimbund sehr viele Mitglieder hat. Vielleicht tausend. Aber sie sind das Rückgrat der American Party. Ich habe Ihnen diese Seiten gegeben, weil Sie ein Gegner dieser Leute sind, die unserer Kirche schaden wollen, und weil Sie das Wesen derjenigen kennen sollten, die uns Böses wollen und für deren Seelen wir beten.« Sie sah ihn ernst an. »Aber Sie müssen mir versprechen, mit diesem Material keinesfalls ein vermutliches Mitglied des Supreme Order in Illinois zu konfrontieren, denn das könnte den Mann, der das geschrieben hat, in größte Gefahr bringen.«

Rob J. nickte. Er faltete die Seiten zusammen und reichte sie ihr zurück, doch sie schüttelte den Kopf. »Das ist für Sie«, sagte sie, »das und meine Gebete.«

»Sie dürfen nicht für mich beten!« Es war ihm unangenehm, über Glaubensdinge mit ihr zu reden.

»Sie können mich nicht davon abhalten. Sie haben Gebete verdient, und ich habe mich schon oft für Sie beim Herrn eingesetzt.«

»So wie Sie für unsere Feinde beten«, erwiderte er mürrisch.

Zu Hause las er den Bericht noch einmal, und er betrachtete dann lange die zitterige Handschrift. Das hatte ein Mensch geschrieben (vielleicht ein Priester?), der ein Doppelleben führte, der vorgab, etwas zu sein, was er gar nicht war, und der dabei seine Sicherheit, vielleicht sogar sein Leben aufs Spiel setzte. Rob J. hätte sich gerne mit diesem Mann unterhalten.

Nick Holden hatte dank seines Rufs als Indianerkämpfer zwei Wiederwahlen problemlos gewonnen, doch bei seiner Kandidatur zur vierten Amtszeit musste er gegen John Kurland, den Anwalt aus Rock Island, antreten.

Kurland stand nicht nur bei den Demokraten in hohem Ansehen, und es gab Hinweise, dass Holden bei der Nichtswisser-Partei allmählich an Rückhalt verlor. Einige Leute prophezeiten, dass der Kongressabgeordnete sein Amt verlieren werde, und Rob J. wartete darauf, dass Nick eine spektakuläre Aktion vom Zaun brach, um Wählerstimmen zu gewinnen. Er war deshalb nicht sonderlich überrascht, als er eines Nachmittags nach Hause kam und erfuhr, dass Holden und Sheriff Graham wieder einmal einen Freiwilligentrupp zusammenstellten.

»Der Sheriff sagt, dass Frank Mosby, der Gesetzlose, sich irgendwo im Norden versteckt«, berichtete Alden.

»Nick hat die Leute so aufgehetzt, dass sie Mosby eher aufhängen als verhaften, wenn Sie mich fragen. Und Graham verteilt die Blechsterne mit beiden Händen. Alex ist auf und davon, ganz aus dem Häuschen war er. Hat sich die Flinte geschnappt und ist auf Vicky in die Stadt geritten.« Er verzog, Entschuldigung heischend, das Gesicht. »Hab’ noch versucht, es ihm auszureden, aber...« Er hob die Schultern.

Trude bekam keine Gelegenheit zum Ausruhen, denn Rob J. warf ihr gleich den Sattel wieder über und ritt selbst zur Stadt. Auf der Hauptstraße standen Männer in kleinen Gruppen beisammen. Lautes Gelächter drang von der Veranda der Gemischtwarenhandlung zu Rob J. herüber, denn Nick und der Sheriff schwangen große Reden.

Doch er achtete nicht auf sie. Alex stand bei Mal Howard und zwei anderen Jugendlichen. Sie trugen alle vier Schusswaffen, und ihre Augen funkelten wichtigtuerisch. Doch als Alex Rob J. sah, machte er ein langes Gesicht.

»Ich möchte mit dir reden, Alex«, sagte Rob J. und führte ihn von den anderen weg. »Ich will, dass du nach Hause kommst«, fuhr er fort, sobald sie außer Hörweite waren. »Nein, Pa.«

Alex war achtzehn Jahre alt und jähzornig. Wenn er sich in die Enge getrieben fühlte, konnte es gut sein, dass er seine Sachen packte und für immer von zu Hause wegging. »Ich will nicht, dass du gehst. Es gibt gute Gründe.«

»Mit deinen guten Gründen liegst du mir in den Ohren, seit ich denken kann«, erwiderte Alex aufgebracht. »Ich habe Ma einmal direkt gefragt, ob Frank Mosby mein Onkel ist. Und sie hat nein gesagt.«

»Du bist ein Narr, deiner Mutter so etwas anzutun! Es ändert sich nichts, auch wenn du diesen Mosby höchstpersönlich erschießt, weißt du denn das nicht? Einige Leute werden trotzdem reden, auch wenn das, was sie reden, keine Bedeutung hat. Ich könnte dir befehlen, nach Hause zu kommen, weil das Gewehr und das arme blinde Pferd mir gehören. Aber der eigentliche Grund, weshalb du nicht mitgehen darfst, ist, du bist mein Sohn, und ich lasse nicht zu, dass der etwas tut, was er sein ganzes Leben lang bereut.«

Alex warf Mal und den anderen, die neugierig herübersahen, einen verzweifelten Blick zu.

»Sag’ ihnen, ich hätte gesagt, dass daheim zuviel Arbeit auf dich wartet. Und dann hol Vicky und komm nach Hause!«

Rob drehte sich um, stieg auf Bess und ritt die Main Street entlang. Vor der Kirche machten einige Männer Radau, und er merkte, dass sie bereits getrunken hatten.

Eine halbe Meile ritt er, ohne sich umzudrehen, doch als er es tat, sah er ein Pferd, das den zögerlichen, unsicheren Schritt seiner blinden Stute hatte, und darauf eine Gestalt, vornübergebeugt wie ein Mann, der gegen starken Wind anreitet, die kleine Flinte gen Himmel gerichtet, wie er es seinen Söhnen beigebracht hatte.

Während der nächsten Wochen ging Alex Rob aus dem Weg, nicht so sehr, weil er wütend auf seinen Vater war, sondern weil er seine Autorität nicht spüren wollte. Der Freiwilligentrupp war zwei Tage unterwegs. Sie fanden ihr Opfer in einer verfallenen Sodenhütte und trafen umständliche Vorkehrungen, bevor sie sich über es hermachten, doch der Mann schlief und leistete keinen Widerstand. Er war auch nicht Frank Mosby, sondern ein Mann namens Buren Harrison, der in Geneseo einen Ladenbesitzer überfallen und ihm vierzehn Dollar geraubt hatte. Ihn führten Nick Holden und seine Gesetzeshüter triumphierend und betrunken der Gerechtigkeit zu.

Später stellte sich heraus, dass Frank Mosby schon zwei Jahre zuvor in Iowa ertrunken war, als er versucht hatte, bei Hochwasser einen Fluss zu durchreiten. Im November wählte Rob J. John Kurland für den Kongress und Steven A. Douglas für den Senat. Am Abend darauf wartete er mit anderen Männern vor Haskins Laden auf die Wahlergebnisse. Dabei fiel sein Blick auf zwei Taschenmesser in der Auslage - jedes mit einer großen Klinge, zwei kleineren und einer kleinen Schere, alles aus gehärtetem Stahl; die Griffschalen waren aus poliertem Schildpatt und die Kappen aus glänzendem Silber - Messer für Männer, die sich ihr Leben entschlossen zurechtschnitzten. Rob kaufte sie als Weihnachtsgeschenke für seine Söhne.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kam Harold Ames mit den Wahlergebnissen aus Rock Island. Es war ein Tag der Amtsinhaber gewesen. Nick Holden, der Indianerkämpfer und Verteidiger von Recht und Ordnung, hatte John Kurland knapp geschlagen, und auch Senator Douglas würde wieder in Washington einziehen. »Das wird Abraham Lincoln lehren, den Leuten das Sklavenhalten zu verbieten!« gluckste Julian Howard und schüttelte triumphierend die Faust. »Das wird das letzte sein, was wir von diesem Hurensohn gehört haben!«

Der Kollegiat

Da Holden’s Crossing nicht an der Eisenbahn lag, hatte Shamans Vater ihn im Buckboard, seinen Koffer auf der Ladefläche, die zweiunddreißig Meilen bis Galesburg gefahren. Die Stadt und das College waren ein Vierteljahrhundert zuvor ursprünglich im Staate New York von Presbyterianern und Kongregationalisten geplant worden, die dann aber nach Illinois gingen und sich hier niederließen. Ihre Häuser errichteten sie entlang von Straßen, die in einem exakten Schachbrettmuster um einen zentralen Platz herum angelegt waren. Als Shaman im College eintraf, meinte Charles Hammond, der Dekan, da er jünger sei als die meisten der Kollegialen, solle er nicht im Studentenheim wohnen. Der Dekan und seine Frau nahmen selbst stets einige Studierende in ihrem weißen Holzhaus an der Cherry Street auf, und dort, in einem Zimmer im rückwärtigen Teil des ersten Stocks, fand auch Shaman Unterkunft.

Direkt vor seinem Zimmer führte eine Treppe hinunter zur Tür in den Hinterhof, wo sich das Aborthäuschen und eine Pumpe befanden. Im Zimmer rechts von ihm wohnten zwei blasse kongregationalistische Theologiestudenten, die es vorzogen, unter sich zu bleiben. In den beiden Zimmern gegenüber wohnten der kleine, aber sehr würdevolle College-Bibliothekar und ein älterer Student namens Paul Brooke, der ein sommersprossiges, fröhliches Gesicht besaß und Augen, die immer leicht erstaunt blickten. Brooke war Lateinstudent. Gleich am ersten Morgen bemerkte Shaman, dass er mit einem Cicero-Band unter dem Arm zum Frühstück kam.

Shaman hatte von seinem Vater ein recht anständiges Latein gelernt.

» lucundi acti lahores«, sagte er nun. Nach getaner Arbeit ist gut ruhn. Brookes Gesicht leuchtete auf wie eine Lampe. » Ita viva.ni, ut scio! « Wenn doch Leben und Wissen übereinstimmten! Brooke wurde zum einzigen Menschen im Haus, mit dem Shaman sich regelmäßig unterhielt, mit Ausnahme des Dekans und dessen dürrer, weißhaariger Frau, die pflichtbewusst versuchte, täglich ein paar freundliche Worte zu murmeln.

» Ave! « begrüßte Brooke ihn jeden Tag. » Quomodo te habes hodie, iuvenis? « Wie geht es dir heute morgen, mein Jüngling? » Tarn bene quamfieripossit talibus in rebus, Caesar. « Den Umständen entsprechend gut, o Caesar, erwiderte Shaman dann immer. Diese beiden Sätze wurden ihr allmorgendliches Begrüßungsritual. Beim Frühstück stahl Brooke Brötchen und gähnte ausdauernd. Nur Shaman wusste, warum. Brooke hatte in der Stadt ein Mädchen und blieb nachts oft sehr lang aus. Zwei Tage nach Shamans Einzug überredete ihn der Lateiner, ihm die Tür aufzuschließen, nachdem alle anderen zu Bett gegangen seien, damit er sich ins Haus schleichen könne. Es war ein Gefallen, den Brooke von da an sehr häufig in Anspruch nahm.

Der Unterricht begann jeden Tag um acht. Shaman belegte Physiologie, englischen Aufsatz und englische Literatur sowie Astronomie. Brooke staunte ehrfürchtig, als der Neue auch eine Prüfung in Latein ablegte.

Gezwungen, eine zusätzliche Sprache zu studieren, wählte Shaman Hebräisch statt Griechisch, aus Gründen, über die er lieber nicht nachdachte. An seinem ersten Sonntag in Galesburg nahmen der Dekan und seine Frau ihn mit in die Kirche der Presbyterianer, doch von da an sagte er den Hammonds, er sei Kongregationalist, und den Theologiestudenten, er sei Presbyterianer. Auf diese Weise hatte er jeden Sonntagvormittag Zeit, die Stadt zu erkunden. Galesburg verfügte bereits seit sechs Jahren über einen Eisenbahnanschluss, und die Schienen brachten Wohlstand und eine bunte Menschenmischung in die Stadt. Außerdem hatten erst kurz zuvor Schweden eine Genossenschaftskolonie in der Nähe aufgelöst, und ein Großteil von ihnen war nach Galesburg gezogen.

Shaman gefielen die schwedischen Mädchen und Frauen mit ihren strohblonden Haaren und der makellos hellen Haut sehr. Wenn er Vorkehrungen traf, um Mrs. Hammonds Laken nachts nicht zu beflecken, waren die weiblichen Wesen seiner Phantasie Schwedinnen. Einmal erschrak er auf der South Street beim Anblick einer dunkelhaarigen Frau, denn er war sicher, dass er sie kannte, und einen Augenblick lang konnte er kaum atmen.

Aber dann stellte sich heraus, dass diese Frau eine Fremde war. Sie schenkte ihm ein Lächeln, als sie seinen Blick bemerkte, doch er senkte den Kopf und eilte davon. Sie war mindestens zwanzig, und er wollte sich nicht mit älteren Frauen einlassen.

Er sehnte sich nach zu Hause und nach Liebe, doch diese Sehnsucht legte sich und störte ihn bald nicht weiter.

Wegen seiner Jugend und seiner Taubheit fand er keine Freunde, was sich freilich in guten Noten auswirkte, da er die meiste Zeit studierte. Seine Lieblingsfächer waren Astronomie und Physiologie, obwohl letztere ihn enttäuschte, da der Unterricht fast nur in der Aufzählung von Körperteilen bestand. An die Beschreibung der Körperfunktionen wagte sich Mr. Rowell, der Lehrer, nur einmal bei einer Vorlesung über die Verdauung und die Bedeutung der Regelmäßigkeit. Aber im Physiologiehörsaal war ein zusammengedrahtetes Skelett an einer Schraube in seiner Schädeldecke aufgehängt, und Shaman brachte Stunden alleine mit ihm zu und prägte sich den Namen, die Form und die Funktion jedes alten, ausgebleichten Knochens ein.

Galesburg war eine hübsche Stadt. Die Straßen säumten Ulmen, Ahorn- und Walnussbäume, die die ersten Siedler gepflanzt hatten. Die Bewohner waren auf drei Dinge besonders stolz: In ihrer Stadt hatte Harvey Henry May einen selbstschärfenden Stahlpflug erfunden; ein Galesburger namens Olmsted Ferris hatte gutes Popcorn entwickelt, das er sogar in England vor Queen Victoria aufplatzen lassen durfte, und Senator Douglas sowie sein Gegner Lincoln debattierten am 7. Oktober 1858 im College.

Shaman ging an diesem Abend in die Aula, um die Debatte zu verfolgen, doch die Halle war bereits so voll, dass nur noch Plätze frei waren, von denen aus er die Lippen der Kandidaten nicht hätte sehen können. So verließ er die Aula und stieg zum Dachboden hoch, wo sein Astronomielehrer, Professor Gardner, ein kleines Observatorium unterhielt. Hier sollte jeder Student einige Stunden pro Monat den Himmel beobachten, und an diesem Abend hatte Shaman den ganzen Stolz des Professors, ein Alvan-Clark-fünf-Zoll-Fernrohr, für sich alleine. Er stellte das Teleskop ein, und die Sterne sprangen ihn förmlich an, zweihundertmal größer als noch einen Augenblick zuvor. Es war eine kalte Nacht und der Himmel so klar, dass man die Ringe des Saturn erkennen konnte. Shaman betrachtete den Orion- und den Andromeda-Nebel und begann dann, das Fernrohr auf seinem Stativ zu bewegen und den Himmel abzusuchen. »Den Himmel fegen«, pflegte Professor Gardner das zu nennen und zu erzählen, eine Frau namens Maria Mitchell habe beim Himmelfegen einen Kometen entdeckt und sich damit unsterblichen Ruhm erworben. Shaman entdeckte keinen Kometen. Er beobachtete die Sterne, bis sie in ihrer funkelnden Größe vor seinen Augen zu tanzen begannen. Was hatte sie wohl geformt da oben, da draußen? Und die Sterne dahinter? Und dahinter?

Er spürte, dass jeder Stern und jeder Planet der Teil eines komplizierten Systems ist wie ein Knochen in einem Skelett oder ein Tropfen Blut in einem Körper. Die ganze Natur schien so organisiert zu sein, so durchdacht: geordnet und doch höchst kompliziert. Was hatte sie so werden lassen? Mr. Gardner hatte Shaman gesagt, um Astronom zu werden, brauche er nur gute Augen und mathematisches Talent. Ein paar Tage lang war er versucht gewesen, die Astronomie zu seiner Lebensaufgabe zu machen, dann aber hatte er sich anders entschieden. Der Anblick der Sterne war faszinierend, doch man konnte nichts anderes tun als sie beobachten. Wenn so ein Himmelskörper aus der Bahn geriet, gab es keine Hoffnung, das zu korrigieren.

Als Shaman an Weihnachten heimfuhr, kam ihm Holden’s Crossing irgendwie anders vor als früher, einsamer als sein Zimmer im Haus des Dekans, und am Ende der Ferien kehrte er gerne wieder ins College zurück. Er freute sich sehr über das Messer, das sein Vater ihm geschenkt hatte, und kaufte sich einen kleinen Schleifstein und ein Fläschchen Öl, um die Klingen zu schärfen, bis sie mühelos ein Haar durchtrennten.

Im zweiten Semester belegte er Chemie statt Astronomie. Der englische Aufsatz machte ihm Schwierigkeiten.

Sie haben bereits mehr als einmal geschrieben, kritzelte sein Englischlehrer schlecht gelaunt in Shamans Heft, dass Beethoven viele seiner Werke als Tauber komponiert hat. Professor Gardner lud ihn ein, das Fernrohr zu benutzen, so oft er wolle, doch eines Abends vor einer Chemieprüfung suchte er den Himmel ab, anstatt Berzelius’ Atomgewichtetabelle auswendig zu lernen, und bekam eine schlechte Note. Daraufhin vernachlässigte er die Himmelsbeobachtung, wurde dafür aber sehr gut in Chemie. In den Osterferien, die er wieder in Holden’s Crossing verbrachte, luden die Geigers die Coles zum Essen ein, und Jasons Interesse an Chemie machte für Shaman diese unangenehme Begegnung etwas erträglicher, denn Jay erkundigte sich eingehend nach diesem Fach. »Was willst du denn eigentlich mal werden, Shaman?« fragte Jay.

»Ich weiß es noch nicht. Ich habe mir gedacht... vielleicht irgend etwas Naturwissenschaftliches.«

»Wenn du dich für Pharmazie interessierst, würde ich dich sehr gerne als Lehrling nehmen.«

Shaman sah an der Miene seiner Eltern, dass sie das Angebot freute, er dankte Jay deshalb unbeholfen und sagte, er werde es sich überlegen. Aber er wusste bereits, dass er kein Apotheker werden wollte. Danach sah er eine Zeitlang nur auf seinen Teller und verpasste dadurch einen Teil der Unterhaltung, doch als er aufblickte, bemerkte er, dass Lillians Gesicht von Kummer überschattet war. Sie erzählte seiner Mutter, dass Rachels Kind in fünf Monaten hätte zur Welt kommen sollen, und danach unterhielten sie sich eine Weile über das Leid der Frauen, die ein Kind verlieren.

In den Sommerferien arbeitete er auf der Farm und las Philosophiebücher, die er sich von George Cliburn auslieh. Im neuen Schuljahr erlaubte der Dekan ihm, Hebräisch abzulegen, und er belegte Kurse über Shakespeares Dramen, fortgeschrittene Mathematik, Botanik und Zoologie. Nur einer der beiden Theologiestudenten war ans College zurückgekehrt, doch Brooke ebenfalls, mit dem er sich weiterhin nach Römerart unterhielt, um im Lateinischen in Übung zu bleiben. Professor Gardner, sein Lieblingslehrer, unterrichtete auch Zoologie, doch war er ein besserer Astronom als Biologe. Sie sezierten nur Frösche, Mäuse und kleine Fische und zeichneten eine Unmenge schematischer Darstellungen. Shaman besaß nicht das künstlerische Talent seines Vaters, aber dank seiner in Makwas Nähe verbrachten Kindheit hatte er einen Vorsprung in Botanik, und er schrieb seine erste Arbeit über die Anatomie der Blumen.

In diesem Jahr schlug die Auseinandersetzung über die Sklaverei im College hohe Wellen. Zusammen mit anderen Studenten und Fakultätsangehörigen trat Shaman in die Society for the Abolition of Slavery ein, die Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei. Aber es gab auch viele am College und in der Stadt, die mit den Südstaaten sympathisierten, und manchmal entwickelte sich die Diskussion zu einem hässlichen Streit.

Meistens ließ man Shaman in Ruhe. Die Studenten und die Leute aus der Stadt hatten sich an ihn gewöhnt, doch für die Unwissenden und die Abergläubischen war er zu einem Geheimnis, ja zu einer Legende geworden. Sie wussten nichts über Taubheit und verstanden nicht, dass Taube ihre Behinderung mit anderen Sinnen kompensieren können. Dass er stocktaub war, hatten sie sehr schnell herausgefunden, aber einige glaubten, dass er geheime Kräfte besitze, da er, wenn er alleine studierte und jemand leise hinter ihm ins Zimmer trat, immer dessen Anwesenheit spürte. Sie sagten, er habe »Augen am Hinterkopf«, denn sie begriffen nicht, dass er die Schwingungen der Schritte und den Luftzug einer geöffneten Tür spüren und das Erzittern der Blätter in seiner Hand sehen konnte. Er war froh, dass sie nichts von seiner Fähigkeit wussten, die Töne eines Klaviers zu unterscheiden. Er wusste, dass sie ihn manchmal »den eigenartigen tauben Jungen« nannten.

An einem warmen Montagnachmittag Anfang Mai spazierte er durch die Stadt und besah sich die Blumen, die in den Vorgärten sprossen, als an der Kreuzung South Street und Cedar Street ein vierspänniges Lastfuhrwerk zu schnell um die Kurve bog. Das Donnern der Hufe und das klägliche Jaulen blieben ihm zwar erspart, doch er sah, wie ein kleines pelziges Ding gerade noch den Vorderrädern ausweichen konnte, dann aber vom rechten Hinterrad erfasst wurde. Der Hund wurde beinahe eine ganze Umdrehung mitgeschleift, bevor er wieder freikam. Das Lastfuhrwerk ratterte davon, der Hund jedoch blieb zappelnd im Straßenstaub hegen. Shaman lief zu dem Tier.

Es war eine unscheinbare gelbliche Hündin mit Stummelbeinen und einem Schwanz mit einer weißen Spitze.

Shaman meinte, Spuren eines Terriers in ihr zu erkennen. Sie lag zuckend auf dem Rücken, ein dünnes rotes Rinnsal lief ihr aus dem Maul.

Ein Paar kam dazu und betrachtete sich das Tier. »Abscheulich«, sagte der Mann. »Diese verrückten Kutscher!

Es hätte leicht auch einen von uns treffen können.« Er streckte warnend die Hand aus, als Shaman sich zu dem Hund hinunter bückte. »Ich würde das nicht tun. Er hat sicher Schmerzen und wird sie beißen.«

»Wissen Sie, wem er gehört?« fragte Shaman.

»Nein«, antwortete die Frau.

»Ist doch nur ein Straßenköter«, sagte der Mann und ging mit seiner Frau weiter.

Shaman kniete sich hin und streichelte den Hund vorsichtig, und der leckte ihm die Hand. »Armes Tier«, sagte Shaman. Er untersuchte alle vier Beine und konnte keinen Bruch feststellen, wusste aber, dass die Blutung ein schlechtes Zeichen war. Trotzdem zog er nach einem Augenblick des Zögerns seine Jacke aus und wickelte den Hund darin ein. Er nahm das Tier in den Arm wie ein Kleinkind oder ein Wäschebündel und trug es zum Haus des Dekans. Da niemand zu den Fenstern heraussah, konnte er es unbemerkt in den Hinterhof bringen. Auch auf der Treppe begegnete ihm niemand. In seinem Zimmer setzte er den Hund auf dem Boden ab und räumte Unterwäsche und Socken aus der untersten Schublade der Kommode. Aus dem Schrank im Gang holte er einige Putzlappen, polsterte damit die Schublade aus und legte den Hund hinein. Als er seine Jacke untersuchte, sah er, dass nur sehr wenig Blut an ihr war, und das auch nur an der Innenseite.

Die Hündin lag hechelnd in der Schublade und sah ihn an. Als es Zeit zum Abendessen war, verließ Shaman das Zimmer. Im Gang sah Brooke verwundert zu, als er seine Tür abschloss, denn das war höchst ungewöhnlich, wenn man das Haus nicht verließ. » Quid vis? « fragte Brooke.

» Condo parvam catulam in meo cubiculo. «

Brooke riss erstaunt die Augen auf. »Du hast...«, er traute seinen Lateinkenntnissen nicht mehr, »... ein kleines Weibchen in deinem Zimmer versteckt?«

» Sic est. «

»Mann!« rief Brooke ungläubig und klopfte Shaman auf die Schulter. Zum Abendessen gab es, da Montag war, Reste vom Sonntagsbraten. Shaman steckte ein paar kleine Scheiben von seinem Teller in die Tasche, wobei Brooke ihm interessiert zusah. Als Mrs. Hammond in die Küche ging, um sich um die Nachspeise zu kümmern, nahm Shaman eine halbe Tasse Milch und verließ, unbemerkt vom Dekan, der mit dem Bibliothekar in ein Gespräch über das Bücherbudget vertieft war, den Tisch.

Die Hündin hatte nicht das geringste Interesse an dem Fleisch, und auch die Milch mochte sie nicht. Shaman benetzte den Finger mit Milch und legte ihn ihr auf die Zunge, wie er es bei mutterlosen Lämmern machte, und brachte das Tier so dazu, ein wenig Nahrung aufzunehmen.

Die nächsten Stunden verbrachte er über seinen Büchern. Am späten Abend streichelte und hätschelte er den matten Hund. Die Schnauze war heiß und trocken. »Schlaf jetzt, mein kleines Mädchen!« sagte er und blies die Lampe aus. Es war ein eigenartiges Gefühl, ein lebendes Wesen im Zimmer zu haben, aber es gefiel ihm.

Am nächsten Morgen ging er sofort zu dem Hund und befühlte die Schnauze. Sie war kalt, und auch der Körper war kalt und steif. »Aus«, sagte Shaman traurig.

Jetzt musste er sich überlegen, wie er die Hündin los wurde. Doch zuerst wusch er sich, zog sich an und ging zum Frühstück hinunter, nicht ohne zuvor wieder sein Zimmer zu verschließen. Brooke erwartete ihn in der Diele. »Ich habe gedacht, du hast gestern nur Spaß gemacht«, sagte er böse. »Aber ich habe sie die ganze Nacht weinen und wimmern gehört.«

»Tut mir leid«, erwiderte Shaman. »Es kommt nicht wieder vor.« Nach dem Frühstück ging er auf sein Zimmer, setzte sich aufs Bett und betrachtete den Hund. Auf dem Rand der Schublade saß eine Fliege, und er versuchte, sie zu erschlagen, verfehlte sie aber immer wieder. Er musste warten, bis alle das Haus verlassen hatten, um dann den Hund aus dem Haus zu schaffen. Im Keller war sicher eine Schaufel. Doch das würde bedeuten, dass er die erste Unterrichtsstunde verpasste. Nach einer Weile dämmerte ihm, dass sich hier die Gelegenheit zu einer Obduktion bot. Der Gedanke faszinierte ihn, doch er sah auch die Probleme. Vor allem das Blut. Von seiner Mithilfe bei den Autopsien seines Vaters wusste er, dass Blut sich nach dem Ableben etwas verdickt, doch Flecken würde es trotzdem geben... Er wartete, bis das Haus fast leer war, und ging dann hinunter in die rückwärtige Diele, wo an einem Nagel an der Wand die metallene Badewanne hing. Er trug sie in sein Zimmer und stellte sie vor das Fenster, wo er das beste Licht hatte. Er legte die Hündin auf dem Rücken in die Wanne, und mit ihren vier hochgereckten Pfoten sah sie aus, als warte sie darauf, am Bauch gekrault zu werden. Die Krallen waren lang wie die Zehennägel eines ungepflegten Menschen, und eine war abgebrochen. Das Tier hatte an den Hinterläufen je vier Krallen und an den Vorderläufen zusätzlich eine kleinere, fünfte, die beinahe aussah wie ein hochgewanderter Daumen. Shaman war neugierig, wie die Gelenke im Vergleich zu menschlichen Gelenken aussahen. Er nahm das Taschenmesser zur Hand, das sein Vater ihm geschenkt hatte, und klappte die kleinste Klinge auf. Der Hund hatte feine lange Haare und dickere kurze darunter, doch das Fell auf dem Bauch behinderte ihn nicht, als er den Stahl in das Fleisch senkte.

Shaman ging nicht zum Unterricht und machte auch keine Mittagspause. Den ganzen Tag sezierte, notierte und skizzierte er. Am späten Nachmittag war er mit den inneren Organen und einigen Gelenken fertig. Er wollte auch noch das Rückgrat ansehen und es zeichnen, doch für den Augenblick legte er den Hund in die Kommodenschublade zurück und schloss sie. Dann goss er Wasser in sein Waschbecken, schrubbte sich lange und gründlich mit viel Kernseife die Hände und leerte das Becken in die Wanne. Bevor er zum Abendessen hinunterging, zog er sich vollständig um.

Trotzdem war die Suppe noch kaum im Teller, als Dekan Hammond schon seine fleischige Nase rümpfte. »Hier stinkt was«, sagte der Dekan. »Kohl?«

»Nein«, sagte seine Frau.

Shaman war froh, gleich nach dem Essen wieder in sein Zimmer zu kommen. Dort saß er schwitzend auf dem Bett und hoffte, dass niemand auf den Gedanken käme, ein Bad zu nehmen. Das tat auch niemand. Viel zu nervös, um müde zu sein, wartete Shaman sehr lange, bis er sicher sein konnte, dass alle anderen zu Bett gegangen waren. Dann nahm er die Wanne und trug sie die Treppe hinunter in den Hinterhof, wo er die blutige Brühe auf den Rasen schüttete. Die Pumpe schien außergewöhnlich laut zu sein, als er den Schwengel betätigte, und er musste immer damit rechnen, dass jemand herauskam, um aufs Aborthäuschen zu gehen. Doch er hatte Glück. Er schrubbte die Wanne mehrmals mit Seife, spülte sie gründlich aus und hängte sie dann wieder an ihren Haken.

Am nächsten Morgen musste er einsehen, dass er das Rückgrat nicht mehr würde sezieren können, denn das Zimmer war wärmer geworden und der Geruch intensiver. Er ließ die Schublade geschlossen und stapelte Kissen und Bettzeug davor, weil er hoffte, so den Geruch etwas einzudämmen. Doch als er das Frühstückszimmer betrat, sah er nur mürrische Gesichter.

»Vermutlich eine tote Maus irgendwo zwischen den Wänden«, bemerkte der Bibliothekar. »Oder vielleicht eine Ratte.«

»Nein«, sagte Mrs. Hammond. »Wir haben gefunden, woher der Gestank kommt. Anscheinend kommt er aus der Umgebung der Pumpe.«

Der Dekan seufzte. »Ich hoffe nur, wir müssen keinen neuen Brunnen graben.«

Brooke sah aus, als habe er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er war nervös und vermied Shamans Blick.

Wie betäubt eilte Shaman in seine Chemiestunde, um die Zeit zu überbrücken, bis alle das Haus verlassen hatten.

Danach ging er nicht in die Shakespeare-Vorlesung, sondern lief sofort heim, um die Sache hinter sich zu bringen. Doch als er die Hintertreppe hinaufstieg, sah er Brooke, Mrs. Hammond und einen der beiden Polizisten der Stadt vor seiner Tür stehen. Die Frau des Dekans hatte den Schlüssel in der Hand.

Sie alle sahen Shaman an. »Ist da was Totes drin?« fragte der Polizist. Shaman brachte kein Wort heraus.

»Mir hat er erzählt, dass er da drin eine Frau versteckt hat«, sagte Brooke.

Jetzt fand Shaman seine Stimme wieder. »Nein!« sagte er, aber der Polizist hatte Mrs. Hammond bereits den Schlüssel abgenommen und sperrte auf.

Im Zimmer sah Brooke sofort unter dem Bett nach, doch der Polizist hatte längst das Kissen und das Bettzeug entdeckt. Er machte die Schublade frei und zog sie auf. »Ein Hund«, sagte er. »Ganz zerschnitten.«

»Keine Frau?« fragte Brooke und sah Shaman an. »Du hast doch gesagt >Weibchen<!«

»Du hast >Weibchen< gesagt. Ich habe >catulam< gesagt«, erwiderte Shaman. »Junger Hund von weiblichem Geschlecht.«

»Ich nehme nicht an, Sir«, sagte der Polizist, »dass Sie hier noch etwas anderes Totes versteckt haben? Bei Ihrer Ehre?«

»Nein«, antwortete Shaman.

Mrs. Hammond sah ihn an, sagte aber kein Wort. Sie lief hinaus und die Treppe hinunter, und Augenblicke später hörte man die Haustür knallen.

Der Polizist seufzte. »Sie wird sicher direkt ins Büro ihres Gatten laufen. Und dorthin sollten wir uns vermutlich auch begeben.«

Shaman nickte und folgte ihm aus dem Zimmer, vorbei an Brooke, der sich ein Taschentuch vor Mund und Nase hielt und ihn bedauernd anblickte.

»Vale!« sagte Shaman. Leb wohl!

Das Zimmer wurde ihm gekündigt. Da es nur noch drei Wochen bis zum Semesterende waren, gestattete ihm Professor Gardner, auf einem Feldbett in seinem Werkzeugschuppen zu schlafen. Aus Dankbarkeit grub Shaman ihm den Garten um und pflanzte ein Beet Kartoffeln an. Eine Schlange, die unter einigen Blumentöpfen hauste, erschreckte ihn, doch dann sah er, dass es nur eine kleine Milchschlange war, und sie kamen gut miteinander aus.

Er erhielt ausgezeichnete Noten, aber auch einen versiegelten Brief, den er seinem Vater geben sollte. Zu Hause saß er dann im Arbeitszimmer und wartete, bis sein Vater das Schreiben gelesen hatte. Shaman wusste ziemlich genau, was in dem Brief stand. Dekan Hammond hatte ihm gesagt, die beiden Jahre auf dem College würden ihm natürlich für seine weitere Ausbildung angerechnet, er sei aber für ein Jahr suspendiert, um die für eine akademische Gemeinschaft nötige Reife zu erlangen. Wenn er zurückkehre, müsse er sich eine andere Unterkunft suchen.

Sein Vater legte den Brief beiseite und sah ihn an. »Hast du aus diesem Abenteuer etwas gelernt?«

»Ja, Pa«, antwortete Shaman. »Ein Hund ist innerlich einem Menschen überraschend ähnlich. Das Herz ist natürlich viel kleiner, nur etwa halb so groß, aber es hat fast genauso ausgesehen wie die menschlichen Herzen, die du mir bei deinen Obduktionen gezeigt hast. Es hatte die gleiche Mahagonifarbe.«

»Nicht ganz Mahagoni...«

»Na ja... rötlich.«

»Ja, rötlich.«

»Lunge und Gedärme sind ebenfalls sehr ähnlich. Nicht aber die Milz. Sie ist nicht rund und kompakt, sondern wie eine große Zunge, dreißig Zentimeter lang, fünf Zentimeter breit, zweieinhalb Zentimeter dick. Die Aorta war geplatzt. Daran ist die Hündin gestorben. Sie ist innerlich verblutet. In der Bauchhöhle habe ich jede Menge ausgetretenes Blut entdeckt.«

Sein Vater sah ihn an.

»Ich habe mir Notizen gemacht. Falls es dich interessiert, sie zu lesen.«

»Das interessiert mich sehr«, sagte sein Vater nachdenklich.

Der Bewerber

Nachts lag Shaman in dem Bett mit der Seilmatratze, die neu geknüpft werden musste, und starrte Wände an, die ihm so vertraut waren, dass er am unterschiedlichen Spiel der Sonne auf ihnen erkennen konnte, welche Jahreszeit es war. Sein Vater hatte vorgeschlagen, er solle die Zeit seiner Suspendierung zu Hause verbringen.

»Da du ja jetzt schon einiges über Physiologie weißt, kannst du mir bei den Autopsien besonders gut helfen. Ein zweites Paar sicherer Hände könnte ich bei meinen Hausbesuchen auch gebrauchen. Und dazwischen«, sagte Rob J., »kannst du auf der Farm helfen.«

Bald war es beinahe wieder so, als wäre er nie weggewesen. Doch zum erstenmal in seinem Leben war die Stille, die ihn umgab, eine Stille der bohrenden Einsamkeit.

In diesem Jahr lernte er anhand der Leichen von Selbstmördern, Streunern und Armen und nicht aus Büchern die Kunst des Sezierens. In den Häusern der Kranken und Verletzten bereitete er die Instrumente und Verbände vor, und er beobachtete, wie sein Vater jede neue Situation meisterte. Er wusste, dass auch sein Vater ihn beobachtete, und er gab sich deshalb Mühe, immer aufmerksam zu sein und die Namen der Instrumente, Schienen und Kompressen zu lernen, damit er sie zur Hand hatte, noch bevor Rob J. nach ihnen fragte. Eines Vormittags, bei einer Pinkelpause im Flusswäldchen, sagte er seinem Vater, dass er nach seiner Suspendierung nicht ans Knox College zurückkehren, sondern Medizin studieren wolle. »Den Teufel wirst du«, sagte Rob J.

Shaman spürte die Enttäuschung in sich aufsteigen, da er am Gesicht seines Vaters sah, dass der seine Meinung noch immer nicht geändert hatte.

»Verstehst du denn nicht, Junge? Ich versuche doch nur, dich vor Kränkungen zu bewahren. Man sieht, dass du ein wirkliches Talent für die Naturwissenschaften hast. Mach das College fertig, und ich zahle dir die beste akademische Ausbildung, die es gibt, egal wo du hinwillst. Du kannst unterrichten, in die Forschung gehen... Ich glaube fest daran, dass aus dir etwas Großes wird.«

Shaman schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Angst vor Kränkungen. Als ich klein war, hast du mir die Hände gefesselt und mir das Essen verweigert, bis ich meine Stimme gebraucht habe. Damals hast du versucht, das Beste aus mir herauszuholen, und nicht, mir Schmerz zu ersparen.«

Rob J. seufzte und nickte dann. »Also gut. Wenn du dir den Arztberuf in den Kopf gesetzt hast, kannst du bei mir in die Lehre gehen.« Aber Shaman schüttelte den Kopf. »Das wäre nichts anderes als ein Almosen für deinen tauben Sohn. Du bist nämlich davon überzeugt, dass es sinnlos ist.«

»Shaman!« sagte sein Vater bedrückt.

»Ich will so Medizin studieren, wie du es getan hast, an einer Universität.«

»Das ist überhaupt keine gute Idee. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine gute medizinische Fakultät dich aufnimmt. Im Augenblick schießen überall zweitklassige Institute wie Pilze aus dem Boden, und die nehmen dich gern. Die nehmen jeden, der Geld hat. Aber es wäre ein schwerer Fehler, Medizin an einer solchen Möchtegern-Universität zu studieren.«

»Das habe ich auch nicht vor.« Und Shaman bat seinen Vater, ihm eine Liste mit den besten medizinischen Fakultäten zusammenzustellen, die vom Mississippi Valley aus ohne allzu große Schwierigkeiten erreichbar waren.

Gleich nach ihrer Rückkehr ging Rob J. in sein Arbeitszimmer, stellte die Liste zusammen und gab sie seinem Sohn noch vor dem Abendessen, als wolle er damit das Thema aus seinen Gedanken verbannen. Shaman goss frisches Öl in die Lampe und saß bis weit nach Mitternacht an dem kleinen Tisch in seinem Zimmer, um Bewerbungsbriefe zu schreiben. Um unliebsame Überraschungen zu vermeiden, machte er in jedem Brief unmissverständlich klar, dass es sich bei dem Bewerber um einen Tauben handle.

Das Pferd namens Bess, die frühere Monica Grenville, war dürr und lahm gewesen, nachdem sie Rob J. über den halben Kontinent getragen hatte doch jetzt, in ihrem Ruhestand, war sie wieder feist und vergnügt. Aber für die arme, blinde Vicky, das Pferd, das Rob J. als Ersatz für Bess gekauft hatte, bestand das Leben nur noch aus Leiden. Eines Nachmittags im Spätherbst sah Rob J. beim Nachhausekommen Vicky zitternd auf der Weide stehen, den Kopf gesenkt, die dürren Beine leicht gespreizt und so selbstversunken, wie er es auch von Menschen kannte, die verwirrt und geschwächt dem Tod entgegengingen.

Am nächsten Morgen ging er zu den Geigers und fragte Jay, ob er Morphium vorrätig habe. »Wieviel brauchst du?«

»So viel, um ein Pferd zu töten«, erwiderte Rob J. Er führte Vicky auf die Weide und gab ihr zwei Karotten und einen Apfel. Dann injizierte er das Gift in die rechte Drosselader, sprach mit dem Tier und streichelte ihm den Hals, während es seine letzte süße Mahlzeit kaute. Kurz darauf ging Vicky in die Knie und kippte zur Seite. Rob J. blieb bei ihr, bis sie tot war, stand dann seufzend auf, befahl seinen Söhnen, sich um sie zu kümmern, und ritt davon, um seine Hausbesuche zu machen.

Shaman und Alex fingen direkt neben dem Pferd zu graben an. Sie brauchten lange, denn das Loch musste tief und breit sein. Als es endlich fertig war, standen sie da und schauten das Pferd an. »Komisch, wie die Schneidezähne vorstehen«, sagte Shaman. »Daran erkennt man bei Pferden das Alter von den Zähnen«, erklärte ihm Alex.

»Ich weiß noch, wie ihre Zähne so gerade waren wie die unseren... Sie war ein gutes altes Mädchen.«

»Sie hat ziemlich viel gefurzt«, sagte Alex, und beide mussten lächeln. Doch nachdem sie Vicky in die Grube gerollt hatten, schaufelten sie schnell die Erde darüber, denn sie konnten das Tier nicht mehr ansehen. Sie schwitzten, obwohl der Tag kühl war. Alex führte Shaman in den Stall und zeigte ihm, wo Alden unter einigen Säcken seinen Whiskey versteckt hatte. Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche, Shaman einen kleinen.

»Ich muss weg von hier«, sagte Alex.

»Ich hab’ gedacht, dir gefällt die Farmarbeit.«

»... komm’ mit Pa nicht zurecht.«

Shaman zögerte. »Er mag uns sehr, Alex.«

»Natürlich tut er das. Er war immer gut zu mir. Aber... ich weiß so wenig über meinen leiblichen Vater. Keiner sagt mir was, und ich dreh’ halb durch, weil ich mir wirklich vorkomme wie ein Bastard.«

Das verletzte Shaman. »Du hast eine Mutter und einen Vater. Und einen Bruder«, sagte er scharf. »Wenn du kein Trottel bist, sollte dir das reichen.«

»Ach, Shaman, du mit deinem gesunden Menschenverstand!« Alex lachte. »Weißt du was? Warum gehen wir nicht gemeinsam weg... wir beide? Nach Kalifornien. Da ist bestimmt noch Gold zu finden. Wir lassen es uns dort gutgehen, werden reich, und dann kommen wir zurück und kaufen Nick Holden diese verdammte Stadt ab.«

Es war ein verlockender Gedanke, mit Alex unbeschwert durch die Welt zu ziehen, und das Angebot war durchaus ernst gemeint. »Ich hab’ andre Pläne, Bigger. Und du darfst auch nicht weglaufen. Wer soll denn sonst die Schafsscheiße wegschaufeln?«

Alex versetzte ihm einen Schlag, der ihn zu Boden warf. Keuchend und grunzend gingen die beiden aufeinander los. Aldens Flasche stürzte um und leerte sich gurgelnd und von den Raufenden unbeachtet, während sie über den strohbestreuten Stallboden rollten. Alex war von der Arbeit gestählt, aber Shaman war größer und stärker, und bald hatte er seinen Bruder im Schwitzkasten. Nach einer Weile merkte er, dass Alex ihm etwas sagen wollte, und er drückte ihm deshalb, ohne die Umklammerung zu lockern, den Kopf nach hinten, damit er sein Gesicht sehen konnte.

»Gib auf, und ich lass dich los«, krächzte Alex, und Shaman ließ sich lachend ins Heu fallen.

Alex kroch zu der umgestürzten Flasche und sah sie bedauernd an.

»Alden bekommt einen Anfall, wenn er das sieht.«

»Sag ihm, ich hab’ sie ausgetrunken.«

»Nö. Der glaubt das doch nie«, sagte Alex und setzte die Flasche an die Lippen, um die letzten Tropfen herauszusaugen.

In diesem Herbst regnete es sehr stark. Die Regengüsse überzogen das Land auch noch im Winter mit schweren, silbrigen Vorhängen, doch dazwischen gab es immer wieder schöne Tage, so dass die Flüsse zwar anschwollen und donnernd durch ihr Bett stürzten, aber nicht über die Ufer traten. Die zunächst aufgehäufte Erde über Vickys Grab setzte sich, bis die Stelle von der Umgebung nicht mehr zu unterscheiden war.

Rob J. kaufte für Sarah einen grobknochigen, grauen Wallach. Sie nannten ihn Boss, doch wenn Sarah im Sattel saß, war klar, wer der Boss war.

Rob J. sagte, er wolle die Augen offenhalten nach einem passenden Pferd für Alex. Alex war ihm ehrlich dankbar, denn mit seiner Sparsamkeit war es nicht weit her, und das wenige, das er beiseite legen konnte, war für ein Jagdgewehr reserviert.

»Es kommt mir so vor, als würde ich mich mein ganzes Leben lang nach irgendeinem Pferd umsehen«, sagte Rob J., erwähnte dabei aber nicht, dass er auch nach einem Pferd für Shaman Ausschau halten wollte.

Jeden Dienstag- und Donnerstagnachmittag kam der Postsack aus Rock Island nach Holden’s Crossing. Kurz vor Weihnachten begann Shaman, gespannt auf jede Lieferung zu warten, doch erst in der dritten Februarwoche kamen die ersten Antworten. An diesem Dienstag erhielt er die ersten, fast unhöflich knappen Absagen, eine vom Medical College of Wisconsin, die andere von der medizinischen Fakultät der University of Louisiana. Am Donnerstag erhielt er einen dritten Brief, der ihn darüber aufklärte, dass sein Bildungsstand und seine allgemeinen Voraussetzungen zwar exzellent seien, dass aber das »Rush Medical College of Chicago keine Einrichtungen für Taube« habe.

Einrichtungen? Glaubten die vielleicht, man müsse ihn in einen Käfig sperren?

Sein Vater wusste, dass Post gekommen war, und an Shamans beherrschtem Verhalten merkte er, dass es Ablehnungen gewesen waren. Shaman wollte von seinem Vater nicht mitleidig mit Samthandschuhen angefasst werden, und der tat es auch nicht. Die Absagen schmerzten, doch in den folgenden sieben Wochen kamen keine weiteren Briefe, und das war Shaman vorerst nicht unrecht.

Rob J. hatte Shamans Aufzeichnungen über die Obduktion des Hundes gelesen und fand sie vielversprechend, wenn auch etwas naiv. Er bot Shaman seine eigenen ärztlichen Unterlagen zur Lektüre an, damit er das Abfassen anatomischer Beschreibungen besser lernte, und Shaman las, sooft er dazu Zeit fand, in den Papieren seines Vaters. Durch Zufall stieß er dabei auch auf den Autopsiebericht über Makwa-ikwa. Es war ein eigenartiges Gefühl, das zu lesen, denn er wusste, während die in dem Bericht aufgezählten Entsetzlichkeiten passierten, hatte er als kleiner Junge ganz in der Nähe des Tatorts geschlafen. »Sie wurde ja vergewaltigt! Ich wusste zwar, dass sie ermordet...«

»Vergewaltigt und anal missbraucht. Aber das erzählt man doch einem kleinen Jungen nicht!« sagte sein Vater.

Das stimmte natürlich.

Wie gebannt las Shaman den Bericht mehrere Male. Elf Stichwunden, die in unregelmäßiger Linie vom jugulum am Sternum entlang bis zu einer Stelle etwa zwei Zentimeter unterhalb des Sternfortsatzes verliefen... Dreieckige Wunden, zwischen 0,947 und 0,952 Zentimeter breit. Drei davon im Herzen, 0,887 Zentimeter und 0,799

Zentimeter... die dritte 0,803 Zentimeter. »Warum sind die Wunden unterschiedlich breit?«

»Weil die Waffe offensichtlich vorne spitz zulief. Je heftiger der Stoß, desto größer die Wunde.«

»Glaubst du, dass man den Schuldigen je finden wird?«

»Nein, glaube ich nicht«, erwiderte sein Vater. »Höchstwahrscheinlich waren es drei. Lange Zeit habe ich überall nach einem Mann namens Ellwood R. Patterson gesucht. Aber der ist spurlos verschwunden. Vermutlich war es ein falscher Name. Ein Mann namens Cough war bei ihm. Aber auch von dem konnte ich nirgends eine Spur finden. Dann war da noch ein junger Kerl mit einem großen Muttermal im Gesicht und einer Gehbehinderung. Ich werde jedesmal ganz nervös, wenn ich einen Hinkenden oder einen mit einem Mal im Gesicht sehe. Doch bisher habe ich nur Leute gefunden, die entweder das Mal hatten oder hinkten. Nie beides.

Die Behörden waren nicht daran interessiert, sie zu ergreifen, und jetzt...« Er zuckte mit den Achseln. »Zu viel Zeit ist vergangen, es ist Jahre her.« Shaman glaubte zu merken, dass seinem Vater nur noch eine stille Trauer geblieben war und dass Zorn und Leidenschaft längst ausgebrannt waren.

Eines Tages im April ritten Shaman und sein Vater am katholischen Konvent vorbei. Rob J. lenkte Trude auf den Zuweg, und Shaman folgte ihm etwas verwundert auf Boss.

Als sie das Gebäude betraten, bemerkte Shaman, dass einige Nonnen seinen Vater mit Namen begrüßten und ganz und gar nicht überrascht schienen, ihn zu sehen. Rob stellte ihm Miriam Ferocia vor, die offensichtlich die Leiterin des Klosters war. Sie bot ihnen Plätze an, seinem Vater einen wuchtigen Ledersessel und ihm einen Holzstuhl mit gerader Rückenlehne unter einem Kruzifix, von dem Jesus traurig herabblickte. Eine Nonne brachte ihnen guten Kaffee und warmes Brot.

»Ich muss wohl den Jungen öfters mitbringen«, sagte sein Vater zur Mutter Oberin. »Sonst bekomme ich nämlich kein Brot zum Kaffee.« Shaman erkannte, dass sein Vater ein Mann von überraschender Vielseitigkeit war und dass er ihn vermutlich nie ganz verstehen würde. Shaman hatte gesehen, dass die Nonnen gelegentlich Patienten seines Vaters pflegten und dabei immer paarweise auftraten. Rob J. und die Oberin sprachen kurz über einige Fälle, doch schon bald wandte sich die Unterhaltung der Politik zu, und es wurde deutlich, dass der Besuch privat und rein freundschaftlich war. Rob J. sah zum Kruzifix hinauf. »Die >Chicago Tribune< zitiert Ralph Waldo Emerson mit den Worten, John Brown habe seinem Galgen eine Glorie verliehen, als handle es sich um ein Kreuz«, sagte er.

Miriam Ferocia erwiderte, dass Brown, ein abolitionistischer Eiferer, der gehenkt worden war, weil er in West Virginia ein Waffenlager der Vereinigten Staaten geplündert hatte, für alle Gegner der Sklaverei inzwischen zum Märtyrer geworden sei. »Aber die Sklaverei ist nicht der eigentliche Grund für die Probleme zwischen Nord und Süd. Die Wirtschaft ist der eigentliche Grund. Der Süden verkauft seine Baumwolle und seinen Zucker an England und die übrigen europäischen Staaten, und er kauft Fertigwaren von diesen Ländern anstatt vom industrialisierten Norden. Der Süden ist der Überzeugung, dass er die übrigen Vereinigten Staaten nicht braucht.

Trotz Mr. Lincolns Reden gegen die Sklaverei liegt hier das eigentliche Problem.«

»Mit Wirtschaft kenne ich mich nicht aus«, sagte Shaman nachdenklich. »Ich hätte das Fach dieses Jahr belegt, wenn ich wieder aufs College gegangen wäre.«

Als die Nonne fragte, warum er denn nicht nach Galesburg zurückgekehrt sei, gestand ihr sein Vater, dass Shaman suspendiert worden war, weil er einen Hund seziert hatte.

»Ach, du meine Güte! War er wenigstens schon tot?« fragte sie. Nachdem sie ihr versichert hatten, dass das der Fall gewesen sei, nickte sie zufrieden. »Ja, dann ist es ja in Ordnung. Ich habe auch nie Wirtschaft studiert. Das liegt mir im Blut. Mein Vater hat als Schreiner damit begonnen, Heuwagen zu reparieren. Heute besitzt er ein Wagenbauwerk in Frankfurt und eine Kutschenfabrik in München.« Sie lächelte. »Mein Vater heißt Brotknecht.

Der Name geht zurück auf meine Vorfahren im Mittelalter, die Bäcker waren. In Baden, wo ich Novizin war, gab es aber einen Bäcker, der ausgerechnet Wagenknecht hieß.«

»Was hatten Sie für einen Vornamen, bevor Sie Nonne wurden?« fragte Shaman. Als er sah, dass sie zögerte und sein Vater die Stirn runzelte, wusste er, dass die Frage unhöflich war, doch Miriam Ferocia beantwortete sie ihm trotzdem: »Als ich noch der Welt angehörte, hieß ich Andrea.« Sie stand auf und holte ein Buch vom Regal.

»Das interessiert dich vielleicht«, sagte sie. »Es ist von David Ricardo, einem englischen Ökonomen.«

In dieser Nacht blieb Shaman lange wach, um das Buch zu lesen. Einiges darin war schwierig zu verstehen, doch er begriff, dass Ricardo für den freien Handel zwischen den einzelnen Staaten eintrat, und das war etwas, worauf auch die Südstaaten bestanden. Als er schließlich einschlief, sah er Christus am Kreuz. In seinem Traum verfolgte er, wie die lange, gebogene Nase kürzer und breiter wurde. Die Haut wurde dunkler und röter, die Haare färbten sich schwarz. Weibliche Brüste entwickelten sich, mit dunklen Warzen und runenähnlichen Symbolen. Die Stigmata erschienen. Im Schlaf wusste Shaman, ohne zu zählen, dass es elf Wunden waren, und während er hinsah, quoll Blut aus ihnen, das am Körper hinablief und schließlich von Makwas Füßen tropfte.

Briefe und Notizen

Neunundvierzig Lämmer warfen die Mutterschafe der Coles im Frühjahr 1860, und die ganze Familie half bei den schwierigen Geburten und anschließend beim Kastrieren mit. »Die Herde wird jedes Frühjahr größer«, sagte Alden zu Rob J. mit einer Mischung aus Stolz und Besorgnis. »Sie werden sich überlegen müssen, was wir mit der Menge anfangen sollen.«

Viele Möglichkeiten hatte Rob J. nicht. Schlachten konnten sie nur einige wenige. Ihre Nachbarn hatten kaum Bedarf an zusätzlichem Fleisch, denn die züchteten ihre eigenen Tiere, und bevor man es zum Verkauf in die Stadt bringen konnte, verdarb das Fleisch. Lebendige Tiere konnten transportiert und verkauft werden, aber das war kompliziert und erforderte Zeit, Arbeit und Geld. »Insgesamt gesehen, bringt die Wolle am meisten ein«, sagte Rob J. »Das beste wird es sein, wir behalten die Tiere und verkaufen ihre Wolle, so wie es meine Familie in Schottland immer getan hat.«

»Hm. Dann werden wir mehr Arbeit haben als je zuvor. Und dann werden wir wohl eine Hilfe brauchen«, sagte Alden verlegen, und Shaman fragte sich, ob Alex ihm wohl anvertraut hatte, dass er davonlaufen wolle. »Doug Penfield wäre bereit, stundenweise für Sie zu arbeiten. Hat er mir selber gesagt.«

»Glauben Sie, dass er ein guter Arbeiter ist?«

»Sicher ist er das, er kommt aus New Hampshire. Das ist zwar nicht ganz so, als würd’ er aus Vermont kommen, aber fast so gut.« Rob J. stimmte ihm bei, und Doug Penfield wurde eingestellt.

In diesem Frühjahr freundete sich Shaman mit Lucille Williams an, der Tochter des Hufschmieds Paul Williams.

Lucille hatte einige Jahre lang die Schule in Holden’s Crossing besucht und bei Shaman das Rechnen gelernt.

Inzwischen war sie eine junge Frau geworden. Ihre blonden Haare, die sie zu einem großen Knoten zusammengebunden hatte, waren zwar fahler als die weizenblonden Mähnen der schwedischen Mädchen seiner Träume, aber sie hatte ein hübsches Gesicht und lachte gern. Sooft er sie im Ort traf, blieb er stehen, um sich mit ihr wie mit einer alten Freundin zu unterhalten und sie nach ihrer Arbeit zu fragen. Lucille teilte ihre Zeit zwischen der Pferdebetreuung im Mietstall ihres Vaters und der Mithilfe in Roberta’s Women’s Wear, dem Damenbekleidungsgeschäft ihrer Mutter an der Hauptstraße. Diese Aufteilung gewährte ihr eine gewisse Unabhängigkeit und Freiheit, denn wenn sie in einem Geschäft fehlte, nahm der betroffene Elternteil an, dass sie im anderen arbeite. Als Lucille deshalb Shaman bat, ihr am folgenden Tag um zwei Uhr nachmittags etwas Landbutter zu bringen, war er nervös und aufgeregt.

Sie schärfte ihm ein, sein Pferd vor den Geschäften an der Hauptstraße festzubinden, an der Ecke in die Illinois Avenue einzubiegen und hinter der hohen Fliederhecke, damit man ihn nicht sähe, durch den Garten der Reimers zu schleichen. Über den Lattenzaun in den Hinterhof der Williams und von dort bis zur Hintertür sei es dann ein kurzer Weg.

»Damit die Nachbarn nicht... du weißt schon, auf falsche Gedanken kommen«, sagte sie und senkte den Blick.

Es überraschte ihn nicht, schließlich hatte Alex ihr schon im Jahr zuvor Butter geliefert und ihm dann entsprechend berichtet, aber er hatte gewisse Bedenken: Er war ja nicht Alex.

Am nächsten Tag, der Flieder der Reimers stand in voller Blüte, war der Zaun leicht zu überklettern, und die Hintertür öffnete sich schon nach seinem ersten Klopfen. Lucille war voll überschwenglichen Lobs, wie hübsch die Butter in Tücher eingewickelt sei, die sie zusammenfaltete und mit dem Teller auf den Tisch legte, bevor sie die Butter in den kalten Keller brachte. Danach nahm sie Shaman bei der Hand und führte ihn in ein Zimmer neben der Küche, das offensichtlich Roberta Williams’ Anprobierzimmer war. In einer Ecke lehnte ein halber Ballen Schürzenstoff, auf einem langen Regal lagerten ordentlich aufgerollt Seide, Satin, Drillich und Baumwollgewebe. Neben einem großen Rosshaarsofa stand eine Schneiderpuppe aus Draht und Stoff, die, wie Shaman überrascht und fasziniert feststellte, Hinterbacken aus Elfenbein besaß.

Sie bot ihm ihren Mund für einen einzigen, langen Kuss dar, und dann zogen sich beide rasch aus, wobei sie ihre Kleider in zwei beinahe pedantisch ordentliche Stapel nebeneinander legten, die Strümpfe brav in den Schuhen.

Mit dem Blick des Anatomen bemerkte er, dass ihr Körper nicht gut proportioniert war: Die Schultern waren schmal und hängend, die Brüste nicht mehr als zwei kaum aufgegangene Eierkuchen mit je einem kleinen Sirupklecks und einer bräunlichen Beere in der Mitte, die untere Körperhälfte dagegen war mit ihren breiten Hüften und dicken Schenkeln viel schwerer. Als sie sich umdrehte, um ein grauweißes Laken über das Sofa zu werfen (»Das Rosshaar kratzt so!«), sah er, dass die Kleiderpuppe nicht für Lucilles Röcke gedacht sein konnte, denn dazu hätte sie ausladender geformt sein müssen. Als er dann soweit war, gab es kein Problem. Sie machte es ihm leicht, und er hatte von Alex und anderen schon so viele Geschichten gehört, dass er, auch wenn er das Gelände selbst nicht kannte, eine gute Vorstellung von den Orientierungspunkten hatte. Noch am Tag davor hätte er sich nicht vorzustellen gewagt, dass er auch nur den Elfenbeinhintern der Schneiderpuppe berührte, doch jetzt hielt er warmes, lebendiges Fleisch in den Händen, leckte den Sirup und kostete die Beeren. Sehr schnell und zu seiner großen Erleichterung warf er die Bürde der Keuschheit in einem enormen Erguss ab. Da er nicht hören konnte, was sie ihm ins Ohr keuchte, schärfte er all seine anderen Sinne bis zum äußersten, und sie tat ihm den Gefallen, alle möglichen Stellungen einzunehmen, damit er sie eingehend erkunden konnte, bis er wieder in der Lage war, die soeben gemachte Erfahrung, nun allerdings mit etwas größerer Ausdauer, zu wiederholen. Er hätte gern noch weitergemacht, doch schon bald darauf sah sie auf die Uhr und sprang vom Sofa, da sie, wie sie sagte, das Essen auf dem Tisch haben müsse, wenn ihre Mutter und ihr Vater heimkämen. Während des Anziehens machten sie Pläne für die Zukunft. Sie (und dieses leere Haus) standen tagsüber immer zur Verfügung. Doch leider war das die Zeit, in der Shaman arbeiten musste. Sie einigten sich schließlich darauf, dass Lucille versuchen werde, jeden Dienstag und Donnerstag um zwei Uhr zu Hause zu sein, für den Fall, dass er es schaffte, in die Stadt zu kommen. An diesen Tagen, erklärte er ihr mit Sinn fürs Praktische, könne er gleich die Post mitnehmen. Sie war nicht weniger praktisch veranlagt und gestand ihm, dass sie Fondant liebe, aber den rosafarbenen und nicht den grünen, der nach Pfefferminz schmecke. Er versicherte ihr, dass er den Unterschied kenne. Auf der anderen Seite des Zauns angelangt, spazierte er mit neugewonnener Leichtigkeit an der langen Reihe der blütenschweren Fliederbüsche entlang und sog den schweren Duft ein, der für den Rest seines Lebens ein für ihn höchst erotisierender Geruch bleiben sollte.

Lucille mochte die Glätte seiner Hände, ohne zu wissen, dass sie nur deshalb so weich waren, weil sie die meiste Zeit mit dem lanolinreichen Fettschweiß der Schafwolle in Kontakt waren. Bis weit in den Mai hinein dauerte auf der Farm die Wollschur, wobei Shaman, Alex und Alden den größten Teil der Arbeit erledigten, weil Doug Penfield sich zwar lernwillig zeigte, aber die Schere sehr ungeschickt handhabte. Doug erhielt deshalb die Aufgabe, die Wolle zu zupfen und zu waschen. Wenn er auf die Farm kam, brachte er Nachrichten vom Weltgeschehen mit, darunter auch die, dass die Republikaner Abraham Lincoln als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hatten. Und als die Wolle gerollt, verschnürt und zu Ballen gepackt war, wussten sie auch, dass die Demokraten in Baltimore zusammengekommen waren und nach hitziger Debatte Douglas zu ihrem Kandidaten ernannt hatten. Doch wenige Wochen später beriefen die Demokraten der Südstaaten einen zweiten Parteikongress ein und wählten den Vizepräsidenten John C. Breckinridge zu ihrem Präsidentschaftskandidaten, da er für die Erhaltung des Rechts auf Sklavenbesitz eintrat. Vor Ort waren sich die Demokraten einiger und bestimmten wieder John Kurland, den Anwalt aus Rock Island, dazu, Nick Holden seinen Sitz im Kongress streitig zu machen. Nick war Kandidat sowohl der American Party wie der Republikaner, und er legte sich schwer für Lincoln ins Zeug, weil er hoffte, von der Popularität des Präsidenten zu profitieren. Lincoln hatte die Unterstützung durch die Nichtswisser begrüßt, und das war der Grund, weshalb Rob J. erklärte, er könne den Mann nicht wählen.

Shaman fiel es schwer, der Politik zu folgen. Im Juli erhielt er eine Antwort vom Cleveland Medical College, wieder eine Absage, und gegen Ende des Sommers hatte er auch vom Ohio College of Medicine und von der University of Louisville abschlägige Bescheide bekommen. In der ersten Septemberwoche, an einem Dienstag, an dem Lucille vergeblich auf ihn wartete, kam sein Vater mit der Post nach Hause geritten und gab ihm einen schmalen, braunen Umschlag, dessen Absender die Kentucky School of Medicine war. Er ging damit in den Stall, bevor er ihn aufriss. Er war froh, dass er alleine war, denn das Kuvert enthielt eine weitere Absage, und er legte sich ins Heu und versuchte, die aufsteigende Panik zu bekämpfen. Er konnte immer noch nach Galesburg zurückkehren und das dritte Jahr am Knox College absolvieren. Es wäre risikolos, nichts anderes als die Rückkehr zu einer Routine, von der er wusste, dass sie ihm leichtfiel. Hatte er erst einmal sein Bakkalaureat, konnte das Leben sogar noch aufregend für ihn werden, wenn er in den Osten ging, um Naturwissenschaften zu studieren - vielleicht sogar nach Europa. Kehrte er aber nicht nach Galesburg zurück und nahm keine der medizinischen Fakultäten ihn auf- was würde dann aus seinem Leben werden?

Shaman ging nicht zu seinem Vater, um ihn zu bitten, ihn wieder aufs College zu schicken. Er blieb lange im Heu liegen, und als er dann aufstand, nahm er eine Schaufel und den Schubkarren und begann, den Stall auszumisten, eine Arbeit, die auch eine Antwort darstellte.

Die Auseinandersetzung mit der Politik war unausweichlich. Im November gab Shamans Vater freimütig zu, dass er bei den Wahlen für Douglas gestimmt habe, doch es war Lincolns Jahr, denn die südliche und die nördliche Fraktion mit ihren unterschiedlichen Kandidaten hatten die Demokraten gespalten. Lincoln gewann problemlos. Es war ein kleiner Trost, dass wenigstens Nick Holden sein Amt verlor. »Zumindest haben wir in John Kurland einen guten Kongressabgeordneten«, sagte Rob J., und in der Gemischtwarenhandlung fragte man sich, ob Nick nach Holden’s Crossing zurückkehren und seine Arbeit als Anwalt wieder aufnehmen werde. Die Frage wurde nach wenigen Wochen beantwortet, als Abraham Lincoln einige Ernennungen bekanntgab, die die neue Regierung vornehmen werde. Der ehrenwerte Kongressabgeordnete Nicholas Holden, Held der Sauk-Kriege und eifriger Unterstützer von Mr. Lincolns Kandidatur, war zum Kommissar für Indianerangelegenheiten bestimmt worden. Er hatte die Aufgabe, die Vertragsverhandlungen mit den Stämmen des Westens abzuschließen und ihnen als Gegenleistung für ihr friedliches Verhalten und die Abtretung aller territorialen Ansprüche geeignete Reservate zuzuweisen. Rob J. war wochenlang gereizt und niedergeschlagen.

Es war eine angespannte und unglückliche Zeit für Shaman und eine angespannte und unglückliche Zeit für die Nation, aber viel später sollte Shaman an diesen Winter mit Wehmut zurückdenken und sich an ihn als eine kostbare ländliche Idylle erinnern, die von geschickten, geduldigen Händen in einer Kristallkugel versiegelt worden war: das Haus, der Stall, der eisige Fluss und schneebedeckte Felder; die Schafe, Pferde und Milchkühe; jede einzelne Person; und alle in Sicherheit und dort, wo sie hingehörten.

Aber die Kristallkugel war bereits vom Tisch gestoßen worden und fiel. Wenige Tage nach der Wahl eines Präsidenten, zu dessen Programm die Abschaffung der Sklaverei gehörte, bereiteten die Südstaaten die Sezession vor. South Carolina machte den Anfang, und als zwei Einheiten der United States Army, die in zwei Forts am Hafen von Charleston stationiert waren, im größeren zusammengezogen wurden, sahen sie sich sofort belagert.

In schneller Reihenfolge eroberten Milizen in Georgia, Alabama, Florida, Louisiana und Mississippi Einrichtungen der Vereinigten Staaten, die von den auf Frieden eingestellten offiziellen Truppen trotz teilweise heftiger Gegenwehr nicht gehalten werden konnten.

Liebe Ma, lieber Pa,

ich gehe mit Mal Howard weg, um mich dem Süden anzuschließen. Wir wissen noch nicht genau, in welchem Staat wir uns anwerben lassen. Mal würde gerne nach Tennessee, um bei seinen Verwandten zu kämpfen. Mir ist es ziemlich egal, außer ich kann nach Virginia zu Mas Familie.

Mr. Howard sagt, es ist wichtig, dass die Südstaaten eine schlagkräftige Armee aufstellen, um Lincoln zu zeigen, dass mit ihnen nicht zu spaßen ist. Er meint, Krieg wird’s nicht geben, es ist ja nur ein Familienstreit. Bis zum Frühjahr, wenn die Lämmer kommen, bin ich also längst wieder zurück.

Pa, vielleicht habe ich bis dahin auch schon mein eigenes Pferd und mein eigenes Gewehr!

Euer Euch liebender Sohn

Alexander Bledsoe Cole

Shaman fand in seinem Zimmer noch einen zweiten Brief, eine kurze, auf ein Stück braunes Packpapier gekritzelte Notiz, die, mit dem Gegenstück seines eigenen Taschenmessers beschwert, auf seinem Kopfkissen lag.

Kleiner Bruder,

heb das für mich auf! Ich möcht’s nicht verlieren. Bis bald!

Bigger

Rob J. ging sofort zu Julian Howard, der trotzig und zugleich verlegen zugab, die Jungen am Vorabend direkt nach der Arbeit in seinem Buckboard nach Rock Island gebracht zu haben. »Mein Gott, deswegen brauchen Sie sich doch nicht so aufzuregen! Beide sind erwachsene Jungs, und es ist doch nur ein kleines Abenteuer!« Rob J.

fragte ihn, zu welcher Anlegestelle er sie gebracht habe. Es waren die letzten Worte, die er je zu Julian sagen sollte. Howard sah Rob J. Cole in seiner ganzen furchteinflößenden Größe vor sich stehen, er spürte die Verachtung und die Kälte in der Stimme dieses hochnäsigen Doktors, und er stammelte, dass er sie in der Nähe des Three Star Freight Transport Pier abgesetzt habe. Rob J. ritt direkt dorthin, obwohl kaum Hoffnung bestand, dass er sie noch antreffen würde. Wenn es so kalt gewesen wäre wie in früheren Wintern, hätte er vielleicht mehr Glück gehabt, aber der Fluss war nicht zugefroren, und es herrschte reger Schiffsverkehr. Der Geschäftsführer der Transportgesellschaft sah ihn verwundert an, als er fragte, ob er zwei Jungen bemerkt habe, die auf einem der Flussabwärts fahrenden Kähne oder Flöße Arbeit gesucht hätten.

»Mister, wir hatten gestern an diesem Pier zweiundsiebzig Schiffe zum Be- oder Entladen, und das in der Nebensaison, und wir sind nur eine von vielen Transportgesellschaften am Mississippi. Auf fast allen Kähnen heuern junge Männer an, die irgendwo von zu Hause ausgerissen sind, da achte ich doch nicht auf einzelne«, sagte der Mann nicht unfreundlich.

Für Shaman waren die Südstaaten, die sich einer nach dem anderen abspalteten, wie Maiskörner, die in einer heißen Pfanne aufplatzen. Seine Mutter brachte ihre Tage rotäugig im Beten zu, und sein Vater erledigte seine Hausbesuche mit verkniffenem Gesicht. In Rock Island hatte einer der Futtermittelhändler einen Großteil seiner Vorräte in das Hinterzimmer geräumt und die Hälfte seines Ladens an einen Werber der Armee vermietet.

Shaman ging einmal dorthin, weil er glaubte, bei seiner Kraft und Stärke wenigstens zum Bahrenträger geeignet zu sein, wenn sonst in seinem Leben schon alles schiefging. Aber der Corporal, der die Männer anwarb, zog nur belustigt die Augenbrauen in die Höhe, als er hörte, dass Shaman taub sei, und sagte ihm, er solle wieder nach Hause gehen.

Allmählich bekam Shaman das Gefühl, dass er gar kein Recht habe, sich um sein persönliches Leben solche Sorgen zu machen, während um ihn herum die Welt in Scherben zu gehen drohte. Am zweiten Dienstag im Januar brachte ihm sein Vater einen Brief und am darauffolgenden Donnerstag noch einen. Sein Vater überraschte ihn, weil er noch wusste, dass er dem Sohn neun Schulen empfohlen hatte, und er hatte die Antwortbriefe genau gezählt.

»Das ist der letzte, nicht?« fragte er Shaman nach dem Abendessen. »Ja. Vom Missouri Medical College. Eine Absage«, antwortete Shaman, und sein Vater nickte, ohne Überraschung zu zeigen. »Aber das ist der Brief, der am Dienstag gekommen ist«, sagte Shaman, zog ein Blatt Papier aus der Tasche, faltete es auseinander und reichte es seinem Vater zum Lesen. Das Schreiben war von Dr. Lester Nash Berwyn, dem Dekan der Cincinnati Policlinic Medical School. Er wollte Shaman unter der Bedingung aufnehmen, dass der junge Mann den ersten Studienabschnitt als Probezeit bestand. Das Institut war an das Southwestern Ohio Hospital of Cincinnati angeschlossen und bot eine zweijährige, pro Jahr in vier Abschnitte unterteilte Ausbildung zum Doktor der Medizin an. Der nächste Eintrittstermin war der 24. Januar.

Eigentlich hätte Shaman Freude über seinen Erfolg spüren müssen, doch er wusste, dass seinem Vater bestimmt die Einschränkung »unter der Bedingung« und »Probezeit« auffiel, und er bereitete sich deshalb auf einen Disput vor. Da Alex verschwunden war, wurde er auf der Farm benötigt, doch er war fest entschlossen, ebenfalls wegzugehen und seine Chance zu nutzen. Aus vielen, auch selbstsüchtigen Gründen war er wütend auf seinen Vater, weil er Alex hatte davonlaufen lassen - und er war auch wütend auf seinen Vater, weil der so verdammt sicher war, dass es keinen Gott gab, und nicht begriff, dass die meisten Menschen einfach nicht stark genug waren, um Pazifisten zu sein.

Doch als Rob J. dann den Kopf hob, sah Shaman die Augen und den Mund seines Vaters. Die Erkenntnis, dass Dr. Robert Judson Cole nicht unverletzlich war, traf ihn wie ein Pfeil.

»Alex wird nichts passieren! Er wird alles gut überstehen«, rief er, doch er wusste, dass das nicht die Überzeugung eines verantwortungsbewussten Menschen, eines erwachsenen Mannes, war. Trotz des Zimmers mit der elfenbeinärschigen Puppe und trotz des Briefes aus Cincinnati war es nur das wertlose Versprechen eines verzweifelten Jungen - das wurde ihm schlagartig klar.