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24. Januar 1861
In der Poliklinik
Cincinnati war größer, als Shaman erwartet hatte. Auf den Straßen drängte sich der Verkehr, der Ohio war eisfrei und stark befahren. Aus den hohen Kaminen der Fabriken stiegen furchteinflößende Rauchwolken. Überall wimmelte es von Menschen; er konnte sich gut vorstellen, welchen Lärm sie machten.
Eine Pferdebahn brachte ihn vom Bahnhof am Flussufer direkt zum Gelobten Land an der Ninth Street. Das Southwestern Ohio Hospital bestand aus zwei roten, dreistöckigen Ziegelbauten und einem hölzernen, zweistöckigen Seuchenhaus. Auf der anderen Straßenseite befand sich in einem weiteren Ziegelgebäude mit einem gläsernen Kuppeldach die Medical School der Poliklinik von Cincinnati. Im Vorlesungsgebäude sah Shaman schäbige Unterrichtsräume und Hörsäle. Er fragte einen Studenten nach dem Büro des Dekans und wurde über eine Eichentreppe in den ersten Stock geschickt. Dr. Berwyn war ein herzlicher Mann mittleren Alters mit einem weißen Schnurrbart und einem im milden Licht der hohen, schmutzigen Fenster schimmernden Kahlkopf. »Ach, Sie sind also Cole.«
Er bot Shaman einen Sessel an. Es folgte eine kurze Ansprache über die Geschichte der medizinischen Fakultät, die Pflichten eines guten Arztes und die Notwendigkeit konzentrierten Studierens. Shaman merkte, dass es eine Standardbegrüßung war, die jeder Student zu hören bekam, doch der Schlusssatz war dann speziell auf ihn zugeschnitten. »Sie dürfen sich nicht einschüchtern lassen von der Bedingung, die an Ihre Aufnahme geknüpft ist«, sagte Dr. Berwyn vorsichtig formulierend. »In gewisser Hinsicht ist jeder Student nur zur Probe da und muss beweisen, dass er ein würdiger Kandidat ist.« In gewisser Hinsicht! Shaman hätte wetten mögen, dass nicht jeder Student schriftlich über diese Zulassungsbedingung informiert worden war. Trotzdem dankte er dem Dekan höflich. Dr. Berwyn führte ihn ins Wohnheim, ein dreistöckiges Holzhaus, das sich hinter dem Schulgebäude versteckte. Der Belegungsplan an der Wand der Eingangshalle informierte ihn, dass Cole, Robert J, in Zimmer 2-B einquartiert war, zusammen mit Cooke, Paul P., Torrington, Ruel und Henried, William.
2-B war ein kleines Zimmer, das von zwei Stockbetten, zwei Schreibtischen und einem Tisch mit vier Stühlen fast völlig ausgefüllt wurde. Auf einem der Stühle saß ein dicker Junge, der sofort zu schreiben aufhörte, als Shaman ins Zimmer trat. »Hallo! Ich bin P.P. Cooke aus Xenia. Billy Henried holt gerade seine Bücher. Also musst du entweder Torrington aus Kentucky oder der taube Knabe sein.« Shaman lachte, alle Spannung war plötzlich von ihm gewichen. »Ich bin der taube Knabe«, sagte er. »Macht’s dir was aus, wenn ich dich Paul nenne?«
An diesem Abend beobachteten sie sich gegenseitig, und sie zogen ihre Schlüsse. Cooke war der Sohn eines Futtermittel- und Getreidehändlers und, seiner Kleidung und seinem Gepäck nach zu urteilen, sehr wohlhabend.
Shaman merkte, dass er daran gewöhnt war, den Narren zu spielen, vielleicht wegen seiner Körperfülle. Aus seinen braunen Augen strahlte jedoch eine wache Intelligenz, der nichts entging. Billy Henried war mager und still. Er erzählte ihnen, er sei auf einer Farm in der Nähe von Columbus aufgewachsen und habe zwei Jahre lang ein Theologieseminar besucht, bevor er zu der Einsicht kam, dass der Priesterberuf nichts für ihn sei. Ruel Torrington, der erst nach dem Abendessen eintraf, war eine Überraschung: Er war doppelt so alt wie seine Zimmerkollegen und bereits ein erfahrener Mediziner. Nachdem er schon in jungen Jahren bei einem Arzt in die Lehre gegangen war, hatte er jetzt beschlossen, Medizin zu studieren, um wirklich ein »Doktor« zu sein.
Die drei anderen in 2-B freuten sich anfangs über sein Vorleben, da sie glaubten, es könne nur von Vorteil sein, gemeinsam mit einem erfahrenen Arzt zu studieren, doch Ruel Torrington war schlechter Stimmung, als er ankam, und seine Laune änderte sich auch nicht, solange sie ihn kannten. Es war nur noch das oberste Bett an der Wand frei, aber das behagte Torrington nicht. Er ließ es sich deutlich anmerken, dass er Cooke nicht mochte, weil der fett war, Shaman nicht, weil er taub war, und Henried nicht, weil er Katholik war. Seine Feindseligkeit schweißte die drei anderen von Anfang an zu einer Allianz zusammen, und sie ließen ihn bald links liegen.
Cooke war schon mehrere Tage in Cincinnati und hatte einige Dinge in Erfahrung gebracht, die er nun den anderen mitteilte. Der Lehrkörper der Schule stehe allgemein in hohem Ansehen, doch es gebe zwei Sterne an diesem akademischen Firmament, die alle anderen überstrahlten. Der eine sei der Professor für Chirurgie, Dr.
Berwyn, der auch als Dekan fungierte, der andere Dr. Barnett A. McGowan, ein Pathologe, der das gefürchtete Fach »A&P« unterrichtete, Anatomie und Physiologie. »Hinter seinem Rücken nennen sie ihn Barney«, vertraute Cooke den anderen an. »Angeblich fallen bei ihm mehr Studenten durch als bei allen anderen Lehrern zusammen.«
Am nächsten Morgen ging Shaman zu einer Sparkasse und zahlte den Großteil des Geldes, das er mitgebracht hatte, auf ein Konto ein. Zusammen mit seinem Vater hatte er seinen finanziellen Bedarf sehr sorgfältig geplant.
Das Schulgeld belief sich auf sechzig Dollar pro Jahr beziehungsweise fünfzig Dollar, wenn im voraus bezahlt wurde. Dazu kamen das Geld für Unterkunft, Verpflegung und Fahrten sowie andere Ausgaben. Rob J. hätte seinem Sohn gern alles Notwendige bezahlt, aber Shaman hatte hartnäckig darauf bestanden, sein Medizinstudium selbst zu finanzieren, da es seine Idee gewesen war. Sie einigten sich schließlich auf einen Vertrag, in dem Shaman versprach, nach seiner Promotion jeden Dollar zurückzuzahlen. Von der Sparkasse ging er direkt zum Kämmerer der Schule, um das Schulgeld zu bezahlen. Es ermunterte ihn nicht gerade, als der ihm erklärte, wenn er aus gesundheitlichen Gründen die Schule wieder verlassen müsse, könne ihm das Geld nur teilweise zurückerstattet werden.
Die erste Vorlesung, die er als Medizinstudent besuchte, war ein einstündiger Vortrag über Frauenleiden. Schon im College hatte Shaman die Erfahrung gemacht, dass es für ihn sehr wichtig war, früh zu erscheinen, um einen Platz weit vorne zu bekommen, von dem aus er gut von den Lippen ablesen konnte. Er war deshalb so früh im Hörsaal, dass er einen Platz in der ersten Reihe bekam, und das war ein Glück, denn Professor Harold Meigs trug sehr schnell vor. Shaman hatte gelernt, sich Notizen zu machen, ohne auf das Papier zu sehen Er schrieb sorgfältig, weil er wusste, dass Rob J. seine Skripten würde lesen wollen, um zu sehen, was es in der Medizinerausbildung Neues gab.
In der nächsten Stunde, Chemie, zeigte es sich, dass er genügend Laborerfahrung für das Medizinstudium hatte.
Das freute ihn und regte seinen Appetit sowohl auf das Mittagessen wie auf die Arbeit an. Im Speisesaal des Krankenhauses schlang er einige Kräcker und eine Fleischsuppe hinunter, die alles andere als köstlich war. Dann eilte er in Cruikshank’s Bookstore, die Buchhandlung, die die Medical School belieferte. Dort lieh er sich ein Mikroskop aus und kaufte die Bücher, die er brauchte: Dunglisons »Grundlagen der Therapeutik und Materia Medica«, McGowans »Menschliche Physiologie«, Quains »Anatomische Tafeln«, Berwyns »Praxis der Chirurgie«, Fownes »Chemie« und zwei Bücher von Meigs: »Die Frau, ihre Krankheiten und Heilmethoden«
sowie »Kinderkrankheiten«.
Während der betagte Verkäufer die Rechnung erstellte, sah Shaman sich um und bemerkte Dr. Berwyn im Gespräch mit einem kleinen, finster dreinblickenden Mann, dessen gepflegter Bart und Haare graumeliert waren.
Die Haarpracht des Mannes stand im Gegensatz zu Berwyns Kahlköpfigkeit. Es sah so aus, als stritten die beiden, offenbar jedoch mit gesenkter Stimme, da keiner der Umstehenden Notiz von ihnen nahm.
Dr. Berwyn stand halb von Shaman abgewandt, der andere Mann jedoch präsentierte ihm sein Gesicht, und so las Shaman von seinen Lippen ab, mehr aus einem Reflex heraus denn aus dem Wunsch, das Gespräch zu belauschen.
»... weiß, dass dieses Land in den Krieg ziehen wird. Ich bin mir auch durchaus bewusst, dass wir heuer nur zweiundvierzig anstatt der üblichen sechzig Studenten haben und dass sich einige von ihnen in die Schlacht flüchten werden, wenn ihnen das Medizinstudium zu anstrengend wird. Doch gerade in solchen Zeiten müssen wir uns davor hüten, unser Niveau zu senken. Harold Meigs hat mir mitgeteilt, dass Sie einige Studenten aufgenommen haben, die Sie letztes Jahr noch abgewiesen hätten. Soweit ich weiß, soll darunter sogar ein Taubstummer...«
Es war ein Glück für Shaman, dass der Verkäufer in diesem Augenblick seinen Arm berührte und ihm die fällige Summe zeigte. »Wer ist dieser Gentleman, der da drüben mit Dr. Berwyn spricht?« fragte Shaman, ein Stummer, der seine Stimme wiedergefunden hatte. »Das ist Dr. McGowan, Sir«, erwiderte der Verkäufer, und Shaman nickte, nahm seine Bücher und ging schnell aus dem Laden.
Einige Stunden später saß Professor Barnett Alan McGowan an seinem Schreibtisch im Obduktionssaal des Vorlesungsgebäudes und übertrug flüchtige Notizen in Aktenformulare. All die Berichte in diesen Akten handelten vom Tod, da Dr. McGowan selten mit einem lebenden Patienten zu tun hatte. Weil einige Leute nicht gerne mit dem Tod in Berührung kamen, war er inzwischen daran gewöhnt, Arbeitsplätze zugewiesen zu bekommen, die den Blicken der Öffentlichkeit verborgen blieben. Im Krankenhaus, dessen Chefpathologe er war, lag der Obduktionssaal im Keller des Hauptgebäudes. Obwohl er ganz in der Nähe des vielbenutzten, geklinkerten Tunnels lag, der unter der Straße das Krankenhaus mit dem Vorlesungsgebäude verband, war es ein düsterer Ort, dem nur die Röhren, die seine niedere Decke überzogen, eine gewisse traurige Individualität verliehen.
Das Anatomielabor der Fakultät befand sich im hinteren Teil des Vorlesungsgebäudes im ersten Stock. Zu erreichen war es sowohl über den zentralen Korridor wie über eine separate Treppe. Ein hohes, vorhangloses Fenster warf bleiernes Winterlicht in den langen, schmalen Raum. Das eine Ende des Saals schloss gegenüber dem Tisch des Professors ein kleines Amphitheater ab, dessen aufsteigende Stuhlreihen in ihrer Enge zwar nicht bequem, aber der Konzentration sehr förderlich waren. In der Mitte des Saales standen ein großer Behälter mit Lake voller menschlicher Leichenteile und ein Tisch mit Reihen von Sezierinstrumenten. Etwas abseits lag, auf einem Brett über Sägeböcken, die Leiche einer jungen Frau, die mit einem sauberen weißen Tuch zugedeckt war.
Die Angaben über diese Leiche waren es, die der Professor eben in seine Akten übertrug.
Zwanzig Minuten vor der vollen Stunde kam ein einzelner Student ins Labor. Der Professor sah nicht auf, um den großgewachsenen jungen Mann zu begrüßen, sondern tauchte seine Stahlfeder in die Tinte und schrieb weiter, während der Student direkt zum Mittelplatz in der vordersten Reihe des Amphitheaters ging und ihn mit seinem Notizblock belegte. Er setzte sich nicht, sondern schlenderte durch das Labor und sah sich um.
Vor dem Lakebehälter blieb er stehen, nahm zu Dr. McGowans Verblüffung den langen Holzstab mit dem Eisenhaken an einem Ende und fischte mit ihm zwischen den Leichenteilen herum wie ein Junge, der an einem Teich spielt. In den neunzehn Jahren, die Dr. McGowan nun schon Einführungsvorlesungen in Anatomie hielt, hatte er so etwas noch nie erlebt. Für gewöhnlich trugen neue Studenten einen ungeheuren Respekt zur Schau, wenn sie den Anatomiesaal zum erstenmal betraten. Die meisten bewegten sich langsam, einige ängstlich.
»Hallo, Sie da! Hören Sie sofort auf! Legen Sie den Haken weg!« befahl McGowan.
Der Student reagierte nicht, auch nicht, als der Professor laut in die Hände klatschte, und plötzlich wusste Dr.
McGowan, wen er vor sich hatte. Er erhob sich, setzte sich dann aber wieder, denn er war neugierig, wie es weitergehen würde.
Der junge Mann schien in dem Behälter etwas zu suchen. Die meisten Leichenteile waren alt, viele waren schon von anderen Studenten aufgeschnitten worden. Dieser allgemeine Zustand der Verstümmelung und des Zerfalls war der Hauptgrund für das Entsetzen unter den Erstsemestern. Dr. McGowan sah, dass der Student eine Hand an die Oberfläche zog, dann ein ramponiertes Bein. Zum Schluss hob er einen Unterarm mit Hand heraus, der offensichtlich in einem besseren Zustand war als der Rest der Präparate. Dr. McGowan beobachtete, wie der Student seinen Fang mit dem Stock in die rechte obere Ecke des Tanks manövrierte und ihn dann mit einigen unansehnlicheren Stücken bedeckte. Er versteckte das Präparat!
Gleich darauf legte der Student den Stab wieder an seinen Platz und ging zu dem Tisch, um die Schärfe der Skalpelle zu prüfen. Als er eins gefunden hatte, das ihm zusagte, rückte er es leicht von den anderen ab und ging dann zu seinem Platz.
Dr. McGowan beschloss, ihn nicht zu beachten, und schrieb die nächsten zehn Minuten weiter in seine Akten.
Nach und nach kamen die anderen Studenten ins Labor und gingen schnurstracks zu ihren Plätzen. Einige waren bereits blass, denn die Gerüche im Saal förderten Ängste und Zwangsvorstellungen.
Pünktlich zur vollen Stunde legte Dr. McGowan die Feder weg und stellte sich vor den Tisch. »Gentlemen«, sagte er. Sobald im Saal Stille herrschte, stellte er sich vor. »In diesem Kurs studieren wir die Toten, um mehr über die Lebenden zu erfahren und ihnen helfen zu können. Die ersten Berichte über solche Studien reichen zurück bis zu den frühen Ägyptern. Sie sezierten die Leichen der Unglücklichen, die als Menschenopfer getötet wurden. Doch die eigentlichen Väter der anatomischen Wissenschaft sind die alten Griechen. In Alexandria gab es eine berühmte medizinische Akademie, in der Herophilus von Chalcedon die menschlichen Organe und Eingeweide erforschte. Er gab dem Calamus scriptorius und dem Duodenum ihre Namen.«
Dr. McGowan war sich bewusst, dass der junge Mann auf dem Mittelplatz der ersten Reihe seinen Mund nicht aus den Augen ließ, er hing förmlich an seinen Lippen. In schwungvoller Rede berichtete der Professor vom Verschwinden der Anatomie in der abergläubischen Finsternis des Mittelalters und von ihrer Renaissance im siebzehnten Jahrhundert. Der Schlussteil seiner Vorlesung handelte davon, dass der Wissenschaftler einen Körper, den die Seele verlassen hat, ohne Furcht, aber mit Achtung behandeln müsse. »In meinen Studententagen in Schottland pflegte mein Professor den Körper nach dem Tod mit einem Haus zu vergleichen, dessen Besitzer ausgezogen ist. Er sagte, die Leiche müsse mit Sorgfalt und Würde behandelt werden, aus Respekt vor der Seele, die in diesem Haus gewohnt hat.« Dr. McGowan ärgerte sich, als er sah, dass der Junge in der ersten Reihe lächelte. Dann befahl er den Studenten, sich je ein Präparat aus dem Behälter und ein Skalpell zu nehmen, das anatomische Objekt zu sezieren und eine Zeichnung davon anzufertigen, die am Ende der Stunde abgegeben werden solle. Wie immer in der ersten Stunde gab es einen Augenblick des Zögerns, in dem die Studenten ihren Widerwillen überwinden mussten. Aber auch jetzt machte der junge Mann, der als erster den Hörsaal betreten hatte, den Anfang, denn er stand sofort auf und holte sich das beiseite geschaffte Präparat aus dem Behälter sowie das scharfe, leicht abgerückte Skalpell vom Tisch. Während die anderen noch in der Lake herumstocherten, richtete er sich bereits an dem Seziertisch mit dem besten Licht ein. Dr. McGowan wusste sehr gut, welche Belastung diese erste Anatomiestunde für die Studenten darstellte. Er war an den süßlichen Geruch gewöhnt, der aus dem Behälter hochstieg, aber er kannte auch dessen Wirkung auf Uneingeweihte. Einige der Studenten standen vor einer fast unlösbaren Aufgabe, denn viele Präparate waren in einem so schlechten Zustand, dass sie kaum gut seziert und präzise gezeichnet werden konnten, und er zog das mit in Betracht. Die Übung war als Disziplinarmaßnahme gedacht gleich der Feuertaufe frischer Soldaten. Es war eine Probe ihrer Fähigkeit, Unangenehmes und Widerwärtiges zu ertragen, und die herbe, aber notwendige Botschaft, dass die Arbeit eines Arztes sich nicht im Kassieren von Honoraren und dem Genuss einer angesehenen Stellung in der Gesellschaft erschöpfte. Nach wenigen Minuten hatten bereits einige den Raum verlassen, darunter ein junger Mann, der in größter Eile hinausstürzte. Doch zu Dr. McGowans Befriedigung kehrten nach einer Weile alle wieder zurück. Fast eine Stunde lang ging er zwischen den Tischen umher und überwachte den Fortschritt ihrer Arbeit. Unter den Studenten waren einige reife Männer, die nach einer Lehrzeit bereits Medizin praktiziert hatten; denen blieben die Übelkeitsanfälle weitgehend erspart. Aus Erfahrung wusste Dr. McGowan, dass einige von ihnen hervorragende Ärzte werden würden, doch als er sah, wie einer dieser Älteren, ein Mann namens Ruel Torrington, eine Schulter attackierte, seufzte er nur, denn er dachte an die chirurgischen Katastrophen, die dieser Mann hinterlassen haben musste.
Am letzten Tisch, an dem ein dicker Student schwitzend einen Kopf bearbeitete, der fast nur noch Schädel war, blieb er einen Augenblick länger stehen. Dem Dicken gegenüber saß der Taube. Er besaß offensichtlich bereits Erfahrung, denn er hatte das Skalpell geschickt dazu benutzt, den Arm in Schichten zu öffnen. Diese Geschicklichkeit deutete auf ein anatomisches Vorwissen hin, das McGowan ebenso freute wie überraschte. Er sah, dass die Gelenke, Muskeln, Nerven und Blutgefäße in der Zeichnung sauber dargestellt und beschriftet waren. Eben schrieb der junge Mann seinen Namen auf das Blatt und reichte es dem Professor: Cole, Robert J.
»Ja. Ah, Cole, in Zukunft sollten Sie etwas größer schreiben!«
»Ja, Sir«, sagte Cole laut und deutlich. »Sonst noch etwas?«
»Nein. Sie können Ihr Präparat in den Behälter zurücklegen und Ihren Platz säubern. Danach können Sie gehen.«
Diese Entlassung verleitete einige Studenten dazu, ihr Blatt ebenfalls abzugeben, doch Dr. McGowan schickte sie alle mit Verbesserungsvorschlägen zurück. Während er sich mit den Studenten unterhielt, beobachtete er Cole. Nachdem der Taube sein Präparat in den Behälter zurückgelegt hatte, wusch und trocknete er sein Skalpell ab und legte es an seinen Platz zurück. Er trug eine Schüssel mit Wasser zum Seziertisch und schrubbte den Teil, den er benutzt hatte. Dann nahm er frisches Wasser und Kernseife und wusch sich gründlich Hände und Arme, bevor er die Ärmel herunterkrempelte.
Beim Hinausgehen blieb Cole kurz bei dem dicken Jungen stehen und studierte dessen Zeichnung. Dr.
McGowan sah, dass er sich hinunterbeugte und etwas flüsterte. Aus dem Gesicht des anderen Jungen wich ein Teil der Verzweiflung, und er nickte, als Cole ihm auf die Schulter klopfte. Dann machte sich der Dicke wieder an die Arbeit, und der Taube verließ den Saal.
Herztöne
Für Shaman war die Medical School beinahe wie ein weit entferntes, fremdes Land, in das nur gelegentlich beängstigende Gerüchte über den bevorstehenden Krieg in den Vereinigten Staaten drangen. Er hörte von einer Friedenskonferenz in Washington, D.C., an der einhunderteinunddreißig Delegierte aus einundzwanzig Staaten teilnehmen sollten. Doch am Morgen der Eröffnung dieser Konferenz konstituierte sich in Montgomery, Alabama, der Provisorische Kongress der Konföderierten Staaten von Amerika. Einige Tage später stimmten die Konföderierten für einen Abfall von den Vereinigten Staaten, und im ganzen Land setzte sich die erschreckende Erkenntnis durch, dass es Krieg geben werde.
Shaman konnte den Problemen der Nation allerdings nur flüchtige Aufmerksamkeit schenken, er kämpfte seinen ganz persönlichen Überlebenskampf. Glücklicherweise war er ein guter Student. Nachts saß er über seinen Büchern, bis er nichts mehr sah, und fast jeden Morgen lernte er schon vor dem Frühstück einige Stunden. Die Vorlesungen wurden montags bis samstags von zehn bis eins und von zwei bis fünf gehalten. Oft fanden sie vor oder während der Behandlungszeiten in den sechs Spezialkrankenhäusern statt, die der Poliklinik ihren Namen gaben: am Dienstagnachmittag Erkrankungen der Brust; am Dienstagabend Geschlechtskrankheiten; am Donnerstagnachmittag Kinderkrankheiten; am Donnerstagabend Frauenleiden; am Samstagvormittag Chirurgie; und am Samstagnachmittag Allgemeinmedizin. Am Sonntagnachmittag beobachteten die Studenten die Arbeit der Ärzte auf den Stationen.
An Shamans sechstem Samstag in der Poliklinik referierte Dr. Meigs über den Gebrauch des Stethoskops. Meigs hatte in Frankreich bei Ärzten studiert, die vom Erfinder dieses Instruments persönlich unterrichtet worden waren. Er erzählte den Studenten, dass eines Tages im Jahr 1816 ein Arzt namens Rene Laennec, weil er sein Ohr nicht an die Brust einer großbusigen und verlegenen Patientin legen wollte, ein Blatt Papier zusammenrollte und die so entstandene Röhre mit einem Faden zusammenband. Als Laennec das eine Ende der Röhre an die Brust der Patientin hielt und am anderen Ende horchte, stellte er überrascht fest, dass er auf diese Weise nicht schlechter hörte, sondern die Geräusche sogar verstärkt an sein Ohr drangen. Meigs berichtete weiter, dass Stethoskope bis vor kurzem nur einfache Holzröhren gewesen seien, durch die der Arzt nur mit einem Ohr hören konnte. Er selbst besaß jedoch eine modernere Version des Instruments, bestehend aus einer Röhre aus gewirkter Seide mit einer Gabelung und zwei Hörenden aus Elfenbein für beide Ohren. Bei den Patientenuntersuchungen nach den Vorlesungen benutzte Dr. Meigs ein Stethoskop mit einer zusätzlichen Röhre, so dass der Professor und ein Student gleichzeitig auf die Brustgeräusche eines Patienten lauschen konnten. Jeder Student erhielt Gelegenheit zum Horchen, doch als Shaman an die Reihe kam, sagte er dem Medizinprofessor, es habe keinen Zweck. »Ich würde nichts hören.«
Dr. Meigs spitzte die Lippen. »Sie müssen es zumindest versuchen.« Umständlich erklärte er Shaman, wie er sich das Instrument ans Ohr zu halten habe. Aber Shaman konnte nur den Kopf schütteln. »Es tut mir leid«, sagte Professor Meigs.
Eine Prüfung in medizinischer Praxis stand bevor. Dabei musste jeder Student einen Patienten mit einem Stethoskop untersuchen und eine Diagnose abgeben. Es war klar, dass Shaman diese Prüfung nicht würde bestehen können.
An einem kalten Morgen brach er, dick eingepackt in Mantel, Schal und Handschuhe, zu einem längeren Spaziergang auf. An einer Ecke verkaufte ein Junge Zeitungen, die von Lincolns Amtseinsetzung berichteten.
Tief in Gedanken versunken, ging Shaman zum Fluss hinunter und an den Piers entlang.
Nach seiner Rückkehr ging er ins Krankenhaus und musterte das Pflegepersonal auf den Stationen. Es waren überwiegend Männer und viele davon Säufer, die es ins Krankenhaus verschlagen hatte, weil hier keine großen Ansprüche an sie gestellt wurden. Er konzentrierte sich auf die, die einen nüchternen und intelligenten Eindruck machten, und entschied sich schließlich für einen Mann namens Jim Halleck. Er wartete, bis der Pfleger einen Armvoll Holz in den Krankensaal getragen und neben dem dickbäuchigen Ofen auf den Boden geworfen hatte, und sprach ihn dann an. »Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen, Mr. Halleck.«
Am Prüfungsnachmittag waren sowohl Dr. McGowan wie Dr. Berwyn im allgemeinmedizinischen Behandlungsraum anwesend, was Shamans Nervosität noch erhöhte. Dr. Meigs prüfte die Kandidaten in alphabetischer Reihenfolge. Shaman war der dritte, nach Allard und Bronson. Israel Allard hatte keine Probleme; seine Patientin war eine junge Frau mit einem Rückenleiden, deren Herztöne stark, regelmäßig und unkompliziert waren. Clark Bronson erhielt einen älteren, asthmatischen Mann zur Untersuchung. Stotternd und unsicher beschrieb er die Rasselgeräusche in der Brust des Patienten. Meigs musste ihm mehrere hinführende Fragen stellen, bis er die Antwort bekam, die er hören wollte, doch am Ende schien er zufrieden. »Mr. Cole?«
Es war offensichtlich, dass er von Shaman eine Verweigerung der Teilnahme erwartete. Aber Shaman trat vor und nahm das einohrige Stethoskop entgegen. Als er zu Jim Halleck hinüberblickte, stand der Pfleger auf und kam zu ihm. Der Patient war ein sechzehnjähriger Junge von kräftiger Statur, der sich in einer Schreinerwerkstatt die Hand verletzt hatte. Halleck hielt das eine Ende des Stethoskops an die Brust des Jungen und legte sein Ohr ans andere Ende. Shaman nahm das Handgelenk des Patienten und fühlte dessen Puls unter seinen Fingerspitzen klopfen.
»Der Herzschlag des Patienten ist normal und regelmäßig. Achtundsiebzig Schläge pro Minute«, sagte er nach einer Weile. Dann sah er den Pfleger fragend an, der nur leicht den Kopf schüttelte. »Keine Rasselgeräusche«, sagte Shaman.
»Was soll denn dieses... Theater?« fragte Dr. Meigs. »Was hat Jim Halleck hier zu suchen?«
»Mr. Halleck ersetzt mir meine Ohren, Sir«, sagte Shaman und hatte dabei das Pech, das breite Grinsen auf den Gesichtern einiger Studenten zu bemerken.
Dr. Meigs grinste nicht. »Ich verstehe. Er ersetzt Ihre Ohren. Werden Sie denn Mr. Halleck heiraten, Mr. Cole, um ihn zu allen Behandlungen mitnehmen zu können?«
»Nein, Sir.«
»Werden Sie dann andere Leute bitten, Ihnen die Ohren zu ersetzen?«
»Vielleicht werde ich das, hin und wieder.«
»Und wenn Sie als Arzt zu jemandem kommen, der Ihre Hilfe braucht, und Sie sind ganz allein, nur Sie und der Patient?«
»Ich kann den Herzschlag anhand des Pulses feststellen«, Shaman legte zwei Finger auf die Halsschlagader an der Kehle des Patienten, »und spüren, ob er normal, unregelmäßig oder schwach ist.« Er spreizte die Finger und legte sie dem Jungen auf die Brust. »Ich kann die Atmungsrate spüren. Und die Haut sehen und sie berühren, um festzustellen, ob sie fiebrig oder kühl ist, feucht oder trocken. Ich kann die Augen sehen. Wenn der Patient wach ist, kann ich mit ihm sprechen, und ob er nun bei Bewusstsein ist oder nicht, kann ich die Konsistenz seines Sputums feststellen und die Farbe seines Urins sehen und ihn riechen, ja, ihn sogar kosten, wenn ich muss.« Er sah dem Gesicht des Professors den Einwurf an, den dieser gleich machen würde, und er nahm ihn vorweg:
»Aber ich werde nie in der Lage sein, die Rasselgeräusche in der Brust zu hören.«
»Nein, das werden Sie nicht.«
»Für mich werden Rasselgeräusche kein Warnsignal sein. Wenn ich das Frühstadium kruppöser Atmung sehe, weiß ich, dass die Rasselgeräusche in der Brust, könnte ich sie hören, knisternd klingen müssten. Wenn der Patient deutlich kruppös atmet, weiß ich, dass ein feuchtsprudelndes Rasseln zu hören wäre. Und wenn Asthma oder eine Infektion der Bronchien vorliegt, weiß ich, dass es zischendes Rasseln sein muss.« Er hielt inne und sah Dr. Meigs direkt an. »Gegen meine Taubheit kann ich nichts tun. Die Natur hat mich eines wertvollen diagnostischen Hilfsmittels beraubt, aber ich habe noch andere Sinne. In einem Notfall würde ich alles für einen Patienten tun, was ich mit meinen Augen, meiner Nase, meinem Mund, meinen Fingern und mit meinem Verstand für den Patienten tun kann.« Das war nicht die bescheiden-respektvolle Antwort, die Dr. Meigs von einem Studenten im ersten Jahr erwartet hätte, und seinem Gesicht war die Verärgerung anzusehen. Dr.
McGowan trat zu ihm, beugte sich über seinen Stuhl und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Kurz darauf wandte Dr.
Meigs sich wieder Shaman zu. »Es wurde vorgeschlagen, dass wir Sie beim Wort nehmen und Sie einen Patienten ohne Stethoskop untersuchen lassen. Ich bin bereit dazu, wenn Sie einverstanden sind.«
Shaman nickte, obwohl ihm das Herz in die Hose rutschte. Der Professor führte sie in einen nahe gelegenen Krankensaal, wo er vor einem Patienten stehenblieb, dessen Karte am Fuß des Bettes ihn als Arthur Herrenshaw auswies. »Bitte, untersuchen Sie diesen Patienten, Mr. Cole!«
Shaman sah schon Arthur Herrenshaws Augen an, dass der Mann in ernster Gefahr war. Er zog die Bettdecke zurück und hob das Nachthemd hoch. Der Körper des Patienten wirkte extrem fett, doch als Shaman eine Hand auf Mr. Herrenshaws Bauch legte, war es, als berühre er aufgequollenen Hefeteig. Vom Hals, an dem herausstehende Adern pulsierten, bis zu den formlosen Knöcheln war das geschwollene Gewebe angefüllt mit Flüssigkeit. Das Atmen machte dem Patienten große Mühe. »Wie geht es Ihnen heute, Mr. Herrenshaw?«
Er musste die Frage mit lauterer Stimme wiederholen, bevor der Patient mit einem schwachen Kopfschütteln antwortete. »Wie alt sind Sie, Sir?«
»... Ich... zweiund... fünfzig.« Der Patient keuchte schwer zwischen den einzelnen Silben, wie ein Mann, der eine lange Strecke gelaufen ist. »Haben Sie Schmerzen... Sir? Haben Sie Schmerzen?«
»Oh...«, sagte der Patient und legte die Hand auf das Brustbein. Shaman sah, dass er versuchte, sich aufzurichten. »Wollen Sie sich aufsetzen?« Er half ihm und stützte ihn mit Kissen ab. Mr. Herrenshaw schwitzte stark, zitterte aber gleichzeitig. Die einzige Wärmequelle in diesem Teil des Krankensaals war ein großes, schwarzes Ofenrohr, das, von dem Holzofen am anderen Ende kommend, entlang der Mitte der Saaldecke verlief. Shaman zog Mr. Herrenshaw die Bettdecke über die Schultern. Er holte seine Uhr aus der Tasche. Als er den Puls des Patienten maß, war es, als gehe plötzlich der Sekundenzeiger langsamer. Der Puls war schwach, fadenförmig und unglaublich schnell wie das verzweifelt hastende Trappeln eines kleinen Tieres auf der Flucht vor einem Räuber. Shaman konnte kaum schnell genug zählen. Das Tier wurde langsamer, blieb stehen, machte ein paar langsame Sprünge und fing dann wieder an zu rennen. Shaman wusste, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war, an dem Dr. Meigs das Stethoskop benutzen würde. Er konnte sich die interessanten, tragischen Geräusche vorstellen, die Geräusche eines Mannes, der in seiner eigenen Körperflüssigkeit ertrinkt. Er nahm Mr.
Herrenshaws Hände in die seinen und erschrak, als er die traurige Botschaft spürte. Ohne zu wissen, was er tat, legte er dem Mann die Hand auf die gebeugte Schulter, bevor er sich abwandte. Sie kehrten in das Behandlungszimmer zurück, um Shamans Diagnose zu hören. »Ich weiß nicht, was die Flüssigkeitsansammlung im Gewebe verursacht hat. Ich habe noch nicht die Erfahrung, um das zu begreifen. Aber der Puls des Patienten war schwach und fadenförmig. Unregelmäßig. Die Herztätigkeit ist stark gestört, wenn es rast, schlägt es einhundertdreißigmal pro Minute.« Er sah Meigs an. »In den letzten Jahren habe ich meinem Vater bei der Autopsie von zwei Männern und einer Frau geholfen, die an Herzversagen gestorben sind. In allen Fällen war ein kleines Stück der Herzwand abgestorben. Das Gewebe wirkte verbrannt, als wäre es mit glühender Kohle in Berührung gekommen.«
»Was würden Sie für ihn tun?«
»Ich würde ihn warm halten. Ich würde ihm ein Schlafmittel geben. Und da er in ein paar Stunden stirbt, würde ich seine Schmerzen lindern.« Er wusste sofort, dass er zuviel gesagt hatte, konnte aber die Worte nicht mehr ungesprochen machen.
Meigs fiel über ihn her. »Woher wissen Sie, dass er sterben wird?«
»Ich habe es gespürt«, antwortete Shaman mit leiser Stimme.
»Was? Sprechen Sie lauter, Mr. Cole, damit alle es hören können!«
»Ich habe es gespürt, Sir.«
»Sie haben nicht genug Erfahrung, um über Körperflüssigkeiten Bescheid zu wissen, aber Sie sind in der Lage, den bevorstehenden Tod zu spüren«, sagte der Professor schneidend. Er wandte sich an die anderen Studenten.
»Was lernen wir hieraus, Gentlemen? Solange noch Leben in einem Patienten ist, dürfen wir ihn nicht - dürfen Sie ihn nie und nimmer - dem Tod überantworten. Wir kämpfen um sein Leben, bis er von uns gegangen ist.
Haben Sie das verstanden, Mr. Cole?«
»Ja, Sir«, sagte Shaman kläglich.
An diesem Abend lud Shaman Jim Halleck in einen Saloon an der Flusspromenade, dessen Fußboden mit Sägemehl bestreut war, ein. Sie aßen gekochtes Rindfleisch mit Kohl, und jeder trank drei große Gläser bitteres dunkles Bier. Es war kein Siegesschmaus. Keiner von beiden war zufrieden mit dem Ausgang des Nachmittags.
Außer der gegenseitigen Versicherung, dass Meigs ein schrecklicher Miesepeter sei, hatten sie sich kaum etwas zu sagen. Gleich nach dem Essen dankte Shaman deshalb dem Pfleger und bezahlte ihn für seine Hilfe, und so konnte Halleck um einige Dollar weniger arm als noch am Morgen zu Frau und vier Kindern zurückkehren.
Shaman blieb und trank noch mehr Bier. Über die Wirkung des Alkohols auf die Gabe dachte er erst gar nicht nach. Er zweifelte daran, dass diese Gabe in seinem Leben noch eine große Rolle spielen werde. Auf dem Rückweg zum Wohnheim dachte er an nichts anderes als an die Notwendigkeit, vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzen, und sobald er in seinem Zimmer war, kletterte er, vollständig angezogen, in sein Bett.
Am nächsten Morgen hatte er einen neuen guten Grund, alkoholische Getränke in Zukunft zu meiden, denn sein Kopf und die Gesichtsmuskeln schmerzten. Doch er nahm es als angemessene Strafe hin. Er ließ sich Zeit mit dem Waschen und dem Umziehen und war eben auf dem Weg zu einem verspäteten Frühstück, als ein Kommilitone namens Rogers in den Speisesaal des Krankenhauses gelaufen kam. »Dr. McGowan sagt, du sollst sofort in sein Labor kommen.«
Als er den niederen Raum im Keller betrat, sah er Dr. Berwyn bei Dr. McGowan spehen. Auf dem Tisch lag die Leiche von Arthur Herrenshaw.
»Wir haben auf Sie gewartet«, sagte Dr. McGowan gereizt, als habe Shaman einen vereinbarten Termin nicht eingehalten. »Ja, Sir«, erwiderte er, denn etwas anderes fiel ihm nicht ein. »Wollen Sie ihn öffnen?« fragte Dr.
McGowan. Shaman hatte es noch nie selbst getan. Aber er hatte seinem Vater oft genug dabei zugesehen, und Dr. McGowan reichte ihm sofort ein Skalpell, als er nickte. Er war sich bewusst, dass die beiden Ärzte ihm bei seinen ersten Schnitten in die Brust sehr genau auf die Finger sahen. Dr. McGowan setzte selbst die Rippensäge an, und nachdem er das Brustbein entfernt hatte, beugte er sich über das Herz und hob es leicht an, damit Dr.
Berwyn und Shaman die rundliche, verbrannt aussehende Schadstelle an der Wand von Mr. Herrenshaws Herzmuskel sehen konnten.
»Da ist etwas, das Sie wissen sollten«, sagte Dr. Berwyn zu Shaman. »Manchmal tritt die tödliche Störung im Herzinneren auf, so dass sie an der Außenwand nicht feststellbar ist.« Shaman nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. McGowan wandte sich an Dr. Berwyn und sagte etwas, und Dr. Berwyn lachte. Dann sah Dr.
McGowan Shaman an. Sein Gesicht erinnerte an faltiges Leder, und nun sah Shaman zum erstenmal, dass ein Lächeln es erhellte.
»Ich habe zu ihm gesagt: >Gehen Sie, und bringen Sie mir mehr solche Taube!<« sagte Dr. McGowan.
In Cincinnati
An jedem Tag in diesem schiefergrauen Frühling der nationalen Pein versammelte sich eine besorgte Menge vor der Redaktion der »Cincinnati Post«, um die Kriegsberichte zu lesen, die mit Kreide auf eine Tafel geschrieben waren. Präsident Lincoln hatte eine Blockade aller Häfen der Konföderierten durch die Kriegsmarine der Union angeordnet und alle Männer des Nordens gebeten, dem Ruf zur Fahne Folge zu leisten. Überall gab es Gerede über den Krieg und eine Unmenge von Spekulationen. General Winfield Scott, der Oberbefehlshaber der Unionsarmee, war ein Südstaatler, der die Union unterstützte, aber er war ein müder alter Mann. Ein Patient erzählte Shaman von dem Gerücht, Lincoln habe Robert E. Lee gebeten, den Befehl über die Armee zu übernehmen. Aber wenige Tage später berichteten die Zeitungen, dass Lee das Kommando wieder abgegeben habe, da er es vorzog, auf der Seite des Südens zu kämpfen.
Noch vor Ende dieses Semesters hatten mehr als ein Dutzend Studenten, die meisten davon in akademischen Schwierigkeiten, die Medical School verlassen, um sich zu der einen oder anderen Armee zu melden. Zu ihnen gehörte auch Ruel Torrington, der zwei leere Schubladen hinterließ, in denen der Geruch ungewaschener Wäsche hing. Andere Studenten sprachen davon, das Semester zu beenden und dann zur Armee zu gehen. Im Mai berief Dr. Berwyn eine Studentenversammlung ein und erklärte, dass die Poliklinik in Erwägung gezogen habe, das Institut während des militärischen Notstands zu schließen, dann aber beschlossen habe, doch weiter zu unterrichten. Er bat die Studenten eindringlich, an der Medical School zu bleiben. »Sehr bald wird es einen Bedarf an Ärzten geben wie nie zuvor, sowohl in der Armee als auch für die Versorgung der Zivilbevölkerung.«
Dr. Berwyn hatte schlechte Nachrichten. Da der Lehrkörper sein Gehalt aus den Schulgeldern bezog und die Studentenzahl zurückging, mussten die Gebühren erhöht werden. Für Shaman bedeutete das, dass er Mittel aufbringen musste, die nicht eingeplant waren. Doch nachdem ihm schon seine Taubheit nicht im Weg hatte stehen können, war er fest entschlossen, sich auch von einer solchen Kleinigkeit wie Geldproblemen nicht davon abhalten zu lassen, Arzt zu werden.
Er und Paul Cooke wurden Freunde. In studentischen und medizinischen Dingen war Shaman der Ratgeber und Führer, in allen anderen übernahm Cooke die Leitung. Paul führte Shaman in Restaurants und ins Theater. Voller Ehrfurcht gingen sie in Pike’s Opera House, um Edwin Thomas Booth als Richard III. zu sehen. Das Opernhaus mit seinen drei Rängen hatte dreitausend Sitzplätze und weitere tausend Stehplätze. Auch von den Plätzen in der achten Reihe aus, die Cooke dem Kartenverkäufer abgeluchst hatte, wäre es Shaman nicht möglich gewesen, das Stück zu verstehen, doch er hatte im College alle Shakespeare-Dramen gelesen und überflog dieses Stück vor der Aufführung noch einmal. So war er mit der Handlung und den Dialogen vertraut, und er genoss den Abend sehr.
An einem anderen Samstagabend führte Cooke ihn in ein Bordell, wo Shaman einer schweigsamen Frau in ihr Zimmer folgte und von ihr schnell abgefertigt wurde. Die Frau verlor die ganze Zeit über ihr starres Lächeln nicht und sagte kaum ein Wort. Danach verspürte Shaman nie mehr das Bedürfnis, in dieses Haus zurückzukehren, doch da er normal entwickelt und gesund war, stellte das sexuelle Verlangen manchmal ein Problem für ihn dar.
Die Studenten hatten die Pflicht, als Sanitäter Dienst zu tun, und so fuhr Shaman eines Tages mit dem Krankenwagen zur P. L. Trent Candle Company, einer Kerzenfabrik, in der Frauen und Kinder arbeiteten, um einen dreizehnjährigen Jungen zu behandeln, dem kochendes Wachs die Beine verbrannt hatte. Als sie den Jungen ins Krankenhaus brachten, begleitete sie eine junge Frau mit pfirsichfarbener Haut und schwarzen Haaren, die auf einen Teil ihres Tageslohnes verzichtete, um bei dem Patienten, ihrem Cousin, sein zu können.
Während der wöchentlichen Besuchszeit am Donnerstagabend sah Shaman sie wieder. Da auch andere Verwandte den verbrannten Jungen trösten wollten, war ihr Besuch nur kurz, und Shaman hatte Gelegenheit, mit ihr zu reden. Sie hieß Hazel Melville. Obwohl er es sich eigentlich nicht leisten konnte, lud er sie für den folgenden Sonntag zum Essen ein. Anfangs tat sie so, als sei sie entsetzt, doch dann lächelte sie zufrieden und nickte.
Sie wohnte, nicht weit vom Krankenhaus entfernt, im zweiten Stock eines Mietshauses, das dem Studentenwohnheim sehr ähnlich war. Ihre Mutter war tot. Shaman war befangen wegen seiner gutturalen Aussprache, denn ihr rotgesichtiger Vater, ein Gerichtsvollzieher, betrachtete ihn mit kaltem Argwohn, offensichtlich wusste er nicht so recht, was er von Hazels Verehrer halten sollte. Wenn es wärmer gewesen wäre, hätte er sie zu einer Bootsfahrt auf dem Fluss eingeladen. Vom Wasser her wehte ein kühler Wind, doch sie trugen Mäntel, und so wurde es ein angenehmer Spaziergang. Im schwächer werdenden Licht des Abends sahen sie sich Schaufenster an. Sie ist sehr hübsch, dachte er, bis auf die dünnen, strengen Lippen, von denen sich feine Linien dauernder Unzufriedenheit in ihre Mundwinkel gruben. Sie war entsetzt, als sie von seiner Taubheit erfuhr, und lächelte unsicher, als er ihr erklärte, wie er von den Lippen ablas. Trotzdem fand er es angenehm, mit einer Frau zu sprechen, die nicht krank oder verletzt war. Sie erzählte, dass sie seit einem Jahr Kerzen ziehe, sie hasse dies, aber es gebe ja kaum eine andere Arbeit für eine Frau. Ihre beiden älteren Cousins hätten für gutes Geld Arbeit bei Wells & Company gefunden, ergänzte sie verärgert. »Wells & Company hat von der Army von Indiana den Auftrag bekommen, zehntausend Fass Minie-Musketengeschosse zu gießen. Wenn die doch nur Frauen beschäftigen würden!«
Sie aßen in einem kleinen Restaurant, das Cooke ihm empfohlen hatte, weil es billig war und hell, so dass er ihre Lippen gut sehen konnte. Es schien ihr zu schmecken, allerdings ließ sie die Brötchen zurückgehen, weil sie nicht frisch seien, wie sie dem Kellner in scharfem Ton zu verstehen gab. Als sie in ihre Wohnung zurückkehrten, war ihr Vater nicht zu Hause. Sie machte es Shaman leicht, sie zu küssen, und ging bereitwillig darauf ein, so dass es ihm ganz natürlich erschien, sie durch die Kleider hindurch zu streicheln und sie schließlich auf dem unbequemen Fransensofa zu lieben. Aus Angst, ihr Vater könne zurückkommen, ließ sie das Licht an, und sie zog sich auch nicht aus, sondern schob nur Rock und Unterrock über die Taille hoch. Ihr weiblicher Geruch wurde überlagert vom Myrteduft des Paraffins, in das sie sechs Tage der Woche Dochte tauchte. Shaman nahm sie hart und schnell, ohne die geringste Freude dabei zu empfinden, beständig die Gefahr einer ärgerlichen Unterbrechung durch den Gerichtsvollzieher vor Augen. Er verspürte nicht mehr menschliche Nähe als bei der Frau im Bordell.
Danach dachte er sieben Wochen lang kein einziges Mal an Hazel. Doch eines Nachmittags regte sich wieder das vertraute Verlangen, und er ging in die Kerzenfabrik, um sie zu besuchen. Die Luft im Inneren war heiß vom Fettdampf und schwer vom konzentrierten Myrtenduft. Hazel Melville wurde wütend, als sie ihn sah. »Ich darf doch hier keinen Besuch haben! Willst du, dass sie mich entlassen?« Doch bevor er ging, sagte sie ihm noch schnell, dass sie sich nicht mehr mit ihm werde treffen können, denn in den Wochen, in denen er nichts hatte hören lassen, sei sie einem anderen Mann versprochen worden, einem, den sie schon lange kenne. Er habe einen gehobenen Beruf, er sei ein Buchhalter, sagte sie zu ihm und versuchte gar nicht, ihre Befriedigung zu verbergen.
Im Grunde genommen lenkte ihn sein körperliches Verlangen weniger ab, als er erwartet hatte. Er richtete alles -
seine Sehnsucht und sein Verlangen, seine Hoffnungen und seine Glückserwartungen, seine Kraft und seine Phantasie - auf das Studium der Medizin. Cooke sagte mit unverhülltem Neid, dass Robert J. Cole der geborene Medizinstudent sei, und Shaman widersprach ihm nicht, hatte er doch sein ganzes Leben auf etwas gewartet, das er hier in Cincinnati gefunden hatte. Er gewöhnte es sich an, im Obduktionssaal vorbeizuschauen, sooft er eine freie Stunde hatte, manchmal allein, doch öfters mit Cooke oder Billy Henned, um ihnen bei der Verbesserung ihrer Seziertechnik zu helfen oder ihnen etwas zu demonstrieren, das sie in einem Buch gelesen oder in einer Vorlesung gehört hatten. Schon bald nach der ersten Anatomiestunde hatte Dr. McGowan Shaman gebeten, Studenten, die Schwierigkeiten hatten, zu helfen. Shaman wusste, dass er auch in den anderen Fächern exzellente Noten hatte, und inzwischen nickte ihm sogar Dr. Meigs freundlich zu, wenn sie sich auf dem Gang begegneten.
Die Leute hatten sich an sein Anderssein gewöhnt. Manchmal kam es vor, dass er, wenn er sich während einer Vorlesung oder im Labor stark konzentrierte, nach alter Gewohnheit vor sich hinzusummen begann, ohne es zu merken. Bei einer solchen Gelegenheit hatte Dr. Berwyn einmal seinen Vortrag unterbrochen und gesagt:
»Hören Sie auf zu summen, Mr. Cole!« Anfangs hatten die anderen Studenten noch gekichert, doch sie gewöhnten es sich bald an, ihn am Arm zu berühren oder ihn scharf anzusehen, damit er verstummte. Es machte ihm Freude, alleine durch die Krankensäle zu gehen. Eines Tages beklagte sich eine Patientin, dass er an ihr vorbeigegangen sei, ohne sie zu beachten, obwohl sie wiederholt seinen Namen gerufen habe. Um sich selbst zu beweisen, dass seine Taubheit den Patienten nicht unbedingt zum Nachteil gereichen musste, gewöhnte er es sich nach diesem Vorwurf an, bei jedem Bett kurz stehenzubleiben, die Hände des Patienten zu ergreifen und ein paar tröstende Worte zu sagen. Das drohende Gespenst der Probezeit hatte er längst hinter sich gelassen, als Dr.
McGowan ihm eines Tages für die Sommerferien im Juli und August eine Stelle im Krankenhaus anbot.
McGowan gestand ihm freimütig, dass er und Dr. Berwyn nahe daran gewesen seien, um seine Dienste zu wetteifern, dann aber zu dem Entschluss gekommen seien, sich ihn zu teilen. »Sie würden den Sommer über für uns beide arbeiten. Vormittags erledigen Sie für Berwyn im Operationssaal das Grobe, und nachmittags helfen Sie mir, seine Fehler zu sezieren.« Es war eine großartige Chance, das sah Shaman sofort, und mit dem bescheidenen Gehalt würde er die Erhöhung der Studiengebühren ausgleichen können. »Ich würde es sehr gern tun«, sagte er zu Dr. McGowan. »Aber mein Vater erwartet, dass ich diesen Sommer nach Hause komme und auf der Farm helfe. Ich muss ihm erst schreiben und ihn um Erlaubnis bitten.«
Barney McGowan lächelte. »Ach ja, die Farm«, sagte er leicht abschätzig. »Ich prophezeie Ihnen, junger Mann, dass Sie in Zukunft kaum noch zur Farmarbeit kommen werden. Soweit ich weiß, ist Ihr Vater Landarzt in Illinois, nicht wahr? Ich wollte Sie immer schon einmal danach fragen. An der Universität in Edinburgh gab es einige Jahre vor mir einen Arzt, der genauso hieß wie Ihr Vater.«
»Ja, das war mein Vater. Er hat mir die gleiche Anekdote erzählt, die Sie in der ersten Anatomievorlesung über Sir William Fergusson erzählt haben, seine Beschreibung eines Leichnams als Haus, aus dem der Bewohner ausgezogen ist.«
»Ich erinnere mich, dass Sie gelächelt haben, als ich die Geschichte erzählte. Jetzt verstehe ich, warum.«
McGowan sah ihn nachdenklich an. »Wissen Sie... äh... warum Ihr Vater Schottland verlassen hat?« Shaman merkte, dass Dr. McGowan versuchte, taktvoll zu sein. »Ja. Er hat es mir erzählt. Er hatte politische Schwierigkeiten und wäre beinahe nach Australien deportiert worden.«
»Ich erinnere mich.« Dr. McGowan schüttelte den Kopf. »Er wurde uns immer als warnendes Beispiel vorgehalten. Jeder am University College wusste von ihm. Er war Sir Fergussons Protege, mit einer glänzenden Zukunft vor sich. Und jetzt ist er Landarzt. Wie schade!« »Das ist überhaupt nicht schade!« Shaman bekämpfte den aufsteigenden Ärger und schaffte am Ende sogar ein Lächeln. »Mein Vater ist ein großartiger Mensch«, sagte er und wurde sich überrascht klar, dass das wirklich stimmte. Er erzählte Barney McGowan von Rob J. und seiner Tätigkeit unter Oliver Wendell Holmes in Boston und von den Holzfällern und Schienenlegern, die er während seiner Wanderschaft durch den Kontinent verarztet hatte. Er erzählte ihm, wie sein Vater eines Tages mit seinem Pferd zwei Flüsse und einen Bach hatte durchschwimmen müssen, um eine Torfhütte zu erreichen, in der er dann eine Frau von Zwillingen entband. Er beschrieb die Farmhausküchen inmitten der Prärie, in denen sein Vater operiert hatte, und vergaß auch nicht zu erwähnen, wie oft Rob J. Cole auf Tischen hatte operieren müssen, die er zuvor aus den schmutzigen Hütten ins helle Sonnenlicht hinausgetragen hatte. Er erzählte, wie sein Vater von Gesetzlosen entführt und mit vorgehaltener Waffe gezwungen worden war, eine Kugel aus der Schulter eines Banditen zu entfernen. Er erzählte, wie sein Vater eines Nachts bei dreißig Grad unter Null nach Hause geritten war und nur überlebt hatte, weil er abgestiegen und, sich an den Schwanz seines Pferdes klammernd, hinter dem Tier hergelaufen war, um die Blutzirkulation wieder in Schwung zu bringen.
Barney McGowan lächelte. »Sie haben recht«, sagte er. »Ihr Vater ist wirklich ein großartiger Mann. Und ein beneidenswerter Vater.«
»Vielen Dank, Sir.« Shaman wandte sich zum Gehen, hielt aber dann inne. »Dr. McGowan. Mein Vater hat einmal eine Autopsie an einer Frau vorgenommen, die mit elf Stichen in die Brust getötet worden war. Die Wunden maßen etwa neun Millimeter im Durchmesser und waren ihr mittels eines spitzen Gegenstandes mit drei scharfen Kanten zugefügt worden. Können Sie sich vorstellen, was das war?«
Der Pathologe überlegte, offensichtlich interessierte ihn die Frage. »Vielleicht war es ein medizinisches Instrument; da gibt es das Beersche Messer, ein dreischneidiges Skalpell, das zur Operation von Katarakten und Defekten der Augenhornhaut verwendet wird. Aber die Wunden, die Sie beschreiben, waren zu groß, um von einem Beerschen Messer zu stammen. Vielleicht gehen sie auf ein Bistouri zurück? Waren die Wunden einheitlich groß?«
»Nein. Die Einstiche ließen erkennen, dass es sich um einen spitz zulaufenden Gegenstand gehandelt haben muss.«
»So ein Bistouri gibt es nicht. Vielleicht stammen die Wunden doch nicht von einem medizinischen Instrument.«
Shaman zögerte. »Könnten sie von einem Gegenstand herrühren, den gewöhnlich eine Frau benutzt?«
»Von einer Stricknadel oder etwas Ähnlichem? Das ist natürlich möglich, aber mir fällt auch kein Haushaltsgegenstand ein, der solche Wunden verursachen könnte.« Dr. McGowan lächelte. »Lassen Sie mich eine Weile über das Problem nachdenken, und wir unterhalten uns später noch einmal darüber! Und wenn Sie Ihrem Vater schreiben«, schloss er, »müssen Sie ihm herzliche Grüße von einem ausrichten, der ein paar Jahre nach ihm zu William Fergusson kam.« Shaman versprach, seinen Vater in dem notwendig gewordenen Brief zu grüßen.
Die Antwort Rob J.s traf erst acht Tage vor Semesterende in Cincinnati ein, gerade noch rechtzeitig, damit Shaman die angebotene Stelle im Krankenhaus annehmen konnte.
Sein Vater konnte sich an einen Dr. McGowan nicht erinnern, gab aber seiner Freude darüber Ausdruck, dass Shaman bei einem Schotten Pathologie studiere, der Kunst und Wissenschaft des Sezierens bei William Fergusson gelernt hatte. Er bat seinen Sohn, den Professor auch von ihm herzlich zu grüßen und dem Mann zu bestellen, dass er seinem Sohn erlaube, im Krankenhaus zu arbeiten. Der Brief war persönlich, aber sehr kurz, und an der mangelnden Mitteilsamkeit erkannte Shaman, dass sein Vater bedrückter Stimmung war. Von Alex gab es noch immer keine Nachricht, und der Vater gestand, dass Shamans Mutter mit jeder neuen Schlacht ängstlicher und besorgter wurde.
Die Fahrt mit dem Schiff
Es war Rob J. klar, dass sowohl Jefferson Davis als auch Abraham Lincoln nicht zuletzt dadurch zu ihren Positionen aufgestiegen waren, dass sie im Krieg des Schwarzen Falken an der Vernichtung der Sauks mitgewirkt hatten. Als junger Lieutenant hatte Davis Schwarzer Falke und den Medizinmann Weiße Wolke persönlich auf dem Mississippi von Fort Crawford nach Jefferson Barracks gebracht, wo sie in Ketten gelegt wurden. Lincoln hatte die Sauks mit der Miliz bekämpft, und zwar als einfacher Soldat und auch als Captain.
Jetzt wurden diese beiden Männer mit »Mr. President« angesprochen, und sie führten die eine Hälfte der amerikanischen Nation gegen die andere ins Feld. Rob J. hätte sich am liebsten aus allem herausgehalten, doch das war ihm nicht vergönnt: Der Krieg war erst sechs Wochen alt, als Stephen Hume nach Holden’s Crossing geritten kam, um ihn aufzusuchen. Der ehemalige Kongressabgeordnete gab offen zu, dass er seinen Einfluss dazu genutzt hatte, als Colonel in die Army zu kommen. Er hatte seine Stellung als Rechtsbeistand der Eisenbahn in Rock Island gekündigt, um das 102. Illinois Volunteer Regiment aufzustellen - und er war gekommen, um Dr. Cole als Regimentsarzt anzuwerben. »Das ist nichts für mich, Stephen.«
»Doc, es ist nichts dagegen zu sagen, wenn man den Krieg als abstrakten Begriff ablehnt, aber jetzt ist er Realität geworden, und es gibt gute Gründe für diesen Krieg.«
»Ich glaube nicht, dass das Töten vieler Menschen bei irgend jemandem eine Meinungsänderung über die Sklaverei und den freien Handel herbeiführen wird. Außerdem brauchen Sie einen jüngeren und robusteren Kandidaten: Ich bin ein vierundvierzigjähriger Mann mit einem Schmerbauch.« Er hatte tatsächlich zugenommen. Früher, als er entflohene Sklaven in seiner Nische versteckte, hatte er es sich angewöhnt, auf dem Weg durch die Küche etwas in die Taschen zu stecken - eine gebackene Süßkartoffel, ein Stück Brathähnchen, ein paar Rosinenbrötchen -, um es den Flüchtlingen zu geben. Heutzutage stibitzte er immer noch Essen, doch jetzt verspeiste er es selbst, wenn er im Sattel saß.
»O nein, ich möchte Sie - wie dick und zartbesaitet Sie auch sein mögen«, widersprach Hume. »Und außerdem gibt es in der ganzen verdammten Army zur Zeit nur neunzig Sanitätsoffiziere. Das bedeutet eine große Chance für Sie: Sie fangen als Captain an und sind, bevor Sie sich’s versehen, Major. Ein Arzt wie Sie macht da zwangsläufig Karriere.«
Rob J. schüttelte den Kopf. Doch da er Stephen Hume mochte, streckte er ihm die Hand hin. »Ich wünsche Ihnen eine gesunde Rückkehr, Colonel.«
Hume lächelte schief und drückte ihm die Hand. Ein paar Tage später hörte Rob J. in der Gemischtwarenhandlung, dass Tom Beckermann als Arzt für das 102. Regiment verpflichtet worden war.
Drei Monate lang hatten beide Seiten nur Krieg gespielt, aber im Juli zeichnete sich ab, dass eine großangelegte Konfrontation bevorstand. Viele waren immer noch überzeugt, dass der Spuk schnell vorüber sein würde, doch diese erste Schlacht war eine Sensation für die Nation. Rob J. verschlang die Zeitungsberichte ebenso begierig wie diejenigen, die den Krieg liebten.
Mehr als dreißigtausend Unionssoldaten unter General Irving McDowell standen bei Manassas in Virginia, fünfundzwanzig Meilen südlich von Washington, zwanzigtausend Konföderierten unter General Pierre G. T.
Beauregard gegenüber. Etwa elftausend weitere Konföderierte befanden sich unter General Joseph E. Johnston im Shenandoah Valley in Kampfstellung gegen ein Unionsheer von vierzehntausend Mann, das von General Robert Patterson befehligt wurde. Am 21. Juli führte McDowell, in der Annahme, dass Patterson Johnston in Atem halten werde, seine Armee in der Nähe von Sudley Ford am Bull Run Creek gegen die Südstaatler. Es war alles andere als ein Überraschungsangriff. Unmittelbar bevor McDowell losstürmte, ließ Johnston Patterson stehen und vereinigte seine Truppen mit denen Beauregards. Der Schlachtplan der Nordstaaten war so bekannt, dass Kongressabgeordnete und Verwaltungsangestellte mit Kind und Kegel aus Washington nach Manassas hinausgeströmt waren, wo sie Picknicks veranstalteten und der Begegnung entgegenfieberten, als handle es sich um ein Wettrennen. Dutzende von Zivilisten waren von der Army angeheuert worden, um mit Gespannen und leichten, vierrädrigen Wagen bereitzustehen, die als Krankenfahrzeuge benutzt werden sollten, falls es Verwundete gäbe. Viele dieser Ambulanzfahrer brachten ihren Whiskey zu dem Picknick mit.
Vor den Augen des faszinierten Publikums warfen sich McDowells Männer der vereinigten Streitkraft der Konföderierten entgegen. Auf beiden Seiten waren die Soldaten größtenteils Neulinge, die mit mehr Eifer als Können kämpften. Die Konföderierten zogen sich ein Stück zurück, hielten dann die Stellung und sahen zu, wie sich die Nordstaatler in mehreren verzweifelten Attacken aufarbeiteten. Dann befahl Beauregard einen Gegenangriff. Die erschöpften Unionstruppen wichen zurück und rannten schließlich in wilder Flucht davon. Die Schlacht war nicht das, was die Zuschauer sich erwartet hatten:
Der Lärm des Gewehrfeuers und der Artillerie sowie die Schreie waren schrecklich, der Anblick war noch schrecklicher. Anstatt einer Sportveranstaltung erlebte das Publikum, wie Männern Köpfe und Gliedmaßen abgerissen wurden und Eingeweide aus ihren Bäuchen quollen. Den tausendfachen Tod. Einige Zivilisten sanken in Ohnmacht, andere weinten. Alle versuchten zu fliehen, aber eine explodierende Mine jagte einen Wagen in die Luft und tötete das vorgespannte Pferd, wodurch der Hauptzufahrtsweg blockiert wurde. Die meisten der Ambulanzfahrer waren, ob nüchtern oder betrunken, mit leerem Wagen davongerast. Die wenigen, die versuchten, Verwundete zu bergen, sahen sich in einem Meer von Zivilfahrzeugen und scheuenden Pferden gefangen. Die Schwerverletzten blieben auf dem Schlachtfeld liegen und schrien, bis sie starben. Manche der Ambulanzfahrzeuge brauchten mehrere Tage, um mit ihrer Fracht nach Washington zu kommen.
In Holden’s Crossing goss der Sieg der Konföderierten Wasser auf die Mühle der Südstaatensympathisanten.
Rob J. war über die sträfliche Vernachlässigung der Opfer mehr bestürzt als über die Niederlage. Im Frühherbst wurde die Bilanz der Schlacht am Bull Run Creek bekannt: fast fünftausend Tote, Verwundete oder Vermisste, wobei so manches Leben durch mangelnde Versorgung ausgelöscht worden war. Als Rob J. und Jay Geiger eines Abends zusammen in der Coleschen Küche saßen, vermieden sie es tunlichst, über die Schlacht selbst zu sprechen. Sie unterhielten sich über die Neuigkeit, dass Lillians Cousin Judah Benjamin zum Kriegsminister der Konföderierten berufen worden sei, und sie waren völlig einer Meinung, dass es grausam und unklug von einer Armee sei, sich nicht um ihre Verwundeten zu kümmern.
»So schwierig das auch ist«, sagte Jay, »wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Krieg unsere Freundschaft zerstört.«
»Nein. Natürlich nicht!« Der Krieg wird sie vielleicht nicht zerstören, dachte Rob J., aber strapaziert und beeinträchtigt ist sie bereits. Er erschrak, als Geiger ihn beim Abschied umarmte und fest an sich drückte. »Deine Familie steht mir ebenso nahe wie meine eigene«, sagte Jay mit erstickter Stimme. »Ich würde für ihr Wohlbefinden alles tun.« Am nächsten Tag, als Lillian mit trockenen Augen in der Küche der Coles saß und ihnen erzählte, dass ihr Mann bei Tagesanbruch in Richtung Süden aufgebrochen sei, um sich in den Dienst der Konföderierten zu stellen, verstand er Jays Abschiedsstimmung.
Es kam Rob J. so vor, als habe die ganze Welt das Grau der Konföderiertenuniform angelegt. Obwohl er sein möglichstes tat, hustete sich Julia Blackmer, die Frau des Pfarrers, zu Tode, noch ehe die Winterluft dünn und kalt wurde. Sydney Blackmer weinte, als er auf dem Friedhof die Gebete sprach, und als die erste Schaufel Erde auf Julias Kiefernsarg fiel, presste Sarah Rob J.s Hand so fest, dass es schmerzte. Die Mitglieder der Gemeinde vereinbarten, ihren Seelsorger zu unterstützen, und Sarah teilte die Frauen so ein, dass Mr. Blackmer stets mitfühlende Gesellschaft oder eine warme Mahlzeit hatte. Rob J. meinte, dass der Reverend vielleicht ein bisschen Ruhe in seinem Gram haben solle, doch der Witwer schien dankbar für die Anteilnahme. Vor Weihnachten erzählte Mater Miriam Ferocia Rob J. von dem Brief einer Frankfurter Anwaltskanzlei, in dem ihr der Tod ihres Vaters, Ernst Brotknecht, mitgeteilt worden sei. Er habe testamentarisch den Verkauf des Frankfurter Wagenbauwerks und der Münchner Kutschenfabrik verfügt, und nun warte eine beträchtliche Summe auf seine Tochter, die frühere Andrea Brotknecht.
Rob J. sprach ihr zum Tod ihres Vaters, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, sein Beileid aus. Dann sagte er: »Meine Güte! Mutter Oberin - dann sind Sie ja reich!«
»Nein«, antwortete sie ruhig. Sie habe versprochen, all ihre weltlichen Güter der heiligen Mutter Kirche zu überlassen, als sie den Schleier nahm, und bereits die Papiere unterzeichnet, mit denen sie die Erbschaft in die Hände ihres Erzbischofs lege.
Rob J. verstand die Welt nicht mehr. Im Laufe der Jahre, in denen er mit angesehen hatte, wie die Nonnen darbten, hatte er dem Konvent immer wieder kleine Geschenke gemacht. Die Härte ihres Daseins, die strenge Rationierung ihres Essens und das Fehlen aller Dinge, die auch nur im entferntesten als Luxus angesehen werden konnten, hatten ihn zutiefst gedauert. »Ein bisschen Geld würde den Schwestern Ihres Ordens eine Verbesserung der Lebensumstände bescheren. Wenn Sie die Erbschaft schon nicht selbst annehmen konnten, hätten Sie wenigstens an Ihre Nonnen denken können!«
Doch sie ließ den Vorwurf nicht gelten. »Armut ist ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens«, erklärte sie und nickte mit provozierend christlicher Nachsicht, als er sich abrupt verabschiedete und davonritt.
Mit Jasons Fortgang hatte sein Leben viel an Wärme verloren. Er hätte auch weiterhin mit Lillian musizieren können, aber Klavier und Gambe klangen ohne die melodiöse Verstärkung durch Jays Violine seltsam hohl, und so vermieden sie es, allein zu spielen. In der ersten Woche des Jahres 1862, in einem Augenblick, als Rob J. sich besonders unzufrieden fühlte, freute er sich, einen Brief von Harry Loomis aus Boston zu bekommen. Dem Schreiben lag die Übersetzung eines Artikels bei, der von einem ungarischen Arzt namens Ignaz Semmelweis in Wien veröffentlicht worden war. Der Aufsatz, der den Titel trug »Ätiologie, Begriff und Prophylaxe des Kindbettfiebers«, untermauerte im wesentlichen die Vorgehensweise von Oliver Wendeil Holmes in Amerika.
Im Wiener Allgemeinen Krankenhaus war Semmelweis zu dem Schluss gekommen, dass Kindbettfieber, dem zwölf von hundert Müttern zum Opfer fielen, übertragbar war. Wie Holmes Jahrzehnte vor ihm hatte er festgestellt, dass die Ärzte selbst diese Krankheit verbreiteten, weil sie sich die Hände nicht reinigten.
Harry Loomis schrieb, dass sein Interesse an Methoden, die Infektionen von Wunden und bei chirurgischen Eingriffen vermeiden halfen, ständig wachse. Er fragte an, ob Rob J. mit den Untersuchungen von Dr. Milton Akerson vertraut sei, der sich im Hospital of the Mississippi Valley in Cairo, Illinois, das doch nicht allzuweit von Holden’s Crossing entfernt sei, mit diesem Problem befasse. Rob J. hatte noch nichts von Mr. Akersons Arbeit gehört, aber nachdem er davon erfahren hatte, wäre er am liebsten sofort nach Cairo gefahren, um sich zu informieren. Doch monatelang ergab sich keine Gelegenheit, und er ritt durch den Schnee zu seinen Hausbesuchen. Als die Frühlingsregenfälle kamen, entspannte sich schließlich die Lage. Mater Miriam versprach Rob, dass sie und die Schwestern sich um seine Patienten kümmern würden, und so ritt Rob J. am 9. April, einem Mittwoch, auf Boss über schlammige Straßen bis nach Rock Island, wo er das Pferd in einem Stall unterstellte. Bei Einbruch der Dämmerung ging er auf ein Floß, wo er die Nacht, während sie den Mississippi hinunter fuhren, im Schutz der Flößerhütte neben dem Ofen auf den Stämmen verbrachte. Als er am nächsten Morgen in Cairo an Land ging, waren seine Muskeln und Gelenke steif. Es regnete noch immer.
Cairo war in einem schrecklichen Zustand - die Felder waren überflutet und viele Straßen standen unter Wasser.
Rob J. wusch sich gründlich in einem Gasthaus, wo er auch ein kärgliches Frühstück bekam, und suchte dann das Hospital of the Mississippi Valley. Dr. Akerson war ein dunkelhäutiger, kleiner Mann mit Brille, dessen dicker Schnurrbart über die Backen bis zu den Koteletten reichte, eine alberne Mode, die Ambrose Burnside populär gemacht hatte. Seine Brigade hatte am Bull Run Creek den ersten Angriff gegen die Konföderierten geführt.
Der Arzt begrüßte Rob J. höflich und war sichtlich erfreut, dass seine Arbeit sogar die Aufmerksamkeit von Kollegen im fernen Boston erregt hatte. Die Luft im Krankenhaus roch scharf nach Chlorwasserstoff, von dem er glaubte, er könne die Infektionen verhindern, die Verwundeten so oft den Tod brachten. Rob J. registrierte, dass der Geruch dessen, was Dr. Akerson sein »Desinfektionsmittel« nannte, zwar einige der unangenehmen Gerüche des Hospitals übertünchte, doch reizte der Chlorwasserstoff seine Nase und seine Augen in unangenehmer Weise. Schon bald erkannte er, dass auch dieser Arzt kein Wundermittel entdeckt hatte.
»Manchmal scheint es wirklich etwas zu nützen, die Wunden mit Chlorwasserstoff zu behandeln - aber dann wieder...« Dr. Akerson zuckte mit den Achseln.
Er habe damit experimentiert, Chlorwasserstoff in die Luft des Operationssaales und der Stationen zu sprühen, erzählte er Rob J., dies jedoch wieder eingestellt, da die Dämpfe das Sehen und Atmen erschwerten. Jetzt beschränke er sich darauf, Kompressen damit zu tränken und sie direkt auf die Wunden zu legen. Er glaube, dass der Wundbrand und andere Infektionen durch Eiterkorpuskeln verursacht würden, die wie Staubteilchen in der Luft schwebten, und dass die getränkten Kompressen diese von den Wunden abhielten. Ein Pfleger kam mit einem kompressenbeladenen Tablett vorbei. Eine fiel zu Boden. Dr. Akerson hob sie auf, wischte sie mit der Hand ab und zeigte sie Rob J. Es handelte sich um eine ganz gewöhnliche Kompresse aus Baumwollstoff, der mit Chlorwasserstoff getränkt war. Als Rob J. sie Dr. Akerson zurückgab, legte dieser sie auf das Tablett zu den anderen. »Es ist ein Jammer, dass wir nicht feststellen können, warum es manchmal funktioniert und dann wieder nicht«, seufzte er.
Ihr Gespräch wurde von einem jungen Arzt unterbrochen, der seinen Vorgesetzten informierte, dass Mr. Robert Francis, ein Beauftragter der United States Sanitary Commission, ihn in einer sehr dringenden Angelegenheit zu sprechen wünsche.
Als Dr. Akerson Rob J. zur Tür begleitete, trafen sie Mr. Francis, der auf dem Korridor wartete. Rob J. kannte und schätzte die Sanitary Commission, eine zivile Einrichtung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Spenden aufzutreiben und Pflegepersonal anzuwerben. Der Mann berichtete, dass bei Pittsburg Landing in Tennessee, dreißig Meilen nördlich von Corinth, Mississippi, eine zweitägige Schlacht stattgefunden habe. »Die Verluste sind schrecklich - viel höher als am Bull Run Creek. Wir haben Freiwillige als Pflegepersonal gewonnen, aber es herrscht ein schlimmer Mangel an Ärzten.« Dr. Akerson sah den Beauftragten kummervoll an. »Die meisten unserer Ärzte stehen bereits im Kriegsdienst, hier ist keiner mehr zu entbehren.«
»Ich bin Arzt«, sagte da Rob J. unvermittelt. »Und ich kann mitkommen.«
Mit drei weiteren Ärzten aus nahe gelegenen Städten und fünfzehn Zivilisten, die keine Ahnung von Krankenpflege hatten, ging Rob J. um die Mittagszeit an Bord des Postschiffes City of Louisiana, das durch den Nebel über dem Ohio River stampfte. Um fünf Uhr nachmittags erreichten sie Paducah nahe des Kentucky Lake und fuhren in den Tennessee River ein. Im Dunkel der Nacht passierten sie ungesehen Fort Henry, das Ulysses S. Grant einen Monat zuvor eingenommen hatte. Den ganzen nächsten Tag tuckerten sie an Ortschaften, vollen Lagerschuppen und überfluteten Feldern vorbei. Es war fast finster, als sie um fünf Uhr Pittsburg Landing erreichten. Rob J. zählte bei ihrer Ankunft vierundzwanzig Dampfschiffe - einschließlich zweier Kanonenboote.
Als die Medizinertruppe ausstieg, stellten sie fest, dass das Flussufer durch einen Unionsrückzug am Sonntag in eine Schlammwüste verwandelt worden war: Sie sanken fast bis zu den Knien ein. Rob J. wurde eingeteilt, auf der War Hawk weiterzufahren, einem Schiff, auf das vierhundertsechs verwundete Soldaten gebracht wurden. Es waren schon fast alle an Bord, als er zustieg, und sie legten ohne Verspätung ab. Der Erste Offizier erklärte Rob J. grimmig, dass die enorm hohe Verwundetenzahl nach der Schlacht zu einer Überfüllung sämtlicher Krankenhäuser in ganz Tennessee geführt habe. Die War Hawk müsse ihre Passagiere auf dem Tennessee River viele Hunderte von Meilen Flussaufwärts zum Ohio River und auf diesem bis nach Cincinnati bringen.
Überall lagen Verwundete: unten in den Offiziers- und Passagierkabinen, aber auch dicht an dicht auf dem Deck im immer noch strömenden Regen. Rob J. und ein Sanitätsoffizier namens Jim Sprague waren die einzigen Ärzte. Das ganze Behandlungsmaterial war in einer Kabine verstaut worden, und die Reise dauerte noch keine zwei Stunden, als Rob J. feststellte, dass der für medizinische Zwecke gedachte Brandy diebische Liebhaber fand. Der militärische Kommandant des Schiffes war ein junger Oberleutnant namens Crittendon, dessen Blick vom Erlebnis der Schlacht noch getrübt war. Rob J. überzeugte ihn, dass die Kabine eine bewaffnete Wache benötige, und dem Wunsch wurde sofort entsprochen.
Rob J. hatte seine Arzttasche aus Holden’s Crossing dabei. Zu seiner medizinischen Ausrüstung gehörte auch ein Chirurgenbesteck, und er bat, einige der Instrumente schärfen zu lassen. Doch er hatte nicht die Absicht, sie zu benutzen. »Die Reise ist auch so schon eine ungeheure Strapaze für die Verwundeten«, sagte er zu Sprague. »Ich finde, wir sollten Operationen, soweit möglich, verschieben, bis wir die Leute in ein Krankenhaus bringen können.«
Sprague gab ihm recht. »Ich verstehe sowieso nicht viel vom Schneiden«, erklärte er. Er hielt sich im Hintergrund und ließ Rob J. die Entscheidungen fällen. Rob J. kam zu dem Schluss, dass Sprague auch nicht viel von sonstigen Behandlungsmethoden verstand. Also setzte er ihn dazu ein, Verbände zu wechseln und dafür zu sorgen, dass die Patienten Suppe und Brot bekamen.
Rob J. erkannte bald, dass in einigen Fällen eine sofortige Amputation unumgänglich war.
Die Freiwilligen waren eifrig, aber unerfahren: Buchhalter, Lehrer und Stallburschen, die sich nun mit Blut, Schmerz und Tragödien konfrontiert sahen, die sie sich in ihren schlimmsten Träumen nicht ausgemalt hatten.
Rob J. versammelt einige von ihnen als Helfer um sich und wies die übrigen an, Sprague dabei zu unterstützen, Verbände zu erneuern, Kompressen zu wechseln, den Durstigen Wasser zu bringen und diejenigen, die auf dem Deck lagen, so gut es ging, mit allen verfügbaren Decken und Mänteln gegen den eisigen Regen zu schützen.
Rob J. wäre es am liebsten gewesen, die Verwundeten der Reihe nach zu untersuchen, aber dazu kam er nicht.
Statt dessen eilte er von Patient zu Patient, sobald ihm mitgeteilt wurde, dass es um den Entsprechenden
»schlecht« stand. Theoretisch hätte es um keinen der Männer, die an Bord der War Hawk waren, so »schlecht stehen« dürfen, dass er die Reise nicht überstanden hätte, doch schon kurz nach der Abfahrt starben mehrere.
Rob J. ließ die Kabine des Zweiten Maats räumen und begann dort im Licht von vier Laternen zu amputieren.
Schon in der ersten Nacht entfernte er vierzehn Gliedmaßen. Viele Verwundete waren bereits amputiert worden, bevor sie an Bord gekommen waren, und als er diese untersuchte, stellte er bestürzt fest, wie unsachgemäß der Eingriff meistens durchgeführt worden war. Ein neunzehnjähriger Junge namens Peter hatte sein rechtes Bein bis zum Knie, sein linkes Bein bis zur Hüfte und seinen rechten Arm zur Gänze eingebüßt. Irgendwann während der Nacht begann der linke Beinstumpf zu bluten. Vielleicht hatte er aber auch schon geblutet, als der Junge an Bord kam. Er gehörte zu den ersten Toten.
»Papa, ich habe es versucht«, schluchzte ein Soldat mit langen, goldblonden Haaren und einem Loch im Rücken, aus dem die Wirbelsäule weiß wie eine Forellengräte hervorschimmerte. »Ich habe es wirklich versucht.«
»Ja, das hast du. Du bist ein guter Sohn.« Rob J. streichelte ihm über den Kopf.
Manche schrien, manche hüllten sich in Schweigen wie in eine Rüstung, manche weinten und stammelten wirres Zeug. Mit der Zeit setzte Rob J. den Hergang der Schlacht aus den Mosaiksteinen all ihrer schrecklichen Erlebnisse zusammen. Grant hatte mit zweiundvierzigtausend Mann bei Pittsburg Landing auf General Don Carlos Buells Truppen gewartet. Beauregard und Albert Johnston beschlossen, Grant zu erledigen, bevor Buell eintraf, und so fielen vierzigtausend Konföderierte über die biwakierenden Unionstruppen her. Grants vorderste Linie wurde an beiden Flügeln zurückgedrängt, aber die Mitte - bestehend aus Soldaten aus Iowa und Illinois -
hielt dem Gemetzel stand.
Die Rebellen hatten am Sonntag viele Gefangene gemacht. Die Unionsstreitkraft wurde zum Fluss zurückgetrieben und dort ins Wasser, wo das gegenüberliegende Steilufer einen weiteren Rückzug unmöglich machte. Doch am Montagmorgen, als die Konföderierten »reinen Tisch« machen wollten, tauchten plötzlich aus dem Nebel Boote auf- mit zwanzigtausend Mann Verstärkung von Buell -, und das Blatt wendete sich. Am Ende dieses wilden Kampftages zogen sich die Südstaatler nach Corinth zurück. Als die Dämmerung hereinbrach, war das Schlachtfeld, so weit das Auge vom Turm der Shiloh Church aus reichte, mit Leichen übersät. Nur wenige der Verwundeten wurden geborgen und auf Schiffe gebracht.
Am Morgen glitt die War Hawk an Wäldern vorbei, deren Bäume junge, hellgrüne Blätter und dicke Mistelkugeln trugen, an sprießenden Feldern und dann und wann an einem Pfirsichhain in weißer Blütenpracht.
Doch Rob J. sah von alledem nichts. Der Kapitän hatte vorgehabt, nur am Vormittag in einer Stadt anzulegen, um den Holzvorrat aufzufüllen. Während dieser Zeit sollten die Freiwilligen an Land gehen und so viel Wasser und Lebensmittel beschaffen wie möglich. Aber Rob J. und Jim Sprague überredeten ihn dazu, auch mittags haltzumachen und nachmittags noch einmal, denn das Wasser war sehr schnell verbraucht. Die Verwundeten hatten Durst.
Zur Rob J.’s Verzweiflung schafften es die Freiwilligen nicht, hygienische Zustände zu schaffen. Viele der Soldaten hatten schon vor ihrer Verwundung an Ruhr gelitten. Die Männer entleerten Blase und Darm, wo sie lagen, und es war unmöglich, sie zu säubern. Es gab keine Ersatzkleidung, und so klebten die Exkremente an ihren Körpern, während sie im kalten Regen lagen. Die Pfleger verbrachten den größten Teil ihrer Zeit damit, heiße Suppe zu verteilen.
Am zweiten Nachmittag hörte der Regen auf, und die Sonne brach durch die Wolken. Rob J. begrüßte die Wärme mit großer Erleichterung, doch der Dunst, der nun entstand, verstärkte den Geruch, der von den Decks und den Menschen ausging, um ein Vielfaches. Der Gestank war fast greifbar. Manchmal, wenn das Schiff anlegte, kamen patriotische Bürger mit Decken, Wasser und Lebensmitteln an Bord. Sie blinzelten, Tränen traten ihnen in die Augen, und sie flüchteten so schnell wie möglich wieder an Land. Rob J. ertappte sich bei dem Wunsch, ein paar Fässer von Dr. Akersons Chlorwasserstoff zur Verfügung zu haben.
Männer starben und wurden in Laken eingenäht, die vor Dreck standen. Rob J. amputierte noch in einem Dutzend weiterer Fälle, die unaufschiebbar waren, und als sie ihr Ziel erreichten, befanden sich unter den achtunddreißig Toten acht, die er operiert hatte. Sie legten früh am Dienstagmorgen in Cincinnati an. Rob J.
hatte dreieinhalb Tage nicht geschlafen und so gut wie nichts gegessen. Plötzlich ohne Aufgabe, stand er auf dem Pier und sah zu, wie andere die Patienten in Gruppen aufteilten, die zu den verschiedenen Krankenhäusern gebracht wurden. Als ein Karren für das Southwestern Ohio Hospital mit Verwundeten beladen wurde, kletterte Rob J. hinauf und setzte sich zwischen zwei Tragbahren auf den Boden. Als die Patienten ausgeladen wurden, wanderte er durch das Hospital- sehr langsam, denn die Luft in Cincinnati schien so dick wie Pudding zu sein.
Das Personal musterte den unrasierten Riesen, von dem ein intensiver Gestank ausging, mit scheelen Blicken.
Als ein Pfleger ihn anfuhr, was er hier zu suchen habe, fragte er nach Shaman. Er wurde zu einem kleinen Balkon geführt, von dem aus man in den Operationssaal hinunterschauen konnte. Man hatte bereits begonnen, die Patienten von der War Hawk zu operieren. Vier Männer standen um einen Tisch, und Rob J. sah, dass einer von ihnen Shaman war. Eine kurze Weile sah er ihnen bei ihrer Arbeit zu, dann überschwemmte ihn eine warme Woge der Müdigkeit, und er ließ sich von ihr davontragen.
Später erinnerte er sich nicht daran, dass er aus dem Krankenhaus in Shamans Zimmer gebracht und ausgezogen worden war. Den Rest des Tages und die ganze Nacht schlief er, ohne es zu wissen, im Bett seines Sohnes. Als Rob J. aufwachte, war es Mittwoch, und die Welt glänzte in strahlendem Sonnenschein. Während er sich rasierte und ein Bad nahm, brachte Shamans Freund, ein hilfsbereiter junger Mann namens Cooke, Rob J.’s Sachen aus der Krankenhauswäscherei, wo sie ausgekocht und gebügelt worden waren, und dann ging er, den Sohn holen.
Shaman war schmaler geworden, machte jedoch einen gesunden Eindruck.
»Hast du etwas von Alex gehört?« fragte er sofort nach der Begrüßung. »Nein.«
Shaman nickte. Er führte Rob J. in ein Wirtshaus, das ein Stück vom Krankenhaus entfernt lag, damit sie ungestört waren. Sie aßen eine ausgiebige Mahlzeit, die aus Eiern, Kartoffeln und einem großen Stück Fleisch bestand, und tranken einen dünnen Kaffee, der zum Großteil aus getrockneter Zichorie gebraut worden war.
Shaman ließ seinem Vater Zeit, den ersten heißen, bitteren Schluck zu trinken, ehe er begann, Fragen zu stellen und der Beschreibung der Reise auf der War Hawk mit großem Interesse zu folgen.
Rob J. erkundigte sich nach den Fortschritten in der Ausbildung und sagte, wie stolz er auf seinen Sohn sei. »Zu Hause habe ich ein altes blaues Stahlskalpell, erinnerst du dich?«
»Das uralte, das du >Rob J.s Messer< nennst? Das seit Jahrhunderten in Familienbesitz sein soll?«
»Ja, das meine ich. Und es ist wirklich seit Jahrhunderten in Familienbesitz. Es wird immer an den Erstgeborenen weitergegeben, der Arzt wird. Es gehört dir.«
Shaman lächelte. »Solltest du mit diesem Geschenk nicht warten, bis ich im Dezember die Abschlussprüfung mache?«
»Ich weiß nicht, ob ich dann herkommen kann: Ich gehe als Arzt zur Army.«
Shamans Augen weiteten sich. »Aber du bist Pazifist! Du hasst doch den Krieg!«
»Das bin ich, und das tue ich«, bestätigte Rob J. mit einer Stimme, die bitterer war als der Kaffee. »Aber du siehst ja selbst, was sie einander antun.«
Sie saßen noch lange zusammen, nippten an ihren inzwischen wieder gefüllten Tassen - zwei hochgewachsene Männer, die einander in die Augen sahen und leise und ausführlich miteinander sprachen, als hätten sie alle Zeit der Welt füreinander.
Doch um elf waren sie bereits wieder im Operationssaal. Der Ansturm der Verwundeten von der War Hawk überforderte sowohl die Unterbringungsmöglichkeiten des Krankenhauses als auch den Chirurgenstab. Manche Ärzte hatten die ganze Nacht bis in den Vormittag hinein durchgearbeitet, und jetzt operierte Robert Jefferson Cole einen jungen Mann aus Ohio, dessen Schädel, Schultern, Rücken, Hintern und Beine einen wahren Hagel von Konföderiertenschrapnellen abbekommen hatten. Die Prozedur war zeitaufwendig und mühevoll, denn jedes Metallstückchen musste mit einem Minimum an Zerstörung des umliegenden Gewebes aus dem Fleisch herausgepult werden, und das Nähen war ebenfalls eine Präzisionsarbeit, denn es galt zu erreichen, dass die Muskeln wieder zusammenwachsen konnten. Die Tribüne war mit Medizinstudenten und mehreren Fakultätsmitgliedern besetzt, die die Arbeit an solch schrecklichen kriegsbedingten Fällen verfolgten. In der ersten Reihe versetzte Dr. Harold Meigs seinem Nachbarn Dr. Barnett McGowan einen Rippenstoß und wies mit seinem Kinn auf einen Mann, der - weit genug entfernt, um nicht im Weg zu stehen, aber nahe genug, um alles sehen zu können - im Operationssaal stand. Groß, füllig, mit ergrauendem Haar, stand er mit verschränkten Armen da und konzentrierte sich ausschließlich auf die Vorgänge auf dem Operationstisch. Als er das selbstsichere und routinierte Vorgehen der jungen Chirurgen sah, nickte er unbewusst beifällig, und die beiden Professoren sahen einander an und lächelten.
Rob J. fuhr mit dem Zug zurück und kam neun Tage nach seiner Abreise von Holden’s Crossing in Rock Island an. Auf der Straße hinter dem Bahnhof traf er Paul und Roberta Williams, die in den Ort gekommen waren, um Einkäufe zu machen.
»Hallo, Doc! Gerade angekommen?« fragte Williams. »Hab’ gehört, Sie waren weg. Auf Urlaub?«
»Ja.« Rob J. nickte.
»War’s schön?«
Rob J. öffnete den Mund - und schloss ihn wieder. Dann sagte er: »Ja, sehr schön. Danke der Nachfrage, Paul!«
Er verabschiedete sich und ging zum Mietstall, um Boss zu holen und nach Hause zu reiten.
Der Vertragsarzt
Rob J. brauchte fast den ganzen Sommer, um sein Vorhaben vorzubereiten. Sein erster Gedanke war gewesen, es für einen anderen Arzt finanziell attraktiv zu machen, seine Praxis in Holden’s Crossing zu übernehmen. Doch nach einiger Zeit musste er sich eingestehen, dass das unmöglich war, denn der Krieg hatte zu einem akuten Ärztemangel geführt. So blieb ihm nur, Tobias Barr zu bitten, jeden Mittwoch und bei Notfällen nach Holden’s Crossing zu kommen. Bei leichteren Erkrankungen würden die Leute von Holden’s Crossing zu Dr. Barr nach Rock Island fahren oder die Nonnen konsultieren müssen. Sarah tobte - weil Rob J. sich der »falschen Seite«
anschloss und weil er überhaupt wegging. Sie betete und beriet sich mit Sydney Blackmer. Sie sei ohne ihn völlig hilflos, jammerte sie. »Bevor du gehst, musst du an die Unionsarmee schreiben«, drängte sie, »und anfragen, ob sie irgendwelche Unterlagen haben, dass Alex ihr Gefangener ist, oder ob er als gefallen gilt.« Rob J. hatte das schon Monate zuvor getan, doch er stimmte ihr zu, dass es an der Zeit sei, nochmals nachzufragen, und kümmerte sich darum.
Sarah und Lillian standen einander näher als je. Jay hatte ein erfolgreiches System ausgeklügelt, Post und Konföderiertennachrichten durch die feindlichen Linien nach Hause zu lotsen - wahrscheinlich mit Hilfe von Flussschmugglern. Bevor die Zeitungen von Illinois die Meldung druckten, konnte Lillian bereits berichten, dass Judah Benjamin vom konföderierten Kriegsminister zum konföderierten Außenminister befördert worden sei.
Einmal hatten Sarah und Rob J. mit den Geigers und Benjamin zu Abend gegessen, als Lillians Cousin nach Rock Island gekommen war, um mit Hume über einen Eisenbahnprozess zu sprechen. Benjamin hatte einen intelligenten und bescheidenen Eindruck gemacht, nicht den eines Mannes, der danach strebte, eine neue Nation anzuführen.
Jay sei in Sicherheit, erzählte Lillian. Er habe den Dienstgrad eines Stabsfeldwebels und sei irgendwo in Virginia als Aufseher oder Verwalter eines Lazaretts stationiert.
Als sie hörte, dass Rob J. sich der Nordstaatenarmee anschließen würde, sah sie ihn besorgt an. »Ich hoffe nur, dass du und Jay nicht aufeinandertrefft, solange dieser Krieg dauert.«
»Das ist höchst unwahrscheinlich«, antwortete er und tätschelte ihre Hand.
Er verabschiedete sich so unauffällig wie möglich von seinen Freunden. Mater Ferocia hörte ihm mit fast versteinerter Resignation zu. Es gehört zum Leben der Nonnen, dachte er, sich von Menschen zu verabschieden, die ein Teil ihres Lebens geworden sind. Sie gehen, wohin Gott sie schickt, und in dieser Hinsicht sind sie wie Soldaten. Er nahm das mee-shome und einen kleinen Koffer und ließ sich am Morgen des 12. August 1862 von Sarah zur Dampferanlegestelle von Rock Island bringen. Sie weinte und küsste ihn in wilder Verzweiflung wieder und wieder auf den Mund, ohne sich um die neugierigen Blicke der anderen Leute auf dem Pier zu kümmern.
»Schon gut, mein Mädchen, schon gut!« Er drückte sie sanft an sich. Es schmerzte ihn, sie zu verlassen, und so empfand er es als Erleichterung, an Bord zu gehen und ihr zuzuwinken, als die Sirene zwei kurze Signale und ein langes ausstieß und der Dampfer in den Strom hinaussteuerte, um sich schnell zu entfernen.
Er blieb fast während der ganzen Fahrt stromabwärts auf Deck. Er liebte den Mississippi, und es machte ihm Spaß, den regen Verkehr auf dem Strom zu beobachten. Der Süden hatte kühnere und zähere Soldaten und weit bessere Generäle gehabt als der Norden, aber als die Unionstruppen in diesem Frühling New Orleans eingenommen hatten, kam das der Vorherrschaft des Nordens über den unteren und oberen Abschnitt des Mississippi gleich. Mit dem Tennessee und anderen kleineren Flüssen hatte die Union nun einen Wasserweg direkt in den verwundbaren Bauch des Südens.
Ein militärischer Brückenkopf entlang dieser Wasserstraße war Cairo, wo Rob J. seine Fahrt mit der War Hawk begonnen hatte. Und hier ging er jetzt von Bord. Diesmal war die Stadt nicht überflutet, aber das machte sie kaum liebenswerter, denn Tausende von Soldaten kampierten am Stadtrand, und die Auswirkungen dieser konzentrierten Menschenansammlung waren in die Stadt übergeschwappt: Müll, tote Hunde und faulender Unrat türmten sich in den Straßen vor den gepflegten Häusern. Rob J. folgte dem Militärverkehr zum Lager, wo er von einem Posten aufgehalten wurde. Er wies sich aus, bat, zum kommandierenden Offizier gebracht zu werden, und stand kurz darauf Colonel Sibley von den 67. Pennsylvania Volunteers gegenüber. Das 67. Regiment habe bereits die zwei Ärzte, die ihm laut Verteilerschlüssel zustünden, sagte der Colonel. Es befänden sich jedoch noch drei weitere Regimenter im Lager, das 42. Kansas, das 106. Kansas und das 23. Ohio, und beim 106.
Kansas sei noch eine Stelle für einen Assistenzarzt frei. Und so begab sich Rob J. als nächstes dorthin. Der kommandierende Offizier des 106. Regiments war ein Colonel namens Frederick Hilton, den Rob J. vor seinem Zelt antraf, wo er Tabak kauend an einem kleinen Tisch saß und schrieb. Hilton wollte ihn unbedingt haben. Er stellte ihm den Dienstgrad eines Leutnants in Aussicht (»und so bald wie möglich Captain«) und bot ihm eine Jahresverpflichtung als stellvertretender Regimentsarzt an. Doch Rob J. hatte vor seiner Abreise aus Holden’s Crossing viel nachgeforscht und nachgedacht. Wenn er sich dazu entschlossen hätte, die Prüfung als Generalstabsarzt abzulegen, hätte er sich für einen Majorsrang, einen ansehnlichen Sold und eine Stellung als Sanitätsoffizier oder Stabsarzt in einem Hauptlazarett qualifiziert - er aber wusste, was er wollte.
»Keine Offiziersstelle. Die Army stellt auch zivile Ärzte auf Zeit ein -und ich werde auf der Basis eines Dreimonatsvertrages für Sie arbeiten.«
Hilton zuckte mit den Achseln. »Ich werde die Papiere entsprechend ausstellen. Kommen Sie nach dem Abendessen her, und unterschreiben Sie! Achtzig Dollar im Monat, und Sie bringen Ihr eigenes Pferd mit. Ich kann Sie zu einem Uniformschneider in der Stadt schicken.«
»Ich werde keine Uniform tragen.«
Der Colonel sah ihn befremdet an. »Das wäre aber ratsam. Diese Männer hier sind Soldaten - von einem Zivilisten werden sie sich kaum etwas sagen lassen.«
»Darauf lasse ich es ankommen.«
Colonel Hilton nickte gleichgültig und spuckte Tabaksaft auf den Boden. Dann rief er einen Sergeanten zu sich und befahl ihm, Dr. Cole zum Zelt der Sanitätsoffiziere zu bringen.
Sie waren erst ein paar Meter gegangen, als die ersten Töne des Zapfenstreichs erklangen: Die Zeremonie des Flaggeneinholens bei Sonnenuntergang begann. Alle Geräusche im Militärlager verstummten, als die Männer mit dem Gesicht zur Fahne zackig salutierten.
Es war das erstemal, dass Rob J. diesem feierlichen Akt beiwohnte, und er empfand ihn als bewegend, denn er spürte, dass er so etwas wie eine religiöse Gemeinschaft zwischen diesen Männern schuf, die regungslos im Salut verharrten, bis der letzte bebende Ton der Melodie verklungen war. Gleich darauf herrschte wieder rege Geschäftigkeit im Camp.
Die meisten Unterkünfte waren kleine Zweimannzelte, doch der Sergeant steuerte auf eine Gruppe kegelförmiger Zelte zu, die Rob J. an Tipis erinnerten, und blieb vor einem stehen. »Da sind wir, Sir.«
»Ich danke Ihnen.«
Im Innern gab es nur zwei Schlafplätze, die aus auf der Erde ausgebreiteten Decken bestanden. Ein Mann, zweifellos der Regimentsarzt, lag im Tiefschlaf. Sein Körper verströmte einen säuerlichen Geruch, und sein Atem roch stark nach Rum. Rob J. stellte seine Tasche auf den Boden und setzte sich daneben. Ich habe viele Fehler gemacht und mehr Dummheiten als die einen und weniger als die anderen, dachte er, und jetzt konnte er nicht umhin, sich zu fragen, ob er nicht im Begriff stand, eine der größten Dummheiten seines Lebens zu begehen.
Der Regimentsarzt hatte den Rang eines Majors und hieß G. H. Woffenden. Rob J. erfuhr sehr bald, dass der Mann nie ein Medizinstudium absolviert, jedoch eine Weile »beim alten Doc Cowan gelernt« und sich dann selbständig gemacht hatte, dass er von Colonel Hilton in Topeka rekrutiert worden war, das Majorsgehalt sein bisher bestes regelmäßiges Einkommen darstellte - und dass er sich hauptsächlich auf das Trinken konzentrierte und seinem Assistenten die tägliche Sprechstunde überließ.
Diese nahm freilich fast den ganzen Tag in Anspruch, denn die Schlange der Patienten schien niemals zu enden.
Das Regiment bestand aus zwei Bataillonen - das erste fünf Kompanien stark, das zweite nur drei - und war vor knapp vier Monaten gebildet worden, als die gesündesten Männer bereits anderweitig in Kriegsdienst standen.
Für das 106. Regiment hatte man zusammengesammelt, was übrig war, und für das zweite Bataillon den
»Ausschuss« aus Kansas genommen. Viele der Männer, die darauf warteten, von Rob J. behandelt zu werden, waren eigentlich schon zu alt, um Soldaten zu sein, und viele waren noch zu jung wie ein halbes Dutzend Burschen, die kaum über zehn Jahre alt waren. Alle befanden sich in außerordentlich schlechter Verfassung. Die häufigsten Beschwerden gingen auf Diarrhöe und Ruhr zurück, aber Rob J. traf auch auf die verschiedensten Arten von Fieber, auf schwere Erkältungen, die Bronchien und Lunge in Mitleidenschaft zogen, auf Syphilis und Tripper, Delirium tremens und andere Auswirkungen von Alkoholismus, auf Leistenbrüche und viele Fälle von Skorbut. Es gab ein Behandlungszelt, in dem sich ein geräumiger Armeetragkorb und ein großer Schrank aus Rohrgeflecht und Segeltuch befanden, wo das medizinische Zubehör aufbewahrt wurde. Nach der Inventurliste hätte dieses auch schwarzen Tee enthalten sollen, weißen Zucker, Kaffee-Extrakt, Rinderbrühekonzentrat, Kondensmilch und medizinischen Alkohol. Als Rob J. Woffenden nach diesen Dingen fragte, sah der Arzt ihn beleidigt an. »Wahrscheinlich gestohlen«, erklärte er knapp in auffällig defensivem Ton. Schon nach den ersten Mahlzeiten begriff Rob J., weshalb so viele der Männer Leibschmerzen hatten. Er suchte den Verpflegungsoffizier auf, einen hageren Second Lieutenant namens Zearing, und erfuhr von ihm, dass die Army dem Regiment nur achtzehn Cent pro Mann und Tag für Essen bewilligte. Das Resultat war eine tägliche Ration von dreihundert Gramm fettem, gesalzenem Schweinefleisch, sechzig Gramm weißen Bohnen oder Erbsen und entweder fünfhundert Gramm Mehl oder dreihundert Gramm Schiffszwieback. Das Fleisch war für gewöhnlich außen schwarz und innen faulig-gelb, und die Soldaten nannten den Zwieback »Wurmparadies«, denn die großen dicken Kekse, die oft von Feuchtigkeit aufgequollen waren, boten Maden und Würmern ein wahres Dorado.
Jeder erhielt seine Ration roh und bereitete sie sich selbst über einem kleinen Lagerfeuer zu, wobei er die Bohnen kochte und das Fleisch, den zerkrümelten Zwieback, ja sogar das Mehl in Schweinefett briet. In Verbindung mit dem schlechten Gesundheitszustand verursachte diese Art von Diät in Tausenden von Bäuchen einen Tumult, und es gab keine Latrinen. Die Männer erleichterten sich meist hinter ihren Zelten, und viele, die an Durchfall litten, schafften es nur bis zu dem Raum zwischen ihrem und dem Nachbarzelt. Der Geruch im Camp erinnerte an den auf der War Hawk, und Rob J. kam zu dem Schluss, dass die gesamte Army nach Exkrementen stank. Es war ihm klar, dass er gegen die Verpflegung nichts tun konnte - jedenfalls nicht im Moment -, aber er war entschlossen, die hygienischen Bedingungen zu verbessern. Am nächsten Nachmittag ging er nach der Sprechstunde zu einem Sergeanten der C-Kompanie des ersten Bataillons, der gerade dabei war, ein halbes Dutzend Soldaten in der Handhabung des Bajonetts zu unterweisen. »Sergeant, wissen Sie, wo Schaufeln sind?«
»Schaufeln? Ja, das weiß ich schon«, antwortete der Mann vorsichtig. »Sehr gut. Ich möchte, dass Sie jedem dieser Männer eine geben. Sie sollen einen Graben ziehen.«
»Einen Graben, Sir?« Der Sergeant musterte die Gestalt in dem ausgebeulten Anzug und dem verknitterten Hemd neugierig. »Ja, einen Graben«, nickte Rob J. »Gleich da drüben. Drei Meter lang, einen Meter breit und einsachtzig tief.« Der Doktor war ein großer Mann. Er schien sehr entschlossen zu sein - und der Sergeant wusste, dass er theoretisch den Dienstgrad eines Stabsfeldwebels bekleidete. Kurze Zeit später gruben die sechs Männer eifrig, während Rob J. und der Sergeant ihnen zuschauten, bis Colonel Hilton und Captain Irvine von der C-Kompanie die Straße herunterkamen. »Was zum Teufel soll das?« fragte Colonel Hilton den Sergeanten, der den Mund öffnete und Rob J. ansah. »Sie graben eine Versitzgrube, Colonel«, erklärte Rob J. »Eine Versitzgrube?«
»Ja, Sir - eine Latrine.«
»Ich weiß, was eine Versitzgrube ist. Es wäre bedeutend sinnvoller, wenn die Männer ihre Zeit darauf verwenden würden, mit dem Bajonett zu üben. Sie werden sehr bald in der Schlacht stehen. Wir bringen ihnen bei, wie sie die Rebellen umbringen sollen. Dieses Regiment wird Konföderierte erschießen, mit Bajonetten aufspießen, erstechen und sie, wenn es nötig sein sollte, zu Tode scheißen und pissen - aber keine Latrinen graben!«
Einer der Schaufelnden brach in schallendes Gelächter aus. Der Sergeant musterte Rob J. grinsend. »Ist das klar, Herr Assistenzarzt?«
Rob J. lächelte nicht. »Ja, Colonel.«
Das war an seinem vierten Tag beim 106. Kansas-Regiment. Diesem folgten sechsundachtzig weitere Tage, die sehr langsam vergingen und genau gezählt wurden.
Brief eines Sohnes
Cincinnati, Ohio
12. Januar 1863
Lieber Pa,
ich habe mir »Rob J.’s Messer« verdient! Colonel Peter Brandon, der Stellvertreter von Chefarzt William A.
Hammond, fungierte als Festredner. Viele meinten, es sei eine gute Rede gewesen, aber ich war enttäuscht.
Dr. Brandon führte aus, dass im Laufe der Geschichte Ärzte sich stets den medizinischen Bedürfnissen ihrer Armeen gewidmet hätten. Er gab eine Menge Beispiele wie die Hebräer der Bibel, die Griechen, die Römer etc.
etc. Dann erläuterte er uns die vielen großartigen Möglichkeiten, die sich Medizinern in diesem Krieg bieten, den Sold und die Vergünstigungen, die diejenigen erwarten, die sich in den Dienst ihres Landes stellen. Wir lechzten danach, etwas über die Großen unseres Berufsstandes zu hören - Plato und Galen, Hippokrates und Andreas Vesalius -, er aber hielt eine Rekrutierungsansprache. Es war nicht nur unpassend, sondern auch überflüssig. Siebzehn aus meiner Gruppe von sechsunddreißig frischgebackenen Ärzten hatten schon vorher ihre medizinische Laufbahn bei der Army in die Wege geleitet. Ich weiß, Du wirst es verstehen, wenn ich Dir schreibe, dass ich, obwohl ich Ma natürlich sehr gerne wiedergesehen hätte, erleichtert war, als sie sich gegen eine Reise nach Cincinnati entschied. Die Züge, Hotels und so weiter sind heutzutage so überfüllt und schmutzig, dass eine alleinreisende Frau mit Unbequemlichkeiten rechnen muss, wenn nicht mit Schlimmerem. Es tat mir sehr leid, dass Du nicht hier warst — und damit habe ich einen weiteren Grund, diesen Krieg zu hassen. Paul Cookes Vater, der in Xenia eine Futtermittel- und Getreidehandlung besitzt, kam zu der Feier und führte unsbeide anschließend groß zum Essen aus, wobei er uns hochleben ließ und nicht mit Komplimenten sparte. Paulist einer von denen, die direkt zur Army gehen. Obwohl er so ein Spaßvogel ist und immer Unfug im Kopf hat,war er der Hellste unseres Jahrgangs und schaffte sein Examen mit summa cum laude. Ich half ihm bei derLaborarbeit, und er half mir, mit magna cum laude abzuschließen, denn nach jeder Vorlesung drangsalierte ermich mit Fragen, die viel schwieriger waren als alle, die uns die Professoren je stellten.
Nach dem Essen gingen er und sein Vater in Pike’s Opera House, um Adelina Patti zu hören, und ich kehrte in die Poliklinik zurück. Ich hatte etwas Wichtiges vor. Es gibt einen geklinkerten Tunnel, der zwischen dem Vorlesungsbau und dem Hauptgebäude des Krankenhauses unter der Straße hindurchführt. Seine Benutzung ist ausschließlich Ärzten vorbehalten. Damit er für Notfälle frei ist, müssen Medizinstudenten bei jedem Wetter den Weg über die Straße nehmen. Ich stieg in den Keller des Vorlesungsgebäudes hinunter und fühlte mich noch sehr als Student, als ich den durch Wandlampen erleuchteten unterirdischen Gang betrat. Doch als ich am anderen Ende im Krankenhaus herauskam, fühlte ich mich zum erstenmal als Arzt. Pa, ich habe mich für zwei Jahre an das Southwestern Ohio Hospital verpflichtet. Der Posten bringt mir zwar nur dreihundert Dollar jährlich, aber Dr. Berwyn sagte, das sei nur eine Vorstufe zu einem guten Gehalt. »Spielen Sie nie die Bedeutung eines guten Einkommens herunter«, sagte er. »Ein Mann, der sich über den hohen Verdienst eines Arztes beklagt, ist mit Sicherheit selbst keiner.« Erstaunlicherweise und zum großen Glück für mich streiten sich Berwyn undMcGowan darum, wer von ihnen beiden mich unter seine Fittiche nehmen wird. Neulich umriss BarneyMcGowan folgenden Plan für meine Zukunft: Ich werde ein paar Jahre als sein Assistent arbeiten, und dannwird er mir eine Anstellung als außerordentlicher Professor der Anatomie besorgen. Auf diese Weise, sagte er,wäre ich, wenn er in den Ruhestand tritt, soweit, seine Stelle als Chef der Pathologie einzunehmen. Mirschwirrte der Kopf, denn mein Traum hatte sich stets nur darauf beschränkt, ein einfacher Arzt zu werden.
Schließlich arbeiteten die beiden gemeinsam ein Programm für mich aus, das mir recht abenteuerlich erscheint.
Wie ich es schon während meiner Arbeit in den Sommerferien tat, werde ich die Vormittage mit Berwyn im Operationssaal verbringen und die Nachmittage mit McGowan in der Pathologie - nur werde ich jetzt, anstatt Handlangerdienste zu tun, als Arzt eingesetzt. Trotz des Entgegenkommens der beiden weiß ich nicht, ob ich mich jemals in Cincinnati niederlassen werde. Im Augenblick jedenfalls würde ich lieber in einem kleinen Ort leben, wo ich die Leute kenne.
Cincinnati ist, von der Einstellung und Mentalität her gesehen, stärker südstaatlich orientiert als Holden’s Crossing. Billy Henried vertraute einigen verschwiegenen Freunden an, dass er nach dem Abschluss des Studiums in die Konföderiertenarmee eintreten werde. Vorgestern abend war ich mit ihm und Cooke beim Essen
- zum Abschied. Es war eine seltsame und traurige Stimmung: Beide wussten, wohin der andere geht.
Die Nachricht, dass Lincoln eine Proklamation unterzeichnet hat, die den Sklaven ihre Freiheit garantiert, hat viel böses Blut gemacht. Ich weiß, dass Du den Präsidenten wegen seiner Beteiligung an der Vernichtung der Sauks ablehnst, aber ich bewundere ihn dafür, dass er die Sklaven befreit, welche politischen Gründe ihn auch dazu bewegen mögen. Die Nordstaatler hier scheinen zu jedem Opfer bereit, solange sie sich einreden können, sie tun es, um die Union zu retten, aber sie sind dagegen, dass das Ziel des Krieges die Abschaffung der Sklaverei wird. Die meisten wollen diesen schrecklichen Blutpreis nicht zahlen, wenn die Kämpfe dazu dienen sollen, die Schwarzen zu befreien. Die Verluste bei Schlachten wie der zweiten am Bull Run Creek sind entsetzlich gewesen. Jetzt gibt es Nachrichten über ein Gemetzel bei Fredericksburg, wo fast dreizehntausend Unionssoldaten niedergemäht wurden, als sie versuchten, einen Landstrich der Südstaaten zu erobern. Viele Leute, mit denen ich gesprochen habe, sind über diesen Vorfall verzweifelt.
Ich mache mir ständig Sorgen um Dich und Alex. Mag sein, dass es Dich ärgert, wenn ich Dir gestehe, dass ich angefangen habe zu beten, obwohl ich nicht weiß, zu wem - und ich bitte immer nur darum, dass Ihr beide heil nach Hause kommt.
Bitte, kümmere Dich ebenso gewissenhaft um Deine Gesundheit wie um die der anderen, und vergiss nicht, dass es Menschen gibt, die ihr Leben auf Deiner Stärke und Deiner Güte aufbauen!
Dein Dich liebender Sohn
Shaman
Dr. (!) Robert Je fferson Cole
Der Hornist
In einem Zelt zu hausen und auf dem Boden zu schlafen stellte sich als nicht so unangenehm heraus, wie Rob J.
befürchtet hatte. Viel schwieriger war es, mit den Fragen zurechtzukommen, die ihn verfolgten: warum in aller Welt er hier war und wie dieser schreckliche Bürgerkrieg ausgehen würde. Die Sache verlief weiterhin schlecht für die Nordstaaten. »Wie sollen wir bei unseren Verlusten denn je den Krieg gewinnen?« bemerkte Major G. H.
Woffenden in einem verhältnismäßig nüchternen Moment.
Die meisten Soldaten um Rob J. herum tranken in ihrer Freizeit unmäßig - vor allem nach dem Zahltag. Sie tranken, um zu vergessen, um sich zu erinnern, um zu feiern, um sich zu trösten. Die verdreckten und oft besoffenen Männer erinnerten ihn an Bluthunde an der Leine, die es nicht erwarten können, ihren Feinden an die Kehle zu gehen -anderen Amerikanern, die zweifellos ebenso verdreckt und ebensooft besoffen waren.
Warum schienen sie so erpicht darauf, Konföderierte zu töten? Die wenigsten kannten einen Südstaatler. Rob J.
stellte fest, dass der Krieg für sie eine Bedeutung gewonnen hatte, die weit über Gründe und Ursachen hinausging. Sie dürsteten danach zu kämpfen, weil es nun einmal Krieg gab - und weil es offiziell für bewundernswert und patriotisch erklärt worden war zu töten. Das genügte. Er hätte sie am liebsten angeschrien, die Generäle und Politiker in ein dunkles Zimmer gesperrt wie ungezogene Kinder, sie am Schlafittchen gepackt und geschüttelt und gefragt: »Was ist mit euch los? Was ist mit euch los?« Statt dessen hielt er jeden Tag Sprechstunde ab, teilte Brechwurz, Chinin und schmerzstillende Mittel aus und achtete darauf, beim Gehen immer auf den Boden zu sehen - wie ein Mann, der in einem riesigen Zwinger wohnt.
An seinem letzten Tag beim 106. Kansas-Regiment holte Rob J. beim Zahlmeister seine achtzig Dollar ab, ging zu dem kegelförmigen Zelt, in dem er gewohnt hatte, hängte sich das mee-shome über die Schulter und nahm seinen Koffer. Major G. H. Woffenden, der, in seinen Gummiumhang gewickelt, zusammengerollt auf dem Boden lag, öffnete nicht einmal die Augen - geschweige denn, dass er den »Herrn Assistenzarzt« verabschiedete.
Fünf Tage zuvor waren die Männer des 67. Pennsylvania an Bord von Dampfschiffen gegangen und einem Gerücht zufolge südwärts zu einem Kriegsschauplatz gebracht worden. Und jetzt spien andere Schiffe das 119.
Indiana aus, das seine Zelte dort aufstellte, wo noch kurz vorher die des 67. Regiments gestanden hatten. Als Rob J. den kommandierenden Offizier aufsuchte, sah er sich einem pausbäckigen Colonel in den Zwanzigern gegenüber, Alonzo Symonds, der ihm erklärte, er suche dringend einen Arzt: Seiner habe eine dreimonatige Dienstzeit abgeleistet und sei nach Indiana zurückgekehrt, einen Assistenten habe er nicht gehabt. Symonds befragte Dr. Cole eingehend und schien beeindruckt von dem, was er erfuhr, doch als Rob J. andeutete, dass bestimmte Bedingungen erfüllt werden müssten, wenn er unterschreiben solle, verdüsterte sich die Miene des Colonels. Rob J. hatte über seine Sprechstunden gewissenhaft Protokoll geführt. »An fast jedem Tag lagen sechsunddreißig Prozent der Männer entweder flach oder standen Schlange, um sich von mir behandeln zu lassen. Manchmal war der Prozentsatz noch höher. Wie verhält es sich im Vergleich dazu mit Ihrer täglichen Krankenliste?«
»Die ist auch sehr lang«, gab Symonds zu. »Ich kann das ändern, Colonel, wenn Sie mir helfen.« Symonds war erst seit vier Monaten Colonel. Seine Familie besaß in Fort Wayne eine Glasfabrik für Lampenzylinder, und er wusste, wie schlecht kranke Arbeiter fürs Geschäft sein können. Das 119. Indiana war vor vier Monaten aus unerfahrenen Männern zusammengestellt und innerhalb von Tagen nach Tennessee abkommandiert worden. Er schätzte sich glücklich, dass sie nur zwei Scharmützel ausgetragen hatten, die die Bezeichnung Feindberührung verdienten. Die Verluste hatten sich auf zwei Tote und einen Verletzten beschränkt, aber ständig lagen so viele Männer mit Fieber darnieder, dass die Konföderierten das Regiment ohne Schwierigkeiten hätten niederwalzen können, wenn sie es gewusst hätten. »Was muss ich tun?«
»Ihre Männer errichten ihre Zelte auf den Scheißhaufen der 67. Pennsylvania Volunteers, und sie trinken Wasser, das durch ihre eigenen Ausscheidungen verseucht ist. Weniger als eine Meile entfernt liegt ein braches Gelände mit Quellen, die den ganzen Winter über sauberes Trinkwasser liefern könnten, wenn man sie in Rohre fasst.«
»Gütiger Gott! Eine Meile ist ein weiter Weg, um mit den anderen Regimentern in Kontakt zu treten, und welcher Offizier wird ihn zurücklegen, um mit mir zu sprechen?«
Sie sahen einander schweigend an, und dann fasste Colonel Symonds einen Entschluss. Er ging zu seinem Adjutanten. »Geben Sie Befehl, die Zelte wieder abzubrechen, Douglass! Das Regiment zieht um.« Dann wandte er sich wieder dem schwierigen Doktor zu. Wieder lehnte Rob J. ab, rekrutiert zu werden. Er bat darum, als Assistenzarzt angestellt zu werden - mit einem Dreimonatsvertrag. »Auf diese Weise hauen Sie ab, sobald Sie Ihren Kopf nicht durchsetzen können.« Der junge Colonel durchschaute Robs Motiv. Sein Gegenüber widersprach nicht, und Symonds musterte ihn nachdenklich. »Was wollen Sie sonst noch?«
»Latrinen.«
Der Boden war fest, aber noch nicht gefroren. An einem einzigen Vormittag waren die Gräben gezogen und mit Längsbalken auf dreißig Zentimeter hohen Pfosten versehen. Als allen Kompanien gemeinsam der Befehl verlesen wurde, das Verrichten der Notdurft in Zukunft ausschließlich auf die Latrinen zu beschränken, und als die Drohung folgte, dass jede Zuwiderhandlung umgehend und schwer bestraft werde, wurden heftige Proteste laut. Die Männer brauchten etwas, das sie hassen und worüber sie sich lustig machen konnten, und Rob J. musste feststellen, dass er dieses Bedürfnis gestillt hatte. Als er zwischen den Soldaten hindurchging, stießen sie einander in die Rippen, verhöhnten ihn mit Blicken und grinsten bösartig über die lächerliche Figur in dem täglich schäbiger werdenden Zivilanzug. Doch Colonel Symonds ließ ihnen nicht viel Zeit, sich irgendwelche Vergeltungsscherze auszudenken. Er opferte vier weitere Tage dafür, eine Reihe halb in den Boden versenkter Hütten aus Balken und Grassoden bauen zu lassen, die zwar dampfig und schlecht belüftet waren, jedoch beträchtlich mehr Schutz gewährten als Zelte. Ein kleines Feuer in der Mitte ermöglichte es den Männern zudem, kalte Winternächte ohne Unterbrechung zu durchschlafen. Symonds war ein guter Kommandant, und er hatte fähige Offiziere verpflichtet. Der Verpflegungsoffizier war ein Captain namens Mason. Rob J. hatte keine Schwierigkeiten, ihm die ernährungsbedingten Ursachen von Skorbut zu erklären, denn er konnte die Auswirkungen der Krankheit an Beispielen unter den Soldaten deutlich machen. Sie fuhren beide mit einem Wagen nach Cairo hinein und kauften Fässer voll Kohl und Karotten, die Bestandteil der täglichen Rationen wurden. Bei einigen der anderen Einheiten war der Skorbut sogar noch verbreiteter, doch als Rob J. versuchte, mit den Ärzten der anderen Regimenter zu sprechen, stieß er auf wenig Verständnis. Sie schienen sich eher als Armeeoffiziere zu verstehen denn als Ärzte. Alle trugen sie Uniform, zwei sogar Degen wie Truppenoffiziere, und der Stabsarzt des Ohio-Regiments hatte Fransenepauletten, wie sie Rob J. einmal auf dem Bild eines pompösen französischen Generals gesehen hatte.
Er hingegen legte größten Wert auf seinen Zivilistenstatus. Als ein Versorgungssergeant ihm als Dank für die Beseitigung seiner Bauchkrämpfe einen wollenen Uniformmantel brachte, nahm er diesen in die Stadt mit, ließ ihn schwarz färben und mit neutralen Knöpfen versehen. Er tat immer noch, als sei er ein Landarzt, der nur vorübergehend in einer Stadt praktiziert.
Einer kleinen Stadt ähnelte das Lager in vieler Hinsicht- allerdings mit ausschließlich männlichen Bewohnern.
Das Regiment hatte sein eigenes Postamt mit Corporal Amasa Decker als Posthalter und Briefträger. Jeden Mittwochabend gab die Regimentskapelle auf dem Exerzierplatz ein Konzert, und wenn sie ein populäres Lied spielten wie »Listen to the Mocking Bird« oder »Come Where My Love Lies Dreaming« oder »The Girl I Left Behind Me«, sangen die Männer manchmal mit. Händler brachten die verschiedensten Waren ins Lager. Bei einem Monatssold von dreizehn Dollar konnten die Durchschnittssoldaten sich nicht viel von dem Käse leisten, der fünfzig Cent pro Pfund kostete, oder von der Kondensmilch zu fünfundsiebzig Cent die Dose, aber den Marketenderschnaps kauften sie. Rob J. gönnte sich mehrmals wöchentlich Melassekekse, von denen das Viertelpfund für sechs Cent zu haben war. Als sich in einem großen Steilwandzelt ein Fotograf etablierte, zahlte Rob J. eines Tages einen Dollar für eine Ferrotypie, die ihn steif dastehend und mit ernstem Gesicht zeigte und die er sofort an Sarah schickte als Beweis dafür, dass ihr Mann noch am Leben war und sie sehr liebte.
Nachdem Colonel Symonds einmal unerfahrene Soldaten in umkämpftes Gebiet hatte führen müssen, war er entschlossen, sie nie wieder unvorbereitet in eine Schlacht ziehen zu lassen. Während des Winters drillte er seine Soldaten hart. Es gab Übungsmärsche von dreißig Meilen Länge, die Rob J. neue Patienten bescherten, da manche der Männer vom Schleppen des vollen Marschgepäcks und der schweren Musketen Muskelzerrungen davontrugen. Andere bekamen durch die Gürtel, an denen schwere Patronenkästen hingen, einen Leistenbruch.
Ständig trainierten Gruppen den Gebrauch des Bajonetts, und Symonds zwang sie, das mühevolle Laden der Musketen wieder und wieder zu üben: »Beißt das Papier von der Patrone ab, als ob ihr wütend auf sie wärt.
Schüttet das Schießpulver in den Lauf, steckt das Minie-Geschoss hinein und das Papier als Stöpsel drauf, und rammt dann das Ganze fest nach unten. Nehmt ein Zündhütchen aus eurem Beutel und setzt es auf den Nippel am Verschlussstück. Und dann zielt und feuert!«
Sie wiederholten es unermüdlich, unendlich. Symonds erklärte Rob J., er wolle, dass sie das Laden und Feuern auch beherrschten, wenn sie mitten aus dem Schlaf gerissen würden, wenn sie betäubt vor Angst seien oder wenn ihre Hände vor Furcht und Aufregung zitterten. Und damit sie lernten, Befehle auszuführen, ohne zu überlegen oder zu protestieren, ließ der Colonel sie in geschlossener Ordnung marschieren, auf und ab, auf und ab. An Tagen, an denen Schnee lag, lieh sich Symonds von der Cairoer Straßenmeisterei große Walzen aus, die dann von Pferdegespannen so lange über den Exerzierplatz gezogen wurden, bis er flach und hart genug war für weiteren Drill, den dann die Regimentskapelle mit Märschen und Quicksteps begleitete. Als Rob J. an einem klaren Wintertag am Exerzierplatz entlangschlenderte, der sich allmählich mit Soldaten füllte, musterte er die schon bereit sitzenden Musiker, und er bemerkte, dass einer der Hornisten ein großes Muttermal im Gesicht hatte. Das schwere Instrument lag auf seiner linken Schulter abgestützt, so dass der geschwungene Messinghals und der große Schalltrichter golden in der Sonne glänzten, während er seine Backen beim Spiel von »Hail Columbia« aufblähte wie Ballons. Jedesmal wenn sich die Wangen des Mannes von neuem mit Luft füllten, wurde der purpurne Fleck unter seinem rechten Auge dunkler - wie ein Signal.
Zwölf Jahre lang hatte Rob J. sich jedesmal innerlich verkrampft, wenn er einen Mann mit einem Muttermal im Gesicht sah, doch jetzt ging er, automatisch dem Takt der Musik angepasst, einfach weiter, den ganzen Weg zu dem Zelt, in dem er seine Sprechstunde abhielt. Am nächsten Morgen, als er sah, wie die Kapelle zum Exerzierplatz marschierte, um bei einer Parade mitzumachen, hielt er nach dem Hornisten mit dem großen Muttermal Ausschau, doch der Mann war nicht dabei.
Rob J. ging zu den Hütten, in denen die Mitglieder der Kapelle untergebracht waren, und entdeckte den Gesuchten sofort: Er nahm gerade gefrorene Wäschestücke von der Leine. »Steifer als der Schwanz von ‘nem Gehängten«, sagte der Mann angewidert. »Völlig blödsinnig, mitten im Winter Inspektionen zu machen.«
Heuchlerisch stimmte ihm Rob J. bei, obwohl er die Inspektionen selbst angeregt hatte, um die Männer zu zwingen, wenigstens einige ihrer Kleidungsstücke ab und zu zu waschen. »Dienstfrei heute?« Der Mann sah ihn verdrießlich an. »Ich marschiere nicht mit: Ich hinke.«
Und als er mit einem Arm voll Wäsche davonging, sah Rob J., dass es stimmte: Der Hornist hätte den Gleichschritt einer Militärkapelle gestört; sein rechtes Bein schien ein wenig kürzer zu sein als das linke, so dass er auffallend hinkte.
Rob J. ging in seine Hütte und setzte sich mit einer Decke um die Schultern in der kalten Dämmerung auf seinen Umhang. Zwölf Jahre. Er erinnerte sich genau an den Tag und an jeden einzelnen Hausbesuch, den er gemacht hatte, während Makwa-ikwa vergewaltigt und ermordet wurde.
Er dachte an die drei Männer, die unmittelbar vor dem Mord nach Holden’s Crossing gekommen und danach verschwunden waren. In all den zwölf Jahren hatte er nicht mehr Einzelheiten über sie in Erfahrung bringen können, als dass sie »versoffene Strolche« waren. Ein falscher Priester, Reverend Ellwood R. Patterson, den er wegen Syphilis behandelt hatte. Ein gedrungener, kräftiger Fettwanst namens Hank Cough. Und ein magerer junger Kerl, den sie Len genannt hatten, manchmal auch Lenny, mit einem großen Muttermal unter dem rechten Auge und einem zu kurzen Bein.
Falls der Musiker der Gesuchte war, so hatte er inzwischen einiges an Gewicht zugelegt. Aber schließlich war er selbst, Rob, auch nicht mehr so schlank.
Wahrscheinlich war es gar nicht der Mann, den er suchte, sagte sich Rob J. Es gab sicher mehrere Männer in Amerika mit einem großen Muttermal im Gesicht und einem zu kurzen Bein. Und er erkannte plötzlich, dass er nicht wollte, dass es der richtige Mann war. Er gestand sich ein, dass er die Männer gar nicht mehr wirklich finden wollte. Was sollte er tun, wenn der Hornist Lenny war? Ihm die Kehle durchschneiden?
Hilflosigkeit grinste ihn an.
Es war ihm gelungen, Makwas Tod in eine der hintersten Schubladen seines Gedächtnisses zu verbannen, aber jetzt war diese Schublade, gleich der Büchse der Pandora, wieder geöffnet worden, und er spürte, wie eine vergessen geglaubte Kälte in ihm hochkroch, eine Kälte, die nichts mit der Temperatur in der kleinen Hütte zu tun hatte. Er verließ seine Behausung und ging zu dem Zelt, in dem die Regimentsverwaltung saß. Adjutant Douglass war inzwischen daran gewöhnt, dass der Doktor die Personalakten einsah, und hatte Rob J. schon gesagt, dass er noch nie einen Arzt gekannt habe, der so viel Wert auf lückenlose Patientenberichte legte.
»Wieder Papierkram, Doc?«
»Ein bisschen.«
»Bedienen Sie sich! Die Ordonnanz ist gerade Kaffee holen gegangen. Sie können gerne welchen abhaben. Aber tropfen Sie mir bitte bloß nicht auf die verdammten Akten!« Rob J. versprach es.
Die Kapelle war der Headquarters Company angegliedert. Douglass bewahrte die Unterlagen jeder Kompanie ordentlich getrennt in grauen Kästen auf. Rob J. fand den gesuchten Kasten, und darin lag ein Aktenbündel, das mit 119. Indiana-Regimentskapelle beschriftet war. Er ging die Unterlagen sorgfältig durch. Es gab unter den Musikern keinen mit dem Vornamen Leonard, doch als Rob J. die Karteikarte fand, wusste er sofort, dass er die richtige vor sich hatte, genauso wie er manchmal wusste, ob jemand überleben oder sterben würde.
Ordway, Lanning A., ohne Dienstgrad, Heimatort Vincennes, Indiana.
Freiwillig für ein Jahr verpflichtet, am 28. Juli 1862 in Fort Wayne eingetreten.
Geboren in Vincennes, Indiana, am 11. November 1836.
Größe 1,70 m, Haut hell, Augen grau, Haare braun.
Eingesetzt für begrenzte Tätigkeit als Musiker (Horn in F)
und allgemeine Arbeiten (wegen körperlicher Behinderung).
Truppenbewegungen
Rob J.’s Vertrag war schon seit Wochen abgelaufen, als Colonel Symonds zu ihm kam, um über eine Neuerung zu sprechen. Zu dieser Zeit wüteten in den anderen Regimentern bereits die gefürchteten Frühlingsfieber - nicht aber im 119. Indiana. Dessen Angehörige litten zwar wegen des Schlafens auf feuchtem Boden an Erkältung und wegen der Ernährung an Durchfall, doch die Warteschlangen vor Robs Sprechstundenzelt waren die kürzesten, die er je erlebt hatte, seit er bei der Army arbeitete. Die ältesten Männer, die von Anfang an nicht hätten rekrutiert werden dürfen, hatte man nach Hause geschickt. Die meisten anderen litten unter Läusen, hatten schmutzige Füße und Hälse und Juckreiz im Schritt, und vor allem tranken sie zuviel Whiskey. Aber sie waren drahtig und abgehärtet durch die langen Märsche und den ständigen Drill, und sie hatten klare Augen und Tatendurst, weil es dem Assistenzarzt Cole irgendwie gelungen war, sie gesund durch die kalte Jahreszeit zu bringen, wie er es versprochen hatte. Von den sechshundert Mann des Regiments waren im Laufe der Wintermonate sieben gestorben - eine Sterblichkeit von zwölf Promille. Im gleichen Zeitraum starben in den drei anderen Regimentern 58 Promille und jetzt, da das Fieber grassierte, würde der Satz mit Sicherheit noch steigen.
Also war der Colonel zu seinem Doktor gekommen, und Rob J. unterschrieb, ohne zu zögern, einen neuen Vertrag für weitere drei Monate. Was sie jetzt brauchten, erklärte er Symonds, sei eine Ambulanz, die das Regiment in der Schlacht betreuen konnte. Die zivile Sanitary Commission hatte den Kriegsminister so lange bedrängt, bis für die Potomac-Army Ambulanzen und Bahrenträger bewilligt wurden, doch damit hatte die Reformbewegung ein Ende gefunden, ohne dass für die Verwundeten der Einheiten im westlichen Sektor eine ähnliche Versorgung gewährleistet gewesen wäre. »Wir werden selbst dafür sorgen müssen«, sagte Rob J. Er und Symonds saßen zigarrenrauchend vor dem Sprechstundenzelt. Der Rauch stieg in die wohlig wärmende Frühlingsluft. Rob J. erzählte dem Colonel von seiner Reise nach Cincinnati auf der War Hawk: »Ich habe mit Männern gesprochen, die zwei Tage lang verwundet auf dem Schlachtfeld gelegen hatten. Es war eine wahre Gnade, dass es regnete, denn sie hatten kein Wasser. Ein Mann erzählte mir, dass während der Nacht Schweine bis in seine Nähe kamen und begannen, die Leichen anzufressen, manchmal sogar Lebende.
Symonds nickte. Ihm waren all die schrecklichen Einzelheiten bekannt. »Was brauchen Sie?«
»Vier Mann aus jeder Kompanie.«
»Sie wollen einen ganzen Zug Bahrenträger?« Der junge Commander sah ihn entsetzt an. »Dieses Regiment ist ohnehin stark unterbesetzt. Um Schlachten zu gewinnen, brauche ich Kämpfer, keine Bahrenträger.« Er betrachtete die Spitze seiner Zigarre. »Es sind noch immer zu viele Alte und Schwache da. Nehmen Sie welche von denen!«
»Nein. Um Verwundete unter Beschuss in Sicherheit zu holen, brauchen wir kräftige Burschen. Das ist keine Aufgabe für schwächliche und alte Männer.« Rob J. studierte das Gesicht des Colonel, den er zu bewundern und zu bedauern gelernt hatte. Symonds liebte seine Leute und wollte sie beschützen, doch er hatte die unschöne Aufgabe, mit Menschen umgehen zu müssen, als wären sie Patronen, Essensrationen oder Feuerholz. »Was halten Sie davon, wenn ich mir Mitglieder der Regimentskapelle hole?« schlug Rob J. vor. »Sie können die meiste Zeit dudeln, und wenn nötig, werden sie als Träger eingesetzt.« Colonel Symonds war zutiefst erleichtert.
»Ausgezeichnet. Fragen Sie den Kapellmeister, ob er Ihnen ein paar Männer abtreten kann!«
Kapellmeister Warren Fitts war sechzehn Jahre Schuster gewesen, ehe er in Fort Wayne rekrutiert wurde. Er hatte intensiven Musikunterricht hinter sich und als junger Mann mehrere Jahre versucht, in South Bend einer Musikschule zum Durchbruch zu verhelfen. Als er die Stadt mit Schulden verließ, kehrte er mit bitterer Erleichterung zur Schuhmacherei zurück, die schon sein Vater betrieben hatte. Fitts führte ein bescheidenes, aber nicht ärmliches Leben und gab nebenher Unterricht für Klavier und Blasinstrumente. Der Krieg ließ dann Träume wiederauferstehen, die er für unerfüllbar gehalten hatte. Im Alter von vierzig Jahren hatte er Gelegenheit bekommen, eine Militärkapelle zusammenzustellen und zu leiten, und hatte dazu die ganze Umgebung von Fort Wayne nach musikalischen Talenten durchforstet. Jetzt hörte er voller Entsetzen, dass dieser Arzt einige seiner Männer als Bahrenträger zweckentfremden wollte. »Niemals!«
»Sie hätten ja nur von Fall zu Fall zu tun«, gab Rob J. zu bedenken. »Die übrige Zeit stünden sie nach wie vor Ihnen zur Verfügung.« Fitts bemühte sich, seine Verachtung zu verbergen. »Jeder Musiker muss der Kapelle seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen. Wenn kein Konzert ist, muss er üben und proben.«
Rob J. wusste von seiner Erfahrung mit der Gambe, dass diese Aussage richtig war. »Gibt es vielleicht Instrumente, für die Sie eine zweite Besetzung haben?« fragte er geduldig.
Diese Frage ließ in Fitts eine Saite anklingen. Seine Position als Kapellmeister war für ihn gleichbedeutend mit der eines Dirigenten, und er achtete peinlich darauf, dass seine äußere Erscheinung - und auch die seiner Männer
- der kulturellen Aufgabe entsprach. Er hatte eine gepflegte, graumelierte Mähne, er war stets glatt rasiert bis auf den Schnurrbart, den er regelmäßig sorgfältig stutzte und dessen Enden er wachste und spitz zusammendrehte, seine Uniform war in tadellosem Zustand, und die Musiker wussten, dass er keinen Spaß verstand, wenn es um nachlässig polierte Instrumente oder glanzlose Stiefel ging. Und sie mussten exakt marschieren: Wenn der Kapellmeister mit wirbelndem Taktstock vorausging, erwartete er, dass die Kapelle seine Ansprüche widerspiegelte. Doch es gab einige, die dieser Darstellung nicht entsprachen.
»Wilcox, Abner«, sagte er, »Trompete.« Wilcox schielte stark, Fitts aber schätzte es, wenn Musiker zu ihrem Talent auch noch ein angenehmes Äußeres zu bieten hatten. Er konnte es nicht ertragen, wenn irgendein Makel die Perfektion seines Ensembles störte, und er hatte Wilcox eingestellt, um vor allem beim Zapfenstreich einzuspringen. »Lawrence, Oscar, Trommler.« Ein ungeschickter sechzehnjähriger Junge mit mangelhaftem Rhythmusgefühl, was ihn nicht nur zu einem schlechten Trommler machte, sondern auch oft dazu führte, dass er beim Marschieren aus dem Tritt kam und sein Kopf sich dann plötzlich asynchron zu den anderen bewegte.
»Ordway, Lanning«, setzte er seine Aufzählung fort. Der Doktor quittierte diesen Vorschlag mit einem leichten Nicken. »F-Horn.« Ein mittelmäßiger Musiker und Kutscher eines der Fahrzeuge der Kapelle, der manchmal auch als Hilfsarbeiter eingesetzt wurde. Als Hornist vor allem geeignet, um an den Mittwochabenden für die Soldaten aufzuspielen oder wenn sie sitzend übten, aber sein Hinken gestattete ihm nicht zu marschieren, ohne das Bild militärischer Präzision zu zerstören. »Perry, Addison, Piccoloflöte und Querpfeife.« Ein schlechter Musiker und sowohl körperlich als auch kleidungsmässig ungepflegt. »Robinson, Lewis, Kornett.« Ein fähiger Musiker, musste Fitts insgeheim zugeben, doch ein ständiges Ärgernis, weil er ein Klugscheißer mit Ehrgeiz war. Mehrmals hatte er Fitts Stücke gezeigt, die er seiner Aussage nach komponiert hatte, und gefragt, ob die Kapelle sie vielleicht spielen könne. Überdies behauptete er, in Columbus, Ohio, als Dirigent gearbeitet zu haben. Fitts konnte niemanden gebrauchen, der ihm über die Schulter sah oder ihn gar verdrängen wollte.
»Und?« fragte Rob J.
»Sonst keinen.«
Den ganzen Winter hindurch beobachtete Rob J. den Mann unruhig aus der Ferne. Ordways Dienstzeit war zwar noch nicht zu Ende, doch es wäre kein Problem gewesen, zu desertieren und zu verschwinden. Aber was auch immer die Mehrheit an die Army band, es funktionierte auch bei Ordway, und so meldete er sich mit den vier anderen bei Rob J. - ein für einen mutmaßlichen Mörder gar nicht unangenehm aussehender Bursche, wenn man von seinen wässrigen, unsteten Augen absah.
Keiner von den fünfen war von der neuen Aufgabe begeistert. Lewis Robinson reagierte sogar mit regelrechter Panik: »Ich muss musizieren! Ich bin Musiker, kein Doktor!«
»Bahrenträger«, korrigierte ihn Rob J. »Wenn es erforderlich ist, werden Sie als Bahrenträger arbeiten«, beschied er allen. Er bat den Kapellmeister, die Männer gänzlich freizustellen, was ihm mit verdächtiger Bereitwilligkeit gewährt wurde. Um sie in die ungewohnte Tätigkeit einzuführen, begann er damit, ihnen beizubringen, Bandagen aufzurollen und Kompressen herzustellen. Danach simulierte er die verschiedensten Verletzungen und zeigte ihnen, wie man die erforderliche Kompresse auflegte. Er lehrte sie, wie die Verwundeten hochzuheben und zu tragen waren, und stattete jeden Mann mit einem kleinen Rucksack aus, der Kompressen, Verbandsmaterial, einen Behälter mit frischem Wasser sowie Opium und Morphium in Pulver und Tablettenform enthielt.
Zur medizinischen Ausrüstung der Army gehörten auch Schienen, doch die gefielen Rob J. nicht, und er beschaffte Holz, aus dem er die Bahrenträger unter seiner Anleitung Schienen anfertigen ließ. Abner Wilcox erwies sich als geschickter Schreiner und als erfindungsreich dazu. Er konstruierte eine ganze Anzahl leichtgewichtiger Tragbahren, indem er Segeltuch zwischen zwei Holzstangen spannte. Der Versorgungsoffizier bot einen zweirädrigen Karren als Ambulanzfahrzeug an, doch Rob J. war jahrelang auf schlechten Straßen zu Hausbesuchen gefahren, und er wusste, dass man für den Transport Verwundeter in unebenem Gelände die Sicherheit von vier Rädern brauchte. Er trieb einen stabilen offenen Wagen auf, und Wilcox versah ihn mit einem Aufbau. Sie strichen das Fahrzeug schwarz an, und Ordway kopierte von einer Kiste mit medizinischer Ausrüstung den Merkurstab, das Symbol der Militärärzte, und malte ihn in Silber auf beide Seitenwände. Rob J.
schwatzte dem Generalquartiermeister zwei hässliche, aber starke Arbeitspferde ab - »Ausschuss« wie der Rest des Rettungstrupps. Die fünf Männer entwickelten gegen ihren Willen eine Art Gruppenstolz, doch Robinson äußerte sich offen über das größere Risiko, das ihre neue Aufgabe mit sich brachte. »Natürlich ist es riskant«, gab Rob J. zu. »Die Infanterie an der Front sieht dem Tod ins Gesicht, und jeder Kavallerieangriff birgt Gefahren
- sonst brauchten wir ja keine Bahrenträger!«
Er hatte schon immer gewusst: Krieg korrumpiert. Doch jetzt musste er feststellen, dass Krieg ihn ebenso korrumpiert hatte wie alle anderen. Er würde diese fünf jungen Männer wieder und wieder hinausschicken, damit sie Verwundete bargen, als könnten sie Gewehrkugeln abwehren und Artilleriefeuer einfach abschütteln, und er versuchte, ihre Empörung darüber von seiner Person abzulenken, indem er ihnen erklärte, dass sie einer Todesgeneration angehörten. Mit diesen Worten wollte er sich von der Verantwortung befreien, versuchte er doch, nicht nur den Männern, sondern auch sich selbst einzureden, dass sie jetzt nicht schlechter dran seien als vorher, als nur Fitts’ schwieriges Temperament ihr Leben erschwerte und ihre einzige Sorge dem Ausdruck galt, den ihre Walzer, Schottischen und Qickstep-Märsche haben sollten. Er teilte sie in Untergruppen auf: Perry und Lawrence, Wilcox und Robinson.
»Und was ist mit mir?« fragte Ordway.
»Sie bleiben in meiner Nähe«, antwortete Rob J.
Corporal Amasa Decker, der Posthalter und Briefträger, kannte Rob J. gut, weil er ihm ständig Post von Sarah brachte, die lange und leidenschaftliche Briefe schrieb. Dass seine Frau so sinnlich war, hatte Rob J. schon immer besonders gefallen. Manchmal lag er in seiner Hütte und las Brief für Brief, und er fühlte sich ihr dabei so nahe, dass er glaubte, ihren Duft zu riechen. Obwohl es in Cairo jede Menge Frauen gab - von käuflichen bis zu patriotischen -, hatte er sich nie einer von ihnen genähert: Er war mit dem Fluch der Treue belegt. Einen Großteil seiner Freizeit verbrachte er damit, Sarah sanfte, aufmunternde Briefe zu schreiben - als Kontrapunkt zu ihrer angstvollen Heißblütigkeit. Manchmal schrieb er auch an Shaman, und regelmäßig machte er Eintragungen in sein Tagebuch. Zwischendurch lag er auf seinem Umhang und überlegte, wie er von Ordway erfahren könne, was an dem Tag geschehen war, als Makwa-ikwa umgebracht wurde. Er musste Ordways Vertrauen irgendwie gewinnen. Er dachte an den Bericht über die Nichtswisser und den Supreme Order of the Star-Spangled Banner, den Miriam Ferocia ihm gegeben hatte. Wer immer ihn auch verfasst hatte - er selbst war überzeugt, es handle sich um einen spionierenden Priester-, hatte sich als protestantischer Katholikengegner ausgegeben. Könnte dieselbe Taktik nicht auch bei ihm funktionieren? Der Bericht lag bei seinen Papieren in Holden’s Crossing, aber er hatte ihn so oft und so aufmerksam gelesen, dass er sich an die Zeichen und Signale, die Losungsworte und Parolen erinnerte - ein ausgeklügeltes Verständigungssystem, das von einem Heranwachsenden mit Sinn für Dramatik und mit einer ausgeprägten Phantasie hätte stammen können.
Rob J. übte mit den Bahrenträgern, von denen einer den Verwundeten spielen musste, und stellte fest, dass zwei Männer zwar einen Soldaten auf eine Bahre legen und in den Ambulanzwagen heben konnten, jedoch schnell ermüdeten und sogar zusammenzubrechen drohten, wenn sie ihre Last eine größere Strecke tragen mussten.
»Wir brauchen vier Träger«, sagte Perry, und Rob J. sah das ein. Doch damit hätte er nur genügend Männer für eine Bahre gehabt, was eindeutig zu wenig war, sobald das Regiment auch nur in die geringsten Schwierigkeiten geriet. Er trug sein Problem dem Colonel vor. »Und was wollen Sie unternehmen?« fragte Symonds.
»Die ganze Kapelle einspannen. Machen Sie meine fünf geübten Träger zu Corporals. In Situationen, in denen es viele Verwundete gibt, kann jeder eine Trägergruppe befehligen, die sich aus drei weiteren Musikern zusammensetzt. Hätten die Soldaten die Wahl zwischen Musikern, die während einer Schlacht aufmunternde Liedchen spielen, und Musikern, die ihr Leben retten, wenn sie angeschossen daliegen- ich weiß, wofür sie sich entscheiden würden.«
»Sie haben gar nichts zu entscheiden«, sagte Symonds trocken. »Die Entscheidungen hier treffe ich.« Und er traf die richtige: Die fünf Bahrenträger nähten Streifen auf ihre Ärmel, und wann immer Fitts zufällig Rob J.
begegnete, sah er demonstrativ in die andere Richtung.
Mitte Mai wurde es heiß. Das Camp lag zwischen dem Zusammenfluss des Ohio und des Mississippi, die beide durch die Abwässer aus dem Lager verunreinigt waren. Rob J. teilte je ein halbes Stück Kernseife an die Männer des Regiments aus, und sie mussten kompanieweise Flussaufwärts zu einer sauberen Stelle des Ohio marschieren, sich dort entkleiden und baden. Anfangs gingen sie fluchend und stöhnend ins Wasser, doch die meisten waren auf dem Land aufgewachsen und erinnerten sich jetzt an ihre Kindheit. Bald artete die Waschaktion in eine fröhliche Wasserbalgerei aus. Beim Herauskommen wurden die Soldaten von ihren Sergeants inspiziert, wobei besondere Sorgfalt der Überprüfung von Kopf und Füßen galt, und unter dem Gejohle der Kameraden wurden manche zurück ins Wasser geschickt, um sich noch einmal zu reinigen.
Viele der Uniformen waren zerfetzt oder fleckig und aus minderwertigem Tuch gefertigt, doch Colonel Symonds hatte eine Reihe neuer Uniformen angefordert, und als sie an die Männer verteilt wurden, nahmen diese zu Recht an, dass ihre Verschiffung bevorstehe. Beide Kansas-Regimenter waren per Dampfschiff den Mississippi hinuntergebracht worden. Es hieß, sie würden Grants Armee bei der Eroberung von Vicksburg unterstützen und das 119. Indiana solle folgen. Doch am Nachmittag des 27. Mai, als Warren Fitt’s Kapelle zackig, aber mit unüberhörbaren Nervositätsfehlern aufspielte, wurde das Regiment anstatt zum Fluss zum Bahnhofsgelände geführt. Soldaten und Pferde wurden in gedeckte Güterwagen verfrachtet, diese mit Plattform- und Salonwagen zu langen Zügen zusammengekoppelt, und zwei Stunden später verabschiedete sich das 119. von Cairo in Illinois.
Der Arzt und die Bahrenträger reisten in einem Sanitätswaggon. Als sie Cairo verließen, war er ansonsten leer, doch nach etwa einer Stunde wurde ein junger gemeiner Soldat gebracht, der in einem der Güterwagen ohnmächtig geworden war. Rob J. stellte fest, dass er vor Fieber glühte und phantasierte. Er wusch den Jungen mit Alkohol ab und beschloss, ihn bei nächster Gelegenheit in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Rob J.
bewunderte den Sanitätswaggon, der von unschätzbarem Wert gewesen wäre, wenn sie sich auf dem Rückweg von einer Schlacht befunden hätten und nicht auf dem Weg zu einer solchen. Auf beiden Seiten des Ganges waren über die ganze Länge des Wagens in drei Reihen übereinander Bahren angebracht. Jede hing in Gummischlaufen, und das elastische Material glich einen Großteil des Hol-perns und Schwankens während der Fahrt aus. Da es noch an Patienten mangelte, hatten die fünf frischgebackenen Corporale je eine Bahre besetzt und waren übereinstimmend der Meinung, dass sie auch als Generäle nicht komfortabler hätten reisen können.
Addison Perry, der schon bewiesen hatte, dass er überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit schlafen konnte, schnarchte bereits, und auch der junge Lawrence schlief. Lewis Robinson hatte sich eine Bahre unter der Laterne ausgesucht und zeichnete hier mit einem Bleistift kleine schwarze Punkte auf ein Stück Papier: Er komponierte.
Sie hatten keine Ahnung, wohin sie fuhren. Als Rob J. zum Ende des Waggons ging und die Tür öffnete, wurde das Rattern des Zuges beträchtlich lauter. Er schaute zu den Lichtpunkten am Himmel hinauf und entdeckte den Kleinen Bären. Sein Blick suchte den äußersten Stern am Schwanzende und fand den Polarstern. »Wir fahren nach Osten«, erklärte er, als er zurückkam.
»Scheiße!« fluchte Abner Wilcox voller Inbrunst. »Sie schicken uns zur Potomac-Army.« Lewis Robinson hörte auf zu komponieren. »Und was ist dagegen zu sagen?«
»Die Potomac-Army hat noch nie was geleistet. Die sitzen fast nur herum. Und wenn sie alle Jubeljahre mal kämpfen, dann schaffen es diese Keksköpfe immer, gegen die Rebellen zu verlieren. Ich wollte zu Grant. Das ist ein General!«
»Wenn man nur herumsitzt, wird man wenigstens nicht umgebracht«, gab Robinson zu bedenken.
»Mir stinkt’s, nach Osten zu gehen«, sagte Ordway. »Der ganze verdammte Osten ist verseucht mit Iren, diesem römisch-katholischen Gesocks.«
»Bei Fredericksburg hat sich niemand besser geschlagen als die Irische Brigade«, wandte Robinson ein und fügte dann kleinlaut hinzu: »Die meisten sind allerdings umgekommen.«
Rob J. fasste einen spontanen Entschluss. Er legte die Zeigefingerspitze unter sein rechtes Auge und ließ sie langsam an seiner Nase entlang abwärts gleiten: Das war das Signal eines Mitglieds des Geheimbundes an ein anderes, den Mund zu halten.
Funktionierte es, oder war es Zufall? Lanning Ordway starrte ihn einen Moment lang an, hörte dann auf zu reden und legte sich schlafen.
Um drei Uhr morgens gab es einen langen Aufenthalt in Louisville, als eine Artillerieeinheit zustieg. Die Nachtluft war schwerer als in Illinois und weicher. Diejenigen, die wach waren, verließen den Zug, um sich die Beine zu vertreten, und Rob J. sorgte dafür, dass der fiebernde Junge ins örtliche Krankenhaus gebracht wurde.
Anschließend ging er an den Schienen entlang und kam an zwei pinkelnden Männern vorbei. »Keine Zeit, hier Gräben zu ziehen, Sir«, sagte der eine. Der Doktor in Zivil war immer noch für einen Witz gut. Rob J.
schlenderte zu der Stelle, wo die großen Zehn-Pfund-Parrott-Geschütze und die Zwölf-Pfund-Haubitzen mit schweren Ketten auf den Plattformwagen vertäut wurden. Die Kanonen wurden im gelben Schein großer Karbidlampen verladen, und das spuckende und flackernde Licht warf Schatten, die ein Eigenleben zu haben schienen.
»Doktor?« sagte jemand leise. Der Mann trat neben ihm aus der Dunkelheit und nahm seine Hand, das Zeichen des Erkennens. Zu aufgeregt, um sich albern vorzukommen, wagte Rob J. die Antwortgeste, als habe er dies schon oft getan. Ordway sah ihn an. »Gut«, sagte er.
Die lange graue Front
Mit der Zeit begannen sie, den Truppentransportzug zu hassen. Er kroch langsam durch Kentucky und wand sich träge zwischen den Hügeln hindurch - ein schlangenförmiges, langweiliges Gefängnis. Die Neuigkeit, dass sie Virginia erreicht hatten, verbreitete sich wie ein Lauffeuer von Waggon zu Waggon. Die Soldaten spähten in der Erwartung aus den Fenstern, sofort den Feind zu sehen, doch alles, was sie zu Gesicht bekamen, waren Berge und Wälder. Wenn sie in kleinen Städten anhielten, um Brennstoff und Wasser aufzunehmen, waren die Leute ebenso freundlich wie in Kentucky, denn der Westen Virginias stand auf der Seite der Union. Als sie den anderen Teil dieses Staates erreichten, merkten sie es sofort: Hier standen keine Frauen auf dem Bahnsteig, um kühles Bergwasser oder Limonade anzubieten, und die Männer hatten ausdruckslose Gesichter und wachsame Augen unter schweren Lidern.
Das 119. Indiana verließ den Zug in Winchester, einer besetzten Stadt, in der man nur blaue Uniformen sah.
Während die Pferde und die Ausrüstung ausgeladen wurden, verschwand Colonel Symonds in einer Kaserne nahe des Bahnhofs, und als er wieder herauskam, befanden sich Soldaten und Fuhrwerke bereits in Marschordnung, und es ging südwärts.
Als Rob J. seinen ersten Vertrag unterschrieben hatte, wurde ihm gesagt, er müsse sich selbst ein Pferd besorgen.
Aber in Cairo hatte er keines gebraucht, denn er trug weder eine Uniform, noch nahm er an Paraden teil.
Außerdem waren Pferde überall, wo die Army saß, Mangelware, denn die Kavallerie requirierte jedes Tier, dessen sie ansichtig wurde, gleichgültig, ob es Rennen lief oder einen Pflug zog. Und so saß Rob J. jetzt neben Corporal Ordway, der die Pferde lenkte, auf dem Kutschbock des Ambulanzwagens. Rob J. war in Ordways Gegenwart noch immer unsicher, doch dessen einzige Frage war gewesen, warum ein Mitglied des OSSB »mit ausländischem Akzent« spreche, womit er das gutturale, schottische Schnarren meinte das sich auch jetzt noch gelegentlich in Rob J.’s Aussprache einschlich. Rob J. hatte ihm erklärt, er sei in Boston geboren und als Jugendlicher zur Ausbildung nach Edinburgh geschickt worden, und der Corporal schien damit zufrieden zu sein. Er war jetzt aufgeschlossen und freundlich: Offensichtlich beruhigte es ihn, für einen Mann zu arbeiten, der einen politischen Grund hatte, sich auch um sein Wohlergehen zu sorgen.
Sie kamen an einem Schild vorbei, das besagte, dass sie sich auf dem Weg nach Fredericksburg befänden.
»Allmächtiger!« stöhnte Ordway. »Ich hoffe bloß, dass keiner auf die Idee kommt, da noch einmal Yankees gegen diese schießwütigen Rebellen zu schicken!« Rob J. konnte ihm nur zustimmen.
Mehrere Stunden vor Einbruch der Dämmerung erreichte das 119. Regiment den Rappahannock, und Symonds ließ anhalten und das Lager aufschlagen. Er rief alle Offiziere zu sich vor sein Zelt, und Rob J. stand hinter den Uniformen und hörte zu.
»Meine Herren - seit einem halben Tag sind wir Angehörige der Potomac-Army, die unter dem Kommando von General Joseph Hooker steht«, sagte Symonds. Er berichtete, dass Hooker eine Streitmacht von etwa einhundertzweiundzwanzigtausend Mann über ein großes Gebiet verteilt habe. Etwa neunzigtausend Konföderierte unter Robert E. Lee befänden sich bei Fredericksburg. Hookers Kavallerie habe Lees Armee lange beobachtet und sei zu der Überzeugung gelangt, dass die Konföderierten beabsichtigten, in den Norden einzumarschieren, um die Unionstruppen von der Belagerung Vicksburgs in Mississippi wegzulocken. Doch niemand wisse, wo oder wann diese Invasion stattfinden solle. »Washington ist verständlicherweise nervös, seit die Konföderierten nur noch ein paar Stunden vom Weißen Haus entfernt sind. Das 119. Regiment ist unterwegs, um sich den Truppen bei Fredericksburg anzuschließen.« Die Offiziere nahmen die Neuigkeit gelassen auf. Sie zogen mehrere Ringe von Postenketten um das Camp, und dann bereitete sich das Lager für die Nacht vor.
Nachdem Rob J. seine Ration Schweinefleisch mit Bohnen gegessen hatte, legte er sich zurück und blickte in den sternenübersäten Himmel. Es ging über seine Vorstellungskraft sich die Masse von Menschen auszumalen, die da ins Feld geführt werden sollten. Etwa neunzigtausend Konföderierte! Etwa einhundertzweiundzwanzigtausend Unionssoldaten! Und alle würden ihr Bestes tun, sich gegenseitig umzubringen!
Es war eine schöne Nacht. Die Männer lagen auf dem warmen Boden, ohne sich die Mühe zu machen, Zelte aufzuschlagen. Die meisten waren noch erkältet, und ihr Husten hätte jedem in der Nähe befindlichen Feind ihre Anwesenheit verraten. Mit Schaudern stellte Rob J. sich vor, wie es sich anhören mochte, wenn einhundertzweiundzwanzigtausend Männer gleichzeitig husteten. Er schlang die Arme um seinen Körper, weil ihn plötzlich fror. Wenn zwei so riesige Armeen aufeinanderprallten, waren mehr Männer nötig, um die Verwundeten abzutransportieren, als seine Regimentsmusiker.
Der Marsch nach Fredericksburg nahm zweieinhalb Tage in Anspruch. Auf dem Weg machten sie Bekanntschaft mit Virginias »Geheimwaffe«: dem Chigger, einer Zeckenart. Die winzigen roten Tierchen ließen sich auf die Männer fallen, wenn sie unter tiefhängenden Ästen hindurchgingen, und blieben hängen, wenn sie durch hohes Gras marschierten. Haftete das Tier einmal an der Kleidung, wanderte es weiter, bis es nackte Haut erreichte, um sich dann mit seinem ganzen Körper ins Fleisch einzugraben. Bald saßen die Chigger zwischen den Fingern, Zehen und Hinterbacken und auf dem Penis der Soldaten. Die Zecke hatte einen zweigeteilten Leib. Wenn ein Soldat einen Chigger dabei erwischte, wie er sich gerade ins Fleisch bohren wollte, und versuchte, ihn herauszuziehen, riss er an der schmälsten Stelle ab, und der Teil, der festsaß, richtete genausoviel Schaden an, wie das ganze Tier es getan hätte. Am dritten Tag kratzten sich die meisten Soldaten fluchend, und die Wunden begannen in der feuchten Hitze schnell zu eitern. Rob J. konnte nicht mehr tun, als Schwefelpuder auf die festgebissenen Tiere streuen, doch einige der Männer hatten Erfahrung mit dieser Plage und erklärten den anderen, dass das einzig wirksame Hilfsmittel sei, das glühende Ende eines Stockes oder einer Zigarre nahe an die Haut zu halten, bis der Chigger, angezogen von der Hitze, den Rückweg antrete. Dann könne man ihn langsam und vorsichtig herausziehen, damit er nicht abriss. Und so entfernten bald allenthalben Männer einander die Tierchen. Das Bild erinnerte Rob J. an die Affen im Edinburgher Zoo, die er oft dabei beobachtet hatte, wie sie sich gegenseitig nach Läusen absuchten. Doch die Chigger-Plage lenkte nur kurzfristig von der Angst ab. Je näher sie Fredericksburg kamen, wo bei der vorangegangenen Schlacht ein solches Gemetzel unter den Yankees angerichtet worden war, um so größer wurde die Anspannung. Als sie aber eintrafen, sahen sie überall nur Unionsblau: Robert E. Lee hatte mehrere Tage zuvor im Schutz der Nacht seine Truppen in aller Stille abgezogen. Seine Northern-Virginia-Army war auf dem Weg nach Norden. Die Unionskavallerie überwachte zwar Lees Marsch, doch die Potomac-Army heftete sich nicht an seine Fersen. Den Grund dafür kannte nur General Hooker.
Das 119. Indiana lagerte sechs Tage bei Fredericksburg. Man ruhte sich aus, behandelte die Blasen an den Füßen, entfernte Chigger und reinigte und ölte die Waffen. In der Freizeit stiegen die Soldaten grüppchenweise auf die Berge, wo nur ein halbes Jahr zuvor fast dreizehntausend Unionssoldaten gefallen oder verwundet worden waren. Als sie hinunterblickten und sahen, welch leichtes Ziel ihre nachkommenden Kameraden boten, waren sie heilfroh, dass General Lee vor ihrem Eintreffen abgezogen war.
Als Symonds neue Befehle bekam, mussten sie wieder in Richtung Norden. Sie marschierten gerade auf einer staubigen Straße, als die Nachricht eintraf, dass Winchester, wo sie den Truppenzug verlassen hatten, durch Konföderierte unter General Richard S. Ewell überrollt worden sei. Ein weiterer Sieg der Rebellen: fünfundneunzig Unionssoldaten getötet, dreihundertachtundvierzig verwundet und mehr als viertausend vermisst oder gefangengenommen.
Rob J., der auf dem Kutschbock des Ambulanzwagens die friedliche Landstraße entlangfuhr, wollte nicht glauben, dass Krieg war, wie er als Junge den Tod nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Warum sollten Menschen sterben, wenn es so schön war zu leben. Und warum sollten Menschen in einen Krieg ziehen? Es war so viel angenehmer, schläfrig diese sanft geschwungene, sonnenheiße Straße entlangzurollen, als sich dem Geschäft des Mordens hinzugeben. Doch wie der Junge einst durch den Tod seines Vaters mit der Sterblichkeit konfrontiert worden war, so wurde dem Erwachsenen nun die Realität des Krieges vor Augen geführt, als sie nach Fairfax kamen und er erkannte, was gemeint ist, wenn die Bibel von »Heerscharen« spricht.
Sie schlugen ihr Lager inmitten von Artillerie, Kavallerie und Infanterie auf den Feldern einer Farm auf. Wohin Rob J. auch blickte, er sah Unionssoldaten. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Am Tag nach der Ankunft erfuhr das 119. Regiment, dass Lees Northern-Virginia-Army bereits in den Norden einmarschiert war und über den Potomac nach Maryland vorstieß. Jetzt endlich ließ sich Hooker dazu herbei, etwas zu unternehmen: Er schickte Einheiten seiner Armee nach Norden, damit sie sich zwischen Lees Truppen und Washington stellten. Vierzig Stunden später wurde auch das 119. Indiana angefordert, worauf es sich wieder Richtung Norden in Bewegung setzte. Beide Armeen waren zu groß und zu verstreut, um schnell und vollständig verlagert zu werden. Ein Teil von Lees Streitkräften befand sich noch in Virginia und war erst dabei, den Fluss zu überqueren, um sich ihrem Befehlshaber anzuschließen. Die beiden Heere waren konturlose, pulsierende Monster, die sich ausdehnten und zusammenzogen, immer in Bewegung waren, manchmal sogar unmittelbar nebeneinander. Wenn die Ränder sich berührten, gab es Scharmützel wie aufstiebende Funken - bei Upperville, bei Haymarket und einem Dutzend weiterer Orte. Das 119. Indiana erlebte keine nennenswerten Kampfhandlungen, nur in einer Nacht kam es zwischen dem äußeren Ring von Posten und feindlichen Reitern zu einem kurzen Feuerwechsel ohne Folgen, da sich die Reiter sehr schnell aus dem Staub machten. In der Nacht zum 28. Juni überquerten die Männer des 119. Regiments in kleinen Booten den Potomac. Am Morgen setzten sie sich wieder in Richtung Norden in Marsch, und Fitts’ Kapelle intonierte »Maryland, My Maryland«. In manchen Gegenden hatten ihnen die Menschen zugewinkt, wenn sie vorbeikamen, doch die Einwohner von Maryland machten einen gleichgültigen Eindruck: Sie sahen schon seit Tagen Truppen durchmarschieren.
Rob J. und den Soldaten hing die Maryland-Hymne sehr bald zum Hals heraus, doch die Kapelle spielte sie auch noch, als sie an einem Morgen durch fruchtbares, sanfthügeliges Farmland in einen gepflegten Ort kamen.
»Wo sind wir denn hier?« erkundigte sich Ordway bei Rob J. »Ich weiß es nicht.« Sie kamen an einer Bank vorbei, auf der ein alter Mann saß und das Militär beobachtete. »Mister«, rief Rob J. hinüber, »wie heißt denn diese hübsche Stadt?«
Das Kompliment schien den alten Mann zu irritieren. »Unsere Stadt?« sagte er. »Die Stadt heißt Gettysburg, Pennsylvania.«
Obwohl die Männer des 119. Indiana es nicht wussten, unterstanden sie an dem Tag, als sie Pennsylvania erreichten, bereits seit vierundzwanzig Stunden einem neuen Kommandanten: General George Meade hatte General Joe Hooker abgelöst, der die Rechnung für die viel zu späte Verfolgung der Konföderierten bezahlen musste. Sie durchquerten die kleine Stadt und marschierten die Taneytown Road entlang. Die Unionsarmee war südlich von Gettysburg zusammengezogen worden, und Symonds ließ seine Leute auf einer ausgedehnten, hügeligen Wiese anhalten und das Lager aufschlagen. Die Luft war schwer, heiß und feucht - und erfüllt von ängstlicher Tapferkeit. Die Soldaten des 119. Regiments unterhielten sich über den Kriegsschrei der Rebellen.
Sie hatten ihn in Tennessee nicht selbst gehört, doch viel darüber vernommen und oft Imitationen vorgeführt bekommen. Sie fragten sich bang, ob sie das Original wohl in den nächsten Tagen hören würden.
Colonel Symonds wusste, dass die beste Therapie für strapazierte Nerven Arbeit ist, und so stellte er Trupps zusammen und ließ sie hinter aufgehäuften Steinen, die als Brustwehr dienen sollten, flache Schützengräben ausheben. An diesem Abend schliefen sie bei dem Klang leisen Vogelgezwitschers und dem Zirpen der Laubheuschrecken ein, am nächsten Morgen aber weckte sie Geschützfeuer, das mehrere Meilen nordwestlich aus der Gegend des Chambersburg Pike herüberdonnerte.
Gegen elf Uhr erhielt Colonel Symonds neue Befehle, und das 119. Regiment wurde eine halbe Meile über einen bewaldeten Hügelkamm zu einer Wiese auf einer Anhöhe östlich der Emmitsburg Road geführt. An sechs Vorposten der Union hatte es sich bewahrheitet, dass die neue Stellung sich näher am Feind befand: Sie lagen hingestreckt im Gras, als schliefen sie. Alle sechs waren barfuss: Die schlecht beschuhten Südstaatler hatten ihre Stiefel gestohlen.
Symonds ließ erneut Brustwehre bauen und ersetzte die Posten. Auf Rob J.’s Bitte hin wurde am Waldrand ein langes, schmales Gerüst in Form eines Laubengangs aufgestellt und mit einem Dach aus Zweigen versehen, um den Verwundeten Schatten zu bieten, und vor diesem »Lazarett« stellte Rob J. seinen Operationstisch auf. Von Kundschaftern erfuhren sie, dass der erste Feuerwechsel beim Zusammenstoß von Kavallerieeinheiten erfolgt war. Im Laufe des Tages wurde der Schlachtenlärm immer lauter: ein ständiges, heiseres Bellen von abgefeuerten Musketen, das sich anhörte wie das Gekläff Tausender mordlüsterner Hunde, dazu dröhnender, nicht endender Kanonendonner. Jede noch so leichte Bewegung der heißen Luft traf sie ins Gesicht wie ein Schlag. Am frühen Nachmittag wurde das Regiment zum drittenmal an diesem Tag in Marsch gesetzt und in Richtung der Stadt, des Gefechtslärms, des Kanonengrollens und der weißgrauen Rauchwolken geführt. Rob J.
kannte die Soldaten inzwischen gut und wusste, dass die meisten eine leichte Verwundung herbeisehnten, nicht mehr als einen Kratzer, der aber eine Narbe hinterließ, damit ihre Leute daheim sehen konnten, wieviel sie für den Sieg auf sich genommen hatten. Jetzt freilich waren sie auf dem Weg in ein Gebiet, wo Männer starben. Sie marschierten durch die Stadt und waren, als sie den Hügel erklommen, plötzlich von dem Lärm umgeben, den sie vorher nur von weitem gehört hatten. Mehrmals zischten Artilleriesalven über ihre Köpfe hinweg, und sie kamen an eingegrabener Infanterie und vier Geschützbatterien vorbei, die unablässig feuerten. Als sie oben waren und ihnen befohlen wurde anzuhalten, stellten sie fest, dass sie sich mitten auf einem großen Friedhofsgelände befanden, das dem Hügel seinen Namen gegeben hatte: Cemetery Hill. Rob J. baute gerade seine Geräte hinter einem imposanten Mausoleum auf, das sowohl Schutz als auch ein wenig Schatten spendete, als ein schweißüberströmter Colonel auf ihn zukam und nach dem Sanitätsoffizier fragte. Er stellte sich als Colonel Martin Nichols vom Medical Department vor und erklärte, er organisiere die medizinische Versorgung.
»Haben Sie Erfahrung als Chirurg?« fragte er. Rob J. fand, dass jetzt keine Zeit für falsche Bescheidenheit sei.
»Ja, habe ich. Eine recht umfassende sogar«, antwortete er.
»Dann brauche ich Sie im Lazarett, wo schwere Fälle zum Operieren hingebracht werden.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber bei meinem Regiment bleiben, Colonel.«
»Es macht mir aber etwas aus, Doktor! Es macht mir sogar sehr viel aus! Ich habe ein paar gute Ärzte, aber auch einige junge, unerfahrene Burschen, die lebensentscheidende Eingriffe durchführen und dabei ein schreckliches Gemetzel anrichten. Sie amputieren Gliedmaßen, ohne Hautlappen überstehen zu lassen, und manche lassen die Knochenenden zentimeterweit aus dem Fleisch ragen. Sie wagen Experimente, die ein erfahrener Arzt niemals machen würde, schneiden Oberarme am Ansatz weg und trennen Hüft- und Schultergelenke ab. Sie fabrizieren unnötigerweise Krüppel, die für den Rest ihres Lebens unter entsetzlichen Schmerzen leiden werden. Hören Sie, Doc: Sie nehmen den Platz eines dieser Möchtegernchirurgen ein, den ich dafür hierher schicke, damit er Verwundeten Kompressen auflegt.« Rob J. nickte. Er unterrichtete Ordway davon, dass dieser bis zur Ankunft eines anderen Arztes die Leitung der Sanitätsstation zu übernehmen habe, und folgte Colonel Nichols den Hügel hinunter.
Das Lazarett befand sich in der Stadt, in der katholischen Kirche, die, wie Rob J. las, Franz von Assisi geweiht war. Er wollte nicht vergessen, dies Miriam Ferocia zu erzählen. In der Vorhalle war ein Operationstisch aufgestellt worden. Die beiden Flügel des Portals standen weit offen, damit der Chirurg möglichst viel Licht bekam. Das Gestühl war mit Brettern überdeckt worden, auf denen man aus Stroh und Decken Betten für die Verwundeten gemacht hatte. In einem feuchten Raum im Keller standen, im gelben Licht mehrerer Lampen, zwei weitere Operationstische, und einen davon übernahm Rob J. Er zog seinen Rock aus und rollte seine Ärmel so weit hoch wie möglich, während ein Corporal der Ersten Kavallerie-Division einem Soldaten Chloroform verabreichte, dessen Hand eine Kanonenkugel weggerissen hatte. Sobald der Junge narkotisiert war, nahm Rob J.
so viel des Arms ab, wie unbedingt erforderlich war, und ließ einen ausreichenden Hautlappen für den Stumpf stehen.
»Der nächste!« rief er. Ein weiterer Patient wurde hereingetragen, und Rob J. vertiefte sich in seine Aufgabe.
Der Keller maß etwa sechs auf zwölf Meter. Am zweiten Tisch arbeitete ebenfalls ein Chirurg, doch Rob J. und er sahen einander nur selten an und hatten sich nicht viel zu sagen. Im Laufe des Nachmittags wurde Rob J. klar, dass der andere gute Arbeit leistete, und auch er erhielt ein Lob von seinem Gegenüber. Dann konzentrierte sich jeder wieder auf seinen Tisch. Rob J. entfernte Geschosse und Metallsplitter, stopfte Eingeweide in Bäuche zurück, nähte Wunden zu und amputierte. Und amputierte immer wieder. Das Minie-Geschoss war ein Niedergeschwindigkeits-Projektil, das besonders viel Schaden anrichtete, wenn es einen Knochen traf. Riss es einen Knochen ab oder zertrümmerte es ihn, blieb dem Chirurgen nichts anderes übrig, als das Glied zu entfernen. Auf dem Lehmboden zwischen Rob J. und dem anderen Arzt wuchs ein wahrer Berg von Armen und Beinen. Von Zeit zu Zeit kamen Männer und schafften die Gliedmaßen weg. Nach vier oder fünf Stunden trat ein Colonel in grauer Uniform in den Kellerraum und eröffnete den beiden Ärzten, dass sie sich ab sofort als Gefangene zu betrachten hätten. »Wir sind bessere Soldaten als eure Leute. Wir haben die Stadt erobert. Eure Truppen sind nach Norden getrieben worden, und wir haben viertausend Mann gefangengenommen.« Dazu gab es nicht viel zu sagen. Der andere Chirurg warf Rob J. einen Blick zu und zuckte mit den Achseln. Rob J., der einen Patienten auf dem Tisch hatte, machte den Colonel darauf aufmerksam, dass er ihm im Licht stehe.
Wann immer eine Pause eintrat, versuchte er, ein paar Minuten zu dösen - im Stehen. Aber es gab kaum Pausen.
Die kämpfenden Armeen schliefen zwar nachts, doch die Ärzte arbeiteten durch und versuchten unermüdlich, die Männer zu retten, die auf dem Schlachtfeld zerfetzt worden waren. Der Keller hatte kein Fenster, und die Lampen brannten stets mit voller Leistung. Rob J. verlor jede Übersicht, ob Tag oder Nacht war. »Der nächste!«
rief er. Der nächste! Der nächste! Der nächste!
Es war eine Sisyphus-Arbeit, denn sobald er mit einem Patienten fertig war, wurde der nächste hereingebracht.
Manche trugen zerrissene, blutdurchtränkte graue Uniformen und manche zerrissene, blutdurchtränkte blaue, und Rob erkannte bald, dass ein unerschöpflicher Nachschub zur Verfügung stand.
Nicht so bei anderen Dingen. Nach kurzer Zeit gab es in dem Kirchenhospital keine Kompressen mehr und keine Lebensmittel. Der Colonel, der ihm erklärt hatte, die Südstaatler seien die besseren Soldaten, erklärte ihm nun, dass der Süden weder Chloroform noch Äther habe.
»Ihr könnt ihnen weder Stiefel zur Verfügung stellen noch ein Mittel gegen ihre Schmerzen geben«, sagte Rob J.
ohne Genugtuung. »Deshalb werdet ihr am Ende verlieren.« Und dann ersuchte er den Offizier, Alkohol zu beschaffen. Der Colonel entfernte sich tief beleidigt, schickte jedoch Whiskey für die Patienten und heiße Hühnerbrühe für die Ärzte, die Rob J. hinunterschüttete, ohne etwas zu schmecken.
Da er keine Betäubungsmittel mehr hatte, holte er sich mehrere starke Männer, damit sie die Patienten festhielten, und dann operierte er so, wie er es in früheren Jahren getan hatte. Er schnitt, sägte, nähte so schnell und geschickt, wie William Fergusson es ihn gelehrt hatte. Die Opfer freilich schrien und versuchten, um sich zu schlagen. Er gähnte nicht, und obwohl er häufig blinzeln musste, blieben seine Augen offen. Er merkte, dass seine Füße und Knöchel schmerzhaft anschwollen, und manchmal, wenn ein Patient hinaus- und ein anderer hereingetragen wurde, rieb er sich mit der linken Hand die rechte. Jeder Fall war anders, doch da es nur begrenzte Möglichkeiten gibt, ein menschliches Wesen zu zerstören, erschienen ihm bald alle gleich, ob nun das Gesicht zerfetzt, die Genitalien abgeschossen oder die Augen getroffen waren.
Die Stunden vergingen.
Allmählich kam es ihm so vor, als habe er den größten Teil seines Lebens damit verbracht, in diesem kleinen feuchten Raum Menschen zu zerschneiden, und er fühlte sich verdammt dazu, immer hier zu bleiben und weiterzumachen. Doch irgendwann änderten sich die Geräusche, die zu ihnen herunterdrangen. Sie hatten sich längst an die Schreie und das Stöhnen, an den Kanonendonner und das Gewehrfeuer, die Explosion von Minen und sogar an die Erschütterung, die nahe Einschläge verursachten, gewöhnt. Aber nun erreichte das Inferno ein neues Crescendo, eine unaufhörliche Folge von Schüssen und Explosionen, die mehrere Stunden andauerte.
Danach trat plötzlich eine relative Stille ein, in der die Leute in der Kirche auf einmal miteinander sprechen konnten, ohne schreien zu müssen. Und dann war da ein neuer Lärm, ein Brüllen, das auftoste und verebbte und weiter und weiter wogte wie der Ozean, und als Rob J. einen konföderierten Helfer hinausschickte, damit er feststelle, was das war, kam der Mann kurz darauf zurück und berichtete gebrochen, es sei das Triumphgeheul der gottverdammten Yankees.
Als Lanning Ordway einige Stunden später kam, stand Rob J. immer noch am Operationstisch.
»Doc! Mein Gott, Doc! Sie kommen jetzt mit mir!« Von Ordway erfuhr Rob J., dass er fast zwei Tage in diesem Keller zugebracht hatte, und der Corporal berichtete ihm, wo das 119. Regiment biwakierte. Rob J. ließ sich von seinem guten Kameraden und schlimmsten Feind in einen unbenutzten Lagerraum führen, wo ein weiches Bett aus sauberem Heu für ihn aufgeschüttet worden war. Er legte sich hin und schlief sofort ein.
Spät am folgenden Nachmittag weckten ihn das Stöhnen und die Schreie der Verwundeten, die man um ihn herum auf den Boden gelegt hatte. Andere Chirurgen hatten die Tische übernommen und kamen gut ohne ihn zurecht. Es hatte keinen Sinn zu versuchen, den Abort der Kirche zu benutzen, da dieser schon längst übergelaufen war. Also trat Rob J. hinaus in den strömenden Regen und entleerte seine Blase hinter einigen Fliederbüschen, die jetzt wieder der Union gehörten. Ganz Gettysburg gehörte wieder der Union. Er hatte vergessen, wo sein Regiment lagerte, und fragte jeden, dem er begegnete. Schließlich fand er es südlich der Stadt, verstreut über mehrere Felder. Wilcox und Ordway begrüßten ihn mit einer Herzlichkeit, die ihn rührte.
Sie hatten Eier! Während Lanning Ordway Zwieback zerkrümelte und die Bröckchen mit Eiern als Frühstück für den Doktor in Schweinefett briet, berichteten sie ihm, was sich ereignet hatte - das Schlechte zuerst. Der beste Kornettbläser der Kapelle, Thad Bushman, war gefallen. »Er hatte nur ein winziges Loch in der Brust«, sagte Wilcox. »Die Kugel muss direkt ins Schwarze getroffen haben.« Lewin Robinson hatte es als ersten von den Bahrenträgern erwischt. »Wurde in den Fuß geschossen, kaum dass Sie weg waren«, erzählte Ordway. »Und Lawrence wurde gestern von der Artillerie fast in zwei Stücke gerissen.«
Ordway stellte die Pfanne mit dem Eier-Zwieback-Gemisch vor Rob J., der mit aufrichtiger Trauer an den ungeschickten Trommler dachte. Doch zu seiner Beschämung konnte er dem Essen nicht widerstehen, und er stürzte sich gierig darauf.
»Oscar war zu jung. Er hätte eigentlich zu Hause bei seiner Ma bleiben sollen«, sagte Wilcox bitter.
Rob J. verbrannte sich den Mund an dem Kaffee, der entsetzlich war und trotzdem herrlich schmeckte. »Wir hätten eigentlich alle bei unseren Mas zu Hause bleiben sollen«, meinte er und rülpste. Er aß etwas langsamer weiter und trank eine zweite Tasse Kaffee, während sie ihm schilderten, was in den beiden Tagen passiert war, die er im Keller der Kirche zugebracht hatte.
»Am ersten Tag drängten sie uns zurück auf die Anhöhe nördlich der Stadt«, sagte Ordway. »Das war das Beste, was uns passieren konnte. Am nächsten Tag standen wir in einer langen Linie, die zwischen zwei Hügelpaaren verlief, zwischen Cemetery Hill und Culp’s Hill im Norden, nahe der Stadt, sowie Round Top und Little Round Top ein paar Meilen weiter südlich. Die Kämpfe waren furchtbar. Furchtbar. Eine Unmenge Gefallener. Wir kamen gar nicht mehr nach mit dem Abtransportieren der Verwundeten.
»Aber wir haben es gut gemacht«, warf Wilcox ein. »Wie Sie’s uns gezeigt haben.«
»Davon bin ich überzeugt.« Rob J. nickte.
»Am nächsten Tag sollten wir Howards Korps verstärken. Gegen Mittag wurden wir von Konföderiertenkanonen in die Mangel genommen«, erzählte Ordway weiter. »Unsere Vorposten stellten fest, dass, während die uns beschossen, eine Menge Konföderierte tief unter uns auf der anderen Seite der Straße im Wald verschwanden. Wir sahen hier und da Metall durch die Bäume blitzen. Das Kanonenfeuer dauerte noch eine Stunde oder länger, und wir bekamen einiges ab, aber wir waren die ganze Zeit über auf der Hut, weil wir wussten, dass sie angreifen wollten. Irgendwann am Nachmittag hörten ihre Kanonen auf zu schießen und unsere auch. Und dann schrie jemand: >Sie kommen !<, und fünfzehntausend Rebellenstrolche in grauer Uniform kamen aus dem Wald. Lees Jungs kamen Schulter an Schulter auf uns zu, Reihe hinter Reihe. Ihre Bajonette sahen aus wie ein langer Stahlzaun über ihren Köpfen, der in der Sonne glänzte. Man hörte keinen Kriegsschrei, sie kamen ohne ein Wort mit schnellen, entschlossenen Schritten auf uns zu.« Ordway legte eine kleine Pause ein.
»Robert E. Lee hat uns schon oft den Arsch versohlt«, fuhr er dann fort, »und ich weiß, dass er ein gemeiner, hinterlistiger Hurensohn ist, aber hier in Gettysburg war er nicht hinterlistig. Wir trauten unseren Augen nicht, als die Rebellen da über offenes Gelände auf uns zukamen, wo wir doch auf der Anhöhe standen und sie uns schutzlos ausgeliefert waren. Wir wussten, dass sie in den Tod liefen - und sie müssen’s auch gewusst haben.
Wir ließen sie fast eine Meile marschieren, ohne was zu tun. Colonel Symonds und die anderen Colonels entlang unserer Linie brüllten immer wieder: >Nicht schießen, nicht schießen! Lasst sie näher rankommen! Nicht schießen!< Und das müssen die Grauröcke auch gehört haben. Als sie so nahe waren, dass wir ihre Gesichter erkennen konnten, eröffnete unsere Artillerie auf dem Little Round Top und dem Cemetery Hill das Feuer, und viele von den Männern verschwanden einfach. Die, die übrig waren, kamen durch die Rauchwolken weiter auf uns zu. Schließlich schrie Colonel Symonds: >Feuer!<, und jeder von uns schoss einen Rebellen ab. Irgend jemand brüllte >Fredericksburg<, und dann schrien es plötzlich alle. >Fredericksburg! Fredericksburg!
Fredericksburg!< Es wurde nur noch geschossen und geladen, geschossen und geladen, geschossen und geladen... Sie kamen nur an einer Stelle bis zu der Steinmauer am Fuß unseres Hügels, und die es schafften, kämpften mit dem Mut der Verzweiflung, aber sie wurden alle getötet oder gefangengenommen«, schloss Ordway.
Rob J. nickte: Das musste der Zeitpunkt gewesen sein, als das Triumphgeschrei losbrach.
Wilcox und Ordway hatten die ganze Nacht Verwundete transportiert, und jetzt begleitete Rob J. sie durch den nach wie vor strömenden Regen. Als sie das Schlachtfeld erreichten, stellte er fest, dass der Regen ein wahrer Segen war, da er den Leichengestank etwas milderte, der trotzdem entsetzlich war. Überall aufgedunsene Leiber.
Und inmitten dieser Hinterlassenschaft menschlicher Grausamkeit suchten die Retter nach Überlebenden. Den restlichen Vormittag arbeitete Rob J. im Regen, legte Kompressen auf und half, die Bahre tragen. Als sie die Verwundeten zu den Krankenhäusern brachten, sah er, warum seine Leute Eier zum Frühstück gehabt hatten: Überall wurden Mengen von Medikamenten und Narkosemitteln, Kompressen und Essen abgeladen. An den Operationstischen standen die Chirurgen in dreifacher Besetzung. Die dankbare Union hatte gehört, dass sie schließlich - wenn auch für einen schrecklichen Preis - doch noch einen Sieg errungen hatte, und beschlossen, bei denen, die das Inferno überlebt hatten, an nichts zu sparen.
In der Nähe des Eisenbahndepots kam ein Zivilist auf Rob J. zu, der etwa in seinem Alter war und ihn höflich fragte, ob er wisse, wo die Möglichkeit bestehe, einen Soldaten einbalsamieren zu lassen. Der Mann stellte sich als Winfield S. Walker vor, Farmer aus Maryland. Als er von der Schlacht hörte, habe eine innere Stimme ihm befohlen, hierher zu kommen und seinen Sohn Peter zu suchen, und jetzt habe er ihn unter den Toten entdeckt.
»Ich möchte ihn einbalsamieren lassen, damit ich ihn mit nach Hause nehmen kann, verstehen Sie?« Rob J.
verstand. »Ich habe gehört, dass im Washington Hause Hotel Einbalsamierungen vorgenommen werden, Sir.«
»Das stimmt, Sir. Aber dort sagte man mir, dass es schon eine ellenlange Warteliste gebe, und deshalb wollte ich mich nach einer anderen Möglichkeit umsehen.« Die Leiche seines Sohnes befand sich auf der Harold Farm, in einem Farm-Lazarett etwas abseits der Emmitsburg Road.
»Ich bin Arzt«, erklärte Rob J., »ich kann es machen.« Er holte die nötigen Dinge von seiner Ausrüstung beim 119. Regiment und traf sich mit Mr. Walker vor dem Farmhaus. Rob J. brachte ihm so schonend wie möglich bei, dass er einen Army-Sarg mit Zinkfutter beschaffen müsse, da aus dem Körper seines Sohnes Flüssigkeit austreten werde. Während der Vater unterwegs war, um diesen traurigen Auftrag auszuführen, kümmerte sich Rob J. in einem Raum, in dem noch sechs andere Tote lagen, um die Leiche des Sohnes. Peter Walker war ein bildschöner junger Mann von etwa zwanzig Jahren, mit den feinen Gesichtszügen seines Vaters und dem gleichen vollen, dunklen Haar. Er war bis auf die Tatsache, dass ein Geschoss ihm das linke Bein in Höhe des Oberschenkels abgerissen hatte, unverletzt. Er war verblutet, und sein Körper schimmerte weiß wie eine Marmorstatue.
Rob J. rührte dreißig Gramm Chlorzinksalz in eine Mischung aus je einem Liter Alkohol und Wasser. Dann band er die Arterie in dem Beinstumpf ab, damit die Flüssigkeit nicht herauslaufen konnte schnitt einen Schlitz in die Oberschenkelarterie des unverletzten Beines und injizierte die Einbalsamierungsflüssigkeit mit einer Spritze. Mr.
Walker hatte keine Schwierigkeiten, von der Army einen Sarg zu bekommen. Er wollte für das Einbalsamieren bezahlen, doch Rob J. schüttelte den Kopf: »Ein Vater hat einem anderen geholfen.« Es regnete weiter. Nachdem einige kleine Flüsse über die Ufer getreten und mehrere Schwerverletzte ertrunken waren, ließ der Regen etwas nach. Rob J. kehrte auf das Schlachtfeld zurück und suchte bis zum Einbruch der Dämmerung nach Verwundeten. Dann hörte er auf, denn jüngere und kräftigere Männer waren mit Laternen und Fackeln erschienen, um das Gelände abzusuchen, und er war todmüde. Die Sanitary Commission hatte mitten in Gettysburg in einem Lagerhaus eine Küche eingerichtet, und Rob J. ging dorthin und aß eine Suppe, die das erste Rindfleisch enthielt, das er seit Wochen gegessen hatte. Er aß drei Schüsseln voll Suppe und sechs Scheiben Weißbrot dazu.
Danach machte er sich auf den Weg zur presbyterianischen Kirche, ging durch die Reihen der Behelfsbetten und versuchte zu helfen, wo es nur ging, auch wenn er den Verwundeten oft nur einen Schluck Wasser geben oder den Schweiß vom Gesicht wischen konnte. War der Patient ein Konföderierter, stellte er ihm immer dieselbe Frage: »Kennen Sie einen dreiundzwanzigjährigen blonden Jungen aus Holden’s Crossing in Illinois, der Alexander Cole heißt?« Doch die Antwort war immer ein Nein.
Scharmützel
Als der Regen sich wieder wie ein dichter Vorhang über das Land senkte, nahm General Robert E. Lee seine schwer angeschlagene Armee und zog sich langsam nach Maryland zurück. Meade hätte ihn nicht entkommen lassen müssen: Die Potomac-Army war zwar ebenfalls stark dezimiert - dreiundzwanzigtausend Mann Verlust einschließlich der etwa achttausend Toten oder Vermissten -, aber die Nordstaatler waren von ihrem Sieg animiert und viel kräftiger als Lees Männer, die auch noch durch einen Wagenzug mit Verwundeten behindert wurden, den sie in einer Länge von siebzehn Meilen hinter sich herschleppten. Doch so wie Hooker in Virginia versagt hatte, versagte jetzt Meade in Pennsylvania, und Lee wurde nicht verfolgt. »Unter welchen Steinen buddelt Mr. Lincoln nur seine Generäle aus?« fragte Symonds Rob J. verächtlich. Doch während die Colonels der Müßiggang verdross, waren die Soldaten glücklich, sich ausruhen und erholen zu können und Zeit zu haben, ihren Angehörigen in Briefen die erstaunliche Tatsache mitzuteilen, dass sie noch am Leben waren. Ordway fand Lewis Robinson in einem der Farmhaus-Lazarette. Sein rechter Fuß war zehn Zentimeter über dem Knöchel amputiert worden. Er war dünn geworden und sah blass aus, schien jedoch ansonsten in guter Verfassung zu sein. Rob J. untersuchte den Stumpf und erklärte Robinson, dass die Wunde gut verheile und der Mann, der ihn operiert habe, sein Handwerk verstehe. Robinson war sichtlich froh, den Kriegsdienst hinter sich zu haben. Die Erleichterung leuchtete geradezu aus seinen Augen. Rob J. hatte das Gefühl, dass Robinson für die Verwundung geradezu prädestiniert gewesen war, weil er sie so sehr gefürchtet hatte. Er brachte ihm sein Kornett, Bleistifte und Papier. Dieser Mann würde mit seiner Behinderung einigermaßen leben können: Schließlich brauchte man zum Komponieren oder Kornettblasen keine zwei gesunden Füße.
Sowohl Ordway als auch Wilcox wurden zum Sergeanten befördert und mit ihnen eine ganze Anzahl von Männern, als Symonds seine Listen durchforstete, die Überlebenden vermerkte und die Dienstgrade der Gefallenen an sie verteilte. Das 119.Indiana hatte achtzehn Prozent seiner Soldaten verloren, was ein im Verhältnis zu den anderen Regimentern geringer Prozentsatz war. Ein Regiment aus Minnesota hatte sechsundachtzig Prozent seiner Männer verloren und war damit wie manches andere auch so gut wie ausgelöscht. Symonds und seine Stabsoffiziere verbrachten Tage damit, Überlebende der vernichteten Regimenter zu rekrutieren, und schließlich zählte das 119-Indiana wieder siebenhunderteinundsiebzig Mann.
Sichtlich verlegen teilte Symonds Rob J. mit, dass er auch einen Regimentsarzt gefunden habe. Dr. Gardner Coppersmith war als Captain bei einer der inzwischen aufgelösten Pennsylvania-Einheiten gewesen, und Symonds konnte ihn mit einer Beförderung ködern. Der Arzt hatte sein Medizinstudium in Philadelphia abgeschlossen und nun zwei Jahre Felderfahrung. »Wenn Sie kein Zivilist wären, Doc Cole, würde ich auf der Stelle Sie zum Regimentsarzt machen«, sagte Symonds, »aber der Posten muss mit einem Offizier besetzt werden. Es ist Ihnen klar, dass Dr. Coppersmith Ihr Vorgesetzter sein und das Sagen haben wird?«
Rob J. versicherte ihm, dass ihm das klar sei.
Für Rob J. war es ein komplizierter Krieg, der von einer komplizierten Nation geführt wurde. In der Zeitung las er, dass es bei der ersten Auslosung der Namen für die Aushebung Wehrpflichtiger in New York zu einem Aufstand gekommen war. Ein Mob von fünfzigtausend hauptsächlich irisch-katholischen Arbeitern setzte das Einberufungsbüro in Brand, legte Feuer in den Räumen der »New York Tribüne« und einem Waisenhaus für Schwarze, in dem sich zu diesem Zeitpunkt gottlob keine Kinder befanden. Sie gaben offenbar den Schwarzen die Schuld an dem Krieg und zogen durch die Straßen, schlugen und beraubten jeden dunkelhäutigen Menschen, den sie finden konnten, und ermordeten und lynchten tagelang Schwarze, bis der Aufruhr von Unionstruppen niedergeschlagen wurde, die gerade von den Kämpfen gegen die Südstaatler aus Gettysburg zurückgekommen waren. Der Vorfall bestürzte Rob J. tief. In Amerika geborene protestantische Christen verhöhnten und unterdrückten katholische Christen und Einwanderer, und Katholiken und Einwanderer verhöhnten und ermordeten Schwarze, als lebe jede Gruppe von ihrem Hass und brauche als Nährstoff das Knochenmark eines Schwächeren. Als Rob J. sich noch auf die amerikanische Staatsbürgerschaft vorbereitete, hatte er die Verfassung des Landes gelesen und sich über die Bestimmungen gewundert. Jetzt erkannte er, dass die Genialität derer, die diese Verfassung festschrieben, darin gelegen hatte, dass sie die Charakterschwächen der Menschen und den Fortbestand des Bösen in der Welt einkalkulierten und versuchten, die Freiheit des einzelnen zur gesetzlichen Realität zu machen, zu der diese Nation immer und immer wieder zurückkehren musste.
Er war fasziniert von den Gründen, die Menschen dazu brachten, einander zu hassen, und er studierte Lanning Ordway, als sei der hinkende Sergeant ein Käfer unter seinem Mikroskop. Hätte Ordway nicht dann und wann Hass versprüht wie ein überlaufender Kessel und hätte Rob J. nicht gewusst, dass über zwölf Jahre zuvor in seinem eigenen Wald in Illinois ein grässliches, ungeahndetes Verbrechen begangen wurde, er hätte Ordway als einen der liebenswürdigeren jungen Männer des Regiments betrachtet. Jetzt sah er den Bahrenträger regelrecht aufblühen; wahrscheinlich bescherte Ordway sein Dienst in der Armee mehr Erfolg, als er jemals gehabt hatte.
Im ganzen Regiment herrschte Hochstimmung. Die Kapelle des 119. Indiana zeigte Schmiss und Elan, als sie von Lazarett zu Lazarett zog und für die Verwundeten spielte. Der neue Kornettbläser war nicht so gut wie Thad Bushman, aber die Musiker spielten voller Stolz, weil sich während des Kampfgeschehens gezeigt hatte, dass auch sie gebraucht wurden.
»Wir sind miteinander durch die Hölle gegangen«, verkündete Wilcox eines Abends, als er zuviel getrunken hatte, feierlich und versuchte Rob J. mit seinen schielenden Augen zu fixieren. »Wir sind in den Rachen des Todes marschiert und wieder heraus und sind wie Wiesel durch das Tal der Schatten geflitzt. Wir haben der Bestie ins Auge gesehen. Wir haben den Kriegsschrei der Rebellen gehört und zurückgeschrien.«
Die Männer behandelten einander äußerst behutsam. Sergeant Ordway, Sergeant Wilcox und sogar der schmuddelige Corporal Addison Perry wurden geehrt, weil sie ihre Kameraden von der Kapelle ins Schlachtgetümmel geführt hatten, um Verwundete zu bergen. Die Geschichte von Rob J.s zweitägigem Operationsmarathon wurde in allen Zelten und Hütten immer und immer wieder erzählt, und die Männer wussten, dass er für die Einführung des Ambulanzdienstes in ihrem Regiment verantwortlich gewesen war. Sie grüßten ihn jetzt lächelnd, wenn sie ihn sahen, und niemand verlor mehr ein Wort über das Thema Latrinen.
Seine neue Beliebtheit gefiel Rob J. sehr. Einer der Soldaten der B-Kompanie der Zweiten Brigade, ein Mann namens Lyon, brachte ihm sogar ein Pferd. »Hab’ den Gaul reiterlos am Straßenrand gefunden«, erklärte er und übergab Rob J. die Zügel.
Der Arzt war verlegen und hoch erfreut über einen solchen Beweis der Zuneigung. Das lehmfarbene Tier war ein magerer Hengst mit einem Hohlkreuz und hatte wahrscheinlich einem gefallenen oder verwundeten Rebellen gehört, denn sowohl Pferd als auch der blutbespritzte Sattel wiesen das Brandzeichen der Konföderierten auf.
Obwohl der Gaul Kopf und Schwanz müde hängen ließ, stumpfe Augen hatte und seine Mähne und sein Schweif voller Kletten waren, sagte Rob J.: »Soldat, das ist wirklich ein schönes Tier! Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Na ja - zweiundvierzig Dollar sollt’s Ihnen schon wert sein«, meinte Lyon.
Rob J. lachte, mehr aus Verlegenheit über seinen Hunger nach Zuneigung als über die Situation. Nach ausführlichem Feilschen ging das Pferd für vier Dollar fünfundachtzig in seinen Besitz über, wobei er dem Betrag noch das Versprechen hinzufügte, den Soldaten nicht wegen Plünderns zu melden.
Er gab dem Hengst reichlich Futter, entfernte geduldig die Kletten aus Mähne und Schweif, wusch das Blut vom Sattel, und rieb das Pferd an den Stellen mit Öl ein, an denen das Leder das Fell abgescheuert hatte. Doch als all das erledigt war, sah das Pferd immer noch sehr traurig aus, und so taufte ihn Rob J. Pretty Boy in der stillen Hoffnung, dass dieser Name dem hässlichen Tier wenigstens ein Mindestmaß an Freude und Selbstvertrauen schenken werde.
Er ritt auf Pretty Boy, als das 119.Indiana Regiment am 17. August Pennsylvania verließ. Kopf und Schweif ließ der Gaul zwar nach wie vor hängen, doch das Tier bewegte sich in der lockeren, gleichmäßigen Gangart eines Pferdes, das lange Strecken gewohnt ist. Falls irgend jemand im Regiment nicht sicher war, in welche Richtung der Marsch führte, wurde er aufgeklärt, als Kapellmeister Warren Fitts in seine Pfeife blies, Kinn und Taktstock hob, und die Kapelle »Maryland, My Maryland« intonierte.
Das 119. Regiment überquerte den Potomac sechs Wochen nach Lees Truppen und einen vollen Monat nach den ersten Einheiten der eigenen Armee. Sie folgten dem Spätsommer nach Süden, und der milde Herbst holte sie erst ein, als sie schon tief nach Virginia vorgedrungen waren. Sie waren alte Hasen, chigger- und kampferprobt, aber das Kriegsgeschehen konzentrierte sich momentan im Westen, und das 119. Indiana genoss die ruhige Phase. Lees Soldaten zogen durch das Shenandoah Valley, wo Unionsspäher sie auskundschafteten und berichteten, sie seien in guter Verfassung, wenn man von einem offensichtlichen Mangel an Versorgungsgütern -
vor allem Schuhen - absehe.
Als sie zum Rappahannock kamen und feststellten, dass die Konföderierten erst vor kurzem hier kampiert hatten, hingen schwere Herbstregenwolken am Himmel. Obwohl Rob J. protestierte, errichteten sie ihre Zelte auf dem ehemaligen Lagerplatz der Rebellen. Major Coppersmith war ein gebildeter und kompetenter Arzt, doch er hielt sich nicht damit auf, sich auch noch über Scheiße Gedanken zu machen, und er belästigte auch niemanden mit dem Ansinnen, Latrinen zu graben. Er teilte Rob J. mit schonungsloser Deutlichkeit mit, dass die Zeiten vorüber seien, da ein Zivilist die medizinischen Anordnungen für das Regiment traf. Der Major hielt seine Sprechstunden am liebsten allein ab, außer er fühlte sich schlecht, was allerdings nicht oft vorkam. Und er sagte, solange sich eine Schlacht nicht wieder zu Gettysburg-Dimensionen ausweite, reichten er und ein Freiwilliger aus, um in der Sanitätsstation Kompressen anzulegen. Rob J. schaute ihn lächelnd an. »Und was bleibt für mich zu tun?«
Major Coppersmith runzelte die Stirn und glättete mit dem Zeigefinger seinen Schnurrbart. »Nun, Sie können sich um die Bahrenträger kümmern, Dr. Cole«, antwortete er.
So wurde Rob J. Opfer seiner eigenen Schöpfung, gefangen in dem von ihm selbst gesponnenen Netz. Er hätte Besseres gewusst, als sich um die Bahrenträger zu kümmern, doch nachdem ihre Belange nun seine einzige Aufgabe waren, erschien es ihm ein Unding, sich darauf zu beschränken, die Trupps nur hinauszuschicken und zuzusehen, was mit ihnen geschah. Also stellte er einen eigenen Trupp zusammen: zwei Musiker - den neuen Kornettbläser Alan Johnson und den Querpfeifer Lucius Wagner - und als vierten Bahrenträger Corporal Amasa Decker, den Posthalter und Briefträger des Regiments. Die Trupps rückten abwechselnd aus. Er erklärte den neuen Männern, was er schon den ersten fünf Trägern erklärt hatte, von denen jetzt einer tot und der andere amputiert war, dass nämlich die Bergung von Verwundeten nicht gefährlicher sei als alles andere, was mit dem Krieg in Verbindung stehe. Wieder redete er sich ein, dass alles gutgehen werde, und er fügte seinen Trupp in den Wechseldienst ein.
Das 119. Regiment und eine ganze Anzahl anderer Einheiten der Potomac-Army folgten der Spur der Konföderierten entlang des Rappahannock zu seinem größten Nebenfluss, dem Rapidan. Sie marschierten Tag für Tag am Wasser entlang, in dem sich nur das Grau des Himmels spiegelte. Lee war, sowohl was die Truppenstärke als auch was die Versorgung betraf, unterlegen und nicht auf eine Konfrontation aus. Die Lage in Virginia spitzte sich erst zu, als das Kriegsglück im Westen die Union verließ. General Braxton Braggs Konföderierte führten am Chickamauga Creek bei Chattanooga einen schrecklichen Schlag gegen General William Rosecrans’ Unionstruppen, der die Bundesarmee mehr als sechzigtausend Mann kostete. Lincoln und sein Kabinett hielten eine Krisensitzung ab und beschlossen, Hookers beide Korps von der Potomac-Army in Virginia abzuziehen und per Eisenbahn nach Alabama zu schicken, um Rosecrans zu unterstützen. Nachdem Meades Heer um zwei Korps ärmer war, hörte Lee auf davonzurennen. Er teilte seine Armee und versuchte, Meade in die Zange zu nehmen, indem er in westlicher und nördlicher Richtung auf Manassas und Washington zumarschierte. Damit begannen die Scharmützel.
Meade achtete darauf, zwischen Lees Heer und Washington zu bleiben. Doch die Unionsarmee fiel bei sporadischen Kämpfen immer wieder ein, zwei Meilen zurück, bis es schließlich vierzig Meilen waren.
Rob J. bemerkte, dass jeder Bahrenträger anders an seine Aufgabe heranging. So legte Wilcox eine verbissene Entschlossenheit an den Tag, während Ordway mit sorgloser Tapferkeit vorging, wenn er wie eine große, hinkende Krabbe zu einem Verwundeten eilte und ihn mit den anderen vorsichtig zurücktrug, indem er seine Ecke der Bahre hoch und gerade hielt und mit der Muskelkraft der Arme seinen unregelmäßigen Gang ausglich.
Rob J. hatte mehrere Wochen Zeit, um über den ersten Einsatz seiner Mannschaft nachzudenken, bis es soweit war. Leider hatte er ebensoviel Phantasie wie Robinson -vielleicht sogar noch mehr: Er konnte sich alle möglichen Arten und Umstände vorstellen, getroffen zu werden. In seinem Zelt fertigte er inzwischen beim Licht der Lampe eine Reihe von Zeichnungen an, die Wilcox’ Mannschaft im Einsatz zeigten: drei Männer, gebückt gegen einen möglichen Ansturm von Bleikugeln, der vierte, im Rennen die Bahre als armseligen Schild vor sich haltend. Er zeichnete Ordway beim Zurückkommen, wie er hinten rechts die Bahre trägt. Während die anderen drei angespannte, furchtsame Gesichter zeigen, sind Ordways schmale Lippen zu einer Mischung aus Lächeln und Hohn verzogen: ein Mann ohne erkennbare Begabungen, der endlich etwas gefunden hat, das er wirklich gut kann. Was wird Ordway tun, fragte sich Rob J., wenn der Krieg zu Ende ist und er keine Verwundeten mehr vom Schlachtfeld bergen kann?
Von seiner eigenen Mannschaft machte Rob J. keine Zeichnungen: Sie war bisher noch nicht ausgerückt. Der erste Einsatz erfolgte am 7. November. Das 119. Indiana wurde in der Nähe eines Ortes namens Kelly’s Ford über den Rappahannock geschickt. Das Regiment überquerte den Fluss am späten Vormittag, wurde jedoch durch intensiven Beschuss aufgehalten, und innerhalb von zehn Minuten bekam der Sanitätstrupp die Nachricht, dass ein Verwundeter zu bergen sei. Rob J. und seine drei Helfer liefen zu einer Wiese, wo ein halbes Dutzend Männer hinter einer efeubewachsenen Steinmauer kauerten und in den Wald feuerten. Auf dem ganzen Weg zur Mauer wartete Rob J., auf ein Geschoss, das sich in sein Fleisch bohrte. Die Luft schien dick wie Sirup zu sein und seine Nasenlöcher zu verstopfen. Er hatte das Gefühl, sich nur mit äußerster Anstrengung vorwärtskämpfen zu können, und seine Beine versagten ihm fast den Dienst. Den Soldaten hatte es an der Schulter erwischt. Die Kugel saß im Fleisch und musste herausgeholt werden - aber nicht unter Beschuss. Rob J. nahm eine Kompresse aus seinem mee-shome und verband die Wunde, um die Blutung zu stillen. Dann legten sie den Verwundeten auf die Bahre und machten sich in schnellem Tempo auf den Rückweg. Rob J. war sich bewusst, welch ausgezeichnete Zielscheibe sein breiter Rücken am Ende der Bahre darstellte. Er hörte jeden Schuss, der abgegeben wurde, und das Geräusch der Kugeln, die vorbeiflogen, durch das Gras zischten und sich schließlich ganz in ihrer Nähe in die Erde gruben.
Neben ihm stöhnte Amasa Decker. »Getroffen?« fragte Rob J. keuchend. »Nein.« Sie fielen in Laufschritt und erreichten - nach einer Ewigkeit, wie es ihnen vorkam - den flachen Schützengraben, in dem Major Coppersmith seine Sanitätsstation eingerichtet hatte.
Als sie den Verwundeten dem Arzt übergeben hatten, fielen die vier Träger ins Gras und schnappten nach Luft wie frisch gefangene Forellen.
»Diese Minies hörten sich an wie Bienen«, schnaufte Lucius Wagner.
»Ich dachte, unser letztes Stündlein habe geschlagen«, japste Amasa Decker. »Sie nicht, Doc?«
»Ich hatte Angst, aber ich habe mich auf meinen Schutz verlassen.«
Rob J. zeigte ihnen das mee-shome und erklärte ihnen, dass die Riemen, die izze, ihn, wie die Sauks sagten, vor Verletzungen durch Geschosse schützen würden. Decker und Wagner hörten aufmerksam zu, Wagner leicht lächelnd.
Am Nachmittag wurde nur noch ganz vereinzelt geschossen. Beide Seiten hatten einen toten Punkt - bis zum Einbruch der Dämmerung, als zwei Brigaden der Union den Fluss überquerten und am 119. Regiment vorbei in dem einzigen Bajonettangriff vorstürmten, den Rob J. im Laufe des Krieges sehen sollte. Die Infanterie des 119.
Regiments pflanzte ebenfalls die Bajonette auf und schloss sich dem Angriff an, dessen Überraschungsmoment und geballte Kraft es der Union ermöglichten, den Feind zu überrollen und mehrere tausend Konföderierte zu töten oder gefangenzunehmen. Die Verluste auf der Seite der Union waren leicht, doch Rob J. und seine Träger mussten vor Anbruch der Nacht noch ein halbes dutzendmal ausrücken. Die drei Soldaten waren zu der Überzeugung gelangt, dass Doc Cole und sein indianisches Medizinerbündel sie zu einer vom Glück begünstigten Mannschaft machten, und als sie zum siebtenmal heil zurückkamen, glaubte Rob J. genauso fest an die Macht seines mee-shome wie seine Leute. An jenem Abend, nachdem die Verwundeten versorgt waren, sah Gardner Coppersmith ihn im gemeinsamen Zelt mit leuchtenden Augen an. »Das war ein wahrhaft glorreicher Bajonettangriff, finden Sie nicht, Cole?«
Rob J. dachte eine Weile nach. »Es war wohl eher ein Gemetzel«, sagte er dann müde.
Der Regimentsarzt betrachtete ihn voller Abscheu. »Wenn Sie das so sehen, warum sind Sie dann hier?«
»Weil hier die Patienten sind«, antwortete Rob J.
Dennoch beschloss er, das 119. Indiana Ende des Jahres zu verlassen. Es stimmte ja, dass hier die Patienten waren, die Hilfe brauchten, und er war zur Army gegangen, um sie medizinisch zu betreuen, doch Major Coppersmith war nicht bereit, ihm das zu gestatten. Ein erfahrener Arzt, der kaum mehr zu tun hatte, als eine Bahre zu tragen -das war in seinen Augen eine Verschwendung, und als Atheist sah er keinen Sinn darin, zu leben wie ein Märtyrer. Er wollte nach Hause zurückkehren, sobald sein Vertrag in der ersten Woche des Jahres 1864 auslief.
Der Weihnachtsabend verlief traurig und gleichzeitig bewegend. Vor den Zelten wurden Gottesdienste abgehalten. Auf der einen Seite des Rappahannock spielten die Musiker des 119. Indiana »Adeste Fidelis«, und als sie geendet hatten, intonierte am anderen Ufer die Konföderiertenkapelle »God Rest Ye Merry, Gentlemen«.
Die Melodie wehte geisterhaft über das dunkle Wasser, und dann folgte »Silent Night«. Kapellmeister Fitts hob seinen Taktstock, und die Unionskapelle und die Konföderiertenmusiker spielten gemeinsam, und an beiden Ufern sangen die Soldaten mit. Sie konnten die Lagerfeuer des Gegners deutlich sehen.
Es wurde wirklich eine stille Nacht: Kein Schuss fiel. Als Festessen gab es zwar keinen Truthahn, doch die Army hatte für eine durchaus akzeptable Suppe gesorgt, die sogar Fleisch enthielt, das nach Rind schmeckte, und jeder Soldat des Regiments bekam einen Schluck Feiertagswhiskey. Das erwies sich als Fehler, denn der Schluck weckte den Durst nach mehr. Als das Konzert vorbei war, traf Rob J. Wilcox und Ordway, die vom Flussufer herauf wankten. Sie hatten dort einen Krug Fusel geleert, den sie von einem Händler erworben hatten. Wilcox stützte Ordway, war jedoch selbst nicht sicher auf den Beinen.
»Legen Sie sich schlafen, Abner!« sagte Rob J. zu ihm. »Ich bringe Ihren Kameraden zu seinem Zelt.« Wilcox nickte und entfernte sich schwankend, doch Rob J. tat nicht, was er angekündigt hatte. Vielmehr führte er Ordway von den Zelten weg und lehnte ihn an einen Felsen. »Lanny«, sagte er, »Lanny, mein Junge, lassen Sie uns reden! Ganz unter uns.«
Ordway schaute ihn aus halbgeschlossenen Augen mit leicht schielendem Blick an. »... fröhliche Weihnachten, Doc!«
»Fröhliche Weihnachten, Lanny! Reden wir über den >Order of the Star-Spangled Bannen<!« schlug Rob J. vor.
So kam er zu der Überzeugung, dass Whiskey ein Wundermittel sei, das alles aus Lanning Ordway herauslocken würde, was der Bahrenträger wusste.
Am 3. Januar, als Colonel Symonds mit einem neuen Vertrag zu ihm kam, beobachtete er Ordway, wie dieser seinen Rucksack sorgfältig mit frischen Kompressen und Morphiumtabletten füllte. Rob J. zögerte nur einen Moment. Dann kritzelte er seine Unterschrift auf das Papier, womit er sich für drei weitere Monate verpflichtete.
»Wann haben Sie Ellwood R. Patterson kennengelernt?«
Rob J. glaubte, bei der Befragung Ordways am Weihnachtsabend sehr behutsam und umsichtig vorgegangen zu sein. Das Ergebnis hatte seinen Eindruck von dem Mann und dem OSSB bestätigt. An den Zeltpfosten gelehnt, das Tagebuch auf den hochgezogenen Knien aufgeschlagen, schrieb er folgendes: Lanning Ordway begann, bereits fünf Jahre ehe er das Wahlalter erreichte, zu Versammlungen der American Party in Vincennes zu gehen. Er fragte mich, wo ich beigetreten sei, und ich sagte: »In Boston.« Er wurde zu den Treffen von seinem Vater mitgenommen, »weil er wollte, dass ich ein guter Amerikaner werde«. Sein Vater, Nathanael Ordway, fand als Besenbinder sein Auskommen. Die Zusammenkünfte wurden im ersten Stock über einem Gasthaus abgehalten. Sie mussten durch die Gaststube zur Hintertür hinaus und dann eine Treppe hoch.
Oben klopfte sein Vater auf die vereinbarte Weise an die Tür. Er erinnert sich, dass sein Vater immer stolz war, wenn der »Wächter des Tores« (!) sie nach einem Blick durch den Spion einließ, »weil wir gute Leute waren«.
Ein Jahr lang ging Lanning manchmal, wenn sein Vater betrunken oder krank war, allein zu den Treffen. Als Nathanael Ordway starb (»am Suff und an Rippenfellentzündung«), ging Lanning nach Chicago und arbeitete dort in einem Saloon hinter dem Bahnhofsgelände in der Galena Street, wo ein Cousin seines Vaters Whiskey ausschenkte. Er wischte hinter Säufern auf, wenn sie sich übergaben, streute jeden Morgen frisches Sägemehl, putzte die langen Spiegel, polierte das Messinggeländer - was eben so anfiel.
Es war ganz selbstverständlich für ihn, eine Zelle der Nichtswisser-Partei in Chicago ausfindig zu machen. Es war, als setze er sich mit seiner Familie in Verbindung, denn er hatte mehr mit den Leuten von der American Party gemeinsam als mit dem Cousin seines Vaters. Ziel der Partei war es, öffentliche Ämter nur mit Leuten zu besetzen, die amerikanischen Arbeitern bei der Stellenvergabe den Vorzug vor Einwanderern gaben. Trotz seiner Gehbehinderung (nachdem ich mit ihm gesprochen und ihn lange beobachtet habe, glaube ich, dass er mit einem Hüftfehler geboren wurde) setzten ihn die Parteianhänger sehr bald ein, wenn sie jemanden brauchten, der jung genug für dringende Erledigungen war - und alt genug, um den Mund zu halten. Es erfüllte ihn mit großem Stolz, als er bereits im Alter von siebzehn Jahren in den »Supreme Order of the Star-Spangled Banner« aufgenommen wurde. Er vertraute mir an, dass dies auch ein Quell der Hoffnung für ihn gewesen sei, weil er das Gefühl gehabt habe, dass ein armer und verkrüppelter, als Amerikaner geborener Junge die Unterstützung einer mächtigen Organisation brauche, wenn er es überhaupt zu etwas bringen wolle: »Immerhingab es genug ausländisches Katholikenpack, das bereit war, fast ohne Lohn zu arbeiten.« Der Geheimbund »tatDinge, die die Partei nicht tun konnte«. Als ich Ordway fragte, was er denn für den Geheimbund getan habe,antwortete er: »Dies und das. Bin rumgereist - hierhin und dahin.« Als ich wissen wollte, ob er je einem Mannnamens Hank Cough begegnet sei, blinzelte er verblüfft. »Natürlich kenne ich den. Und Sie kennen den Mannauch? Stellen Sie sich das vor! Hank!« Ich fragte ihn, wo Cough sich derzeit aufhalte, und er sah michverwundert an. »Bei der Army natürlich.«
Aber als ich auch erfahren wollte, welche Aufgabe sie gemeinsam erfüllt hätten, legte er den Zeigefinger unter das Auge und führte ihn abwärts an seiner Nase entlang. Und dann rappelte er sich unsicher auf und stolperte davon, und das Gespräch war zu Ende.
Am nächsten Morgen ließ Ordway durch nichts erkennen, dass er sich an die Befragung des vergangenen Abends erinnere. Rob J. beschloss, ihm einige Tage Verschnaufpause zu gewähren, doch es vergingen Wochen, bis sich eine Gelegenheit zur Fortführung der Unterhaltung ergab. Die Whiskeyvorräte der Händler waren während der Urlaubszeit von den Truppen aufgekauft worden, und die Marketender, die mit den Unionstruppen zogen, hatten Angst, ihre Bestände in Virginia aufzufüllen, weil sie fürchteten, der Alkohol könne vergiftet sein.
Doch der »Herr Assistenzarzt« verfügte über einen von der Regierung gestellten Vorrat an Whiskey für medizinische Zwecke. Rob J. gab den Krug Wilcox: Er wusste, dass dieser ihn mit Ordway teilen würde. An diesem Abend hielt er lange Ausschau nach den beiden, und als sie endlich auftauchten - Wilcox in Hochstimmung, Ordway mit düsterer Miene -, schickte er wie beim erstenmal Wilcox zu Bett, um sich wieder Ordways anzunehmen. Wie damals führte er ihn weg von den Zelten zu der gleichen Stelle unter den Felsen.
»Na, Lanny«, begann Rob J. »Lassen Sie uns weiter reden!«
»Über was, Doc?«
»Wann haben Sie Ellwood R. Patterson kennengelernt?« Die Augen des Mannes wirkten wie eisige Nadeln, und seine Stimme klang völlig nüchtern, als er fragte: »Wer sind Sie?«
Rob J. war bereit für die harte Wahrheit. Er hatte lange darauf gewartet. »Was glauben Sie denn, wer ich bin?«
»Ich glaube, Sie sind ‘n verdammter katholischer Spion, und deshalb haben Sie diese ganzen Fragen gestellt.«
»Ich habe noch mehr Fragen. Ich habe Fragen über die Indianerin, die Sie umgebracht haben.«
»Was für ‘ne Indianerin?« fragte Ordway ehrlich entsetzt. »Wie viele Indianerinnen haben Sie denn umgebracht?
Wissen Sie, wo ich herkomme, Lanny?«
»Boston, ham Sie gesagt«, erwiderte Ordway verdrießlich. »Ursprünglich, ja. Aber ich habe jahrelang in Illinois gelebt. In der Nähe einer kleinen Stadt namens Holden’s Crossing.« Ordway sah ihn schweigend an.
»Die Indianerin, die ermordet wurde, war meine Freundin, Lanny. Sie arbeitete für mich. Ihr Name war Makwa-
ikwa, falls Sie das bisher nicht gewusst haben. Sie wurde auf meinem Land getötet.«
»Die Indianerin? Mein Gott, lassen Sie mich zufrieden, Sie Verrückter! Ich weiß nicht, von was Sie reden. Ich warne Sie! Wenn Sie gescheit sind, wenn Sie wissen, was gut für Sie is’, Sie Sohn eines verdammten Spions, dann vergessen Sie schleunigst alles, was Sie vielleicht über Ellwood R. Patterson zu wissen glauben«, sagte Ordway noch, sprang auf und humpelte so schnell davon, als stehe er unter Beschuss.
Den ganzen folgenden Tag beobachtete Rob J. ihn verstohlen. Er sah zu, wie er seine Trägermannschaft trainierte, ihre Rucksäcke inspizierte, hörte, wie er sie ermahnte, sparsam mit den Morphiumtabletten umzugehen, bis Nachschub komme, da der Vorrat fast aufgebraucht sei. Lanning Ordway, musste er feststellen, hatte sich zu einem gewissenhaften und leistungsfähigen Mitglied der Sanitätsstaffel entwickelt. Am Nachmittag sah er Ordway in seinem offenen Zelt mit einem Bleistift in der Hand über einem Blatt Papier sitzen. Der Sergeant war stundenlang beschäftigt. Nach dem Zapfenstreich brachte er einen Briefumschlag zum Postzelt.
Rob J. suchte ebenfalls das Postzelt auf. »Heute früh traf ich einen Händler, der richtigen Käse dabei hatte«, erklärte er Amasa Decker.
»Ich habe ein Stück davon in Ihr Zelt gebracht.«
»Das ist aber nett, Doc«, freute sich Decker.
»Ich muss doch für meine Bahrenträger sorgen, oder? Gehen Sie lieber, und essen Sie ihn, bevor ihn ein anderer entdeckt. Ich vertrete Sie inzwischen gerne hier.«
So einfach ging es also. Decker war kaum hinausgeeilt, als Rob J. sich schon den Kasten mit der ausgehenden Post vornahm. Er brauchte nicht lange, um den Umschlag zu finden und in sein mee-shome zu stecken.
Als er wieder allein in seinem eigenen Zelt war, nahm er das Kuvert heraus und öffnete es. Es war an Rev David Goodnow, Bridgeton Street 237, Chicago, Illinois adressiert.
Lieba Mr. Goodnow,
Lanning Ordway. Ich bin beim 119. Indiana, wenn Sie sich erinnan. Hier isn Mann, dern Haufn Fragn stellt. N
Doktor. Heißt Robat Col. Will über Henry Bescheid wissn. Redet n Haufn komisches Zeug. Hab ihn beobachtet.
Löchat mich wegn L.wood Padson. Sagt, wir hättn das Indjanermädel umgebracht damals in Illinois. Hab ne Menge Möglichkeitn, ihn auszuschaltn. Aba ich benutz mein Kopf und lass Sies wissn, damit Sie rausfinn könn, wie er was über uns rausgefunn hat. Ich bin Sgt. Wenn da Krieg aus is, werd ich wieda fürn Order arbeitn.
Lanning Ordway
Über den Rappahannock
Rob J. wurde sich quälend bewusst, dass es mitten im Krieg, wo es überall von Waffen wimmelte und selbst Massenmorden keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, für einen erfahrenen Killer wirklich viele Möglichkeiten und Gelegenheiten gab, ihn »auszuschalten«. Vier Tage lang bemühte er sich, darauf zu achten, was hinter seinem Rücken vorging, und fünf Nächte döste er entweder nur oder blieb gänzlich wach.
Er lag da und überlegte, wie Ordway wohl vorgehen würde. Er an seiner Stelle hätte gewartet, bis sie beide inmitten eines heftigen Scharmützels gewesen wären, wo viel geschossen wurde. Allerdings hatte er keine Ahnung, ob Ordway nicht vielleicht ein Messerstecher war. Hätte man Rob J. nach einer langen, dunklen Nacht, in der jeder nervöse Posten jeden Schatten für einen aus den Reihen der Konföderierten hielt, erstochen oder mit durchschnittener Kehle aufgefunden, hätte das kaum Überraschung hervorgerufen und sicher zu keinen intensiven Nachforschungen über den Hergang der Tat geführt. Die Lage änderte sich am 19. Januar, als die B-Kompanie der Zweiten Brigade zu einem Spionagevorstoß über den Rappahannock losgeschickt wurde, den sie schnell hinter sich bringen sollte. Das Vorhaben klappte jedoch nicht. Die Infanteriekompanie stieß nämlich auf starke Konföderiertenstellungen, wo sie überhaupt keine Rebellen erwartet hatte, und wurde durch feindlichen Beschuss in offenem Gelände festgenagelt.
Es war eine Wiederholung der Situation, in der sich das gesamte Regiment einige Wochen zuvor befunden hatte, doch diesmal stürmten keine siebenhundert Mann mit aufgepflanzten Bajonetten durch den Fluss, um die Situation zu retten, diesmal kam keine Unterstützung durch die Potomac-Army. Die einhundertsieben Soldaten blieben, wo sie waren, und erwiderten den ganzen Tag so gut wie möglich das Feuer. Erst als die Dunkelheit hereinbrach, flohen sie über den Fluss zurück und brachten vier Gefallene und sieben Verwundete mit. Der erste Mann, den sie in das Sanitätszelt brachten, war Lanning Ordway.
Ordways Mannschaftskameraden berichteten, er sei unmittelbar vor Einbruch der Nacht getroffen worden. Er hatte gerade in die Tasche gegriffen, um den harten Zwieback und das Stück gebratenes Schweinefleisch herauszuholen, das er morgens in Papier eingewickelt und eingesteckt hatte, als ihn kurz hintereinander zwei Minie-Geschosse trafen. Eines davon hatte ein Loch in die Bauchdecke gerissen, und eine Schleife gräulicher Eingeweide hing heraus. Rob J. machte sich daran, sie hineinzudrücken, um die Wunde wieder schließen zu können, doch dann sah er, dass Ordway nicht mehr zu retten war. Der zweite Einschuss lag etwas höher und hatte zweifellos große Zerstörung angerichtet. Rob J. wusste, wenn er den Bauch öffnete, würde er in der Bauchhöhle eine Blutansammlung vorfinden. Ordways Gesicht war weiß wie Milch.
»Möchten Sie irgend etwas, Lanny?« fragte er sanft. Ordways Lippen bewegten sich. Sein Blick verfing sich in dem Robs, und die Gelassenheit, die aus ihm sprach und die Rob J. schon früher bei Sterbenden gesehen hatte, zeigte, dass der Sergeant Bescheid wusste. »Wasser.«
Das war das Schlimmste, was man einem Mann mit einem Bauchschuss geben konnte, doch Rob J. wusste, es spielte keine Rolle mehr. Er nahm zwei Morphiumtabletten aus seinem mee-shome und gab sie Ordway mit einem großen Glas Wasser. Der hatte sie kaum geschluckt, als er sich auch schon rötlich erbrach. »Soll ich einen Priester holen lassen?« fragte Rob J., während er ihm den Mund abwischte. Ordway antwortete nicht, er sah ihn nur an. »Vielleicht wollen Sie mir erzählen, was damals mit Makwa-ikwa in meinem Wald genau passiert ist?
Oder etwas anderes? Irgend etwas?«
»Gehen Sie... Hölle«, brachte der Todgeweihte mühsam hervor. Rob J. glaubte nicht, dass er je zur Hölle gehen würde. Er glaubte auch nicht, dass Ordway oder sonst jemand zur Hölle gehen würde, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine solche Diskussion. »Ich dachte, es würde Ihnen vielleicht helfen, jetzt darüber zu sprechen. Falls Sie sich etwas von der Seele reden wollen.« Ordway schloss die Augen, und Rob J. erkannte, dass es keinen Sinn hatte, noch weiter in ihn zu dringen.
Es war stets schrecklich für ihn, jemanden an den Tod zu verlieren, aber es war besonders schrecklich für ihn, diesen Mann zu verlieren, der zwar bereit gewesen war, ihn umzubringen, in dessen Kopf aber das Wissen um etwas eingeschlossen war, das er all die Jahre hatte erfahren wollen, und wenn dieser Verstand erlosch, dann war dieses Wissen auf immer verloren.
Und außerdem fühlte er sich trotz allem von diesem komplizierten jungen Mann irgendwie angesprochen. Wie hätte Ordway sich entwickelt, wenn er ohne Behinderung geboren worden wäre, eine Schulbildung genossen, Fürsorge anstatt Hunger erfahren und einen Vater gehabt hätte, der kein Trunkenbold war?
Rob J. war sich der Müßigkeit solcher Überlegungen durchaus bewusst, und als sein Blick zu der reglosen Gestalt zurückkehrte, sah er, dass Ordway sich allen Spekulationen entzogen hatte. Er hielt die Äthermaske, während Gardner Coppersmith geschickt ein Minie-Geschoss aus der linken Hinterbacke eines Jungen entfernte, und kehrte dann zu Ordway zurück, band ihm das Kinn hoch und beschwerte seine Lider mit Münzen. Dann legten sie ihn neben die vier anderen Toten, die die B-Kompanie zurückgebracht hatte, auf den Boden.
Der Kreis schließt sich
Am 12. Februar 1864 schrieb Rob J. in sein Tagebuch:
Zwei Flüsse meiner Heimat, der große Mississippi und der bescheidene Rock River, haben mein Leben mitgeprägt, und jetzt habe ich in Virginia mit zwei ebenso ungleichen Flüssen intensive Bekanntschaft machen müssen, da ich an den Ufern des Rappahannock und des Rapidan Zeuge ständigen Mordens wurde. Die Potomac-Army und die Northern-Virginia-Army hetzten vom späten Winter bis zum Frühling Infanterie und Kavallerie gegeneinander über den Rapidan. So selbstverständlich, wie ich in früheren Zeiten den Rock River überquerte, um einen kranken Nachbarn zu besuchen oder einem Kind ans Licht der Welt zu helfen, begleite ich jetzt die Truppen an allen möglichen Stellen über den Rapidan: entweder auf dem Rücken von Pretty Boy oder zu Fuß durch eine seichte Furt oder mit dem Boot oder einem Floß über tiefes Wasser. In diesem Winter gab es keine Schlacht, in der Tausende umkamen, aber ich habe festgestellt, dass ich einen einzelnen Toten als viel tragischer empfinde als ein ganzes Schlachtfeld voller Leichen. Ich habe gelernt, nicht auf die Gesunden und die Gefallenen zu achten, sondern mich auf die Verwundeten zu konzentrieren und junge verdammte Narren zubergen - meist unter Beschuss junger verdammter Narren aus den Reihen des Feindes...
Die Soldaten auf beiden Seiten waren dazu übergegangen, Zettel an ihre Kleidung zu heften, auf denen ihr Name und ihre Adresse standen, weil sie hofften, dass ihre Angehörigen benachrichtigt würden, wenn sie im Krieg blieben. Doch weder Rob J. noch seine drei Bahrenträger machten sich diese Mühe: Sie rückten ohne Furcht ins Feld aus, denn Amasa Decker, Alan Johnson und Lucius Wagner waren inzwischen überzeugt davon, dass Makwa-ikwas Magie sie tatsächlich beschützte. Und Rob J. ließ sich von ihrer Überzeugung anstecken. Es war, als gehe von dem mee-shome der Indianerin wirklich eine Kraft aus, die alle Kugeln abhielt und den Trupp unverwundbar machte.
Manchmal schien es, als sei schon immer Krieg gewesen, und als würde er ewig fortdauern. Doch dann las Rob J. eines Tages in einem zerfledderten Exemplar des »Baltimore American«, dass alle männlichen Südstaatler zwischen siebzehn und fünfzig zum Dienst in der Konföderiertenarmee eingezogen worden seien. Das bedeutete, dass es inzwischen keinen Ersatz mehr für die Gefallenen gab und die gegnerische Armee zwangsläufig kleiner wurde. Rob J. sah auch, dass die Konföderierten, die gefangengenommen oder getötet wurden, allesamt zerfetzte Uniformen und ebensolches Schuhwerk trugen. Er fragte sich verzweifelt, ob Alex noch am Leben war, und wenn ja, ob er Essen, Kleidung und Schuhe hatte. Colonel Symonds kündigte an, dass das 119. Indiana in Kürze eine große Anzahl Sharps-Karabiner bekomme, die mit Schnellfeuermagazinen ausgerüstet seien. Auch das deutete daraufhin, in welche Richtung sich der Krieg entwickelte: Der Norden stellte die besseren Waffen, die bessere Munition und die besseren Schiffe her, und der Süden litt unter schwindenden Soldatenzahlen und einem entschiedenen Mangel an allem, was aus Fabriken kam.
Doch die Konföderierten schienen nicht einsehen zu wollen, dass sie an einem extremen industriellen Rückstand litten, und sie kämpften mit einer Besessenheit, die ihr Schicksal bald besiegeln sollte.
Eines Tages, gegen Ende Februar, wurden die vier Bahrenträger zu einem Captain namens Taney von der A-Kompanie der Ersten Brigade gerufen, der in aller Ruhe eine Zigarre paffte, obwohl ihm eine Kugel das Schienbein durchschlagen hatte. Rob J. sah, dass es keinen Sinn hatte, eine Schiene anzulegen, da das Geschoss mehrere Zentimeter des Knochens und des Wadenbeins weggerissen hatte und das Bein unterhalb des Knies amputiert werden musste. Als er eine Kompresse aus seinem mee-shome nehmen wollte, stellte er fest, dass der Medizinbeutel nicht da war.
Sein Magen krampfte sich zusammen, als ihm einfiel, wo er ihn gelassen hatte: vor dem Sanitätszelt im Gras!
Die anderen wussten das auch.
Er nahm Alan Johnson seinen Gürtel ab und legte ihn als Aderpresse an, und dann hoben sie den Captain gemeinsam auf die Bahre und wankten mit ihm davon, als wären sie betrunken. »Gütiger Gott«, sagte Lucius Wagner. Das sagte er stets, wenn er Angst hatte, in vorwurfsvollem Ton. Diesmal flüsterte er es immer und immer wieder, bis er den anderen damit auf die Nerven ging, aber keiner beschwerte sich oder befahl ihm, den Mund zu halten, denn alle warteten furchtsam darauf, dass eine Kugel ihren Körper treffen könnte, der ohne den Schutz der Magie den Greueln des Krieges ausgeliefert war.
Sie bewegten sich langsamer und unbeholfener als bei ihrem allerersten Einsatz. Immer wieder bellte Gewehrfeuer, doch die Bahrenträger blieben verschont. Endlich erreichten sie das Sanitätszelt, und nachdem sie den Patienten in Major Coppersmiths Obhut übergeben hatten, hob Amasa Decker das mee-shome vom Boden auf und drückte es Rob J. in die Hand. »Hängen Sie es um! Sofort!« Und Rob J. gehorchte.
Die drei Träger berieten sich und kamen überein, gemeinsam darauf zu achten, dass der Doc jeden Morgen als erstes das mee-shome umhängte.
Zwei Tage später war Rob J. sehr froh, das Medizinbündel dabeizuhaben: Das 119. Indiana kam eine halbe Meile vor der Stelle, an der der Rapidan in den größeren Fluss mündete, um eine Straßenbiegung und sah sich plötzlich einer Brigade in grauen Uniformen gegenüber. Beide Seiten eröffneten sofort das Feuer - die vordersten Männer aus nächster Nähe. Die Luft war erfüllt von Flüchen und Rufen, dem Knallen der Musketen und den Schreien der Getroffenen, und dann verhakten sich die beiden Frontlinien ineinander. Offiziere droschen mit ihren Degen auf den Gegner ein oder schossen kleine Handfeuerwaffen ab, Soldaten setzten ihre Gewehre als Keulen ein und ihre Fäuste, Fingernägel und Zähne, da keine Zeit zum Nachladen blieb. Rechts von der Straße befand sich ein Eichenwald, links ein gedüngtes Feld, gepflügt, geeggt und für die Saat bereit, so dass es aussah wie weicher Samt. Einige Männer beider Seiten nahmen Deckung hinter den Bäumen, doch der Großteil verteilte sich auf dem Feld und zerstörte die makellose Fläche. Zwei unregelmäßige, lückenhafte Schützenlinien feuerten aufeinander.
Für gewöhnlich hielt sich Rob J. bei Gefechten im Hintergrund und wartete ab, bis er hinausbeordert wurde, doch in dem Durcheinander fand er sich auf dem Rücken seines völlig verängstigten Pferdes plötzlich mitten in dem Gemetzel. Der Hengst scheute, bäumte sich auf und brach dann unter ihm zusammen. Rob J. konnte gerade noch abspringen, bevor das Tier zu Boden krachte und hufeschlagend und sich windend dort liegenblieb. Das kleine, schwarze Loch in Pretty Boys lehmfarbenem Hals blutete nicht, doch aus den geblähten Nüstern des im Todeskampf zuckenden Pferdes quoll ein roter Doppelstrom.
Das mee-shome enthielt auch eine Spritze mit einer Kupfernadel und Morphium, aber es herrschte noch immer ein großer Mangel an Opiaten, weshalb sie nicht an ein Tier verschwendet werden durften.
Zehn Meter entfernt lag ein junger gefallener Konföderiertenleutnant, und Rob J. ging zu ihm und zog den schweren, dunklen Navy-Revolver aus seinem Halfter. Dann kehrte er zu seinem armen Pferd zurück, drückte die Mündung der Waffe unter Pretty Boys Ohr und zog den Abzug durch.
Er hatte sich erst ein paar Meter entfernt, als er einen brennenden Schmerz in seinem linken Oberarm spürte —als habe ihn eine überdimensionale Biene gestochen. Er machte noch drei Schritte, dann schien die umbrafarbene, süßlich nach Dung riechende Erde sich hochzuwölben, um ihn aufzunehmen.
Sein Verstand arbeitete klar. Er wusste, dass er kurz das Bewusstsein verloren hatte und gleich wieder zu Kräften kommen würde, und währenddessen lag er da und betrachtete mit dem kritischen Auge eines Malers die ockerfarbene Sonne am rötlichen Himmel und hörte die Geräusche um sich herum leiser werden, als breite jemand eine Decke über den Rest der Welt. Er wusste nicht, wie lange er so dagelegen hatte, als er schließlich den Kopf zur Seite drehte, um einen Packen Kompressen aus seinem Medizinbündel zu nehmen und sie auf seine Wunde zu drücken. Das mee-shome war blutig, und Rob J. musste unwillkürlich darüber lachen, dass ein Atheist versucht hatte, aus einem alten, mit Wildschweinborsten verzierten Lederbeutel und ein paar bunten Riemen aus gegerbtem Leder einen Gott zu schaffen. Schließlich kam Wilcox’ Mannschaft, um ihn zu holen.
Der Sergeant- eine Kreatur, die ihn an Pretty Boy erinnerte - plapperte schielend und fürsorglich dieselben Nichtigkeiten, die er selbst in dem Bemühen, Trost zu spenden, tausendmal zu Patienten gesagt hatte. Die Südstaatler hatten erkannt, dass sie zahlenmäßig weit unterlegen waren, und sich bereits zurückgezogen. Das Gelände war mit toten Soldaten und Pferden, kaputten Wagen und verstreuten Ausrüstungsgegenständen übersät, und Wilcox überlegte laut, dass der Farmer wohl eine Menge Arbeit haben würde, um das Feld wieder in Ordnung zu bringen.
Rob J.s Verletzung war nicht schwer, aber alles andere als ein bloßer Kratzer. Das Geschoss hatte zwar den Knochen verfehlt, jedoch Fleisch und Muskeln weggerissen. Coppersmith versorgte die Wunde sorgfältig und schien bei dieser Aufgabe große Befriedigung zu empfinden.
Rob J. wurde mit sechsunddreißig anderen Verwundeten in ein Lazarett in Fredericksburg gebracht, wo er zehn Tage blieb. Sie waren in einem ehemaligen Lagerhaus untergebracht, das sauberer hätte sein können, doch der diensthabende Sanitätsoffizier, ein Major namens Sparrow, der vor dem Krieg in Connecticut praktiziert hatte, war ein fähiger Mann. Rob J. erinnerte sich an Dr. Milton Akersons Experimente mit Chlorwasserstoff in Illinois, und Dr. Sparrow gestattete ihm, seine eigene Wunde von Zeit zu Zeit mit einer milden Chlorwasserstofflösung auszuwaschen. Es brannte, doch die Wunde heilte langsam ohne Infektion, und die beiden Ärzte kamen überein, dass es wahrscheinlich sinnvoll sei, dieses Verfahren auch bei anderen Patienten anzuwenden. Rob J. war in der Lage, seine Finger abzubiegen und seine linke Hand zu bewegen, obwohl es ziemlich schmerzte. Er war sich mit Dr. Sparrow einig, dass es noch zu früh sei, darüber zu urteilen, inwieweit der verletzte Arm schließlich wieder zu gebrauchen wäre.
Colonel Symonds kam ihn nach einer Woche im Lazarett besuchen. »Fahren Sie heim, Doktor Cole! Wenn Sie sich erholt haben und zu uns zurückkommen wollen, sind Sie herzlich willkommen«, sagte er, obwohl beide wussten, dass Rob J. nicht zurückkommen würde. Symonds dankte ihm unbeholfen. »Falls ich überlebe und es Sie irgendwann einmal nach Fort Wayne in Indiana verschlägt, müssen Sie mich unbedingt in der Symonds Lamp Chimney Factory besuchen. Und dann werden wir eine Menge essen und eine Menge trinken und endlos über die schlechten alten Zeiten reden.« Sie schüttelten einander bewegt die Hand, bevor der junge Colonel ging.
Rob J. brauchte dreieinhalb Tage, um nach Hause zu kommen, und musste nach der Fahrt mit der Baltimore & Ohio Railway viermal auf andere Bahnlinien umsteigen. Alle Züge fuhren mit Verspätung, waren schmutzig und vollgestopft mit den unterschiedlichsten Reisenden. Robs Arm hing in einer Schlinge, doch da er hier nur irgendein Zivilist mittleren Alters war, stand er mehrmals für fünfzig Meilen oder mehr auf dem Gang eines schwankenden Waggons. In Canton, Ohio, wartete er einen halben Tag auf den Anschlusszug, und dann teilte er sich einen Doppelsitzplatz mit einem Vertreter namens Harrison, der für eine Handelsfirma arbeitete, die Tintenpulver an die Army verkaufte. Der Mann erzählte ihm, er sei mehrmals auf Hörweite am Kampfgeschehen gewesen, und steckte voller unwahrscheinlicher Geschichten, die mit den Namen wichtiger militärischer und politischer Persönlichkeiten gespickt waren, doch Rob J. störte dies nicht, denn die Erzählungen ließen die Zeit schneller vergehen. Schließlich gab es in den heißen, überbesetzten Wagen kein Wasser mehr. Wie die anderen trank auch Rob J. aus, was er dabeihatte, und wurde dann von Durst geplagt. Schließlich hielt der Zug an einem Kleinbahnhof in der Nähe eines Armeelagers am Rande von Marion, um Brennstoff aufzunehmen, und die durstigen Passagiere drängten aus den Waggons, um sich aus einem kleinen Fluss Wasser zu holen. Auch Rob J.
war unter ihnen, doch als er sich hinkniete, um seine Feldflasche zu füllen, entdeckte er etwas, das ihm den Magen umdrehte: Irgend jemand hatte benutzte Kompressen, blutige Verbände und anderen Krankenhausabfall in den Wasserlauf geworfen. Als Rob J. nach ein paar Schritten weitere Müllplätze entdeckte, schraubte er seine Feldflasche wieder zu und riet den anderen Passagieren, das gleiche zu tun.
Der Schaffner sagte, ein Stückchen weiter, in Lima, gebe es sauberes Wasser, und Rob J. kehrte auf seinen Platz zurück. Nachdem der Zug seine Fahrt fortsetzte, schlief er, und auch das Rattern und Schaukeln des Waggons weckte ihn nicht.
Als er endlich aufwachte, erfuhr er, dass der Zug Lima gerade verlassen hatte. »Ich wollte mir doch Wasser holen«, sagte er verärgert. »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken«, tröstete ihn Harrison. »Ich habe welches.« Und damit reichte er Rob J. seine Flasche, und der nahm dankbar einen großen Schluck.
»Gab es in Lima genug Wasser für alle?« fragte er, während er die Flasche zurückgab.
»Oh, ich habe in Lima nichts gebraucht. Ich habe meinen Vorrat in Marion aufgefüllt, als wir Brennstoff einluden.« Der Mann wurde leichenblass, als Rob J. ihm erzählte, was er in dem Fluss gesehen hatte. »Dann werden wir jetzt krank?«
»Das kann man nicht so genau sagen.« Hinter Gettysburg hatte Rob J. eine ganze Kompanie vier Tage lang aus einer Quelle trinken sehen, in der, wie sich herausstellte, zwei tote Konföderierte lagen, und es hatte den Soldaten nichts geschadet. Er zuckte mit den Achseln. »Aber es würde mich nicht wundern, wenn wir beide in ein paar Tagen einen ordentlichen Durchfall bekämen.«
»Können wir nicht was dagegen tun?«
»Whiskey wäre nicht schlecht.«
»Überlassen Sie das mir!« Harrison machte sich auf die Suche nach dem Schaffner. Als er zurückkam, war wohl sein Geldbeutel leichter, dafür aber brachte er eine große Flasche mit, die noch zu zwei Dritteln voll war. Der Whiskey sei so stark, meinte Rob J., nachdem er ihn probiert hatte, dass er eigentlich wirken müsse. Als die beiden sich in South Bend trennten, war jeder überzeugt, dass der andere ein feiner Kerl sei, und sie schüttelten einander zum Abschied herzlich die Hände. Rob J. war schon in Gary, als ihm einfiel, dass er Harrisons Vornamen gar nicht kannte.
Er kam in der Kühle des frühen Morgens in Rock Island an. Ein frischer Wind wehte vom Fluss herauf. Rob J.
verließ erleichtert den Zug und ging mit dem Koffer in der gesunden Hand durch die Stadt. Er wollte eigentlich Pferd und Wagen mieten, doch dann traf er auf der Straße George Cliburn, und der Futtermittelhändler begrüßte ihn freudig und bestand darauf, ihn mit seinem Fuhrwerk nach Holden’s Crossing zu bringen.
Als Rob J. durch die Tür des Farmhauses trat, wollte Sarah sich gerade zu ihrem Frühstücksei und einem Brötchen vom Vortag an den Tisch setzen. Sie sah ihn an, ohne ein Wort zu sagen, und dann fing sie an zu weinen. Lange Zeit hielten sie einander umschlungen. »Bist du schwer verletzt?« fragte sie schließlich. Er versicherte ihr, dass es nicht schlimm sei.
»Du bist dünn geworden.« Sie wollte ihm ein Frühstück machen, doch er erklärte, er werde später etwas essen.
Er begann sie zu küssen und wollte sie, ungeduldig wie ein Junge, gleich auf dem Tisch oder dem Fußboden haben, doch sie meinte, es sei an der Zeit, dass er endlich in sein Bett komme, und er folgte ihr eiligst die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer überkam ihn plötzlich Befangenheit. »Ich glaube, ich sollte erst einmal gründlich baden«, meinte er nervös. Sie flüsterte, er könne auch danach baden. Die langen Monate der Trennung, seine Erschöpfung und der Schmerz im Arm fielen mit seinen Kleidern von ihm ab. Sie küssten und erforschten einander begieriger als damals nach ihrer Hochzeit bei der Großen Erweckung in der Scheune des Farmers, denn jetzt wussten sie, was ihnen so gefehlt hatte. Seine gesunde Hand fand sie, und er ließ seine Finger sprechen.
Nach einer Weile gaben Sarahs Knie nach, und er zuckte vor Schmerz zusammen, als sie gegen ihn sank. Sie sah sich die Wunde an, ohne zu erbleichen, half ihm dann, den Arm wieder in die Schlinge zu legen, und zwang ihn, sich auf das Bett zu legen und die Initiative ihr zu überlassen. Rob J. schrie während sie sich liebten; einmal, weil der Arm weh tat.
Freude erfüllte ihn, nicht nur darüber, zu seiner Frau zurückgekehrt zu sein, sondern auch darüber, die Pferde im Stall mit Äpfeln füttern und feststellen zu können, dass sie sich an ihn erinnerten; zu Alden zu gehen, der gerade Zäune reparierte, und die Herzlichkeit auf dem Gesicht des alten Mannes zu sehen; den Kurzen Weg durch den Wald zum Fluss zu nehmen und unterwegs anzuhalten und Unkraut von Makwa-ikwas Grab zu entfernen; in der Nähe, wo das hedonoso-te gestanden hatte, an einen Baum gelehnt einfach nur dazusitzen und das Wasser friedlich vorbeifließen zu sehen, ohne dass vom anderen Ufer Soldaten mit schrecklichem Kriegsgeschrei heranstürmten und schossen. Spät an diesem Nachmittag gingen er und Sarah auf dem Langen Weg zu den Geigers. Auch Lillian weinte, als sie ihn sah, und küsste ihn auf den Mund. Der letzten Nachricht zufolge sei Jason bei guter Gesundheit, erzählte sie, und habe einen Posten als Verwalter eines großen Krankenhauses am James River.
»Dann war ich ganz in seiner Nähe«, sagte Rob J. »Nur ein paar Stunden entfernt.«
Lillian nickte. »So Gott will, kommt er bald nach Hause.« Sie konnte den Blick kaum von Rob J.s Arm wenden.
Sarah lehnte die Einladung zum Abendessen ab: Sie wollte ihren Mann ganz für sich allein haben.
Doch das war ihr nur zwei Tage lang gegönnt, denn am dritten Morgen hatte es sich herumgesprochen, dass Rob J. zurück war. Die Leute kamen - einige nur, um ihn zu begrüßen, doch der größte Teil, um das Gespräch wie zufällig auf einen Furunkel am Bein oder einen schlimmen Husten oder Bauchschmerzen zu bringen, die nicht vergehen wollten. Sarah kapitulierte. Alden sattelte Boss für ihn, und Rob J. ritt zu einem halben Dutzend Farmen, um alte Patienten zu besuchen.
Tobias Barr hatte zwar fast jeden Mittwoch in Holden’s Crossing Sprechstunde gehalten, doch die Leute waren nur in Notfällen hingegangen, und Rob J. stand vor derselben Aufgabe wie damals, als er neu nach Holden’s Crossing gekommen war: unbehandelte Leistenbrüche verfaulte Zähne und chronische Bronchitis. Bei den Schroeders sagte er, er sei erleichtert, dass Gustav nicht noch mehr Finger bei irgendwelchen Unfällen auf der Farm verloren habe, was wirklich stimmte, obwohl er es scherzhaft sagte. Alma servierte ihm Zichorienkaffee und Mandelbrot und erzählte ihm die lokalen Neuigkeiten, von denen ihn einige sehr betrübten. Paul Gruber war im letzten August auf seinem Weizenfeld tot umgefallen. »Wahrscheinlich das Herz«, meinte Gus. Und Suzy Gilbert, die immer darauf bestanden hatte, Rob J. schwere Kartoffelpfannkuchen vorzusetzen, war einen Monat zuvor im Kindbett gestorben. Es gab Neuzugänge in der Stadt: Familien aus Neuengland und aus dem Staat New York sowie drei katholische Familien, die frisch aus Irland eingewandert waren. Er könne kein Wort verstehen, was die redeten, sagte Gus mit starkem deutschem Akzent, und Rob J. konnte nicht umhin zu lächeln. Am Nachmittag ritt er an einer inzwischen umfangreichen Ziegenherde vorbei zum Konvent der Franziskanerinnen.
Miriam Ferocia begrüßte ihn strahlend. Er setzte sich in den Bischofssessel und erzählte ihr, was er erlebt hatte.
Als er von Lanning Ordway und dessen Brief an Reverend David Goodnow berichtete, hing sie gespannt an seinen Lippen. Sie bat ihn, Goodnows Namen und Adresse notieren zu dürfen. »Es gibt Menschen, für die diese Information sehr wertvoll sein wird«, sagte sie.
Und dann erzählte sie ihm von ihrer Welt. Der Konvent blühte: Vier neue Nonnen und zwei Novizinnen waren dazugekommen, und neuerdings fanden sich auch Leute zum Sonntagsgottesdienst ein. Wenn weiterhin Siedler zuzögen, meinte sie, werde bald eine katholische Kirche gebaut.
Er hatte den Verdacht, dass sie seinen Besuch erwartet hatte, denn er war noch gar nicht lange da, als Schwester Mary Peter Celestine eine Platte mit frischgebackenen, dünnen, knusprigen Salzkeksen und ausgezeichnetem Ziegenkäse brachte. Und richtigen Kaffee, den ersten, den er seit mehr als einem Jahr getrunken hatte, mit sahniger Ziegenmilch.
»Wollen Sie mich mästen?« fragte er scherzhaft.
»Es ist schön, dass Sie wieder zu Hause sind«, erwiderte die grimmige Miriam lächelnd.
Mit jedem Tag fühlte er sich kräftiger. Er ließ sich aber mit allem noch Zeit, schlief lange, genoss Sarahs gute Küche und schlenderte über die Farm. Und jeden Nachmittag behandelte er ein paar Patienten.
Er musste sich an das gute Leben erst wieder gewöhnen. Am siebten Tag taten ihm Arme, Beine und der Rücken weh. Er lachte darüber und erklärte Sarah, er sei wohl nicht mehr gewohnt, in einem Bett zu schlafen.
Und dann spürte er eines Morgens, als er noch im Bett lag, ein Grummeln in seinem Bauch, versuchte es aber zu ignorieren, weil er noch nicht aufstehen wollte. Doch dann konnte er den Drang nicht mehr hinausschieben, und er war erst halb die Treppe hinunter, als er anfing zu rennen, wovon Sarah aufwachte.
Er schaffte es nicht bis zum Aborthäuschen, sondern hockte sich neben den Weg ins Unkraut wie ein betrunkener Soldat und brummte und stöhnte, als es aus ihm herausbrach.
Sarah war ihm gefolgt, und es war ihm sehr peinlich, dass sie ihn so sah.
»Was ist los?« fragte sie.
»Wasser... im Zug«, keuchte er.
Im Laufe der Nacht kamen noch drei Schübe. Am Morgen schluckte er Rizinusöl, um seinen Körper ganz zu reinigen, und als er sich am Abend immer noch elend fühlte, nahm er Bittersalz. Am Tag darauf bekam er hohes Fieber und wurde von schrecklichen Kopfschmerzen geplagt, und er wusste, was ihm fehlte, noch bevor Sarah ihn an diesem Abend zum Waschen auszog und die roten Flecken auf seinem Bauch sah.
»Wir haben schon genug Leute mit Typhus behandelt und durchgebracht«, erklärte Sarah resolut. »Du musst mir nur sagen, was ich dir zu essen geben soll.«
Der bloße Gedanke an Essen verursachte ihm Übelkeit, doch er erklärte es ihr trotzdem. »Fleischbrühe - mit Gemüse, wenn du welches bekommen kannst. Fruchtsäfte. Aber zu dieser Jahreszeit...«
In einem Fass im Keller seien noch Apfel, sagte sie, und Alden werde sie zerstampfen. Sie entwickelte eine eifrige Geschäftigkeit, denn es war besser zu arbeiten, als sich zu sorgen. Doch nach weiteren vierundzwanzig Stunden erkannte sie, dass sie Hilfe brauchen würde, denn die Reinigung der Bettpfannen, das ständige Umziehen und Baden, um das Fieber zu drücken, das Auskochen der Wäsche hatten ihr kaum Zeit zum Schlafen gelassen. Sie schickte Alden zum Konvent, um die Nonnen zu bitten, ihr zu helfen. Sie kamen zu zweit, wie Sarah es erwartet hatte, da sie wusste, dass sie immer paarweise arbeiteten: eine junge Nonne mit einem Babygesicht namens Schwester Mary Benedicta und eine ältere Frau, hochgewachsen und mit einer langen Nase, die sich als Mater Miriam Ferocia vorstellte. Als sie in sein Zimmer traten, öffnete Rob J. die Augen. Er lächelte, nachdem er erkannt hatte, wer gekommen war, und Sarah verschwand in das Zimmer der Jungen und schlief sechs Stunden lang.
Die Nonnen waren gute Krankenschwestern. Das Zimmer des Patienten sah stets ordentlich aus, und es roch nie schlecht darin. Nach drei weiteren Tagen sank Rob J.s Fieber. Zuerst freuten sich die drei Frauen, doch dann zeigte Mater Miriam Ferocia Sarah, dass der Stuhl blutig wurde, und sie schickten Alden nach Rock Island, um Dr. Barr zu holen.
Als der Arzt eintraf, bestand der Stuhl fast nur noch aus Blut, und Rob J. war sehr blass. Seit der ersten krampfartigen Darmentleerung waren acht Tage vergangen.
»Die Krankheit ist sehr schnell vorangeschritten«, stellte Dr. Barr fest, als befände er sich auf einem Treffen der Ärztegesellschaft. »Manchmal tut sie das«, erwiderte Rob J.
»Vielleicht sollten wir Chinin oder Kalomel einsetzen«, meinte Dr. Barr. »Manche glauben, die Krankheit sei so ähnlich wie Malaria.« Rob J. widersprach. »Typhus hat nichts mit Malaria zu tun«, sagte er mühsam.
Tobias Barr hatte nicht so viel in der Anatomie gearbeitet wie Rob J., doch auch er wusste, was die schweren Blutungen bedeuteten. Der Darm war durch den Typhus siebartig durchlöchert worden, und der Zustand würde nur noch schlimmer werden. Rob J. würde nicht mehr lange durchhalten. »Ich könnte Ihnen etwas Dover’s Powder dalassen«, schlug Dr. Barr vor. Dover’s Powder war eine Mischung aus Brechwurz und Opium. Rob J.
schüttelte den Kopf, und der Arzt begriff, dass sein Patient so lange wie möglich bei Bewusstsein bleiben wollte.
Für Dr. Barr war es natürlich leichter, wenn ein Patient ahnungslos war und er Hoffnung vortäuschen konnte, indem er eine Medizin verabreichte und Vorschriften für die weitere Einnahme gab. Er tätschelte Rob J.s Schulter und ließ seine Hand kurz dort liegen. »Ich schaue morgen wieder vorbei«, sagte er mit erzwungener Gefasstheit. Doch in seinen Augen stand tiefes Bedauern.
»Können wir Ihnen nicht auf eine andere Weise helfen?« wandte sich Miriam Ferocia an Sarah. Sarah sagte, sie sei Baptistin, doch die drei Frauen knieten sich im Flur vor dem Krankenzimmer auf den Boden und beteten gemeinsam. An diesem Abend dankte Sarah den Nonnen und schickte sie fort.
Rob J. blieb bis gegen Mitternacht ruhig. Dann verlor er etwas Blut. Er hatte Sarah verboten, einen Priester kommen zu lassen, doch jetzt fragte sie ihn noch einmal, ob er nicht doch mit Reverend Blackmer sprechen wolle.
»Nein, ich schaffe es genausogut wie Ordway«, sagte er laut und deutlich.
»Wer ist Ordway?« fragte sie, doch Rob J. schien zu müde zu sein, um zu antworten.
Sie setzte sich an sein Bett. Er streckte die Hand aus, und sie nahm sie, dann fielen beide in einen leichten Schlaf. Kurz vor zwei Uhr nachts wachte sie auf und spürte sofort, wie kühl seine Hand war. Eine Zeitlang blieb sie bei ihm sitzen, dann zwang sie sich aufzustehen. Sie schraubte die Lampen hoch und wusch ihn zum letzten Mal, um die Spuren der letzten großen Blutung zu tilgen, die sein Leben fortgeschwemmt hatte. Sie rasierte ihn und tat all die Dinge, die er ihr bei anderen so oft gezeigt hatte, und dann zog sie ihm seinen besten Anzug an. Er war ihm jetzt zu groß, doch das spielte keine Rolle mehr. Als gewissenhafte Arztfrau wickelte sie die Tücher, die zu blutig waren, um noch ausgekocht zu werden, in ein Laken, um sie später zu verbrennen. Dann erhitzte sie Wasser für ein Bad und schrubbte sich mit Kernseife ab. Ihre Tränen vermischten sich mit der schaumigen Brühe. Bei Tagesanbruch saß sie in ihren Sonntagskleidern in einem Sessel neben der Küchentür. Als sie hörte, wie Alden das Scheunentor aufstieß, ging sie hinaus, um ihm zu sagen, dass ihr Mann gestorben sei, und ihn mit einer Nachricht zum Telegraphenbüro zu schicken, in der sie ihren Sohn Shaman bat, nach Hause zu kommen.