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2. Mai 1864
Ratgeber
Als Shaman aufwachte, wurde er von zwei sehr gegensätzlichen Empfindungen bewegt: der Trauer über den Tod seines Vaters und dem Gefühl der Geborgenheit. Es war, als habe man ihm hier einen Platz freigehalten, den er jetzt so selbstverständlich wieder einnahm, als wäre er nie weggewesen. Das leichte Erbeben des Hauses, wenn ein plötzlich aufkommender Wind von der Prärie hereinfegte, war ihm ebenso vertraut wie der raue Stoff der Bettwäsche auf seiner Haut, die Frühstücksdüfte, die die Treppe heraufstiegen und ihn nach unten lockten, und das Glitzern der heißen, gelben Sonne in den Tautropfen auf dem Gras. Als er das Aborthäuschen verließ, überlegte er kurz, ob er zum Fluss hinunter gehen solle, doch es würde noch mehrere Wochen dauern, bis das Wasser warm genug zum Schwimmen war. Als er zum Haus zurückkehrte, kam Alden aus der Scheune und hielt ihn auf. »Wie lange wirst du bleiben, Shaman?«
»Ich weiß es noch nicht, Alden.«
»Ich frage, weil eine Menge Rainhecken zu pflanzen sind. Doug Penfield hat die Ränder schon gepflügt, aber nach dem, was alles passiert ist, sind wir mit den Frühlingslämmern und einem Dutzend anderer Arbeiten in Verzug. Ich könnte deine Hilfe beim Dornheckenpflanzen brauchen. Würde vielleicht vier Tage dauern.«
Shaman schüttelte den Kopf. »Nein Alden, ich kann nicht.« Als er die Verärgerung auf dem Gesicht des alten Mannes sah, fühlte er sich verpflichtet, eine Erklärung für seine Weigerung zu geben, doch er ließ es sein. Alden betrachtete ihn noch immer als den jüngeren Sohn vom Boss, dem man Aufträge erteilte, als den Tauben, der kein so guter Farmarbeiter war wie Alex. Shamans Ablehnung signalisierte eine Veränderung in ihrem Verhältnis, und er versuchte, das abzumildern. »Vielleicht kann ich in ein paar Tagen etwas auf der Farm tun.
Wenn nicht, musst du mit Doug allein zurechtkommen.« Alden sah ihn verstimmt an und stapfte davon.
Shaman und seine Mutter tauschten ein behutsames Lächeln aus, als er sich an den Frühstückstisch setzte. Sie hatten sich angewöhnt, über unverfängliche Themen zu sprechen. Er machte ihr Komplimente über die Würstchen und die Eier, die sie genau richtig gebraten hatte, ein Frühstück, das er seit seinem Weggang nicht mehr bekommen hatte. Sie erzählte, dass sie gestern auf dem Weg in die Stadt drei Blaureiher gesehen habe. »Es gibt in diesem Jahr mehr davon als sonst. Vielleicht sind sie durch den Krieg aus anderen Gegenden vertrieben worden.«
Er hatte am Abend zuvor lange im Tagebuch seines Vaters gelesen und hätte ihr gerne viele Fragen gestellt, doch er wusste, dass sie dies traurig machen würde.
Nach dem Frühstück nahm er sich die Patientenberichte seines Vaters vor. Niemand hatte genauere Protokolle geführt als Robert Judson Cole. Selbst wenn er todmüde war, hatte er vor dem Zubettgehen die Aufzeichnungen vervollständigt, und so war Shaman jetzt in der Lage, eine Liste all jener Leute aufzustellen, die sein Vater in den Tagen nach seiner Heimkehr behandelt hatte.
Er fragte seine Mutter, ob er Boss und den Wagen nehmen könne. »Ich möchte nach den Leuten sehen, die Pa besucht hat. Typhus ist eine sehr ansteckende Krankheit.« Sie nickte. »Eine gute Idee. Wie sieht’s mit dem Mittagessen aus?«
»Ich werde mir ein paar von deinen Brötchen mitnehmen.«
»Das hat er auch oft getan«, sagte sie leise.
»Ich weiß.«
»Ich werde dir etwas Richtiges zu essen einpacken.«
»Wenn es dir nicht zuviel Mühe macht.«
Er trat zu ihr und küsste sie auf die Stirn. Sarah blieb reglos sitzen, nahm aber die Hand ihres Sohnes und drückte sie. Wieder einmal fiel Shaman auf, wie schön seine Mutter war.
Seine erste Station war die Farm von William Bemis, der sich bei der Geburt eines Kalbes den Rücken verletzt hatte. Der Mann humpelte gebückt herum, sagte jedoch, sein Befinden habe sich gebessert.
»Allerdings hab’ ich kaum noch was von der stinkenden Tinktur, die mir Ihr Vater dagelassen hat.«
»Hatten Sie Fieber, Mr. Bemis?«
»Teufel, nein. Warum sollte ich Fieber kriegen, wenn ich mir das Kreuz verrenkt habe?« Er sah Shaman misstrauisch an. »Woll’n Sie mir was für den Besuch berechnen? Ich hab’ nicht nach einem Doktor geschickt.«
»Nein, Sir, ich berechne nichts dafür. Ich freue mich, dass es Ihnen besser geht.« Shaman füllte etwas von der
»stinkenden Tinktur« in die fast leere Flasche und verabschiedete sich.
Er beschloss, auch dort vorbeizusehen, wo sein Vater nur gewesen war, um alte Freunde zu begrüßen. Kurz nach Mittag kam er zu den Schroeders. »Genau richtig zum Essen«, freute sich Alma und schürzte missbilligend die Lippen, als er ihr eröffnete, dass er seine eigene Verpflegung dabeihabe.
»Na, dann kommen Sie rein, und verspeisen Sie die, während wir essen«, sagte sie, und er folgte der Einladung, froh, Gesellschaft zu haben. Sarah hatte ihm aufgeschnittenen Lammbraten, eine gebackene Süßkartoffel und drei Brötchen mit Honig eingepackt. Alma brachte eine Platte mit gebratenen Wachteln und Pfirsichtaschen aus der Küche. »Sie werden doch nicht die Taschen verschmähen, die ich mit meiner letzten Marmelade gefüllt habe!« sagte sie, und er aß zwei und ein Stück Wachtelbrust.
»Ihr Vater hat sich nie was mitgebracht, wenn er um die Essenszeit herkam«, erklärte Alma. Dann sah sie ihm geradewegs in die Augen. »Werden Sie jetzt in Holden’s Crossing bleiben? Als unser Doktor?« Er blinzelte verdutzt. Es war eine naheliegende Frage, eine Frage, die er sich eigentlich schon selbst hätte stellen müssen, was er jedoch vermieden hatte. »Wissen Sie, Alma... ich habe noch nicht darüber nachgedacht«, antwortete er lahm.
Gus Schroeder beugte sich zu ihm hinüber und sagte flüsternd, als vertraue er ihm ein Geheimnis an: »Warum denken Sie dann nicht jetzt darüber nach?«
Gegen drei Uhr traf Shaman bei den Snows ein. Edwin Snow baute am Nordrand der Stadt Weizen an - an der am weitesten von der Cole-Farm entfernten Ecke. Er war einer derjenigen, die nach Doc Cole geschickt hatten, als sich herumgesprochen hatte, dass er wieder da sei, denn Ed hatte eine schlimm entzündete Zehe. Nun sah Shaman den Mann ohne das geringste Hinken auf sich zukommen. »Oh, dem Fuß geht’s gut«, sagte er fröhlich.
»Ihr Vater hat Tilda den Fuß festhalten lassen, während er die Zehe mit dem Messer aufschnitt. Ich hab’ sie in Salzlösung gebadet, wie er es mir empfohlen hat, um den Dreck rauszuziehen. Aber es passt gut, dass Sie vorbeikommen: Tilda fühlt sich nicht wohl.«
Mrs. Snow fütterte gerade die Hühner, doch schien sie sich kaum auf den Beinen halten zu können. Das Gesicht der großen, schweren Frau war hochrot, und sie gab zu, dass ihr »ein bisschen warm« sei. Shaman erkannte sofort, dass sie hohes Fieber hatte, und spürte ihre Erleichterung, als er ihr Bettruhe verordnete, obwohl sie den ganzen Weg zum Haus protestierte. Sie sagte, sie habe seit ein, zwei Tagen einen dumpfen Schmerz im Rücken und keinen Appetit. Shaman war alarmiert, zwang sich jedoch zu einem gelassenen Ton und befahl ihr, sich hinzulegen - Mr. Snow könne die Hühner und die anderen Tiere versorgen. Er ließ eine Flasche mit Tropfen da und versprach, am nächsten Tag wieder vorbeizukommen. Snow versuchte, ihm ein Honorar aufzudrängen, doch Shaman blieb fest: »Keine Bezahlung! Ich bin nicht Ihr Hausarzt. Ich komme ja nur so vorbei.« Es war ihm nicht möglich, Geld für die Behandlung einer Krankheit anzunehmen, die sich die Frau vielleicht von seinem Vater geholt hatte. Die letzte Station an diesem Tag sollte der Konvent der Franziskanerinnen sein. Mater Miriam Ferocia freute sich sichtlich, ihn zu sehen. Als sie ihm Platz anbot, entschied er sich für den Holzstuhl mit der geraden Rückenlehne, auf dem er schon gesessen war, als er seinen Vater hierher begleitete.
»So«, sagte sie. »Sie sehen sich also in der alten Heimat um.«
»Heute tue ich mehr als das. Ich versuche festzustellen, ob mein Vater irgend jemanden in Holden’s Crossing mit Typhus angesteckt hat. Haben Sie oder eine Ihrer Schwestern irgendwelche Symptome?« Mutter Miriam schüttelte den Kopf. »Nein - und ich rechne auch nicht damit. Wir sind daran gewöhnt, Menschen mit allen möglichen Krankheiten zu pflegen - wie Ihr Vater. Wahrscheinlich geht es Ihnen genauso.«
»Ja, ich denke schon.«
»Ich glaube, Gott hält seine schützende Hand über Menschen wie uns.«
Shaman lächelte. »Ich hoffe, Sie haben recht.«
»Hatten Sie es in Ihrem Krankenhaus oft mit Typhus zu tun?«
»Nicht gerade selten. Patienten mit ansteckenden Krankheiten sind dort getrennt von den übrigen in einem anderen Gebäude untergebracht.«
»Sehr vernünftig. Erzählen Sie mir von Ihrem Krankenhaus!« Er kam der Aufforderung nach und begann mit dem Pflegepersonal, weil er meinte, dass sie das besonders interessiere. Dann ging er zum internistischen, zum chirurgischen Stab und zu den Pathologen über. Sie stellte intelligente, gezielte Fragen. Er berichtete ihr von seiner Arbeit mit dem Chirurgen Dr. Berwyn und dem Pathologen Barnett McGowan.
»Demnach haben Sie eine gute Ausbildung genossen und viel Erfahrung gesammelt. Und was jetzt? Werden Sie in Cincinnati bleiben?« Er erzählte ihr, dass Alma ihn dasselbe gefragt habe und wie unangenehm es ihm gewesen sei.
Mater Miriam sah ihn neugierig an. »Und warum fällt Ihnen die Antwort so schwer?«
»Als ich noch hier lebte, fühlte ich mich immer unvollkommen: ein tauber Junge, der unter Hörenden aufwuchs.
Ich liebte und bewunderte meinen Vater und wollte sein wie er. Mein größter Wunsch war, Arzt zu werden, und so arbeitete und kämpfte ich für dieses Ziel, obwohl alle - auch mein Vater - meinten, ich könne es nicht schaffen. Der Traum, Arzt zu werden, hat sich erfüllt, ja, mehr noch, viel mehr. Nun bin ich nicht mehr unvollkommen, und ich bin wieder an dem Ort, den ich liebe. Für mich wird Holden’s Crossing immer nur einem Arzt gehören - meinem Vater.«
Mater Miriam nickte. »Aber er ist nicht mehr da, Shaman.« Er schwieg. Sein Herz klopfte so heftig, als erfahre er diese traurige Nachricht zum erstenmal.
»Ich hätte eine Bitte.« Sie deutete auf den Ledersessel. »Setzen Sie sich dorthin, wo er immer saß.«
Widerstrebend stand er auf und gehorchte. Sie wartete einen Augenblick. »Der Sessel ist sicher nicht so unbequem wie der Holzstuhl.«
»Er ist sehr bequem«, bestätigte er mit fester Stimme. »Und Sie passen gut hinein.« Sie lächelte leicht und gab ihm dann einen Rat, der fast wörtlich wie der von Gus Schroeder lautete: »Denken Sie darüber nach!«
Auf dem Heimweg hielt er bei Howard an und kaufte einen Krug Whiskey. »Tut mir leid wegen Ihrem Vater«, murmelte Julian Howard unbehaglich. Shaman nickte. Mehr hatten sie sich nicht zu sagen. Mollie Howard meinte, dass Mal und Alex es wohl geschafft hätten, in die Konföderierten-Army aufgenommen zu werden, denn sie hätten nichts von Mal gehört, seit die Jungen weggelaufen seien. »Wenn sie irgendwo auf dieser Seite der Front wären, hätte doch einer von beiden wohl mal ‘n Wort hören lassen.« Und Shaman sagte, er teile diese Ansicht.
Nach dem Abendessen brachte er den Whiskey zu Alden in die Hütte. Als Friedensangebot. Er goss sich sogar selbst etwas in eines der Marmeladengläser, weil er wusste, dass Alden nicht gern allein trank, wenn jemand bei ihm war. Er wartete, bis Alden ein paar ordentliche Schlucke genommen hatte, bevor er die Sprache auf die Farm brachte. »Warum haben du und Doug Penfield in diesem Jahr so große Schwierigkeiten, mit der Arbeit zu Rande zu kommen?« Die Antwort sprudelte nur so heraus: »Das hat sich schon seit langem angekündigt. Wir verkaufen kaum mal ein Tier, höchstens zu Ostern ein oder zwei Frühlingslämmer an einen Nachbarn. Und so wird die Herde jedes Jahr größer, und es sind immer mehr Tiere zu waschen und zu scheren und immer mehr Weiden einzuzäunen. Ich wollte ja mit deinem Pa drüber reden, bevor er zur Army ging, aber er wollte einfach nicht einsehen, dass es so nicht weitergehen kann.«
»Dann reden jetzt wir darüber. Was bekommen wir für ein Pfund Wolle?« fragte Shaman und zog sein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche.
Fast eine Stunde lang sprachen sie über Wollqualitäten und Preise, stellten Vermutungen an, wie sich der Markt nach dem Krieg entwickeln werde, und errechneten, wieviel Platz jedes Schaf als Lebensraum braucht, sowie die nötige Arbeitszeit und die Kosten pro Tag. Als sie fertig waren, hatte Shaman sein ganzes Notizbuch vollgeschrieben. Alden war besänftigt. »Wenn du mir versprechen könntest, dass Alex bald nach Hause kommt, sähe die Sache anders aus. Der Junge ist ein Schwerarbeiter. Aber wie die Dinge liegen, kann er irgendwo da unten gefallen sein. Du weißt, dass das so ist, Shaman.«
»Ja, so ist es. Aber bis ich das Gegenteil höre, ist er für mich am Leben.«
»Ja, klar. Aber du solltest nicht mit ihm rechnen, wenn du deine Pläne machst.«
Shaman seufzte und stand auf. »Ich sage dir was, Alden: Ich muss morgen Nachmittag wieder Hausbesuche machen, aber vormittags werde ich Osagedorn anpflanzen.«
Am nächsten Morgen ging er schon ganz früh hinaus. Es war ein guter Tag, um im Freien zu arbeiten, trocken und windig, mit einem hohen Himmel, über den pralle Schönwetterwolken segelten. Er hatte sich schon lange nicht mehr körperlich betätigt und spürte bereits Muskelverspannungen, bevor das erste Loch fertig ausgehoben war. Er hatte erst drei Pflanzen gesetzt, als seine Mutter auf Boss angeritten kam, dicht gefolgt von einem schwedischen Rote-Bete-Farmer namens Par Swanson, den Shaman flüchtig kannte.
»Es geht um meine Tochter!« rief der Mann schon von weitem. »Ich glaube, sie hat sich das Genick gebrochen.«
Shaman schwang sich in den Sattel. Der Ritt zu den Swansons dauerte etwa zehn Minuten. Nach der kurzen Beschreibung fürchtete er sich vor dem, was ihn erwarten würde, doch dann stellte sich heraus, dass das Mädchen lebte, auch wenn es schlimme Schmerzen hatte. Selma Swanson war ein Blondschopf von noch nicht drei Jahren. Sie fuhr mit Vorliebe auf dem Jauchefass mit. An diesem Morgen hatte das Gespann des Fuhrwerks einen großen Habicht aufgescheucht, der auf dem Feld saß und eine Maus vertilgte. Als er plötzlich aufflog, scheuten die Pferde, worauf Selma das Gleichgewicht verlor und vom Kutschbock stürzte. Ihr Vater, der Mühe hatte, die Pferde wieder unter Kontrolle zu bringen, sah, dass seine Tochter im Fallen gegen das Jauchefass schlug. »Für mich sah es aus, als hätte sie sich das Genick gebrochen«, sagte er.
Das kleine Mädchen presste seinen linken Arm mit der rechten Hand an die Brust. Ihre linke Schulter war vorgeschoben. »Nein«, sagte Shaman, nachdem er sie untersucht hatte. »Es ist das Schlüsselbein.«
»Gebrochen?« fragte die Mutter.
»Nun, vielleicht ein wenig angeknackst. Machen Sie sich keine Sorgen! Es wäre ernster, wenn das Ihnen oder Ihrem Mann passiert wäre. Aber in diesem Alter biegen sich die Knochen noch wie grüne Zweige und heilen ganz schnell.«
Das Schlüsselbein war nicht weit von der Stelle entfernt verletzt, wo es mit dem Schulterblatt und dem Brustbein zusammentraf. Mit Tüchern, die Mrs. Swanson brachte, machte er eine Schlinge für Selmas linken Arm und band diesen mit einem weiteren Tuch am Körper fest, um das Schlüsselbein ruhigzustellen. Während er den dampfenden Kaffee austrank, den Mrs. Swanson ihm aus einer auf dem Ofen stehenden Kanne eingegossen hatte, wurde das Kind schon ruhiger. Er war in der Nähe einiger Leute, die er an diesem Tag aufsuchen wollte, und fand es unsinnig, den ganzen Weg nach Hause zu machen und später wieder loszureiten. Also fing er gleich damit an, seine Hausbesuche zu machen.
Die Frau eines neuen Siedlers servierte ihm zu Mittag Fleischpastete. Als er auf die Schaffarm zurückkam, war es bereits später Nachmittag. Im Vorbeireiten sah er, dass sich auf dem Feld, auf dem er an diesem Morgen zu arbeiten angefangen hatte, eine Reihe grüner Heckenschösslinge bis weit in die Prärie hinaus erstreckte.
Das Geheimnis des Vaters
»Gott behüte!« flüsterte Lillian.
Keiner der Geigers habe Anzeichen von Typhus, sagte sie. Shaman fiel auf, wie abgearbeitet sie aussah: Die Führung der Farm, der Haushalt und die Belange der Familie lagen seit dem Weggang ihres Mannes allein auf ihren Schultern. Während die Medikamentenherstellung brachlag, führte sie, so gut es ging, Jasons pharmazeutischen Handel fort, indem sie für Tobias Barr und Julius Barton Arzneimittel besorgte.
»Früher bekam Jay viel von der Firma seiner Eltern in Charleston geliefert, aber jetzt ist South Carolina durch den Krieg natürlich von uns abgeschnitten«, klagte sie Shaman, während sie ihm Tee eingoss. »Hast du in letzter Zeit etwas von Jason gehört?«
»In letzter Zeit nicht.«
Es schien ihr unangenehm zu sein, nach Jason gefragt zu werden. Er konnte verstehen, dass sie nicht viel über ihren Mann sprechen wellte, um nicht versehentlich etwas auszuplaudern, das ihm schaden oder die Familie gefährden könnte. Es war problematisch für eine Frau, in einem Unionsstaat zu leben, während ihr Mann in Virginia für die Konföderierten kämpfte.
Bedeutend wohler war ihr, als sie über Shamans medizinische Laufbahn sprachen. Sie kannte seine Erfolge im Krankenhaus und die Versprechen, die ihm dort gemacht worden waren. Offenbar hatte Sarah sie an den Neuigkeiten teilhaben lassen, die er ihr schrieb. »Cincinnati ist eine so weltoffene Stadt«, sagte Lillian. »Es wird wunderbar für dich sein, dich dort niederzulassen, an der medizinischen Fakultät zu lehren und dir eine elegante Praxis einzurichten. Jay und ich sind sehr, sehr stolz auf dich.« Sie schnitt, ohne zu bröseln, Teekuchen in dünne Scheiben und achtete darauf, dass sein Teller nicht leer wurde. »Weißt du schon, wann du zurückgehen wirst?«
»Noch nicht.«
»Shaman.« Sie beugte sich vor und legte eine Hand auf seine. »Du bist zurückgekommen, als dein Vater starb, und du hast dich gut um alles gekümmert. Aber jetzt musst du anfangen, an dich selbst zu denken. Weißt du, was dein Vater von dir erwarten würde?«
»Weißt du es?«
»Er würde wollen, dass du nach Cincinnati zurückkehrst und deine Laufbahn verfolgst. Du musst so bald wie möglich wieder dorthin!«
Er wusste, dass sie recht hatte. Wenn er gehen wollte, dann sollte er es bald tun. Jeden Tag wurde er zu neuen Familien gerufen, da die Menschen jetzt wieder einen Arzt hatten, an den sie sich wenden konnten. Jedesmal wenn er einen Patienten behandelte, war es, als werde er durch einen weiteren feinen Faden gefesselt. Natürlich konnte man solche Fäden zerreißen. Wenn er fortginge, könnte Dr. Barr alle Patienten übernehmen, die noch eine Behandlung brauchten. Doch verstärkte jeder Faden sein Gefühl, dass es Dinge gab, die er nicht unerledigt lassen wollte.
Sein Vater hatte ein Adressenverzeichnis geführt, und das ging Shaman sorgfältig durch. Er gab Wendell Holmes in Bosten schriftlich Nachricht vom Tod seines Vaters und seinem Onkel in Schottland, den er nie kennengelernt hatte und der sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen brauchte, dass sein älterer Bruder nach Hause kommen und sein Land beanspruchen könnte.
Jede freie Minute verbrachte Shaman damit, in den Tagebüchern Rob J.s zu lesen, gefangengenommen von jenen Zügen seines Vaters, die aufregend und unbekannt waren. Rob J. hatte voller Besorgnis und Zärtlichkeit über die Taubheit seines Sohnes geschrieben, und Shaman spürte beim Lesen die Wärme seiner Liebe. Die kummervolle Beschreibung von Makwa-ikwas Tod und dem späteren Tod von Der singend einhergeht und Monds ließ in Shaman verschüttete Gefühle neu erwachen. Er las immer wieder den Bericht seines Vaters über Makwa-ikwas Autopsie, weil er nichts übersehen wollte, und er versuchte dann festzustellen, ob seinem Vater bei der Untersuchung etwas entgangen sein könnte und ob er selbst etwas anders gemacht hätte, wenn er die Leiche seziert hätte.
In dem Band, der das Jahr 1853 umfasste, las er Verblüffendes. In der Schreibtischschublade seines Vaters fand er den Schlüssel zu dem verschlossenen Schuppen hinter der Scheune, und er ging hin, öffnete das große Schloss und trat ein. Hundertemal war er schon hier gewesen. Auf Wandregalen standen Medikamente, Flaschen mit Toniken, Tinkturen, und von den Balken hingen Bündel getrockneter Kräuter herab: Makwa-ikwas Nachlass. Da stand der alte Holzofen, nicht weit entfernt von dem hölzernen Seziertisch, wo er seinem Vater so viele Male assistiert hatte. Nierenschalen und Eimer hingen an der Wand. An einem Nagel, der in einen Pfosten eingeschlagen war, entdeckte er den alten, braunen Pullover seines Vaters.
Der Schuppen war jahrelang nicht saubergemacht worden. Alles war voller Spinnweben, doch Shaman ließ sich nicht stören. Er suchte die Stelle an der Nordwand, die er für die richtige hielt, und zog an dem Brett. Es rührte sich nicht. In der Scheune gab es eine Brechstange, aber es war unnötig, sie zu holen, denn als er an dem nächsten Brett zog, ließ es sich ganz leicht wegnehmen. Ebenso die angrenzenden. Es war, als blickte man in den Eingang zu einer Höhle. Das einzige Tageslicht im Schuppen kam durch ein kleines, verstaubtes Fenster.
Shaman öffnete die Schuppentür so weit wie möglich, doch es half nicht viel, und so nahm er die Laterne herunter, die noch ein wenig Öl enthielt, und zündete sie an. Gleich darauf erhellte flackernder Lichtschein die Nische.
Shaman kroch hinein. Sein Vater hatte sie sauber hinterlassen. Sie enthielt noch immer eine Schüssel, eine Tasse und eine alte, ordentlich zusammengefaltete Decke, die Shaman noch aus seiner Kindheit kannte Der Raum war klein, und Shaman hatte die Körpergröße seines Vaters. Bestimmt waren einige der entflohenen Sklaven auch große Menschen gewesen.
Er blies die Laterne aus, und Dunkelheit umfing ihn. Er stellte sich vor, dass der Eingang verschlossen war und die Welt draußen ein blutrünstiger Hund, der ihn jagte. Er hatte also die Wahl, ein Arbeitstier zu sein oder ein gejagtes Tier.
Als er nach einer Weile wieder hinauskroch, nahm er den Pullover vom Nagel und zog ihn an, obwohl es warm war. Das Kleidungsstück hatte noch den Geruch seines Vaters an sich.
All die Zeit, dachte er, all die Jahre, während der er und Alex in dem Haus gelebt, gestritten und krakeelt hatten und in ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen aufgegangen waren, hatte sein Vater dieses Geheimnis mit sich herumgetragen, und er war ganz allein mit ihm fertig geworden. Shaman hatte plötzlich den übermächtig starken Wunsch, mit Rob J. zu sprechen, seine Erlebnisse zu teilen, ihm Fragen zu stellen und ihm seine Liebe und Bewunderung zu zeigen. In seinem Zimmer im Krankenhaus hatte er geweint, als er die telegraphische Nachricht vom Tod des Vaters erhielt. Doch auf der Bahnfahrt war er teilnahmslos, während und nach den Beerdigung dann seiner Mutter zuliebe beherrscht gewesen. Jetzt lehnte er sich an die Holzwand neben der Nische und glitt an den Brettern hinunter, bis er wie ein Kind auf dem Erdboden saß. Und wie ein verlassenes Kind überließ er sich der gramvollen Gewissheit, dass die Stille, die ihn umgab, in Zukunft noch einsamer sein würde als früher.
Unverhofftes Wiedersehen
Sie hatten Glück: Es gab keinen weiteren Typhus-Fall in Holden’s Crossing. Zwei Wochen waren vergangen, doch es hatten sich keine roten Flecken auf Tilda Snows Körper gezeigt. Ihr Fieber war schnell gesunken, ohne Durchfall oder auch nur die Andeutung einer Blutung, und als Shaman eines Tages erneut zur Snow-Farm kam, fütterte sie schon wieder Schweine. »Es war eine schlimme Grippe«, sagte er zu ihrem Mann. »Aber sie hat sie überwunden.« Wenn Snow ihn jetzt hätte bezahlen wollen, wäre er nicht abgeneigt gewesen, doch der Farmer gab ihm statt des Geldes zwei Gänse, die er eigens für Shaman geschlachtet, gerupft und ausgenommen hatte.
»Ich habe einen alten Leistenbruch, der mir Ärger macht«, sagte Snow.
»Ich möchte aber nichts dran machen lassen, bis ich das erste Heu eingefahren habe.«
»Und wann wird das sein? In sechs Wochen?«
»So ungefähr.«
»Kommen Sie dann in meine Sprechstunde!«
»Was - sind Sie denn dann noch da?«
»Ja«, antwortete Shaman lächelnd. Er fragte sich verdutzt, wann er den Entschluss gefasst hatte, für immer zu bleiben. Und als er in sich hineinhorchte, erkannte er, dass ihn die Entscheidung weder mit Unruhe noch mit Zweifeln erfüllte, und da begriff er, dass sie die einzig richtige war.
Er gab die beiden Gänse seiner Mutter und schlug vor, Lillian Geiger und ihre Söhne zum Essen einzuladen.
Aber Sarah meinte, es sei nicht der richtige Zeitpunkt dafür und sie finde es besser, die Vögel allein zu essen.
Nur sie beide und die zwei Farmarbeiter.
An diesem Abend schrieb Shaman Briefe an Barnett McGowan und Lester Berwyn, in denen er seine Dankbarkeit für all das ausdrückte, was sie in der Medical School und in der Poliklinik für ihn getan hatten, und er erklärte, dass er seine Stellung im Krankenhaus aufgebe, um die Praxis seines Vaters in Holden’s Crossing weiterzuführen. Außerdem schrieb er an Tobias Barr in Rock Island und bedankte sich dafür, dass dieser immer den Mittwoch für Holden’s Crossing freigehalten hatte. Er teilte ihm mit, dass er von jetzt an ganztägig in Holden’s Crossing praktizieren werde, und bat den Kollegen, seine Aufnahme in die Rock Island County Medical Society zu unterstützen. Als er die Briefe beendet hatte, unterrichtete er seine Mutter von seinem Entschluss. Sie war von seiner Entscheidung sichtlich angetan und erleichtert, dass sie nicht allein bleiben würde. Sie küsste ihn auf die Wange. »Ich werde es den Frauen von der Kirchengemeinde sagen«, erklärte sie eifrig, und Shaman lächelte: Wenn die es wussten, musste er von sich aus niemanden mehr in Kenntnis setzen.
Sie setzten sich zusammen und machten Pläne. Er wollte die Gepflogenheit seines Vaters übernehmen, morgens Sprechstunde abzuhalten und jeden Nachmittag Hausbesuche zu machen. Und er wollte auch dasselbe Honorar verlangen. Es war nicht übertrieben hoch, hatte ihnen jedoch ein angenehmes Leben ermöglicht. Er hatte auch über die Probleme mit der Farm nachgedacht, und seine Mutter hörte aufmerksam seine Vorschläge an und nickte zustimmend. Am nächsten Morgen suchte er Alden in seiner Hütte auf, trank mit ihm entsetzlichen Kaffee und eröffnete ihm, dass sie beschlossen hätten, den Schafbestand zu reduzieren.
Alden ließ Shaman nicht aus den Augen, während er an seiner kalten Pfeife zog und sie dann wieder entzündete.
»Du bist dir schon im klaren, was du da sagst, oder? Du weißt, dass der Wollpreis hoch bleiben wird, solange der Krieg dauert, und eine kleine Herde auch weniger Gewinn bringt?«
Shaman nickte. »Meine Mutter und ich wissen, dass die einzige andere Möglichkeit darin bestünde, den Betrieb zu vergrößern, was die Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte und eine aufwendigere Verwaltung erfordern würde, und das wollen wir beide nicht. Ich bin Arzt und nicht Schafzüchter. Aber wir wollen natürlich nicht, dass die Schafe jemals vom Cole-Land verschwinden. Deshalb bitten wir dich, die Herde durchzusehen und die Tiere, die die beste Wolle bringen, auszusuchen. Die behalten wir dann für die Weiterzucht. Wir werden die Herde jedes Jahr sorgfältig sortieren, um immer bessere Wolle zu bekommen, damit wir auch in Zukunft gute Preise erzielen. Wir behalten nur so viele Schafe, wie du mit Doug Penfield bewältigen kannst.«
Aldens Augen leuchteten. »Nun, das nenne ich mal eine kluge Entscheidung«, sagte er hoch befriedigt und goss Shaman noch einen Becher von seinem scheußlichen Gebräu ein.
Manchmal war es sehr schmerzlich für Shaman, die Aufzeichnungen seines Vaters zu lesen, sich in seine Gefühle und Denkweise hineinzuversetzen. Es gab Zeiten, da legte er den Band, bei dem er gerade war, für eine ganze Woche beiseite, doch er kehrte immer wieder zur Lektüre zurück. Er musste weiterlesen, denn die Tagebücher waren die letzte Verbindung zu seinem Vater. Wenn er sie ausgelesen hatte, gab es keine Möglichkeit mehr, etwas über Rob J. Cole zu erfahren - nur noch Erinnerungen.
Es war ein verregneter Juni und ein seltsamer Sommer, in dem alles zu früh dran war: die Ernte, das Obst und auch die Waldfrüchte. Feldhasen und Kaninchen vermehrten sich ungeheuer. Die Tiere schienen allgegenwärtig zu sein, kamen bis nah ans Haus und knabberten dort das Gras ab und fraßen den Salat, ja sogar die Blumen in Sarahs Garten. Die Nässe machte die Heuernte schwierig. Das Gras mehrerer gemähter Wiesen verfaulte, weil es nicht trocknen konnte, und lockte Schwärme von Insekten an, die sich auf Shaman stürzten, wenn er zu seinen Hausbesuchen ritt. Dennoch fand er es wunderbar, der Arzt von Holden’s Crossing zu sein. Auch in der Poliklinik von Cincinnati hatte er gern gearbeitet. Wenn er dort Hilfe oder die Bestätigung einer Diagnose brauchte, stand der gesamte Stab zu seiner Verfügung. Hier aber war er völlig auf sich allein gestellt, und er wusste morgens nie, was im Laufe des Tages auf ihn zukommen würde. Das war medizinische Praxis in Reinkultur, und er fand großen Gefallen daran. Tobias Barr schrieb ihm, dass die Medical Society nicht mehr bestehe, weil die meisten Mitglieder im Krieg seien. Er schlug vor, dass Shaman, Julius Barton und er sich einmal im Monat zum Essen und Fachsimpeln treffen sollten, bis die Gesellschaft sich wieder etabliere. Die drei genossen den ersten gemeinsamen Abend sehr und sprachen vor allem über die Masern, die sich in Rock Island ausbreiteten, in Holden’s Crossing jedoch nicht.
Sie waren einer Meinung, dass man den jugendlichen und erwachsenen Patienten einschärfen müsse, die Pusteln nicht aufzukratzen, wie schlimm der Juckreiz auch sein mochte, und dass die Krankheit mit lindernden Salben, fiebersenkenden Getränken und Seidlitz-Puder behandelt werden müsse. Interessiert lauschten die beiden anderen Männer, als Shaman ihnen berichtete, dass in der Poliklinik von Cincinnati auch das Gurgeln mit Alaun angeordnet werde, wenn die Atmungsorgane in Mitleidenschaft gezogen sind. Beim Dessert kam das Gespräch auf die Politik. Dr. Barr, einer der vielen Republikaner, die das Gefühl hatten, Lincoln gehe zu sanft mit dem Süden um, begrüßte die Wade-Davis Reconstruction Bill, die schwere Strafmaßnahmen für den Süden forderte, sobald der Krieg zu Ende sei, und die das Repräsentantenhaus trotz Lincolns Protest ratifiziert hatte. Von Horace Greely ermutigt, hatten sich abtrünnige Republikaner in Cleveland versammelt und waren übereingekommen, ihren eigenen Präsidentschaftskandidaten zu nominieren: General John Charles Fremont.
»Halten Sie es für möglich, dass der General Lincoln aus dem Feld schlägt?« fragte Shaman.
Dr. Barr schüttelte traurig den Kopf. »Nicht, wenn dann immer noch Krieg ist. Es gibt keine bessere Voraussetzung für eine Wiederwahl als den Krieg.«
Im Juli hörten die Regenfälle endlich auf, doch die Sonne stand wie eine Kupferscheibe am Himmel, und die Prärie dampfte und wurde dürr und braun. Die Masernepidemie erreichte nun Holden’s Crossing, und Shaman wurde immer öfter nachts aus dem Bett zu einem Patienten geholt, obwohl die Krankheit weniger schlimm wütete als in Rock Island. Seine Mutter erzählte, dass die Masern im Vorjahr in Holden’s Crossing ein halbes Dutzend Todesopfer gefordert hätten, darunter mehrere Kinder. Shaman meinte, dass ein massives Auftreten der Erkrankung vielleicht in den folgenden Jahren eine partielle Immunität hervorrufe. Er trug sich mit dem Gedanken, an Harold Meigs, seinen ehemaligen Lehrer in Cincinnati zu schreiben, um ihn zu fragen, was er von dieser Theorie halte.
An einem windstillen Abend, als die Schwüle sich in einem Gewitter entlud, spürte Shaman die Vibrationen der heftigen Donnerschläge und riss jedesmal im Bett die Augen auf, wenn die Blitze sein Zimmer taghell erleuchteten. Schließlich gewann seine Müdigkeit dennoch die Oberhand, und er schlief ein, und zwar so fest, dass seine Mutter ihn sekundenlang an der Schulter rütteln musste, bis er zu sich kam. Sarah hielt die Lampe vor ihr Gesicht, damit er ihre Lippen sehen konnte. »Du musst aufstehen.«
»Jemand mit Masern?« fragte er und fuhr in seine Kleider. »Nein. Lionel Geiger ist hier, um dich zu holen.«
Inzwischen war er auch in seine Schuhe geschlüpft und ging hinaus. »Was ist los, Lionel?«
»Der kleine Junge meiner Schwester. Er hat einen Erstickungsanfall. Versucht immer, Luft zu holen, und macht dabei ein unheimliches Geräusch wie eine Pumpe, die kein Wasser ansaugt.«
Es wäre zu zeitraubend gewesen, über den Langen Weg durch den Wald zu gehen, und zu zeitraubend, ein Pferd vor den Wagen zu spannen oder zu satteln. »Ich nehme dein Pferd«, erklärte Shaman Lionel, und schon war er aufgesprungen und galoppierte, die Arzttasche fest an sich gepresst, den Weg hinunter. Nach einer halben Meile die Straße entlang bog er zu den Geigers ab. Lillian Geiger erwartete ihn an der Haustür. »Hier rein!« Rachel.
Sie saß in ihrem alten Zimmer auf dem Bett und hatte ein Kind auf dem Schoß. Der Kleine war blau angelaufen.
Immer wieder versuchte er, Luft zu holen. »Tu etwas! Er wird sterben.«
Wie es aussah, glaubte Shaman, dass der Junge dem Tod tatsächlich sehr nahe war. Er öffnete den Mund des Kindes und schaute hinein. Der Gaumen und der Kehldeckel waren von einer Schleimschicht bedeckt, einer tödlichen Schleimschicht, dick und grau. Shaman riss sie mit Zeige- und Mittelfinger weg. Sofort holte der Junge tief und zittrig Luft.
Seine Mutter drückte ihn weinend an sich. »O Gott, Joshua! Geht es dir besser?« Sie hatte schon geschlafen und roch deshalb aus dem Mund, und ihre Haare waren zerzaust. Doch es war wirklich Rachel! Unglaublich. Eine ältere, fraulichere Rachel, die nur Augen für ihr Kind hatte.
Der Kleine sah schon bedeutend besser aus. Die ungesunde Blautönung wich der normalen Hautfärbung, als der Sauerstoff durch seine Lunge strömte. Shaman legte die Hand auf die Brust des Jungen, um die Stärke des Herzschlages zu fühlen, prüfte dann den Puls und umschloss für einen Moment die kleinen Hände mit seinen großen. Der Junge fing an zu husten.
Lillian kam ins Zimmer, und Shaman wandte sich an sie. »Wie hört sich der Husten an?«
»Hohl. Wie ein... ein Bellen.«
»Und hört man auch ein Pfeifen?«
»Ja, am Ende von jedem Huster.«
Shaman nickte. »Er hat einen erkältungsbedingten Krupp. Ihr müsst Wasser kochen und ihn den Rest der Nacht immer wieder heiß baden, damit sich die Atmungsmuskulatur in der Brust wieder entspannt. Und er muss inhalieren.« Er nahm eines von Makwa-ikwas Heilmitteln aus der Arzttasche, eine Teemischung aus schwarzer Schlangenwurzel und Ringelblumen. »Brüht das auf, süßt es, und lasst ihn den Tee so heiß wie möglich trinken.
Das hält seinen Hals offen und lindert den Husten.«
»Danke, Shaman!« Lillian drückte ihm die Hand. Rachel schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Ihre blutunterlaufenen Augen blickten irre, das Kleid war mit dem Auswurf des Jungen beschmiert.
Als er das Haus verließ, kamen seine Mutter und Lionel den Langen Weg herunter. Lionel trug eine Laterne, die Schwärme von Insekten angezogen hatte. Lionels Lippen bewegten sich, und Shaman konnte erraten, was er fragte.
»Ich glaube, es geht ihm bald wieder gut«, sagte er. »Mach die Laterne aus, und achte darauf, dass du keine Mücke und keinen Nachtfalter mit ins Haus bringst!«
Dann ging er auf dem Langen Weg nach Hause, eine Strecke, die er schon so oft gegangen war, dass er sich auch im Dunkeln zurechtfand.
Ab und zu leuchteten die letzten Blitze des Unwetters auf und tauchten den schwarzen Wald zu beiden Seiten des Pfades in gleißendes Licht.
Wieder in seinem Zimmer, zog er sich aus wie ein Schlafwandler. Doch als er in seinem Bett lag, konnte er nicht einschlafen. Halb betäubt und verwirrt ließ er den Blick über die von vereinzelten Blitzen erhellte Decke und die Wände wandern, doch wohin er auch schaute, er sah immer wieder dasselbe Gesicht.
Ein offenes Gespräch
Als er am nächsten Morgen zum Anwesen der Geigers kam, öffnete ihm Rachel in einem neu aussehenden blauen Hauskleid. Ihr Haar war ordentlich frisiert. Er roch ihren leicht würzigen Duft, als sie seine Hände nahm.
»Hallo, Rachel!«
»Ich danke dir, Shaman!«
Ihre Augen waren wieder leuchtend und tief, aber er bemerkte noch Reste von Erschöpfung in ihnen. »Wie geht es meinem Patienten?«
»Besser, wie es scheint. Der Husten ist nicht mehr so beängstigend.«
Sie führte ihn die Treppe hinauf. Lillian saß mit einigen Bogen braunen Papiers und einem Bleistift am Bett ihres Enkels, um ihn mit Strichmännchen und Geschichten zu unterhalten. Der Kleine, den Shaman in der letzten Nacht nur als schwerkranke Kreatur gesehen hatte, präsentierte sich ihm heute als ein dunkeläugiger Junge mit braunem Haar und Sommersprossen, die auf dem blassen Gesichtchen ganz dunkel wirkten. Er musste an die zwei Jahre alt sein. Am Fuß des Bettes saß ein Mädchen, das einige Jahre älter, aber ihrem Bruder sehr ähnlich war.
»Das sind meine Kinder«, sagte Rachel. »Joshua und Hattie Regensberg. Und dies ist Dr. Cole.«
»Guten Tag«, sagte Shaman.
»Tag.« Der Junge beäugte ihn misstrauisch.
»Guten Tag«, begrüßte Hattie ihn artig. »Mama sagt, Sie können uns nicht hören, und wir müssen Sie ansehen, wenn wir reden, und deutlich sprechen.«
»Ja, das stimmt.«
»Warum hören Sie uns nicht?«
»Ich bin taub, weil ich als kleiner Junge einmal sehr krank war«, antwortete Shaman leichthin.
»Wird Joshua auch taub?«
»Nein, ganz bestimmt nicht.«
Ein paar Minuten später hatte er sich davon überzeugt, dass es dem Kleinen wirklich viel besser ging. Die Bäder und das Inhalieren hatten das Fieber gesenkt, sein Puls war stark und regelmäßig, und als Shaman das Stethoskop ansetzte und Rachel erklärte, worauf sie achten solle, konnte sie kein Rasseln feststellen. Shaman steckte die Stöpsel in Joshuas Ohren und ließ ihn seinen eigenen Herzschlag hören. Dann durfte Hattie das Stethoskop auf den Bauch ihres Bruders setzen, worauf sie verkündete, es gurgle darin.
»Das kommt, weil er hungrig ist«, erklärte Shaman und wies Rachel an, ihren Sohn ein, zwei Tage auf eine leichte, aber nahrhafte Diät zu setzen. Er erzählte den Kindern, dass ihre Mutter einige sehr gute Angelplätze am Fluss kenne, und lud sie ein, auf der Cole-Farm mit den Lämmern zu spielen. Dann verabschiedete er sich von ihnen und ihrer Großmutter. Rachel brachte ihn zur Tür.
»Du hast reizende Kinder.«
»Ja, das sind sie wirklich.«
»Es tut mir leid wegen deines Mannes, Rachel.«
»Danke, Shaman.«
»Und ich wünsche dir viel Glück für deine bevorstehende Hochzeit.« Rachel sah ihn erschrocken an. »Was für eine bevorstehende Hochzeit?« fragte sie.
In diesem Augenblick kam ihre Mutter die Treppe herunter. Lillian durchquerte die Halle schweigend, doch ihr hochrotes Gesicht sprach Bände.
»Da bist du falsch unterrichtet«, erklärte Rachel ihm so laut, dass ihre Mutter es hören konnte. »Ich habe keine Heiratspläne.« Sie war sehr blass geworden.
Als er an diesem Nachmittag auf dem Heimweg war, sah er vor sich eine einsame weibliche Gestalt, und beim Näherkommen erkannte er das blaue Hauskleid. Rachel trug feste Wanderschuhe und einen alten Hut als Schutz gegen die Sonne. Er rief ihr, und sie drehte sich um und begrüßte ihn ruhig.
»Darf ich ein Stück mitgehen?« fragte er.
»Das wäre nett.«
Also stieg er ab und führte Boss am Zügel.
»Ich weiß nicht, was in meine Mutter gefahren ist, dass sie dir erzählt hat, ich würde wieder heiraten. Joes Cousin macht mir zwar den Hof, aber wir werden nicht heiraten. Ich glaube, meine Mutter möchte mich mit ihm verkuppeln, weil sie findet, dass die Kinder wieder einen Vater brauchen.«
»Hier scheint eine Verschwörung der Mütter stattzufinden. Meine hat mir bis heute nicht gesagt, dass du wieder da bist. Sicherlich mit Absicht.«
»Ich finde es so kränkend von den beiden«, klagte Rachel, und er sah Tränen in ihren Augen glänzen. »Sie halten uns für dumm. Als ob ich nicht wüsste, dass ich einen Sohn und eine Tochter habe, die einen jüdischen Vater brauchen! Und ganz bestimmt ist das letzte, worauf du aus bist, eine jüdische Frau in Trauer mit zwei Kindern.«
Er lächelte sie an. »Es sind sehr nette Kinder. Und sie haben eine sehr nette Mutter. Aber es stimmt: Ich bin kein Fünfzehnjähriger mehr, der vor Liebe blind ist.«
»Ich habe nach meiner Heirat oft an dich gedacht. Es hat mir so leid getan, dass ich dir Kummer bereitet habe.«
»Ich habe ihn schnell überwunden«, log er.
»Wir waren Kinder, die in schwierigen Zeiten zusammenhielten. Mir graute schrecklich vor dem Heiraten, und du warst ein so guter Freund.« Sie lächelte. »Du warst mein tapferer Ritter. Als du noch ein Junge warst, versprachst du mir, für mich zu töten, um mich zu schützen. Jetzt sind wir erwachsen, und du hast meinem Sohn das Leben gerettet.« Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Ich hoffe, dass wir für immer treue Freunde bleiben, Shaman, solange wir leben.«
Er räusperte sich. »Oh, da bin ich mir sicher, dass wir das bleiben«, sagte er verlegen. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann fragte er sie, ob er sie ein Stück mitnehmen solle.
»Nein, ich gehe lieber zu Fuß.«
»Dann reite ich jetzt weiter. Ich habe noch eine Menge zu tun bis zum Abendessen. Auf Wiedersehen, Rachel!«
»Auf Wiedersehen, Shaman!«
Er stieg in den Sattel und ritt davon. Rachel ging mit entschlossenen Schritten ihres Weges.
Er sagte sich, dass sie eine starke und vernünftige Frau sei, die den Mut hatte, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und er beschloss, sich ein Beispiel an ihr zu nehmen. Tatsache war, dass er eine Gefährtin brauchte.
Einer der Hausbesuche galt Roberta Williams, die unter »Frauenbeschwerden« litt und angefangen hatte, zuviel zu trinken. Er riss seinen Blick von der Schneiderpuppe mit den Elfenbein-Hinterbacken los, fragte Roberta nach ihrer Tochter und erfuhr, dass Lucille drei Jahre zuvor einen Postangestellten geheiratet habe und in Davenport lebe. »Kriegt jedes Jahr ein Kind. Kommt nur zu mir, wenn sie Geld braucht. So eine ist das«, beschwerte sich die erboste Mutter. Im Augenblick tiefster Unzufriedenheit wurde er auf der Hauptstraße von Tobias Barr angehalten, der mit zwei Damen in seinem Wagen saß. Die eine war seine zierliche, blonde Frau Frances und die andere deren Nichte, die aus St. Louis zu Besuch gekommen war. Evelyn Flagg war achtzehn Jahre alt, größer als Frances, aber ebenso blond, und hatte das schönste weibliche Profil, das Shaman je gesehen hatte.
»Wir zeigen Evie ein bisschen die Gegend«, erklärte Dr. Barr. »Ich dachte, sie würde sich vielleicht für Holden’s Crossing interessieren. Haben Sie >Romeo und Julia< gelesen, Shaman?«
»Ja, das habe ich. Warum?«
»Sie sagten doch mal, wenn Sie ein Stück kennen, sehen Sie es sich auch gerne auf der Bühne an. In Rock Island gastiert diese Woche ein Tourneetheater, und wir wollen die Vorstellung besuchen. Kommen Sie mit?«
»Das tue ich sehr gerne«, antwortete Shaman und lächelte Evelyn zu, die ihn bezaubernd anstrahlte.
»Kommen Sie um fünf zu uns«, sagte Frances Barr, »zu einem leichten Abendessen vor der Aufführung.«
Er kaufte sich ein weißes Hemd und eine schwarze, schmale Krawatte und las das Stück noch einmal. Die Barrs hatten auch Julius Barton und seine Frau eingeladen. Evelyn trug ein blaues Kleid, das gut zu ihrem blonden Haar passte. Es dauerte einen Moment, bis Shaman sich daran erinnerte, wo er dieses Blau kürzlich gesehen hatte: bei Rachels Hauskleid.
Frances’ leichtes Abendessen bestand aus sechs Gängen. Shaman fand es schwierig, eine Unterhaltung mit Evelyn zu führen. Wenn er ihr eine Frage stellte, antwortete sie mit einem flüchtigen, nervösen Lächeln, das jeweils von einem Nicken oder Kopfschütteln begleitet wurde. Sie sprach nur zweimal aus eigenem Antrieb: einmal, um ihrer Tante zu versichern, dass der Braten ausgezeichnet schmecke, und das zweitemal beim Dessert, um Shaman anzuvertrauen, sie esse Birnen und Pfirsiche gleich gern und sei froh, dass sie zu verschiedenen Zeiten reiften, weil sie sich so nie zwischen ihnen entscheiden müsse. Das Theater war bis auf den letzten Platz besetzt und der Abend so heiß, wie ein Abend gegen Ende des Sommers nur sein konnte. Sie betraten den Saal, kurz bevor der Vorhang aufging, denn die sechs Gänge hatten einige Zeit beansprucht. Tobias Barr hatte beim Kartenkauf an Shaman gedacht: Sie saßen in der Mitte der dritten Reihe. Kaum hatten sie Platz genommen, als die Vorstellung auch schon begann. Shaman verfolgte die Vorgänge auf der Bühne durch sein Theaterglas, das ihm half, von den Lippen der Schauspieler abzulesen, und die Darbietung gefiel ihm sehr gut.
Während der ersten Pause begleitete er Dr. Barr und Dr. Barton nach draußen, und während sie vor der Toilette hinter dem Theater in der Schlange standen, sprachen sie über die Aufführung. Sie fanden sie alle drei interessant. Dr. Barton meinte, die Darstellerin der Julia sei möglicherweise schwanger, und Dr. Barr sagte, der Romeo trage ein Bruchband unter seiner Strumpfhose.
Shaman hatte sich auf die Lippen der Schauspieler konzentriert, doch während des zweiten Akts musterte er Julia kritisch, fand aber keinerlei Bestätigung für Dr. Bartons Vermutung. Zweifellos jedoch trug Romeo ein Bruchband.
Am Ende des zweiten Akts wurden die Türen geöffnet, um frische Luft hereinzulassen, und die Lampen wurden angezündet. Shaman und Evelyn blieben auf ihren Plätzen sitzen und versuchten, sich zu unterhalten. Sie erzählte, sie gehe in St. Louis häufig ins Theater. »Ich finde es anregend, Schauspiele zu besuchen, Sie nicht?«
»Doch. Aber ich tue es nur selten«, erwiderte Shaman geistesabwesend. Er hatte das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden, und musterte mit Hilfe seines Opernglases die Zuschauer auf den Balkonen, zuerst auf der linken Seite und dann auf der rechten. Auf dem zweiten Rang rechts entdeckte er Lillian und Rachel. Lillian trug ein braunes Leinenkleid mit großen, glockenförmigen Ärmeln aus Spitze, Rachel saß direkt unter einer Lampe, weshalb sie immer wieder Insekten verscheuchen musste, die das Licht anzog. Doch das erlaubte ihm, sie genauer anzusehen. Ihr Haar war sorgfältig zu einem schimmernden Knoten zusammengefasst, und sie trug ein schwarzes Kleid, das aussah, als sei es aus Seide. Er fragte sich, wie lange sie wohl noch Trauer tragen werde.
Das Kleid war kragenlos und hatte kurze Puffärmel. Er betrachtete ihre runden Arme und fülligen Brüste, doch immer wieder kehrte sein Blick zu ihrem Gesicht zurück. Während er sie noch anschaute, wandte sie sich von ihrer Mutter ab und sah zu ihm herunter. Einige Sekunden beobachtete sie ihn dabei, wie er sie musterte, dann löschten die Platzanweiser die Lampen. Der dritte Akt kam ihm endlos lang vor. Gerade als Romeo zu Mercutio sagte: »Sei guten Muts, Freund! Die Wunde kann nicht beträchtlich sein«, merkte er, dass Evelyn Flagg versuchte, ihm etwas zu sagen. Er spürte ihren leichten, warmen Atem an seinem Ohr, während Mercutio antwortete: »Nein, nicht so tief wie ein Brunnen noch so weit wie eine Kirchentüre; aber es reicht eben hin.« Er ließ sein Theaterglas sinken und wandte sich dem Mädchen zu, das neben ihm im Dunkeln saß. Warum waren kleine Kinder wie Joshua und Hattie Reeensberg fähig, sich zu merken, dass er von den Lippen ablesen musste, und diese junge Frau nicht?
»Ich kann Sie nicht hören!« Er war nicht gewohnt zu flüstern. Zweifellos hatte er zu laut gesprochen, denn der Mann, der direkt vor ihm saß, drehte sich um und schaute ihn empört an.
»Es tut mir leid«, flüsterte Shaman. Er hoffte, dass er diesmal tatsächlich geflüstert hatte, und hob das Glas wieder an die Augen, ohne weiter auf seine Nachbarin zu achten.
Angeln
Shaman wollte herausfinden, was Männer wie seinen Vater und George Cliburn dazu befähigte, jegliche Gewalt abzulehnen und dementsprechend zu handeln, während andere das nicht konnten. Nur wenige Tage nach dem Theaterbesuch ritt er wieder nach Rock Island - diesmal, um mit Cliburn über Gewaltlosigkeit zu sprechen. Er konnte die Enthüllungen aus dem Tagebuch kaum glauben, dass Cliburn der kaltblütige und mutige Mann war, der entlaufene Sklaven zu seinem Vater gebracht und später wieder abgeholt hatte, um sie zu ihrem nächsten Versteck zu schaffen. Der dicke, allmählich kahl werdende Futtermittelhändler sah nicht im entferntesten aus wie ein Held und schien auch kaum der Mensch zu sein, der für ein Prinzip alles riskiert. Shaman war voller Bewunderung für den harten, geheimen Kämpfer, der in Cliburns behäbigem Körper wohnte.
Als er ihm seine Bitte im Geschäft vortrug, nickte Cliburn. »Ja, natürlich können Sie mir Fragen über Gewaltlosigkeit stellen, und wir werden uns unterhalten, aber ich fände es gut, wenn Sie sich zunächst mit dem Thema vertraut machen und einige Bücher darüber lesen«, meinte er und sagte seinem Angestellten, dass er bald zurück sei. Shaman ritt hinter ihm her zu seinem Haus, und kurz darauf hatte Cliburn aus seiner Bibliothek einige Werke ausgewählt. »Vielleicht möchten Sie einmal zu einem Treffen der >Freunde< mitkommen?«
Shaman bezweifelte das zwar, dankte Cliburn jedoch für die Einladung und ritt mit den Büchern heim. Sie erwiesen sich als Enttäuschung, da sie hauptsächlich vom Quäkertum handelten. Die Society of Friends war im siebzehnten Jahrhundert in England gegründet worden - von einem Mann namens George Fox, der daran glaubte, dass Gottes Inneres Licht in den Herzen aller Menschen wohne. Cliburns Bücher zufolge unterstützten die Quäker einander in ihrer einfachen Lebensweise in Liebe und Freundschaft. Sie hielten nichts von Dekreten und Dogmen, betrachteten das ganze Leben als ein Sakrament und kannten keine spezielle Liturgie. Sie hatten keine Geistlichen, sondern vertraten die Ansicht, dass Laien fähig seien, den Heiligen Geist zu empfangen, und die Basis ihrer Glaubenslehre bestand darin, dass sie den Krieg ablehnten und sich für den Frieden einsetzten.
Die »Freunde« wurden in England verfolgt, und ihr Name war ursprünglich eine Beleidigung: Als Fox vor den Richter gezerrt wurde, riet er diesem, »vor dem Wort Gottes zu erzittern«, woraufhin der Richter ihn einen quaker schimpfte, einen Zitterer. William Penn gründete in Pennsylvania seine Kolonie als Zufluchtshafen für die verfolgten englischen »Freunde«, und ein dreiviertel Jahrhundert lang gab es in Pennsylvania keine Soldaten und nur ein paar Polizisten. Shaman fragte sich, wie sie wohl mit den Trunkenbolden zurechtgekommen sein mochten. Als er Cliburns Bücher beiseite legte, hatte er weder etwas über die Gewaltlosigkeit erfahren, noch fühlte er das Innere Licht in sich.
Die ersten Septembertage waren warm, aber die Luft war klar und frisch. Er ritt, sooft er konnte, auf dem Weg zu seinen Hausbesuchen am Fluss entlang und erfreute sich an dem in der Sonne glitzernden, träge dahinziehenden Wasser und der stelzbeinigen Grazie der Watvögel, die jedoch nicht mehr sehr zahlreich waren, da viele schon den Weg in den Süden angetreten hatten.
Eines Abends sah er auf dem Heimweg am Flussufer unter einem Baum drei bekannte Gestalten sitzen. Rachel entfernte gerade den Haken aus dem Maul eines Fisches, während ihr Sohn die Angelrute hielt, und als sie das zappelnde Tier wieder ins Wasser warf, erkannte Shaman an Hatties Miene, dass die Kleine sich ärgerte. Er lenkte Boss in ihre Richtung. »Hallo!«
»Hallo!« sagte Hattie.
»Sie lässt uns keinen einzigen Fisch behalten«, beschwerte sich Joshua. »Ich wette, es waren alles Welse«, erwiderte Shaman. Rachel hatte nie Welse mit nach Hause bringen dürfen, weil sie schuppenlos und daher nicht koscher waren. Er wusste, dass aber für ein Kind das schönste am Angeln ist, die Familie dabei zu beobachten, wie sie den Fang verspeist. »Ich muss zur Zeit täglich zu Jack Dämon reiten, weil es ihm sehr schlecht geht.
Kennst du die Stelle, wo der Fluss bei seinem Haus eine scharfe Biegung macht?« fragte er Rachel. Sie lächelte ihn an.
»Die, wo die vielen Felsbrocken liegen?«
»Ja. Ich habe neulich gesehen, wie ein paar Jungen prächtige kleine Barsche dort rausgeholt haben.«
»Danke für den Hinweis! Ich werde morgen mit den Kindern dorthin gehen.«
Er betrachtete Hatties Gesicht: Ihr Lächeln ähnelte auffällig dem ihrer Mutter. »Es war schön, euch zu sehen.«
»Es war schön, Sie zu sehen«, antwortete Hattie. Er tippte grüßend an seinen Hut und wendete Boss.
»Shaman!« Rachel machte einen Schritt auf das Pferd zu und schaute zu ihm auf. »Wenn du morgen gegen Mittag zu Jack Dämon reiten würdest, könntest du danach mit uns Picknick machen.«
»Gerne, wenn ich es schaffe.«
Am nächsten Tag beeilte er sich mit der Behandlung von Jack Dämons Atembeschwerden, und als er zu der Flussbiegung kam, entdeckte er den braunen Buckboard der Geigers sofort. Die graue Stute war im Schatten angebunden und graste.
Rachel und die Kinder hatten von den Felsen aus geangelt, und Joshua nahm Shamans Hand und führte ihn zu einem kleinen Tümpel, in dem sechs Schwarzbarsche nebeneinander schwammen. Sie waren mit einer durch die Kiemen gezogenen Angelschnur zusammengebunden, die an einem tiefhängenden Ast befestigt war.
Rachel hatte, sobald sie seiner ansichtig wurde, ein Stück Seife genommen und schrubbte sich die Hände. »Das Essen wird nach Fisch schmecken«, sagte sie fröhlich.
»Das stört mich nicht im geringsten«, antwortete er, und das entsprach der Wahrheit. Es gab gefüllte Eier und eingelegte Gurken dazu und hinterher Limonade und Melassegebäck. Nach dem Essen verkündete Hattie mit ernster Miene, es sei Schlafenszeit, und legte sich mit ihrem Bruder auf eine Decke, um ein Mittagsschläfchen zu machen. Rachel räumte zusammen und verstaute alles in einer großen Tasche. »Du kannst ja eine der Angelruten nehmen und ein bisschen fischen«, meinte sie.
»Nein.« Er wollte viel lieber ihre Lippen im Auge behalten als eine Angelschnur.
Sie nickte und schaute auf das Wasser hinaus. Flussabwärts wogte ein Schwärm Schwalben elegant auf und nieder. Sie kamen wahrscheinlich aus dem Norden und flogen so dicht beieinander, dass es aussah, als seien sie ein einziger großer Vogel, der im Flug kurz das Wasser berührte, bevor er davonschoss.
»Ist es nicht wunderschön hier, Shaman? Ist es nicht gut, wieder zu Hause zu sein?«
»Ja, das ist es, Rachel.«
Eine Weile unterhielten sie sich über das Leben in der Stadt. Er erzählte ihr von Cincinnati und beantwortete ihre Fragen über die Medical School und die Poliklinik.
»Und was ist mir dir - hat dir Chicago gefallen?«
»Es war schön, jederzeit ins Theater oder Konzert gehen zu können . Ich habe jeden Donnerstag in einem Quartett Violine gespielt. Joe war zwar nicht musikalisch, aber er wollte, dass ich spiele. Er war ein sehr lieber Mann«, sagte sie. »Er ging sehr behutsam mit mir um, als ich im ersten Jahr unserer Ehe ein Kind verlor.«
Shaman nickte.
»Aber dann kam Hattie - und der Krieg. Der Krieg beanspruchte alle Zeit, die meine Familie nicht brauchte. Es gab fast tausend Juden in Chicago. Vierundachtzig junge Männer traten in eine jüdische Kompanie ein, und wir sammelten Spenden und staffierten sie aus. Sie bildeten die C-Kompanie der 82. Illinois Infantry. Sie haben sich bei Gettysburg und an anderen Orten verdient gemacht, und ich war stolz auf sie.«
»Aber du bist doch die Tochter von Judah Benjamins Cousine! Und dein Vater ist ein glühender Südstaatenanhänger.«
»Ich weiß. Aber Joe war das nicht, und ich bin es auch nicht. An dem Tag, als der Brief meiner Mutter kam, in dem sie mir schrieb, dass er sich den Konföderierten angeschlossen hat, hatte ich die Küche voll mit Frauen der Hebrew Ladies Soldier Aid Society, die Binden für die Union aufwickelten.« Sie zuckte mit den Achseln. »Und dann kam Joshua. Und dann starb Joe. Das ist meine ganze Geschichte.«
»Bis jetzt«, sagte Shaman, und sie sah ihn an. Er hatte den zarten Schwung ihrer Wangen unter den hohen Backenknochen vergessen, die Üppigkeit ihrer Unterlippe und die Lichter und Schatten in ihren dunklen Augen.
Er hatte nicht vorgehabt, die Frage zu stellen, sie brach einfach aus ihm heraus: »Warst du glücklich in deiner Ehe?« Sie starrte auf den Fluss. Einen Augenblick dachte er, er habe ihre Antwort übersehen, doch dann wandte sie sich ihm wieder zu. »Ich würde lieber sagen: zufrieden. Im Grunde hatte ich resigniert.«
»Ich bin noch nie zufrieden gewesen, und ich habe auch noch nie resigniert«, antwortete er verwundert.
»Du gibst nie auf, du kämpfst immer weiter, das macht deine Persönlichkeit aus, Shaman. Du musst mir versprechen, Shaman, dass du es dir niemals gestatten wirst, zu resignieren.«
Hattie wachte auf, kam zu ihrer Mutter und kuschelte sich in ihren Schoß.
»Versprich es mir«, bedrängte ihn Rachel. Shaman lächelte.
»Ich verspreche es.«
»Warum reden Sie so komisch?« wollte Hattie wissen.
»Rede ich komisch?« fragte er eher Rachel als das Kind.
»Ja!« Hattie nickte.
»Du sprichst gutturaler als vor meinem Weggang«, sagte Rachel vorsichtig. »Und du scheinst deine Stimme nicht mehr so gut kontrollieren zu können.«
Er nickte und erzählte ihr von seiner Schwierigkeit, als er im Theater versucht hatte zu flüstern.
»Machst du noch deine Übungen?« fragte sie, und er sah, wie bestürzt sie war, als er zugab, dass er seit seinem Abschied von Holden’s Crossing kann noch daran gedacht hatte, weil sein Studium ihn so in Anspruch nahm.
»Ich hatte keine Zeit für Sprachübungen. Ich war zu sehr damit beschäftigt, Arzt zu werden.«
»Aber jetzt darfst du die Zügel nicht mehr schleifen lassen. Du musst mit den Übungen wieder anfangen! Wenn du sie nicht immer wieder machst, vergisst du, wie man spricht. Wenn du willst, arbeite ich wieder mit dir, wie wir es früher gemacht haben.« Ihre Augen verrieten Besorgnis. Die Flussbrise spielte mit ihren offenen Haaren, und das kleine Mädchen, das ihre Augen und ihr Lächeln hatte, lehnte sich lächelnd an ihre Brust. Rachel hielt den Kopf sehr hoch, und die kräftige, edle Linie ihres Nackens erinnerte Shaman an das Bild einer Löwin, das er einmal gesehen hatte.
Ich weiß, dass ich es kann, Miss Burnham. Er erinnerte sich an das junge Mädchen, das sich bereit erklärt hatte, einem kleinen tauben Jungen beim Sprechen zu helfen. Wie sehr er sie geliebt hatte! »Ich wäre dir sehr dankbar, Rachel«, sagte er mit fester Stimme, wobei er darauf achtete, die erste Silbe von »dankbar« zu betonen und am Ende des Satzes mit der Stimme herunterzugehen.
Sie hatten verabredet, sich für die Übungen auf halber Strecke zwischen ihren Häusern auf dem Langen Weg zu treffen. Er war sicher, dass sie Lillian nichts davon erzählt hatte, und sah keine Veranlassung, es seiner Mutter gegenüber zu erwähnen. Am ersten Tag erschien Rachel pünktlich um drei Uhr in Begleitung ihrer Kinder, denen sie den Auftrag gab, entlang des Pfades Haselnüsse zu sammeln. Rachel setzte sich auf die mitgebrachte Decke und lehnte sich mit dem Rücken an eine Eiche. Er ließ sich ihr gegenüber nieder. Die Übung, die sie ausgewählt hatte, bestand darin, dass sie ihm einen Satz vorsprach, den er von ihren Lippen ablas und mit der richtigen Lautstärke und Betonung wiederholen musste. Um ihm zu helfen, hielt sie seine Finger und drückte sie jeweils, um ihm zu zeigen, wann ein Wort oder eine Silbe betont werden sollte. Ihre Hand war trocken und warm und vermittelte so wenig Gefühle, als hielte sie ein Bügeleisen. Seine eigene erschien ihm dagegen heiß und schweißnass, doch er verlor seine Befangenheit, als er sich auf die Aufgaben konzentrierte, die sie ihm stellte.
Seine Sprache hatte sich mehr verschlechtert, als er befürchtet hatte, und sich damit auseinanderzusetzen war kein Vergnügen. Er war erleichtert, als schließlich die Kinder zurückkamen, die einen Eimer schleppten. Er war fast zur Hälfte mit Nüssen gefüllt, und Rachel sagte, sie werde sie zu Hause mit einem Hammer zerschlagen, die Kerne herausnehmen, und dann ein Nussbrot backen, von dem Shaman auch etwas abbekommen werde. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag zu einer weiteren Übungsstunde, doch als er nach der Sprechstunde mit den Hausbesuchen begann, stellte er beim ersten fest, dass Jack Dämon den Kampf gegen die Tuberkulose verloren hatte. Er blieb bei dem Sterbenden und versuchte, ihn zu beruhigen. Als das Ende kam, war es zu spät, um Rachel zu treffen, und er ritt bedrückt nach Hause. Der folgende Tag war ein Samstag. Im Haushalt der Geigers wurde der Sabbat strikt eingehalten, und so gab es keine Übungsstunde mit Rachel. Doch nach der Sprechstunde ging Shaman seine Stimmübungen allein durch. Er fühlte sich wurzellos und unzufrieden mit seinem Leben, was jedoch nichts mit seiner Arbeit zu tun hatte. Am Nachmittag nahm er sich wieder Cliburns Bücher vor und las weitere Ausführungen über die Gewaltlosigkeit und die Quäkerbewegung, und am Sonntag stand er früh auf und ritt nach Rock Island. Der Futtermittelhändler beendete gerade sein Frühstück, als Shaman eintraf. George stellte die Bücher ins Regal, bot ihm eine Tasse Kaffee an und nickte ohne erkennbare Überraschung, als Shaman ihn fragte, ob er zu dem Quäkertreffen mitkommen dürfe.
George Cliburn war Witwer. Er hatte zwar eine Haushälterin, doch Sonntag war ihr freier Tag. Cliburn war ein ordentlicher Mann. Shaman wartete, bis er das Frühstücksgeschirr abgewaschen hatte, und bekam die Erlaubnis abzutrocknen. Sie ließen Boss im Stall und fuhren mit Cliburns Wagen, und auf dem Weg erzählte Cliburn ihm einiges über das Treffen.
»Wir betreten das Versammlungshaus, ohne zu sprechen, und setzen uns: die Männer auf die eine, die Frauen auf die andere Seite. Ich denke, das ist so geregelt, damit die Teilnehmer nicht abgelenkt werden. Die Leute sitzen schweigend da, bis Gott einem die Last der Leiden dieser Welt aufbürdet, und dann steht diese Person auf und spricht.«
Cliburn gab Shaman den Rat, sich in die Mitte oder den hinteren Teil des Versammlungsraums zu setzen. Sie würden nicht beieinander sitzen. »Es ist Brauch, dass die Ältesten, die schon viele, viele Jahre für die Society of Friends gearbeitet haben, vorne sitzen.« Er beugte sich vertraulich zu Shaman. »Es gibt Quäker, die uns da vorne
>einflussreiche Freunde< nennen.« Er lachte.
Das Versammlungshaus war klein und schmucklos, ein weißer Kasten mit Flachdach, weißgetünchten Wänden und grauem Boden. Dunkel gebeizte Bänke waren in U-Form aufgestellt, was allen ermöglichte, einander anzusehen. Vier Männer saßen bereits da. Shaman nahm auf einer rückwärtigen Bank nahe bei der Tür Platz -
wie jemand, der vorsichtig eine Zehe ins Wasser hält, um die Temperatur zu prüfen. Ihm gegenüber saßen ein halbes Dutzend Frauen, und es hatten sich acht Kinder eingefunden. Die Ältesten waren wirklich alle in fortgeschrittenem Alter. George und fünf seiner »einflussreichen Freunde« saßen im vorderen Teil des Raumes auf einer Bank, die auf einer dreißig Zentimeter hohen Empore stand.
Es herrschte eine Stille wie in Shamans tauber Welt. Von Zeit zu Zeit kamen neue Leute und ließen sich schweigend nieder. Schließlich kam niemand mehr. Shaman zählte elf Männer, vierzehn Frauen und zwölf Kinder. Und alle saßen in tiefem Schweigen da.
Es war erholsam. Er dachte an seinen Vater und hoffte, dass er seinen Frieden gefunden hatte.
Und er dachte an Alex. Bitte, schickte er ein Gebet in die vollkommene Stille, die er mit den übrigen teilte, bitte, lass meinen Bruder nicht bei den Hunderttausenden sein, die den Tod gefunden haben! Bitte, schick mir den lieben, verrückten Ausreißer gesund zurück! Und dann dachte er an Rachel, doch in diesem Zusammenhang wagte er nicht zu beten. Er dachte an Hattie, die die Augen und das Lächeln ihrer Mutter hatte, und viel redete.
Er dachte an Joshua, der kaum sprach, ihn aber immer anzusehen schien.
Ein Mann in den mittleren Jahren erhob sich von einer Bank ganz in Shamans Nähe. Er war mager und wirkte zerbrechlich. »Dieser schreckliche Krieg geht endlich dem Ende zu«, sagte er. »Sehr langsam zwar, aber wir wissen, dass er nicht ewig fortdauern kann. Viele Zeitungen machen sich für die Wahl von General Fremont zum Präsidenten stark. Sie sagen, Präsident Lincoln werde den Süden zu sanft behandeln, wenn der Frieden kommt.
Sie sagen, es sei keine Zeit für Nachsicht und Verzeihen, sondern Zeit für Rache an der Bevölkerung der Südstaaten.« Er räusperte sich.
»Lukas sagt: >Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!< Und Jesus sagt: >Wenn dein Feind hungert, dann gib ihm zu essen, und wenn ihn dürstet, gib ihm zu trinken !< Wir müssen die Sünden vergeben, die beide Seiten in diesem entsetzlichen Krieg begangen haben, und dafür beten, dass bald die Worte des Psalms wahr werden, dass Gnade und Wahrheit Hand in Hand gehen und Rechtschaffenheit und Frieden einander küssen. >Selig sind, die da Leid tragen - denn sie werden getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.« Er setzte sich hin, und wieder herrschte tiefe Stille.
Eine Frau, die Shaman fast genau gegenübersaß, stand auf und sagte, sie bemühe sich darum, einem Menschen zu verzeihen, der ihrer Familie schlimmes Unrecht zugefügt habe. Sie wünsche sich, dass ihr Herz von Hass frei werde und sie Barmherzigkeit und verzeihende Liebe üben könne, doch sie liege mit sich selbst im Kampf, weil sie den Wunsch, zu verzeihen, nicht stark genug verspüre. Sie bat ihre Freunde zu beten, damit ihr die nötige Kraft gegeben werde. Als sie sich hinsetzte, stand eine andere Frau auf, die in der entgegengesetzten Ecke saß, und so konnte Shaman ihre Lippen nicht gut genug sehen, um zu verstehen, was sie sagte.
Nach einer Weile ließ auch sie sich wieder nieder, und es herrschte Schweigen, bis ein Mann in der Nähe des Fensters sich erhob. Er war in den Zwanzigern und hatte ein ernstes Gesicht. Er sagte, er müsse eine wichtige Entscheidung fällen, die sich auf den Rest seines Lebens auswirken werde. »Ich brauche die Hilfe Gottes und die eurer Gebete«, sagte er und setzte sich.
Danach meldete sich niemand mehr zu Wort. Die Zeit verging, und schließlich sah Shaman, wie George Cliburn seinem Nachbarn die Hand schüttelte. Das war das Zeichen für die Beendigung der Versammlung. Mehrere Leute in Shamans Nähe gaben ihm die Hand, und dann strebten alle dem Ausgang zu. Es war der merkwürdigste Gottesdienst gewesen, dem Shaman je beigewohnt hatte. Auf dem Rückweg zu Cliburns Haus war er sehr nachdenklich. »Wird von einem Quäker erwartet, dass er jedes Verbrechen vergibt? Und was ist mit der Befriedigung, wenn das Recht über das Böse siegt?«
»Oh, wir glauben sehr wohl an die Gerechtigkeit«, antwortete Cliburn. »Aber wir glauben nicht an Rache und Gewalt.» Shaman wusste, dass sein Vater sich danach gesehnt hatte, Makwa-ikwas Tod zu rächen, und auch er wünschte es sich. »Würden Sie gewalttätig werden, wenn Sie miterlebten, wie jemand Ihre Mutter erschießt?«
fragte er und war befremdet, als Cliburn kicherte. »Früher oder später stellt diese Frage jeder, der sich mit Gewaltlosigkeit beschäftigt. Meine Mutter ist schon lange tot, aber sollte ich jemals in eine ähnliche Situation kommen, werde ich darauf vertrauen, dass Gott mir den richtigen Weg weist. Schauen Sie, Shaman, nichts, was ich sage, wird Sie dazu bringen, Gewalt abzulehnen. Es kommt nicht von hier«, er deutete auf seine Lippen,
»und es kommt nicht von hier«, er berührte Shamans Stirn. »Wenn es geschieht, dann kommt es von hier«, und er tippte Shaman auf die Brust. »Und bis es soweit ist, müssen Sie weiterhin Ihr Schwert umgürten«, sagte er, als sei Shaman ein Römer oder ein Westgote und nicht ein tauber Mann, den man nicht zum Kriegsdienst zugelassen hatte. »Wenn Sie eines Tages Ihr Schwert ablegen und es fortwerfen, werden Sie es tun, weil Sie erkennen, dass Sie keine andere Wahl haben«, sagte Cliburn, schnalzte mit der Zunge und gab seinem Pferd die Zügel.
Das Ende des Tagebuchs
»Wir sind heute bei den Geigers zum Tee eingeladen«, erzählte Shamans Mutter ihrem Sohn. »Rachel sagte, wir müssten unbedingt kommen, es habe etwas mit den Kindern und Haselnusssträuchern zu tun.«
Also gingen sie am Nachmittag auf dem Langen Weg zu den Geigers und nahmen im Esszimmer Platz. Rachel brachte ein neues Herbstcape aus tannengrüner Wolle herein, um es Sarah zu zeigen. »Gesponnen aus Cole-Wolle!« Ihre Mutter habe es für sie angefertigt, da ihr Trauerjahr vorüber sei, sagte sie, und alle machten Lillian Komplimente über die schöne Arbeit.
Rachel meinte, sie werde das Cape am nächsten Montag auf ihrer Reise nach Chicago tragen.
»Wirst du lange fort sein?« fragte Sarah. »Nur ein paar Tage.«
»Geschäftlich«, erklärte Lillian mit deutlicher Missbilligung. Als Sarah, um das Thema zu wechseln, hastig das Aroma des englischen Tees lobte, seufzte Lillian und sagte, sie sei sehr froh, ihn zu haben. »Es gibt im ganzen Süden kaum Kaffee und keinen anständigen Tee. Jay schreibt, Kaffee und Tee kosten in Virginia fünfzig Dollar das Pfund.«
»Dann hast du also von ihm gehört?«
»Ja. Es geht ihm gut. Gott sei Dank!«
Hattie strahlte, als ihre Mutter mit dem noch ofenwarmen Nussbrot hereinkam.
»Wir haben es gemacht!« verkündete sie. »Mama hat die Zutaten in eine Schüssel getan und umgerührt, und dann haben ich und Joshua die Nüsse reingestreut.«
»Joshua und ich«, korrigierte sie die Großmutter.
»Omi, du warst ja gar nicht in der Küche!«
»Die Nüsse sind köstlich«, sagte Sarah zu dem kleinen Mädchen. »Ich und Hattie haben sie gesammelt«, erklärte Joshua stolz.
»Hattie und ich«, korrigierte ihn Lillian.
»Nein, Omi, du warst nicht dabei. Wir waren auf dem Langen Weg, und ich und Hattie haben die Nüsse gesammelt, während Mama und Shaman auf der Decke saßen und sich an den Händen hielten.«
Ein kurzes Schweigen senkte sich über den Raum.
»Shaman hat Schwierigkeiten mit seiner Sprache«, sagte Rachel dann. »Er braucht wieder etwas Übung, und ich helfe ihm, wie ich es früher getan habe. Wir trafen uns auf dem Waldweg, und die Kinder machten sich derweil mit Begeisterung ans Nüssesuchen. Aber in Zukunft wird er hierher kommen, damit wir für die Übungen das Klavier benutzen können.«
Sarah nickte. »Es wird gut für Robert sein, an seiner Sprache zu arbeiten.«
Auch Lillian nickte, allerdings etwas steif. »Ja. Was für ein Glück, dass du wieder zu Hause bist, Rachel«, sagte sie und goss Shaman Tee nach.
Am nächsten Tag nahm er nach seinen Hausbesuchen den Langen Weg, und er sah Rachel kommen, obwohl er nicht mit ihr verabredet war.
»Wo sind meine Freunde?«
»Sie haben beim herbstlichen Hausputz geholfen und ihren Mittagsschlaf versäumt, und deshalb habe ich sie jetzt noch ins Bett geschickt.«
Er kehrte um und ging neben ihr her. Der Wald war voller Vögel, und auf einem Baum in der Nähe entdeckte er einen Kardinal, der herausfordernd, für ihn aber unhörbar trillerte.
»Ich habe mich mit meiner Mutter gestritten. Sie wollte, dass wir für die Feiertage nach Peoria fahren, aber ich bin nicht bereit, dort vor heiratswilligen Junggesellen und Witwern Spießruten zu laufen. Also werden wir die Feiertage zu Hause verbringen.«
»Gut«, sagte er, und sie lächelte. Es habe noch eine Auseinandersetzung gegeben, erzählte sie, weil Joe Regensbergs Cousin eine andere Frau heirate und das Angebot gemacht habe, die Regensberg Tin Company zu kaufen, nachdem er sie nicht durch Heirat in seinen Besitz habe bringen können. Das, vertraute sie Shaman an, sei auch der Grund für ihre Reise nach Chicago: Sie werde die Firma verkaufen. »Deine Mutter wird sich schon wieder beruhigen. Sie liebt dich.«
»Ich weiß, dass sie das tut. Wollen wir eine Übungsstunde abhalten?«
»Warum nicht?« Er streckte ihr die Hand hin.
Diesmal spürte er ein leichtes Zittern, als sie seine Finger in den ihren hielt. Vielleicht hatte der Hausputz sie so angestrengt oder der Streit. Doch er wagte zu hoffen, dass mehr dahintersteckte, und plötzlich lag eine Innigkeit in ihrer Berührung, die ihn veranlasste, seine Hand ganz in die ihre zu schieben.
Sie arbeiteten an der Atemkontrolle, die nötig war, um die kleinen Explosionen des Buchstaben P zu bewerkstelligen, und er wiederholte gerade mit ernstem Gesicht einen unsinnigen Satz über den Postboten Peter, der pausenlos Postpakete packte, als sie den Kopf schüttelte. »Nein. Fühl mal, wie ich es mache!« Sie legte seine Finger an ihren Kehlkopf.
Doch alles, was er fühlte, war Rachels warme weiche Haut. Er hatte es nicht geplant. Hätte er darüber nachgedacht, er hätte es nicht getan. Er ließ seine Hand aufwärts wandern, legte sie an ihre Wange und beugte sich vor, um Rachel zu küssen. Der Kuss war unendlich süß, der oft geträumte und ersehnte Kuss zwischen einem fünfzehnjährigen Jungen und dem Mädchen, in das er hoffnungslos verliebt war. Doch bald wurden sie zu einem Mann und einer Frau, die sich küssten, und ihr beiderseitiger Hunger erschreckte ihn dermaßen, stand so im Widerspruch zu der Absicht, eine lebenslange Freundschaft aufrechtzuerhalten, die sie ihm angeboten hatte, dass er Angst bekam, das alles für real zu nehmen.
»Rachel«, sagte er, als sie sich voneinander losrissen. »Nein! O Gott!«
Doch als sich ihre Gesichter wieder näherten, bedeckte sie seines mit kleinen, leichten Küssen - lauter heiße Regentropfen. Er küsste sie auf die Lider, die Mundwinkel und die Nase und spürte, wie ihr Körper sich an ihn drängte.
Auch Rachel war über sich selbst erschrocken. Sie legte eine zitternde Hand auf seine Wange, und er drehte den Kopf, bis er seine Lippen in ihre Handfläche drücken konnte.
Er sah sie die Worte sprechen, die ihm aus alter Zeit vertraut waren, weil sie Dorothy Burnham am Ende jedes Schultags sagte. »Ich denke, das reicht für heute«, sagte Rachel atemlos und wandte sich ab. Shaman stand da und sah ihr nach, wie sie mit schnellen Schritten davonging und um eine Biegung verschwand.
An diesem Abend machte er sich daran, die letzten Tagebucheintragungen seines Vaters zu lesen. Mit großer Traurigkeit sah er dem Ende Rob J. Coles entgegen, und er ließ sich von dem schrecklichen Krieg am Ufer des Rappahannock gefangennehmen, den der Vater in seiner großen, klaren Handschrift beschrieben hatte.
Als Shaman bei Rob J.s Entdeckung von Lanning Ordway anlangte, saß er eine ganze Weile da, ohne weiterzulesen. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass sein Vater nach so vielen Jahren vergeblichen Suchens schließlich Kontakt zu einem der Männer bekommen hatte, die für Makwa-ikwas Tod verantwortlich waren. Er blieb die ganze Nacht auf. Ordways Brief an Goodnow las er wieder und wieder. Kurz vor Anbruch der Dämmerung kam er zu den letzten Eintragungen des Tagebuchs kurz vor dem Tod seines Vaters. Eine einsame Stunde lang lag er angezogen auf seinem Bett. Als er seine Mutter in der Küche rumoren hörte, ging er zur Scheune hinüber und bat Alden, ins Haus zu kommen. Dann zeigte er beiden den Brief und erzählte ihnen, wo er ihn gefunden hatte.
»Aus seinem Tagebuch? Du hast sein Tagebuch gelesen?« fragte Sarah.
»Ja. Möchtest du es auch lesen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das brauche ich nicht. Ich war seine Frau. Ich kannte ihn.«
Die beiden bemerkten, dass Alden einen bösen Kater hatte, und Sarah goss für alle drei Kaffee ein.
»Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.« Shaman ließ seine Mutter und Alden den Brief lesen.
»Was glaubst du denn, dass du noch tun kannst?« fragte Alden irritiert.
Er alterte rapide, bemerkte Shaman. Entweder trank er mehr als früher, oder sein Körper konnte den Whiskey nicht mehr so gut vertragen. Zitternd löffelte er sich Zucker in seine Tasse. »Dein Pa hat alles versucht, um die Sache mit der Sauk-Frau vor Gericht zu bringen. Meinst du, die werden jetzt mehr interessiert daran sein, nur weil du in dem Brief eines Toten einen Namen entdeckt hast?«
»Robert, wann wird das ein Ende finden?« fragte seine Mutter verbittert. »Dein Vater hat nie aufgehört, die Täter zu suchen, und du willst jetzt weitermachen? Die Gebeine dieser Frau liegen nun schon so viele Jahre unter der Erde - findest du nicht, dass die Tote Anspruch auf ihren Frieden hat? Kannst du den Brief nicht einfach zerreißen, den alten Schmerz vergessen, sie zur Ruhe kommen lassen - und mich auch?«
Alden schüttelte den Kopf. »Ich will nicht respektlos erscheinen, Mrs. Cole. Aber dieser Junge wird nie vernünftig sein, wenn es um die Indianer geht - genausowenig wie es der Doc war.« Er pustete auf seinen Kaffee, hob die Tasse mit beiden Händen an den Mund und trank einen Schluck, der ihm sicher den Mund verbrannte. »Nein, er wird sich darin verbeißen wie ein Hund in seine Beute. Wie sein Vater.« Er sah Shaman an. »Wenn du Wert auf einen Rat von mir legen solltest, was ich allerdings bezweifle, dann sage ich dir, dass du so bald wie möglich nach Chicago fahren solltest, um diesen Goodnow aufzusuchen und herauszufinden, ob er dir was sagen kann. Andernfalls wirst du dich immer nur quälen - und uns auch.«
Mater Miriam war nicht dieser Meinung. Als Shaman an diesem Nachmittag zum Konvent kam und ihr den Brief zeigte, nickte sie. »Ihr Vater hat mir von David Goodnow erzählt«, sagte sie ruhig.
»Wenn dieser Mann tatsächlich Reverend Patterson war, sollte er dann nicht für Makwa-ikwas Tod zur Rechenschaft gezogen werden?« Sie seufzte. »Shaman, Sie sind Arzt und kein Polizist. Können Sie die Bestrafung dieses Mannes nicht Gottes Richtspruch überlassen? Wir brauchen Sie dringend als guten Arzt, der Sie sind.« Sie beugte sich vor und sah ihn beschwörend an. »Ich habe großartige Neuigkeiten. Unser Bischof hat mich wissen lassen, dass er uns Geld schicken wird, damit wir ein Krankenhaus in Holden’s Crossing einrichten.«
»Ehrwürdige Mutter, das ist ja wundervoll!«
»Ja, das ist es.«
Ihr Lächeln lässt ihr Gesicht geradezu erstrahlen, dachte Shaman. Er erinnerte sich, im Tagebuch gelesen zu haben, dass sie nach dem Tod ihres Vaters eine Erbschaft gemacht und diese der Kirche überlassen hatte, und er fragte sich, ob es vielleicht ihr eigenes Geld war, das der Bischof ihr jetzt schickte, oder wenigstens ein Teil davon. Doch Miriam Ferocias Freude ließ keinen Raum für solch zynische Betrachtungen.
»Die Leute in dieser Gegend werden ein Krankenhaus haben«, sagte sie. »Die Schwestern des Konvents werden im Hospital des heiligen Franz von Assisi arbeiten.«
»Und ich werde ein Krankenhaus haben, in das ich meine Patienten schicken kann.«
»Nun, wir hoffen, Sie werden mehr tun als das. Die Schwestern sind zu einem einstimmigen Beschluss gekommen: Wir möchten, dass Sie der medizinische Leiter des Krankenhauses werden.« Es dauerte einen Moment, bis er seiner Überraschung Herr werden konnte. »Das ehrt mich sehr«, sagte er schließlich. »Aber ich würde vorschlagen, diese Stelle einem Arzt mit mehr Erfahrung anzubieten, einem älteren Mann. Und außerdem wissen Sie doch, dass ich nicht katholisch bin.«
»Wenn ich früher wagte, davon zu träumen, hoffte ich, dass Ihr Vater diese Stelle einnehmen würde. Gott hat ihn uns als Freund und Arzt geschickt, aber jetzt ist er nicht mehr unter uns. Dafür hat Gott uns Sie geschickt. Sie haben eine gute Ausbildung, viel Geschick und bereits umfassende Erfahrung. Sie sind der Arzt von Holden’s Crossing, und Sie sollten auch der Leiter des Krankenhauses dieser Stadt werden.« Sie lächelte. »Und was Ihr Alter angeht, so glauben wir, dass Sie der älteste junge Mann sind, den wir je kennengelernt haben. Es wird nur ein kleines Krankenhaus sein, mit fünfundzwanzig Betten, und wir werden alle mit unseren Aufgaben wachsen.
Ich möchte Ihnen gerne einen Rat geben: Sträuben Sie sich nicht dagegen, sich selbst hoch einzuschätzen, denn andere tun es. Und scheuen Sie sich nicht, ein Ziel anzustreben. Sie können alles erreichen, denn Gott hat Sie aufs großzügigste mit Gaben ausgestattet.«
Shaman war zutiefst verlegen, doch er lächelte mit der Selbstsicherheit, die einem Mann zukam, dem man gerade die Leitung eines Krankenhauses angetragen hat. »Wie könnte ich es wagen, an Ihren Worten zu zweifeln, Ehrwürdige Mutter.«
Chicago
Shaman vertraute das Gespräch mit der Oberin nur seiner Mutter an, und ihr Stolz wärmte ihm das Herz.
»Es wird wunderbar für die Leute sein, ein Krankenhaus hier zu haben, und für dich, es zu leiten. Wie glücklich das deinen Vater gemacht hätte!«
Er dämpfte ihre Begeisterung, indem er ihr sagte, dass das Geld von der katholischen Erzdiözese erst fließen werde, wenn Pläne für den Bau gemacht und genehmigt wären. »Mater Miriam hat mich gebeten, verschiedene Krankenhäuser zu besuchen und mich über deren Einrichtung zu informieren.«
Er wusste, wohin er fahren und welchen Zug er nehmen würde. Am Montag ritt er nach Moline und stellte Boss dort unter. Der Zug nach Chicago hielt um zwanzig nach drei in Moline, aber nur so lange, bis die Fracht der John-Deere-Pflugfabrik eingeladen war. Viertel vor drei wartete Shaman auf dem hölzernen Bahnsteig. Als der Zug kam, stieg er in den letzten Waggon und machte sich von dort aus auf den Weg nach vorne. Er wusste, dass Rachel nur Minuten vorher in Rock Island eingestiegen war, und fand sie im dritten Wagen. Der Platz neben ihr war frei. Er hatte beabsichtigt, sie unbefangen zu begrüßen und einen Scherz über ihre »zufällige Begegnung« zu machen, doch als sie ihn sah, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht.
»Shaman! Ist etwas mit den Kindern?«
»Nein, nein, überhaupt nicht. Ich fahre auch geschäftlich nach Chicago«, antwortete er und ärgerte sich darüber, dass ihm nicht klar gewesen war, dass sie so reagieren würde. »Darf ich mich zu dir setzen?«
»Natürlich.«
Doch als er seinen Koffer neben dem ihren untergebracht und sich auf dem Platz am Gang niedergelassen hatte, waren beide verlegen und verkrampft.
»Neulich auf dem Waldweg, Shaman...«
»Ich fand es wunderbar«, erklärte er entschieden.
»Ich möchte nicht, dass du dir falsche Vorstellungen machst.«
Wieder! dachte er verzweifelt. »Ich habe geglaubt, du hättest es auch wunderbar gefunden«, versetzte er und spürte, wie er errötete. »Darum geht es nicht. Wir dürfen uns nicht in... so etwas hineinsteigern, denn das hat nur zur Folge, dass uns die Realität dann um so grausamer erscheint.«
»Und was ist die Realität?«
»Ich bin eine jüdische Witwe mit zwei Kindern.«
»Und?«
»Ich habe mir geschworen, nie wieder meine Eltern einen Ehemann für mich aussuchen zu lassen, aber das heißt nicht, dass ich bei meiner Wahl nicht Vernunft walten lassen werde.«
Es schmerzte. Aber diesmal würde er sich nicht abweisen lassen, ohne alles zu sagen, was ihm auf der Seele lag.
»Ich habe dich fast mein ganzes Leben lang geliebt. Ich habe nie eine Frau getroffen, deren Erscheinung oder Verstand mich mehr angezogen hätte. Du hast eine Güte in dir, die ich brauche.«
»Shaman, bitte!« Sie wandte sich von ihm ab und starrte aus dem Fenster. Doch er fuhr fort. »Du hast mich dir versprechen lassen, dass ich nie im Leben resignieren werde. Und ich werde mich nicht damit abfinden, dich noch einmal zu verlieren. Ich möchte dich heiraten und Hattie und Joshua ein Vater sein.«
Sie blieb abgewandt und betrachtete die vorbeigleitende Landschaft. Er hatte gesagt, was er sagen wollte, und so nahm er jetzt eine Fachzeitschrift aus der Tasche und begann, eine Abhandlung über Symptomatik und Behandlung von Keuchhusten zu lesen. Rachel zog einen Beutel unter der Sitzbank hervor und nahm ihr Strickzeug heraus. Er sah, dass sie an einem kleinen blauen Pullover arbeitete. »Für Hattie?«
»Für Joshua.« Sie sahen sich an, und es dauerte eine Weile, bis sie ihre Blicke voneinander lösen konnten. Dann wandte sich Rachel mit einem leichten Lächeln wieder ihrer Handarbeit zu. Sie waren noch keine fünfzig Meilen gefahren, da wurde es dunkel, und der Schaffner kam herein, um die Lampen zu entzünden. Gegen fünf Uhr bekamen sie Hunger. Shaman hatte ein Essenspaket dabei, das Brathühnchen und Apfelkuchen enthielt, während Rachels Verpflegung aus Brot, Käse, hartgekochten Eiern und vier kleinen Birnen bestand. Sie teilten sich den Kuchen und die Eier und Früchte und tranken Brunnenwasser aus einer Korbflasche. Nachdem der Zug in Joliet gehalten hatte, drehte der Schaffner die Lampen herunter, und Rachel schlief ein. Als sie aufwachte, lag ihr Kopf an Shamans Schulter, und er hielt ihre Hand. Sie entzog sie ihm, ließ den Kopf jedoch liegen. Kurz darauf tauchte der Zug aus der Dunkelheit der Prärie in ein Lichtermeer. Rachel setzte sich auf und richtete ihre Frisur, wobei sie die Haarnadeln zwischen ihre kräftigen weißen Zähne klemmte. Als sie fertig war, erklärte sie, sie seien in Chicago.
Vom Bahnhof nahmen sie eine Kutsche zum Palmer’s Illinois House Hotel, wo Rachels Anwalt ein Zimmer für sie hatte reservieren lassen. Shaman quartierte sich ebenfalls dort ein und bekam Zimmer Nummer 508 im fünften Stock zugewiesen. Er brachte Rachel zu ihrem Zimmer Nummer 306 und gab dem Pagen ein Trinkgeld.
»Möchtest du noch etwas? Kaffee vielleicht?«
»Ich glaube nicht, Shaman. Es ist schon spät, und ich habe morgen viel zu erledigen.« Sie wollte auch nicht mit ihm frühstücken. »Wie war’s, wenn wir uns um drei Uhr hier in der Halle treffen und ich dir dann Chicago zeige?«
Er fand, das sei eine gute Idee, und verließ sie, ging in sein Zimmer hinauf, verstaute seine Sachen in Kleiderschrank und Kommode und lief dann die fünf Stockwerke wieder hinunter, um die Toilette hinter dem Hotel aufzusuchen, die erfreulich sauber und gepflegt war. Auf dem Rückweg nach oben verhielt er einen Augenblick am Treppenabsatz zum dritten Stock und schaute den Korridor entlang zu ihrem Zimmer, dann setzte er seinen Weg fort.
Am Morgen machte er sich gleich nach dem Frühstück auf die Suche nach der Bridgeton Street, die, wie sich herausstellte, in einem Arbeiterviertel mit hölzernen Reihenhäusern lag. Als er an die Tür von Nummer 237
klopfte, öffnete ihm eine verhärmt aussehende junge Frau mit einem Kind auf dem Arm, an deren Rockzipfel ein Junge hing.
Als Shaman nach Reverend David Goodnow fragte, schüttelte sie den Kopf. »Der wohnt schon seit über einem Jahr nicht mehr hier. Er ist sehr krank, wie ich gehört habe.«
»Wissen Sie, wo er sich jetzt aufhält?«
»Ja. Er ist in einem... in einer Art Krankenhaus. Wir haben ihn noch nie gesehen. Die Miete schicken wir jeden Monat dorthin. Das hat sein Anwalt so mit uns vereinbart.«
»Könnten Sie mir den Namen des Krankenhauses sagen? Es ist sehr wichtig, dass ich mit ihm spreche.«
Sie nickte. »Ich habe ihn aufgeschrieben.« Sie verschwand, kam jedoch gleich darauf, gefolgt von ihrem kleinen Sohn, mit einem Zettel in der Hand zurück.
»Es ist das Dearborne Asylum«, sagte sie, »in der Säble Street.«
Das Schild wirkte bescheiden und vornehm und bestand aus einer Bronzeplatte, die in die mittlere Säule des Portikus eingelassen war: Dearborne Asylum für Trinker und Geisteskranke. Es war ein dreistöckiges, rotes Ziegelgebäude, und die schweren Eisengitter vor den Fenstern passten zu den aufgereihten Eisenspitzen auf der den Bau umgebenden Ziegelmauer.
Hinter der Mahagonitür lag eine kleine, düstere Eingangshalle mit zwei Rosshaarsesseln. In dem angrenzenden Büro saß ein Mann mittleren Alters an einem Schreibtisch und machte Eintragungen in ein großes Journal. Als Shaman sein Anliegen vortrug, nickte er. »Mr. Goodnow hat schon seit Ewigkeiten keinen Besuch bekommen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass überhaupt mal jemand da war. Bitte, tragen Sie sich in die Besucherliste ein, ich hole inzwischen Dr. Burgess.
Wenige Minuten später erschien der Arzt, ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren und einem schütteren Schnurrbart. »Gehören Sie zur Familie, oder sind Sie ein Freund, Dr. Cole? Oder ist Ihr Besuch beruflicher Natur?«
»Ich kenne Leute, die Mr. Goodnow kennen«, antwortete Shaman vage. »Ich bin nur kurze Zeit in Chicago und dachte, ich könnte mal vorbeischauen.«
Dr. Burgess nickte. »Besuchszeit ist zwar am Nachmittag, aber für einen vielbeschäftigten Arzt können wir eine Ausnahme machen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen!«
Sie stiegen eine Treppe hinauf, und dort klopfte der Arzt an eine verschlossene Tür, die von einem kräftigen Pfleger geöffnet wurde. Der gedrungene Mann führte sie einen langen Gang hinunter, an dessen Wänden Frauen saßen, die Selbstgespräche führten oder ins Nichts starrten. Sie umgingen eine Urinpfütze, und Shaman sah verschmierte Exkremente auf dem Boden. In manchen der offenen Zimmer, die von dem Flur abgingen, waren Frauen an die Wand angekettet. Shaman hatte während seines Studiums vier deprimierende Wochen im Ohio State Asylum für Geisteskranke gearbeitet und war nicht überrascht von dem, was er hier sah und roch. Dies war einer der seltenen Momente, in denen er es begrüßte, nicht hören zu können. Der Pfleger sperrte einen weitere Türe auf und geleitete sie durch einen Korridor zur Männerabteilung, die nicht besser aussah als die der Frauen.
Schließlich wurde Shaman in einen kleinen Raum komplimentiert, der einen Tisch und mehrere Holzstühle enthielt, und gebeten zu warten.
Kurz darauf kamen der Arzt und der Pfleger zurück und brachten einen Mann um die Vierzig mit, der eine Arbeitshose, an deren Schlitz mehrere Knöpfe fehlten, und eine schmierige Jacke über der Unterwäsche trug. Er hätte dringend einen Haarschnitt gebraucht, und sein grauer Bart wucherte. Ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen, doch sein Blick war abwesend. »Das ist Mr. Goodnow«, stellte Dr. Burgess ihn vor. »Mr. Goodnow, ich bin Dr. Cole.« Das Lächeln blieb. Die Augen sahen ihn nicht. »Er kann nicht sprechen«, erklärte Dr. Burgess.
Trotzdem stand Shaman von seinem Stuhl auf und trat nahe an den
Mann heran. »Mr. Goodnow, nannten Sie sich früher Ellwood R. Patterson?«
»Er hat seit mehr als einem Jahr kein Wort mehr gesagt«, erklärte Dr. Burgess geduldig.
»Mr. Goodnow, haben Sie die Indianerin getötet, die Sie in Holden’s Crossing vergewaltigt haben? Als Sie für den Supreme Order of the Star-Spangled Banner dorthin kamen?« Dr. Burgess und der Pfleger starrten Shaman verblüfft an. »Wissen Sie, wo ich Hank Cough finden kann?« Keine Antwort.
Noch einmal, in schärferem Ton: »Wo kann ich Hank Cough finden?«
»Er hat Syphilis. Ein Teil seines Gehirns ist durch Parese zerstört«, unterbrach Dr. Burgess das Verhör. »Woher wissen Sie, dass er nicht simuliert?«
»Wir haben ihn unter ständiger Beobachtung, und wir wissen es. Warum sollte jemand simulieren, um so leben zu können?«
»Vor Jahren war dieser Mann an einem unmenschlichen, grässlichen Verbrechen beteiligt. Es widerstrebt mir zutiefst, mich damit abzufinden, dass er der Bestrafung entgehen wird«, sagte Shaman bitter. Speichel tropfte aus David Goodnows Mund. Dr. Burgess sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er der Bestrafung entgangen ist.«
Shaman wurde durch die Stationen zur Eingangstür begleitet, wo Dr. Burgess sich höflich von ihm verabschiedete und nebenbei bemerkte, dass die Anstalt Einweisungen von Ärzten aus West-Illinois begrüße.
Als Shaman auf die Straße trat, blendete ihn zunächst das helle Sonnenlicht. Die Gerüche der Stadt erschienen ihm auf einmal wie Veilchenduft. Mehrere Häuserblocks wanderte er tief in Gedanken entlang. Er hatte das Gefühl, am Ende eines Weges angelangt zu sein. Einer der Männer, die Makwa-ikwa umgebracht hatten, war tot, der zweite, wie er sich gerade überzeugt hatte, in einer Hölle gefangen, und der Verbleib des dritten war unbekannt.
Er kam zu dem Schluss, dass Miriam Ferocia recht hatte: Es war an der Zeit, Makwas Mörder dem göttlichen Richterspruch zu überlassen und sich auf die Medizin und sein eigenes Leben zu konzentrieren.
Er fuhr mit einer Pferdebahn ins Zentrum der Stadt und von dort mit einer anderen zum Chicago Hospital, das ihn stark an die Poliklinik in Cincinnati erinnerte. Es war ein gutes Krankenhaus und mit fast fünfhundert Betten ein großes. Als er um ein Gespräch mit dem Direktor bat und sein Anliegen vorbrachte, wurde er mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt.
Der diensthabende Arzt brachte ihn zu einem der Oberärzte, und die beiden Männer berieten Shaman hinsichtlich der Ausrüstung und Einrichtung, die ein kleines Krankenhaus brauchen würde. Der Einkäufer des Krankenhauses empfahl ihm Firmen, die zuverlässigen Service und vernünftige Preise boten, und erkundigte sich beim Verwalter über die Menge der Wäsche, die nötig war, um jedes Bett stets sauber bezogen halten zu können. Shaman machte sich eifrig Notizen. Als er kurz vor drei ins Palmer’s Illinois House Hotel zurückkam, saß Rachel schon wartend in der Halle. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass der Tag zu ihrer Zufriedenheit verlaufen war. »Es ist alles erledigt. Um die Firma brauche ich mich nicht mehr zu kümmern«, sagte sie. Sie erzählte ihm, dass der Anwalt bereits alle notwendigen Dokumente vorbereitet gehabt habe und der größte Teil des Verkaufserlöses für Hattie und Joshua treuhänderisch angelegt worden sei.
»Das müssen wir feiern!« Die düstere Stimmung, die ihn seit der Begegnung mit David Goodnow umfangen hatte, war gebannt. Sie nahmen die erste der prächtigen Kutschen, die aufgereiht vor dem Hotel standen. Shaman wollte weder die Konzerthalle noch die neue Börse sehen, ihn interessierte nur eines an Chicago: »Zeig mir die Orte, die dir wichtig waren, als du hier gelebt hast!«
»Aber das wird schrecklich langweilig.«
»Bitte!«
Also beugte Rachel sich vor, gab dem Kutscher Anweisung, und das Pferd setzte sich in Bewegung.
Zuerst war sie verlegen, als sie ihm die Musikalienhandlung zeigte, in der sie Saiten und einen neuen Bogen für ihre Geige gekauft und die Wirbel hatte reparieren lassen. Doch dann entspannte sie sich allmählich und hatte Spaß, als sie die Läden wiedersah, in denen sie ihre Schuhe und Hüte gekauft hatte, und das Geschäft des Schneiders, bei dem sie zu einem Geburtstag ihres Vaters mehrere Frackhemden in Auftrag gegeben hatte. Dann kamen sie zu einem imposanten Gebäude, das, wie sie ihm erklärte, die Sinai Congregation beherbergte. »Hier habe ich donnerstags im Streichquartett gespielt, und an den Freitagabenden wurde Gottesdienst gehalten. Aber Joe und ich sind nicht hier getraut worden, sondern in der Kehilath Anshe Maarib Synagoge, deren prominentestes Mitglied Joes Tante Harriett war. Vor vier Jahren traten Joe und mehrere andere aus der Synagoge aus und gründeten die Sinai Congregation als Gemeinschaft des Reformierten Judaismus. Sie schafften eine Menge Rituale und Traditionen ab und verursachten damit einen großen Skandal. Tante Harriett war außer sich, aber ihr Groll hatte keinen dauerhaften Bruch zur Folge, und wir standen uns auch danach noch nahe. Als sie ein Jahr später starb, nannten wir Hattie nach ihr.«
Sie dirigierte den Kutscher zu einem Viertel mit kleinen hübschen Häusern, und in einer Straße namens Tyler Street deutete sie auf ein schindelgedecktes braunes Haus. »Da haben wir gewohnt.« Shaman erinnerte sich, wie sie früher ausgesehen hatte, und beugte sich vor, um sich das Mädchen von damals in diesem Haus vorzustellen.
Fünf Blocks weiter kamen sie zu einer Ansammlung von Geschäften. »Oh, wir müssen anhalten!« rief Rachel.
Sie stiegen aus und betraten einen Lebensmittelladen, in dem es nach Gewürzen duftete. Ein rotwangiger alter Mann mit einem weißen Bart und einer Statur wie Shaman kam auf sie zu und wischte sich strahlend die Hände an seiner Schürze ab.
»Mrs. Regensberg! Wie schön, Sie wiederzusehen!«
»Vielen Dank, Mr. Freudenthal. Ich freue mich auch, Sie wiederzusehen. Ich möchte meiner Mutter einige Dinge mitbringen.« Sie kaufte mehrere Sorten von geräuchertem Fisch, schwarze Oliven und ein großes Stück Mandelpastete. Der Lebensmittelhändler musterte Shaman mit einem prüfenden Blick. »Ehr is nit ah yiddischeh«, bemerkte er zu ihr.
»Nein«, bestätigte sie und setzte hinzu, als habe sie das Gefühl, eine Erklärung abgeben zu müssen: »Ehr is ein guteh Freint.« Ohne die Sprache zu verstehen, begriff Shaman, was gesagt worden war. Für einen Augenblick fühlte er sich gekränkt, doch gleich darauf erkannte er, dass die Frage des alten Mannes zu ihrem Leben gehörte wie Hattie und Joshua. Als er und Rachel noch Kinder gewesen waren, hatten solche Unterschiede keine Rolle gespielt, doch jetzt waren sie beide erwachsen und mussten ihnen ins Gesicht sehen. Und so lächelte er den Lebensmittelhändler, der ihm die Tüten in die Hand drückte, freundlich an. »Auf Wiedersehen, Mr.
Freudenthal!« sagte er und folgte Rachel aus dem Laden.
Sie brachten die Einkäufe ins Hotel. Es war inzwischen Zeit fürs Abendessen, und Shaman schlug vor, es im Hotel einzunehmen, doch Rachel erklärte, sie wisse ein besseres Lokal, und brachte ihn in ein kleines Restaurant, das Parkman Cafe hieß und das sie bequem zu Fuß erreichen konnten. Es war schlicht und nicht zu teuer, aber Essen und Bedienung waren gut. Als er sie nach der Mahlzeit fragte, was sie als nächstes unternehmen wolle, schlug sie einen Spaziergang am Michigansee vor.
Eine frische Brise kam vom Wasser herein, doch die Luft war sommerlich warm. Helle Sterne und die fast runde Scheibe des Mondes standen am Himmel, doch das Licht reichte nicht aus, um ihren Mund zu sehen, und so sprachen sie nicht. Bei einer anderen Frau hätte ihn das mit Unbehagen erfüllt, doch er wusste, dass Rachel sein Schweigen als selbstverständlich nahm, wenn es dunkel war.
Sie gingen den Uferweg entlang, bis Rachel unter einer Straßenlaterne stehenblieb und nach vorne auf eine gelbe Lichtquelle deutete. »Ich höre eine verrückte, lustige Musik!«
Als sie den erleuchteten Platz erreichten, bot sich ihnen ein merkwürdiger Anblick: eine geräumige runde Plattform, so groß wie der Melkplatz in einem Stall, auf der bemalte Holztiere befestigt waren; neben einer großen Kurbel stand ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht.
»Ist das eine Drehorgel?« fragte Rachel.
»Non, das ist un carrousel. Man sucht sich ein Tier aus und reitet darauf. Tres dröle, tresplaisant«, erklärte der Mann. »Eine Fahrt kostet zwanzig Cent, mein Harr.«
Shaman setzte sich auf einen Braunbären, Rachel wählte ein leuchtendrotes Pferd. Der Franzose drehte ächzend die Kurbel, und sofort setzte sich das Karussell in Bewegung.
In der Mitte hing an einem Pfosten ein Messingring, unter dem ein Schild angebracht war, worauf stand, dass jeder mit einer Freifahrt belohnt werde, der den Ring zu fassen bekomme, während er auf einem Tier sitze.
Zweifellos war er für die meisten Fahrgäste außer Reichweite, doch Shaman streckte sich, so weit er konnte. Als der Franzose sah, dass er versuchte, den Ring zu fassen, drehte er die Kurbel schneller, worauf auch das Karussell rascher lief, doch beim zweiten Versuch erwischte Shaman den Ring. Er gewann mehrere Freifahrten für Rachel.
Nach kurzer Zeit wurde der Karussellbesitzer müde, und Shaman stieg von seinem Braunbären und übernahm die Kurbel. Er drehte schneller und schneller, und das rote Pferd wechselte von Trab in Galopp. Rachel warf den Kopf zurück und kreischte vor Vergnügen wie ein Kind, wenn sie an ihm vorbeikam. Ihre weißen Zähne blitzten, doch ihr Reiz hatte nichts Kindliches. Nicht nur Shaman war bezaubert, auch der Franzose musterte sie verstohlen-fasziniert. »Sie sind die letzten clients für 1864«, sagte er. »Für diese Saison ist fini. Bald kommt die Kälte.«
Rachel blieb zwölf Fahrten lang auf dem roten Pferd sitzen. Der Franzose wurde allmählich ungeduldig. Shaman gab ihm zum Fahrpreis ein großzügiges Trinkgeld, und der Mann schenkte Rachel einen weißen Glaskrug, auf dem ein gemalter Rosenstrauch prangte. Windzerzaust und lachend kehrten sie ins Hotel zurück. »Ich fand es herrlich«, sagte sie vor der Tür zu Zimmer Nummer 306. »Ich auch.« Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, hatte sie ihn leicht auf die Wange geküsst und die Tür hinter sich geschlossen. Eine Stunde lang lag er angekleidet auf seinem Bett. Dann stand er auf und ging in den dritten Stock hinunter. Es dauerte ein Weilchen, bis sie auf sein Klopfen reagierte. Schon hatte ihn der Mut verlassen, und er wollte gerade wieder gehen, als die Tür endlich aufging und Rachel im Nachthemd vor ihm stand. Lange sahen sie einander an. »Kommst du rein, oder soll ich rauskommen?« fragte sie schließlich. Er sah, dass sie nervös war.
Er trat ins Zimmer und schloss die Tür. »Rachel...« begann er.
Doch sie legte ihm die Hand auf den Mund. »Als ich ein junges Mädchen war, ging ich oft den Langen Weg und machte an einer Stelle halt, wo der Wald sich bis zum Fluss hinunterzieht, direkt an der Grenze zwischen unserem und eurem Land. Ich sagte mir, du würdest schnell erwachsen werden und dort ein Haus bauen und mich davor bewahren, einen alten Mann mit schlechten Zähnen heiraten zu müssen. Ich stellte mir unsere Kinder vor, einen Sohn wie dich und drei Töchter, mit denen du liebevoll und geduldig umgehen und ihnen erlauben würdest, die Schule zu besuchen und so lange zu Hause zu wohnen, bis sie bereit wären, zu gehen.«
»Ich habe dich immer geliebt.«
»Ich weiß«, antwortete sie, und als er sie küsste, fingerte sie an seinen Hemdknöpfen herum.
Sie ließen die Lampe brennen, damit sie einander sehen und miteinander sprechen konnten.
Nachdem sie sich geliebt hatten, schlief sie ein wie eine zufriedene Katze, und er lag da und sah ihr beim Atmen zu. Nach einer Weile wachte sie wieder auf, und ihre Augen leuchteten, als sie ihn sah. »Auch als ich Joes Frau war... sogar als ich schon Mutter war, träumte ich von dir.«
»Ich habe das irgendwie gespürt. Und das hat alles noch schlimmer gemacht.«
»Ich fürchte mich, Shaman.«
»Wovor?«
»Jahrelang habe ich die Hoffnung auf dich tief in mir begraben... Weißt du, was eine orthodoxe Familie tut, wenn ein Mitglied jemanden anderen Glaubens heiratet? Sie verhängen die Spiegel mit Tüchern, ziehen Trauerkleidung an und sprechen die Totengebete.«
»Keine Angst! Wir werden mit ihnen reden, bis sie es verstehen.«
»Und wenn sie es nie verstehen?«
Auch er fühlte Unbehagen und Furcht, doch er musste sich mit dieser Frage auseinandersetzen. »Wenn das der Fall ist, wirst du eine Entscheidung treffen müssen.« Sie sahen einander an.
»Keine Resignation mehr - bei uns beiden nicht, richtig?« Rachel lächelte wieder.
»Richtig.«
Sie begriffen, dass sie ein Bekenntnis füreinander abgelegt hatten, das ernster war als jeder Schwur, und sie umarmten sich und klammerten sich aneinander, als sei der andere ein Rettungsanker.
Im Zug auf der Fahrt nach Westen sprachen sie am nächsten Tag über ihre Zukunft.
»Ich werde Zeit brauchen«, sagte Rachel.
Als er sie fragte, wieviel Zeit, sagte sie, sie wolle es ihrem Vater persönlich mitteilen, nicht in einem geschmuggelten Brief. »Das dürfte nicht mehr lange dauern. Alle meinen, dass der Krieg bald vorbei sein wird.«
»Ich habe so lange auf dich gewartet, da kann ich jetzt auch noch länger warten«, antwortete er. »Aber ich bin nicht bereit, mich heimlich mit dir zu treffen. Ich möchte dich zu Hause besuchen können und etwas mit dir unternehmen. Und ich möchte viel Zeit mit Hattie und Joshua verbringen, um sie richtig kennenzulernen.«
Rachel nickte lächelnd und nahm seine Hand.
In Rock Island wurde sie von Lillian abgeholt. Shaman stieg schon in Moline aus und holte sein Pferd aus dem Mietstall. Dann ritt er dreißig Meilen Flussaufwärts und nahm die Fähre über den Mississippi nach Clinton in Iowa. Die Nacht verbrachte er im Randall Hotel in einem schönen Zimmer mit einer Kamineinfassung aus Marmor und fließend warmem und kaltem Wasser. Das Hotel besaß einen eindrucksvollen fünfstöckigen Toilettenturm, der von allen Etagen aus zugänglich war. Als Shaman am nächsten Tag das Inman Hospital aufsuchte, um sich dort umzusehen, erlebte er eine Enttäuschung. Es war ein kleines Krankenhaus wie das für Holden’s Crossing geplante, aber schmuddelig und schlecht geführt: eine Lektion, wie man es nicht machen durfte. Shaman verließ das Inman Hospital sehr schnell wieder und gab dem Kapitän eines Flachbootes Geld, damit er ihn und Boss Flussabwärts nach Rock Island brachte.
Auf dem Ritt nach Holden’s Crossing begann ein kalter Regen zu fallen, doch die Gedanken an Rachel und ihre gemeinsame Zukunft hielten Shaman warm.
Als er endlich zu Hause angekommen war und sein Pferd versorgt hatte, ging er in die Küche, wo seine Mutter aufrecht und kerzengerade auf ihrem Stuhl saß; offensichtlich hatte sie ungeduldig auf seine Rückkehr gewartet.
Sobald er eintrat, sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus: »Dein Bruder lebt. Er ist in Kriegsgefangenschaft«, sagte sie.
Ein Telegramm
Am Tag zuvor hatte Lillian Geiger von ihrem Mann einen Brief erhalten. Jason schrieb, dass er den Namen eines Corporal Alexander Bledsoe auf einer Liste konföderierter Kriegsgefangener gesehen habe. Er sei am 11.November 1862 in Perryville, Kentucky, von den Truppen der Union gefangengenommen worden. »Deshalb hat man in Washington nicht geantwortet, als wir anfragten, ob sie einen Gefangenen namens Alexander Cole hätten«, sagte Sarah. »Er hat den Namen meines ersten Mannes benutzt.« Shaman freute sich sehr. »Wenigstens können wir hoffen, dass er noch am Leben ist! Ich werde gleich schreiben und versuchen herauszufinden, wo sie ihn gefangenhalten.«
»Das würde Monate dauern. Wenn er noch am Leben ist, dann ist er schon fast drei Jahre lang Gefangener. Jason schreibt, dass die Gefangenenlager auf beiden Seiten der Front entsetzlich sind. Er meint, wir sollten versuchen, Alex so schnell wie möglich zu holen.«
»Dann fahre ich selber nach Washington.«
Aber seine Mutter schüttelte den Kopf. »Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Nick Holden nach Rock Island und Holden’s Crossing kommt, um für Lincolns Wiederwahl zu werben. Du gehst zu ihm und bittest ihn, uns bei der Suche nach deinem Bruder zu helfen.« Shaman war verwundert. »Warum sollten wir uns an Nick Holden wenden statt an unseren Kongressabgeordneten oder Senator? Pa hat Holden verachtet, weil er an der Vernichtung der Sauks beteiligt war.«
»Nick Holden ist wahrscheinlich Alex’ Vater«, erwiderte sie ruhig.
Einige Augenblicke lang brachte Shaman vor Überraschung kein Wort heraus. »Ich habe immer geglaubt... das heißt, Alex glaubt, dass sein leiblicher Vater ein Mann namens Will Mosby ist.« Seine Mutter sah ihn an. Sie war sehr blass, doch ihre Augen waren trocken. »Ich war siebzehn Jahre alt, als mein erster Mann starb. Ich war ganz allein in einer Hütte mitten in der Prärie, auf dem Land, das jetzt zur Schroeder-Farm gehört. Ich habe versucht, den Besitz alleine zu bewirtschaften, aber ich hatte einfach nicht die Kraft dazu. Das Land hat mich kaputtgemacht. Ich hatte kein Geld. Eine Anstellung bekam ich nirgends, es gab ja damals noch kaum Leute in der Gegend. Will Mosby ist als erster zu mir gekommen. Er war ein Gauner und immer lange Zeit verschwunden, aber wenn er kam, hatte er immer eine Menge Geld. Und dann ist Nick aufgekreuzt. Sie waren beide attraktive, charmante Männer. Am Anfang habe ich geglaubt, dass keiner vom anderen etwas weiß, aber als ich dann schwanger wurde, hat sich gezeigt, dass beide Bescheid wussten, und jeder hat behauptet, der andere sei der Vater.«
Shaman hatte Mühe, etwas zu erwidern. »Haben sie dir denn überhaupt nicht geholfen?«
Sie lächelte dünn. »Gemerkt habe ich auf jeden Fall nichts davon. Ich glaube, Will Mosby hat mich geliebt, und er hätte mich wahrscheinlich irgendwann einmal auch geheiratet, aber er hat ein gefährliches, riskantes Leben geführt und ist genau damals getötet worden. Nick ließ sich nicht mehr sehen, obwohl ich mir schon damals ziemlich sicher war, dass er Alex’ Vater ist. Alma und Gus waren inzwischen hier und hatten mein Land übernommen, und ich glaube, er hat gewusst, dass die Schroeders mich durchfüttern würden.« Sarah schien nachzudenken. »Bei der Niederkunft war Alma dabei, aber in einem Ernstfall dreht die Arme ja immer durch, und ich musste ihr fast bei jedem Handgriff sagen, was sie tun solle. Nach Alex’ Geburt hatte ich ein paar sehr schlimme Jahre. Zuerst machten die Nerven nicht mehr mit, dann der Magen, und das führte zu den Blasensteinen.« Sie schüttelte den Kopf. »Dein Vater hat mir das Leben gerettet. Bis ich ihn kennenlernte, habe ich nicht geglaubt, dass es so etwas wie einen liebenswürdigen, gütigen Mann überhaupt gibt. Das Schlimme war, ich hatte gesündigt. Als du dein Gehör verloren hast, wusste ich, dass ich bestraft wurde und dass es meine Schuld war, und ich habe mich kaum in deine Nähe getraut. Ich habe dich so sehr geliebt, aber ich hatte doch ein solch schlechtes Gewissen.« Sie strich ihm über das Gesicht. »Es tut mit leid, dass du eine so schwache und sündige Mutter gehabt hast.«
Shaman nahm ihre Hand. »Nein, du bist nicht schwach und sündig. Du bist eine starke Frau, die wirklichen Mut brauchte, nur um zu überleben. Und was das angeht, es war auch sehr mutig von dir, mir diese Geschichte überhaupt zu erzählen. Für meine Taubheit kannst du nichts, Ma. Gott will dich nicht bestrafen. Ich war noch nie so stolz auf dich wie jetzt, und ich habe dich noch nie so geliebt.«
»Danke, Shaman!« sagte sie, und als er sie küsste, war ihre Wange nass.
Fünf Tage vor Nick Holdens geplanter Rede in Rock Island gab Shaman dem Vorsitzenden des Republikanischen Komitees einen Brief für ihn. Darin hieß es, dass Dr. Robert Jefferson Cole den Kommissar Holden in einer äußerst dringenden, wichtigen Angelegenheit um eine Unterredung bitte.
Am Tag des ersten Wahlkampfauftritts ging Shaman zu Nicks großem Holzhaus in Holden’s Crossing, wo ein Sekretär ihn empfing und nickte, als er seinen Namen hörte.
»Der Kommissar erwartet Sie«, sagte der Mann und führte Shaman ins Büro.
Holden hatte sich verändert, seit Shaman ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er war jetzt stämmig, die grauen Haare wurden immer lichter, und rote Äderchen überzogen seine Wangen, aber er war noch immer ein gutaussehender Mann, der seine Selbstsicherheit wie einen gutgeschnittenen Anzug trug.
»Mein Gott, Sie sind der Kleine, der jüngere Sohn, nicht? Und jetzt sind Sie Arzt. Ich freu’ mich wirklich, Sie zu sehen. Wissen Sie was? Ich brauch’ mal wieder ‘ne vernünftige ländliche Mahlzeit. Sie begleiten mich zu Anna Wileys Restaurant, und ich spendier’ Ihnen ein richtiges Holden’s-Crossing-Essen.«
Shamans Erinnerung an das Tagebuch seines Vaters war noch so frisch, dass er Nick mit Rob J. Coles Augen sah, und so hätte er alles andere lieber getan, als mit ihm das Brot zu brechen. Aber er wusste, warum er hier war, und ließ deshalb die Fahrt in Nicks Kutsche zum Restaurant an der Hauptstraße über sich ergehen.
Natürlich mussten sie unterwegs an der Gemischtwarenhandlung anhalten, wo Nick - ganz der kluge Politiker, der er war - allen Männern auf der Veranda die Hand schüttelte und dafür sorgte, dass jeder »meinen guten Freund, den Doktor« kennenlernte.
Im Restaurant machte Anna Wiley viel Wirbel um die beiden, und Shaman kam in den Genuss ihres Schmorbratens, der gut war, und ihres Apfelkuchens, der ziemlich durchschnittlich war. Und schließlich kam er dazu, Nick Holden von Alex zu erzählen. Holden hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, und nickte dann. »Seit drei Jahren ist er also schon gefangen?«
»Ja, Sir. Wenn er noch am Leben ist.« Nick zog eine Zigarre aus der Innentasche seiner Jacke und bot sie Shaman an. Als der sie ablehnte, biss er das Ende ab, zündete sie sich selbst an und blies nachdenklich den Rauch in Shamans Richtung. »Warum sind Sie zu mir gekommen?«
»Meine Mutter meinte, es würde Sie interessieren«, antwortete Shaman.
Holden sah ihn an und nickte. Dann lächelte er. »Ihr Vater und ich... Wissen Sie, als junge Männer waren wir dicke Freunde. Haben unseren Spaß gehabt, damals.«
»Ich weiß«, erwiderte Shaman knapp.
Offensichtlich brachte sein Ton Nick dazu, nicht weiter auf das Thema einzugehen. Er nickte noch einmal.
»Richten Sie Ihrer Mutter die besten Grüße von mir aus. Und sagen Sie ihr, dass ich mich persönlich um die Sache kümmern werde.«
Shaman dankte ihm. Doch als er wieder zu Hause war, schrieb er trotzdem an seinen Kongressabgeordneten und seinen Senator und bat die beiden um ihre Hilfe bei der Suche nach Alex.
Einige Tage nach ihrer Rückkehr aus Chicago sagten Shaman und Rachel ihren Müttern, dass sie beschlossen hatten zusammenzubleiben.
Sarah kniff die Lippen zusammen, als sie es hörte, doch sie nickte, ohne überrascht zu wirken. »Du wirst ihren Kindern ein guter Vater sein, so wie dein Pa Alex ein guter Vater war. Was ist, wenn du eigene Kinder hast -
wirst du sie taufen lassen?«
»Ich weiß es nicht, Ma. So weit sind wir noch nicht.«
»Ich würde mit ihr darüber reden, wenn ich du wäre.« Mehr hatte sie zu diesem Thema nicht zu sagen.
Rachel hatte weniger Glück. Sie und ihre Mutter stritten sich mehrere Male. Lillian war höflich zu Shaman, wenn er in ihr Haus kam, aber sie brachte ihm keine Herzlichkeit entgegen. Sooft es ihm möglich war, fuhr er mit Rachel und den Kindern aus, aber die Natur arbeitete gegen ihn, denn das Wetter wurde schlecht. So wie der Sommer früh und heiß und fast ohne vorhergehenden Frühling über das Land hereingebrochen war, kam auch der Winter in diesem Jahr vor der Zeit. Der Oktober war eiskalt. Shaman fand im Stall die Schlittschuhe seines Vaters; er kaufte den Kindern in Haskins Laden »Doppelkufen« und ging mit ihnen zum Eislaufen auf den gefrorenen Büffel-Sumpf, doch es war zu kalt für ein längeres Vergnügen. Es schneite am Tag der Wahl, bei der Lincoln mit großer Mehrheit wiedergewählt wurde, und am 18. des Monats fegte ein Schneesturm über Holden’s Crossing hinweg. Die weiße Decke, unter der er das Land begrub, sollte bis zum Frühjahr liegen bleiben.
»Hast du bemerkt, wie Alden zittert?« fragte seine Mutter eines Morgens Shaman.
Er hatte den Knecht schon eine ganze Weile beobachtet. »Er hat die Parkinsonsche Krankheit, Ma.«
»Was ist denn das?«
»Ich weiß nicht, was das Zittern verursacht, aber die Krankheit beeinträchtigt seine Muskelkontrolle.«
»Wird er daran sterben?«
»Manchmal verläuft die Krankheit tödlich, aber nicht sehr oft. Höchstwahrscheinlich wird sie langsam immer schlimmer werden. Vielleicht macht sie ihn zum Krüppel.«
Sarah nickte. »Die alte Haut wird langsam zu alt und zu krank, um die Farm zu leiten. Wir müssen uns überlegen, ob wir nicht Doug Penfield die Verantwortung übertragen und einen anderen als Aushilfe einstellen sollen. Können wir uns das leisten?«
Sie bezahlten Alden zweiundzwanzig Dollar im Monat und Doug Penfield zehn. Shaman rechnete es schnell durch und nickte dann. »Und was wird dann aus Alden?« fragte Sarah. »Na ja, er bleibt natürlich in seiner Hütte, und wir kümmern uns um ihn. Aber es wird schwierig werden, ihn zu überreden, die schwere Arbeit anderen zu überlassen.«
»Am besten, wir decken ihn mit Arbeit ein, die keine große Anstrengung verlangt«, sagte sie scharfsinnig, und Shaman nickte. »Ich glaube, da habe ich gleich etwas für ihn«, sagte er. An diesem Abend ging Shaman mit
»Rob J.s Skalpell« zu Alden. »Muss nachgeschliffen werden, was?« fragte Alden und nahm es ihm aus der Hand.
Shaman lächelte. »Nein, Alden, ich sorge selber dafür, dass es scharf bleibt. Es ist ein chirurgisches Messer, das seit Jahrhunderten im Besitz unserer Familie ist. Mein Vater hat mir erzählt, dass es im Haus seiner Mutter in einer kleinen Glasvitrine an der Wand hing. Ich habe mich gefragt, ob du mir ein solches Kästchen machen könntest.«
»Ich wüsst’ nicht, wieso nicht.« Alden drehte das Skalpell in der Hand hin und her. »Guter Stahl, das Ding.«
»Ja. Es lässt sich wunderbar schärfen.«
»Ich könnte dir auch ein solches Messer machen, falls du ein neues brauchst.«
Shaman horchte auf. »Würdest du das versuchen? Könntest du mir eins mit einer längeren und schmaleren Klinge machen als das da?«
»Dürfte kein Problem sein.« Shaman versuchte das Zittern seiner Hände zu übersehen, als Alden ihm das Messer zurückgab.
Es war sehr schwer, Rachel so nahe zu sein und doch so weit von ihr entfernt. Nirgends gab es einen Ort, wo sie sich lieben konnten. Sie stapften durch tiefen Schnee in den Wald, wo sie sich umarmten wie zwei Bären und eisige Küsse und dick gepolsterte Zärtlichkeiten austauschten. Shaman wurde launisch und mürrisch, und er bemerkte, dass Rachel dunkle Ringe unter ihren Augen hatte. Immer wenn er sie verließ, unternahm er ausgedehnte Spaziergänge. Eines Tages marschierte er den Kurzen Weg entlang und bemerkte, dass der Teil der Holzplatte auf Makwa-ikwas Grab, der aus dem Schnee herausragte, gesprungen war. Die runenähnlichen Zeichen, die sein Vater von Alden hatte ins Holz ritzen lassen, waren fast vollständig verwittert.
Er spürte Makwas Zorn aus der Erde und dem Schnee aufsteigen. Wieviel davon war Einbildung, wieviel sein schlechtes Gewissen? Ich habe getan, was ich kann. Was soll ich denn noch tun? Es gibt Wichtigeres in meinem Leben als die Tatsache, dass du keine Ruhe findest, sagte er gereizt im stillen zu ihr, drehte sich um und stapfte durch den Schnee zum Haus zurück.
An diesem Nachmittag ritt er zum Haus von Betty Cummings, die an heftigem Rheuma in beiden Schultern litt.
Er band sein Pferd an und wollte eben zur Hintertür gehen, als er im Schnee hinter dem Stall eine Doppelspur und eine Reihe eigenartiger Markierungen entdeckte. Er watete durch eine Schneeverwehung und ging bei den Spuren in die Knie, um sie zu untersuchen.
Die Markierungen waren dreieckige Löcher im Schnee. Sie waren durchschnittlich etwa fünfzehn Zentimeter tief, aber je nach Tiefe unterschiedlich im Durchmesser. Diese dreieckigen Wunden im Schnee waren blutlos, und es waren viel mehr als elf.
Er blieb auf den Knien und starrte sie an.
»Dr. Cole?« Mrs. Cummings war aus dem Haus gekommen und beugte sich mit besorgtem Gesicht über ihn. Sie sagte, die Löcher stammten von den Skistöcken ihres Sohnes. Er hatte sich Ski und Stöcke aus Hickoryholz gemacht und die Enden der Stöcke angespitzt.
Die Löcher waren zu groß.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Dr. Cole?« Sie fror und zog sich ihren Schal enger um die Schultern, und er schämte sich plötzlich, dass er eine rheumatische alte Frau in der Kälte stehenliess.
»Alles in bester Ordnung, Mrs. Cummings«, sagte er, stand auf und folgte ihr in die warme Küche.
Alden hatte für Rob J.s Skalpell ein wundervolles Kästchen aus Eichenholz geschreinert und zum Auskleiden von Sarah einen Rest hellblauen Samts erbeten. »Hab’ allerdings nirgends ein Stück altes Glas finden können.
Musste bei Haskin neues kaufen. Ich hoffe, das ist in Ordnung.«
»Das ist mehr als in Ordnung.« Shaman gefiel das Kästchen sehr. »Ich werde es in der Diele aufhängen«, sagte er.
Er freute sich noch mehr, als er das Skalpell sah, das Alden nach seinen Anweisungen angefertigt hatte.
»Ich hab’ es aus einem alten Brandeisen geschmiedet. Es ist noch genug guter Stahl für zwei oder drei solche Messer übrig, falls du welche brauchst.«
Shaman nahm Papier und Bleistift zur Hand und zeichnete eine Wundsonde sowie eine Amputationszange.
»Glaubst du, du kannst das auch machen?«
»Sicher doch.«
Shaman sah ihn nachdenklich an. »Wir werden hier bald ein Krankenhaus bekommen, Alden. Das bedeutet, wir werden Instrumente, Betten, Stühle, alles mögliche brauchen. Wie wär’s, wenn du dir jemanden suchst, der dir hilft, das alles zu machen?«
»Na ja, freuen würde mich das schon... Aber ich glaube nicht, dass ich die Zeit dafür aufbringen kann.«
»Da hast du natürlich recht. Aber mal angenommen, wir stellen jemanden ein, der sich zusammen mit Doug um die Farm kümmert, und du setzt dich nur ein paarmal pro Woche mit ihnen zusammen und sagst ihnen, was sie tun sollen?«
Alden dachte einen Augenblick nach und nickte dann. »Das könnte gehen.«
Shaman zögerte. »Alden... wie gut ist dein Gedächtnis?«
»So gut wie jedermanns, nehm’ ich mal an.«
»Dann erzähl mir mal so genau, wie du es noch weißt, wo an dem Tag, an dem Makwa-ikwa getötet wurde, jeder einzelne war!« Alden seufzte tief und verdrehte die Augen. »Das spukt dir also immer noch im Kopf herum.«
Doch mit ein wenig gutem Zureden brachte Shaman ihn zum Erzählen.
»Na, dann fangen wir mal mit dir an: Du hast in dem Wäldchen geschlafen, soweit ich weiß. Dein Pa war unterwegs zu Hausbesuchen. Ich war bei Paul Gruber und hab’ ihm beim Schlachten geholfen, weil er uns seine Ochsen zum Mistausfahren geliehen hat... Mal sehen, wer ist dann noch übrig?«
»Alex, meine Mutter, Mond und Der singend einhergeht.«
»Also, Alex war irgendwo unterwegs, beim Fischen oder Spielen, was weiß ich. Deine Mutter und Mond... jetzt weiß ich’s wieder, die haben das Kühlhaus geputzt, weil wir anschließend selber schlachten und das Fleisch drin aufhängen wollten. Der große Indianer hat bei der Schafherde gearbeitet und später im Wald.« Er strahlte Shaman an. »Nicht schlecht, mein Gedächtnis, was?«
»Es war doch Jason, der Makwa gefunden hat. Was hat der an diesem Tag gemacht?«
Alden sah ihn entrüstet an. »Woher soll ich denn das wissen? Wenn du wissen willst, was Geiger gemacht hat, musst du schon seine Frau fragen.«
Shaman nickte. »Ich glaube, das werde ich auch tun«, sagte er. Doch kaum war er wieder im Haus, war dieser Gedanke wie weggeblasen, denn seine Mutter sagte ihm, dass Carroll Wilkenson vom Telegrafenamt in Rock Island eine Nachricht für ihn mitgebracht habe. Seine Finger zitterten so heftig wie die Aldens, als er den Umschlag aufriss.
Die Nachricht war knapp und geschäftsmäßig:
Corporal Alexander Bledsoe,28. Louisiana Mounted Rifles, gegenwärtig als Kriegsgefangener interniert im Gefangenenlager Elmira, Elmira, New York. Bitte wenden Sie sich an mich, wenn ich Ihnen anderweitig behilflich sein kann. Viel Glück!
Nicholas Holden, Kommissar für Indianerangelegenheiten
Das Gefangenenlager in Elmira
In seinem Büro las Bankdirektor Charlie Andreson den Betrag auf dem Abhebungsformular und spitzte die Lippen. Obwohl es Shamans eigenes Geld war, das er abheben wollte, nannte er Andreson ohne Zögern den Grund für die Entnahme, denn er wusste, dass er sich dem Direktor anvertrauen konnte. »Ich habe keine Ahnung, was Alex alles brauchen wird. Aber was es auch ist, ich werde eine Menge Geld brauchen, um ihm zu helfen.« Andreson nickte und verließ sein Büro. Einige Minuten später kam er mit einem Bündel Scheine in einem kleinen Leinensäckchen zurück. In der anderen Hand hatte er einen Geldgurt, den er Shaman gab. »Ein kleines Geschenk der Bank für einen geschätzten Stammkunden. Zusammen mit unseren aufrichtigen Glückwünschen und einem Rat, wenn Sie gestatten. Bewahren Sie das Geld in dem Gurt auf, und tragen Sie ihn unter der Kleidung auf der Haut! Haben Sie eine Pistole?«
»Nein.«
»Sie sollten sich eine kaufen. Sie haben eine weite Reise vor sich, und es laufen viele gefährliche Burschen herum, die Sie ohne Zögern töten würden, um an soviel Geld zu kommen.«
Shaman dankte dem Bankdirektor und steckte Geld und Gurt in die kleine Tasche, die er mitgebracht hatte. Er ritt noch die Hauptstraße entlang, als ihm einfiel, dass er doch eine Waffe besaß: den -44er Colt Texas Navy Revolver, den sein Vater einem toten Konföderierten abgenommen hatte, um sein Pferd zu töten, und den er aus dem Krieg mitgebracht hatte.
Normalerweise wäre Shaman nie auf den Gedanken gekommen, bewaffnet zu reisen, aber er wollte nicht riskieren, dass ihm auf dem Weg zu Alex irgend etwas in die Quere kam, und so wendete er sein Pferd und ritt zu Haskins Laden, wo er sich eine Schachtel Munition für den 44er kaufte. Die Patronen und der Revolver wogen schwer und nahmen viel Platz weg in dem Koffer, den er neben seiner Arzttasche als einziges Gepäck mitnahm, als er am folgenden Morgen Holden’s Crossing verließ.
Mit einem Dampfer fuhr er Flussabwärts bis nach Cairo und von dort aus mit der Eisenbahn weiter in den Osten.
Es war eine beschwerliche Reise, die vier Tage und vier Nächte dauerte. Der Schnee verschwand, als er Illinois verließ, nicht aber der Winter, und die eisige Kälte, die in den schaukelnden Eisenbahnwaggons herrschte, kroch Shaman in die Knochen. Er war müde und erschöpft, als er in Elmira ankam, doch er nahm sich nicht einmal die Zeit, zu baden und sich umzuziehen, bevor er sich auf die Suche nach Alex machte. Der unbändige Drang, sich davon zu überzeugen, dass sein Bruder noch am Leben war, trieb ihn vorwärts.
Am Droschkenstand vor dem Bahnhof ging er an einem Hansom vorbei und nahm statt dessen einen Buggy, damit er neben dem Kutscher sitzen und sehen konnte, was der sagte. Der Kutscher erzählte stolz, dass die Stadt bereits fünfzehntausend Einwohner zähle. Sie fuhren durch freundliche Straßen mit kleinen Einfamilienhäusern bis in die Außenbezirke und dann die Water Street hinunter und an einem Fluss entlang, den der Mann Chemung River nannte. Bald darauf kam ein hoher Bretterzaun in Sicht, der das Gefangenenlager umgab.
Der Kutscher war auch stolz auf dieses Schmuckstück der Stadt und hatte es wohl schon sehr oft erläutert. Er berichtete Shaman, dass der Zaun vier Meter hoch sei, aus »einheimischen Brettern« bestehe und über dreißig Morgen umschließe, auf denen zehntausend gefangene Konföderierte lebten. »Waren auch schon Zwölftausend Rebellen da drin«, sagte er.
Er wies besonders darauf hin, dass an der Außenseite der Wand, einen guten Meter unterhalb der Oberkante, ein Steg verlaufe, auf dem bewaffnete Wachen patrouillierten.
Sie fuhren die West Water Street hinunter, wo geschäftstüchtige Einheimische aus dem Lager einen Menschenzoo gemacht hatten: Ein dreistöckiger Holzturm, in dem eine Treppe zu einer mit einem Geländer umgebenen Aussichtsplattform führte, gestattete es jedem, der dafür fünfzehn Cent bezahlte, dem Treiben der Männer im Lager zuzusehen.
»Früher waren es zwei Türme. Und jede Menge Erfrischungsstände. Haben Kuchen, Kräcker, Erdnüsse, Limonade und Bier an die Leute verkauft, die den Gefangenen zugucken wollten. Aber die blöde Army hat sie geschlossen.«
»Schlimm.«
»Ja. Soll ich anhalten, damit Sie raufsteigen und sich die Sache ansehen können?«
Shaman schüttelte den Kopf. »Bitte, setzen Sie mich einfach am Haupteingang ab«, sagte er.
Ein sehr kriegerisch wirkender Schwarzer bewachte den Eingang. Anscheinend waren die meisten der Wachen dunkelhäutig. Shaman folgte einem ebenfalls schwarzen gemeinen Soldaten in eine Schreibstube, wo er sich einem Sergeanten vorstellte und um Erlaubnis bat, den Gefangenen Alexander Bledsoe zu besuchen. Der Sergeant beriet sich mit einem Leutnant, der in einem winzigen Büro hinter einem Schreibtisch saß, kam dann wieder heraus und murmelte, dass aus Washington ein Empfehlungsschreiben zugunsten von Dr. Cole vorliege, ein Umstand, der Shaman freundlicher über Nicholas Holden denken ließ.
»Besuchszeit höchstens neunzig Minuten.« Er erfuhr, dass der Gemeine ihn zu seinem Bruder im Zelt 8-C
führen werde, und er folgte dem Schwarzen über gefrorene Wurzeln tief in das Lager hinein. Wohin er auch sah, schlaffe, elende, schlecht gekleidete Gefangene. Er begriff sofort, dass sie alle halb verhungert waren. An einem umgestürzten Fass sah er zwei Männer stehen, die eine Ratte häuteten. Sie gingen an einer Anzahl niederer Holzbaracken vorbei. Hinter den Baracken standen Reihen von Zelten, und hinter den Zelten sah man einen langen, schmalen Teich, der offensichtlich als Abwassergrube benutzt wurde, denn je näher Shaman ihm kam, desto stärker wurde der Gestank.
Schließlich blieb der Schwarze vor einem Zelt stehen. »Das ist 8-C, Sir«, sagte er, und Shaman dankte ihm.
Im Inneren fand er drei ausgehungerte, frierende Männer. Er kannte sie nicht und befürchtete zunächst, dass einer von ihnen bloß ein Namensvetter von Alex sei und er aufgrund einer Verwechslung den langen Weg auf sich genommen habe. »Ich suche Corporal Alexander Bledsoe.«
Einer der Gefangenen, ein halber Junge noch, dessen dunkler Schnurrbart in seinem knochigen Gesicht viel zu groß wirkte, deutete auf etwas, das aussah wie ein Haufen Lumpen. Shaman ging vorsichtig darauf zu, als lauere ein wildes Tier unter dem schmutzigen Bündel, das aus zwei Futtersäcken, einem Stück Teppich und etwas, das früher einmal ein Mantel gewesen sein mochte, bestand. »Wir decken ihn wegen der Kälte bis übers Gesicht zu«, sagte der mit dem dunklen Schnurrbart, bückte sich und zog einen Futtersack beiseite. Es war sein Bruder, und doch auch wieder nicht. Auf der Straße wäre Shaman wahrscheinlich an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu erkennen, denn Alex hatte sich sehr verändert. Er war sehr dünn, und Erlebnisse, über die Shaman lieber nicht nachdachte, hatten tiefe Altersfurchen in sein Gesicht gegraben. Shaman nahm die Hand seines Bruders. Nach einer Weile öffnete Alex die Augen und starrte ihn an, ohne ihn zu erkennen.
»Bigger!« sagte Shaman, doch mehr brachte er nicht heraus. Alex blinzelte ihn verwundert an. Die Erkenntnis kroch in sein Gesicht wie eine Flutwelle, die langsam von einer wüsten Küste Besitz ergreift, und er begann zu weinen. »Ma und Pa?«
Es waren die ersten Worte, die Alex sagte, und Shaman log, ohne lange zu überlegen. »Sie sind beide wohlauf.«
Die Brüder saßen nebeneinander und hielten sich bei den Händen. Es gab so viel zu sagen, so viel zu fragen und zu erzählen, dass ihnen anfangs die Worte fehlten. Und als Shaman dann zu reden begann, merkte er, dass Alex nicht in der Lage war zuzuhören. Trotz seiner Aufregung nickte er immer wieder ein, und daran erkannte Shaman, wie krank sein Bruder war.
Er stellte sich den anderen vier Männern vor und erfuhr ihre Namen: Berry Womack aus Spartanburg in South Carolina, klein und eindringlich, mit langen, aschblonden Haaren; Fox J. Byrd aus Charlottesville in Virginia, der ein verschlafenes Gesicht und eine schlaffe Haut hatte, als sei er früher fett gewesen; James Joseph Waldron aus Van Buren in Arkansas, stämmig, dunkel und der Jüngste im Zelt, kaum älter als siebzehn, wie Shaman vermutete; und schließlich Barton O. Westmoreland aus Richmond in Virginia, der Junge mit dem großen Schnurrbart, der Shaman heftig die Hand schüttelte und ihn bat, ihn Buttons zu nennen.
Während Alex schlief, untersuchte Shaman ihn. Sein linker Fuß war nicht mehr da.
» ... Wurde er angeschossen?«
»Nein, Sir«, erwiderte Buttons. »Ich war dabei. Am 16. Juli letzten Jahres wurde ein ganzer Haufen von uns mit dem Zug aus einem Gefangenenlager in Maryland hierhergebracht. Ja, und in Pennsylvania kam es zu einem schrecklichen Zugunglück... in Sholola. Achtundvierzig Kumpel und siebzehn Wachen wurden getötet. Man hat sie einfach auf einem Feld neben den Schienen begraben wie nach einer Schlacht. Fünfundachtzig von uns waren verletzt. Alex’ Fuß war so zerquetscht, dass sie ihn abschneiden mussten. Ich hatte Glück, hatte mir nur die Schulter ausgerenkt.«
»Eine Zeitlang hat sich Ihr Bruder recht gut gehalten«, sagte Berry Womack. »Jimmie-Joe hat ihm Krücken gemacht, und er war recht geschickt mit ihnen. Er hat in unserem Zelt den Krankenpfleger gespielt und sich gut um uns alle gekümmert. Hätt’ Ihrem Vater ein bisschen was abgeschaut, hat er gesagt.«
»Wir nennen ihn deshalb Doc«, ergänzte Jimmie-Joe Waldron. Als Shaman Alex’ Bein anhob, sah er, dass hier die Ursache seiner Probleme steckte. Die Amputation war schlecht ausgeführt. Das Bein war zwar noch nicht brandig, aber die eine Hälfte des ausgefransten Stumpfes war nicht verheilt, und unter dem Narbengewebe des verheilten Teils hatte sich Eiter gesammelt.
»Sind Sie wirklich ein Doktor?« fragte Waldron, als er das Stethoskop sah. Shaman drückte Alex die Schallmuschel auf die Brust und war froh, aus den Angaben der Männer schließen zu können, dass die Lunge frei war. Aber Alex hatte Fieber, sein Puls war schwach und fadenförmig.
»Hier im Lager gibt’s alle möglichen Seuchen, Sir«, sagte Buttons. »Pocken, verschiedene Fieber, Malaria und Schüttelfrost. Was glauben Sie, was ihm fehlt?«
»Sein Bein stirbt ab«, erwiderte Shaman seufzend. Es war offensichtlich, dass Alex darüber hinaus an Unterernährung und Unterkühlung litt wie die anderen Männer im Zelt auch. Sie erzählten Shaman, dass einige Zelte Blechöfen und Decken hätten, doch in den meisten gab es keins von beidem. »Was essen Sie?«
»Am Morgen bekommt jeder ein Stück Brot und ein kleines Stück schlechtes Fleisch«, sagte Buttons Westmoreland. »Am Abend bekommt jeder ein Stück Brot und eine Tasse mit einer Brühe, die sie Suppe nennen
- das Wasser, in dem das schlechte Fleisch gekocht wurde.«
»Kein Gemüse?«
Alle drei schüttelten den Kopf, doch er kannte die Antwort bereits. Schon beim Betreten des Lagers hatte er überall die Anzeichen von Skorbut bemerkt.
»Als wir hier ankamen, waren wir zehntausend«, sagte Buttons. »Es kommen zwar immer neue Gefangene dazu, aber von den ersten zehntausend sind nur noch fünftausend übrig. Die Leichenhalle ist immer überfüllt, und gleich hinter dem Lager ist ein riesiger Friedhof. Jeden Tag sterben an die fünfundzwanzig Männer.« Shaman setzte sich auf den kalten Boden, hielt Alex’ Hände und betrachtete sein Gesicht. Alex schlief weiter, einen ungesunden tiefen Schlaf.
Augenblicke später streckte die Wache den Kopf durch die Zeltluke und sagte, die Besuchszeit sei vorüber.
In der Schreibstube hörte der Sergeant teilnahmslos zu, als Shaman sich als Arzt auswies und ihm die Symptome seines Bruders schilderte. »Ich hätte gern die Erlaubnis, ihn mit nach Hause zu nehmen. Wenn er hier bleiben muss, stirbt er.«
Der Sergeant stöberte in einem Karteikasten, zog eine Karte heraus und las sie. »Ihr Bruder hat keinen Anspruch auf Strafaussetzung. Er hat hier den >Ingenieur< gespielt. So nennen wir einen Gefangenen, der versucht, einen Tunnel aus dem Lager zu graben.«
»Einen Tunnel!« rief Shaman verwundert. »Wie konnte er denn graben? Er hat doch nur noch einen Fuß.«
»Er hatte zwei Hände. Und bevor er hierherkam, ist er schon aus einem anderen Lager ausgebrochen, ehe er wieder eingefangen wurde.«
Shaman versuchte es mit einem Appell an den gesunden Menschenverstand. »Hätten Sie das nicht auch versucht? Würde das nicht jeder vernünftige Mensch versuchen?«
Doch der Sergeant schüttelte nur den Kopf. »Wir haben unsere Vorschriften.«
»Darf ich ihm ein paar Sachen bringen?«
»Keine scharfen Gegenstände und nichts aus Metall.«
»Gibt es hier in der Nähe eine Pension?«
»Es gibt so ein Haus, acht Meilen westlich vom Haupttor, die vermieten Zimmer«, erwiderte der Sergeant.
Shaman dankte ihm und nahm sein Gepäck.
Sobald Shaman in seinem gemieteten Zimmer alleine war, nahm er einhundertfünfzig Dollar aus dem Geldgurt und steckte die Scheine in seine Rocktasche. Der Hausknecht war sofort bereit, den neuen Gast gegen ein Entgelt in die Stadt zu fahren. Im Telegraphenamt schickte Shaman eine Nachricht an Nick Holden in Washington: Alex schwer krank. Müssen für seine Freilassung sorgen, sonst stirbt er. Bitte, helfen Sie!
In einem Mietstall lieh er sich ein Pferd und einen Pritschenwagen. »Für ‘n Tag oder für die Woche?« fragte ihn der Stallbesitzer. Shaman mietete für die ganze Woche und zahlte im voraus. Die Gemischtwarenhandlung war größer als die der Haskins, und Shaman belud den Pritschenwagen mit Dingen für die Männer in Alex’ Zelt: Feuerholz, Decken, ein kochfertiges Huhn, eine frische Speckseite, sechs Laib Brot, zwei Scheffel Kartoffeln, einen Sack Zwiebeln, eine Kiste Kohlköpfe.
Der Sergeant riss erstaunt die Augen auf, als er die angekündigten »paar Sachen« sah, die Shaman für seinen Bruder gebracht hatte. »Die täglichen neunzig Minuten, die Ihnen zustehen, haben Sie schon aufgebraucht. Also laden Sie das Zeug ab, und verschwinden Sie!« Als Shaman vor dem Zelt anhielt, schlief Alex noch immer. Aber für die anderen war es wie Weihnachten in besseren Zeiten. Sie riefen ihre Nachbarn herbei, worauf Männer aus einem Dutzend Zelten kamen und Holz und Gemüse erhielten. Eigentlich hatte Shaman mit dem Proviant die Lage der Männer im Zelt 8-C verbessern wollen, doch die zogen es vor, fast alles, was er gebracht hatte, mit den anderen zu teilen.
»Haben Sie einen Topf?« fragte er Buttons.
»Ja, Sir!« Buttons präsentierte ihm eine große, zerbeulte Blechdose. »Kochen Sie eine Suppe aus Hühnerfleisch, Zwiebeln, Kohl, Kartoffeln und Brot. Ich verlasse mich auf Sie, dass sie ihm so viel heiße Suppe einflößen wie möglich.«
»Ja, Sir, das werden wir«, sagte Buttons.
Shaman zögerte. Eine beängstigende Menge der Nahrungsmittel war bereits verschwunden. »Morgen bringe ich noch mehr. Sie müssen versuchen, etwas für die Leute in diesem Zelt zurückzubehalten.« Westmoreland nickte melancholisch. Sie kannten beide die unausgesprochene Bedingung für diese Hilfslieferungen: dass zuerst und vor allem Alex versorgt wurde.
Immer wieder füllte der Vermieter Shamans Wasserglas nach und drängte ihn mit so vergnügter Stimme zu trinken, als biete er ihm Wein an. Das Wasser schmeckte gut, war aber ansonsten, soweit Shaman das beurteilen konnte, ganz gewöhnlich.
»Sogar die Quellen im Gefangenenlager haben ausgezeichnetes Wasser. War Ihr Bruder vielleicht in Maryland wie so viele hier in diesem Lager?« Shaman nickte.
»Dann wird er Ihnen erzählen, dass das Wasser in Maryland das reinste Gift war.«
Shaman konnte den Hinweis nicht unterdrücken, dass trotz des wunderbaren Wassers im Lager in Elmira viele Kriegsgefangene starben. Sein Vermieter nickte. »Von Wasser alleine wird man nicht satt. Die Regierung kümmert sich vor allem um die Kriegführung, nicht um die Ernährung der Gefangenen.« Er seufzte und vertraute Dr. Cole an, es sei allgemein bekannt, dass der Lagerarzt ein trauriges Beispiel für den Berufsstand und besessen von Dämonen sei, die ihn dazu verführten, einen Großteil der Betäubungsmittel, die die Regierung für seine Patienten bereitstelle, selbst zu konsumieren. »Sie müssen versuchen, Ihren Bruder so schnell wie möglich da rauszubekommen!«
Als Shaman am nächsten Morgen ins Zelt kam, schlief Alex, und Jimmie-Joe hielt Wache an seinem Lager.
Jimmie-Joe sagte, Alex habe eine gute Portion Suppe zu sich genommen.
Als Shaman die Decken zurechtstrich, fuhr Alex erschrocken auf, und Shaman klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Ist schon gut, Bigger. Bin doch nur ich, dein Bruder.«
Alex schloss wieder die Augen, doch kurz darauf begann er zu sprechen. »Ist der alte Alden noch am Leben?«
»Ja, freilich.«
»Gut!« Alex schlug die Augen auf, und sein Blick fiel auf das Stethoskop, das aus der Arzttasche herausragte.
»Was machst du mit Pas Tasche?«
»Hab’ sie mir nur ausgeliehen«, erwiderte Shaman heiser. »Ich bin jetzt selber Arzt.«
»Bist du nicht!« sagte Alex, als wären sie noch Kinder, die sich Lügengeschichten auftischen.
»Bin ich doch«, erwiderte Shaman, und die beiden lächelten sich an, bevor Alex wieder in tiefen Schlaf sank.
Shaman maß Alex den Puls, und der gefiel ihm ganz und gar nicht, aber im Augenblick konnte er nichts dagegen tun. Alex war ungewaschen und stank am ganzen Körper, doch als Shaman den Stumpf aufdeckte und sich darüberbeugte, um ihn zu riechen, verließ ihn der Mut. Die Lehrjahre bei seinem Vater und dann bei Lester Berwyn und Barnett McGowan hatten ihn gelehrt, dass nichts Gutes an dem war, was weniger aufgeklärte Ärzte als »löblichen Eiter« begrüßten. Shaman wusste, dass Eiter in einem Schnitt oder einer Wunde oft den Beginn einer Blutvergiftung, einen Abszess oder den Brand anzeigte. Er wusste, was getan werden musste, aber er wusste auch, dass dies im Gefangenenlager nicht getan werden konnte.
Er deckte seinen Bruder mit zwei der neuen Decken zu, hielt dann seine Hände und betrachtete sein Gesicht.
Als der Soldat Shaman nach eineinhalb Stunden aus dem Lager warf, kutschierte er mit seinem Mietwagen auf der Straße entlang des Chemung Richtung Südosten. Das Land war hügeliger als Illinois und waldreicher. Etwa fünf Meilen außerhalb der Stadtgrenze stieß er auf eine Gemischtwarenhandlung, deren Schild verriet, dass der Eigentümer Barnard hieß. Shaman kaufte sich als Mittagessen einige Kräcker und ein Stück Käse und danach zwei Stücke von einem guten Apfelkuchen sowie zwei Tassen Kaffee. Als er den Besitzer nach Unterkunftsmöglichkeiten in der Umgebung fragte, verwies ihn der Mann an eine Mrs. Pauline Clay, die am Rand des etwa eine Meile entfernten Dorfes Wellsburg ein Haus besaß.
Das Haus war, wie sich zeigte, klein und ungetüncht und von Wald umgeben. Im Vorgarten standen vier Rosenbüsche, die gegen den Frost mit Mehlsäcken umwickelt und verschnürt waren. Auf einem kleinen Schild am Zaun stand: Zimmer zu vermieten. Mrs. Clay war eine Frau mit offenem, freundlichem Gesicht. Sie zeigte Mitgefühl, als Shaman von seinem Bruder erzählte, und führte ihn dann durchs Haus. Das Wort »Zimmer« auf dem Schild meinte den Singular, denn sie hatte nur ein Zimmer zu vermieten. »Ihr Bruder könnte das Gästezimmer haben und Sie meins. Ich schlafe oft auf der Couch«, sagte sie.
Sie war deutlich bestürzt, als er ihr sagte, er wolle das ganze Haus mieten.
»Oh, ich fürchte...« Doch dann riss sie überrascht die Augen auf, als er ihr sagte, was er zu zahlen bereit sei. Sie gestand ihm freimütig, dass eine Witwe, die seit Jahren ums nackte Überleben kämpfe, ein solch großzügiges Angebot nicht ausschlagen könne, und wollte zu ihrer Schwester ins Dorf ziehen, solange die Coles in ihrem Haus wohnten. Shaman fuhr noch einmal zu Barnard und belud den Wagen mit Proviant und anderen Dingen, und während er die Sachen ins Haus schaffte, zog Mrs. Clay aus.
Am folgenden Morgen war der Sergeant mürrisch und ausgesprochen kühl, aber offensichtlich war eine Anweisung von Nick Holden gekommen oder vielleicht auch von einem seiner Freunde. Der Sergeant gab Shaman ein bedrucktes Blatt Papier, eine formelle Ehrenerklärung, in der Alex als Gegenleistung für seine Freilassung versprechen musste, »nie wieder gegen die United States Army Waffen zu tragen«.
»Lassen Sie Ihren Bruder das unterschreiben, dann können Sie ihn mitnehmen.«
Shaman hatte seine Zweifel. »Vielleicht ist er nicht kräftig genug, um das zu unterschreiben.«
»Die Vorschrift verlangt, dass er diese Ehrenerklärung abgeben muss, sonst wird er nicht entlassen. Mir ist es gleichgültig, wie krank er ist. Wenn er nicht unterschreibt, geht er nicht.«
Also brachte Shaman Tinte und eine Feder zum Zelt 8-C und unterhielt sich leise mit Buttons vor dem Eingang.
»Glauben Sie, dass Alex das Ding unterschreibt?«
Westmoreland kratzte sich am Kinn. »Na ja, einige sind bereit, es zu unterschreiben, nur um hier rauszukommen.
Andere freilich betrachten es als Schande. Ich weiß nicht, wie Ihr Bruder darüber denkt.« Die Kiste, in der er die Kohlköpfe gebracht hatte, stand neben dem Zelt auf dem Boden. Shaman drehte sie um, legte das Formular darauf und öffnete den Stöpsel des Tintenfässchens. Dann tauchte er die Feder ein und schrieb schnell auf den unteren Rand des Blattes: Alexander Bledsoe.
Buttons nickte zustimmend. »Recht so, Dr. Cole. Sehen Sie zu, dass Sie ihn aus diesem Dreckloch rausbringen!«
Shaman forderte Alex’ Zeltgenossen auf, Namen und Adresse ihrer Angehörigen auf ein Blatt Papier zu schreiben, und er versprach, den Familien die Nachricht zukommen zu lassen, dass die Männer noch am Leben seien.
»Glauben Sie, dass Sie die Briefe durch die Fronten bringen können?« fragte Buttons Westmoreland.
»Wenn ich erst wieder zu Hause bin, schon, glaube ich!«
Shaman beeilte sich. Er gab die Ehrenerklärung beim Sergeanten ab und eilte dann in die Pension, um seinen Koffer zu holen. Er bezahlte den Hausknecht, damit der den Pritschenwagen mit lockerem Stroh auspolsterte, und fuhr dann ins Lager zurück. Ein Sergeant und ein schwarzer Gemeiner überwachten die Zeltgenossen, die Alex auf den Wagen luden und ihn mit Decken zudeckten.
Die Männer von Zelt 8-C gaben Shaman die Hand und riefen Alex zum Abschied Glückwünsche zu: »Mach’s gut, Doc!« - »Lebwohl, alter Bledsoe!« - »Laß dich nicht unterkriegen!« - »Und werd’ wieder gesund!«
Alex, der während der ganzen Zeit die Augen nicht öffnete, zeigte keine Reaktion.
Der Sergeant gab den Befehl zum Aufbruch, und der Gemeine kletterte auf den Bock und nahm die Zügel.
Während er den Wagen zum Haupttor lenkte, musterte Shaman das dunkle, ernsthafte Gesicht, und auf einmal musste er lächeln, denn ihm war eine Stelle aus dem Tagebuch seines Vaters eingefallen.
»Jubilee day!«, sagte er, ein Freudentag! Der Soldat sah ihn zuerst überrascht an, dann lachte er und entblößte seine kräftigen weißen Zähne.
»Ich glaub’, so is’ es, Sir«, sagte er und übergab Shaman die Zügel.
Die Federung des Pritschenwagens war schlecht, und Alex wurde im Stroh hin und her geworfen. Er schrie vor Schmerz auf und stöhnte, als Shaman durch das Haupttor auf die Straße hinausfuhr. Das Pferd zog den Wagen geduldig am Aussichtsturm vorbei und entlang des hohen Holzzauns, der das Lager umgab. Vom Wachsteg aus sah ein Soldat mit einem Gewehr ihnen argwöhnisch nach. Shaman nahm das Pferd fest an die Kandare. Er konnte nicht schneller fahren, ohne Alex Schmerzen zuzufügen, aber er entschied sich auch deshalb für das gemächliche Tempo, weil er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. So unbegründet diese Angst auch sein mochte, so hatte er doch das Gefühl, dass der lange Arm der United States Army jeden Augenblick nach seinem Bruder greifen und ihn zurückholen könnte, und sein Atem ging erst wieder normal, als sie den Holzzaun des Gefangenenlagers und die Stadtgrenze von Elmira hinter sich gelassen hatten.
Das Haus in Wellsburg
Mrs. Clays Haus verströmte eine freundliche Atmosphäre. Es war sehr klein, so dass man nicht lange brauchte, um sich darin zurechtzufinden, und bald war es Shaman so vertraut, als hätte er schon viele Jahre darin gelebt. Er heizte kräftig ein, und der eiserne Feuerkasten im Herd glühte bald dunkelrot. Dann erhitzte er Wasser in Mrs.
Clays größten Kochtöpfen und goss es in die Badewanne, die er vor den Herd gestellt hatte. Als er Alex wie ein Baby in die Wanne setzte, weiteten sich dessen Augen vor Freude.
»Wie lange ist es her, dass du das letzte Mal richtig gebadet hast?« Alex schüttelte langsam den Kopf. Shaman wusste, es war schon so lange her, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Er wagte es nicht, Alex lange in der Wanne sitzen zu lassen, aus Angst, der Bruder könne sich erkälten, wenn das Wasser abkühlte. Also wusch er ihn sofort mit einem eingeseiften Lappen ab, wobei er versuchte, nicht darauf zu achten, dass Alex’
Rippen sich unter dem Lappen anfühlten wie ein Waschbrett, und er gab sich Mühe, das abgestorbene linke Bein so behutsam wie möglich zu behandeln.
Anschließend setzte er seinen Bruder auf eine Decke vor den Herd, trocknete ihn ab und zog ihm dann ein Flanellnachthemd über. Noch vor wenigen Jahren hätte er die größte Mühe gehabt, Alex die Treppe hinaufzutragen, doch Bigger hatte so viel Gewicht verloren, dass dies jetzt kein Problem mehr für ihn war.
Sobald er Alex im Gästezimmer ins Bett gelegt hatte, machte er sich an die Arbeit. Er wusste genau, was getan werden musste. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten, denn jede Verzögerung hätte die Gefahr nur vergrößert.
Er räumte die Küche bis auf den Tisch und einen Stuhl leer und verstaute die anderen Stühle und die Spülschüssel im Wohnzimmer. Dann bearbeitete er Wände, Boden, Decke, Tisch und Stuhl mit heißem Wasser und kräftiger Seife. Er wusch seine chirurgischen Instrumente und legte sie so auf dem Stuhl zurecht, dass er sie vom Tisch aus leicht erreichen konnte. Zum Abschluss schnitt er sich die Fingernägel und schrubbte sich die Hände.
Als er Alex dann wieder hinuntertrug und auf den Tisch legte, sah sein Bruder so verletzlich aus, dass ihn einen Augenblick lang der Mut verließ. Er hatte sich alles genau überlegt, bis auf diesen Teil: Das Chloroform lag bereit, aber er war sich nicht sicher, wieviel er benutzen sollte, da die Verletzung und die Unterernährung Alex stark geschwächt hatten.
»Was ist denn?« murmelte Alex benommen und verwirrt von dem Hinauf- und Hinuntergetragenwerden. »Tiefer atmen, Bigger!«
Er tröpfelte Chloroform auf die Maske und hielt sie Alex so lange vors Gesicht, wie er glaubte, es ohne Risiko tun zu können. Bitte, Gott, steh mir bei! dachte er.
»Alex! Kannst du mich hören?« Shaman kniff ihn in den Arm, schlug ihm leicht auf die Wange, doch sein Bruder schlief tief. Shaman brauchte nun nicht mehr nachzudenken oder zu planen. Er hatte das bereits lange getan. Er zwang jedes Gefühl aus seinem Bewusstsein und konzentrierte sich ganz auf die vor ihm liegende Aufgabe. Er wollte so viel wie möglich von dem Bein erhalten und gleichzeitig genug wegschneiden, um sicher sein zu können, dass alle infizierten Knochen und Gewebeteile entfernt waren.
Den ersten ringförmigen Schnitt setzte er fünfzehn Zentimeter unterhalb des Ansatzes der Achillessehne, wobei er darauf achtete, dass ein wohlproportionierter Hautlappen zur Abdeckung des späteren Stumpfes entstand.
Immer wieder hielt er beim Schneiden inne, um die große und die kleine Wadenvene, die Venen des Schienbeins und die übrigen Blutgefäße abzubinden. Das Schienbein durchsägte er gleichmäßig - wie ein Mann, der Feuerholz sägt. Abschließend durchtrennte er das Wadenbein. Jetzt war der infizierte Teil des Beins abgelöst -
eine saubere, ordentliche Arbeit.
Mit sauberen Binden legte Shaman einen festen Verband an, damit der Stumpf später eine gute Form bekäme.
Zum Abschluss küsste er seinen noch immer bewusstlosen Bruder und trug ihn wieder hinauf in sein Zimmer.
Eine Zeitlang saß er am Bett und beobachtete Alex, aber nichts sprach für irgendeine Komplikation: keine Übelkeit, kein Erbrechen, keine Äußerung von Schmerzen. Alex schlief wie ein Arbeiter, der seine Ruhe verdient hat.
Nach einer Weile wickelte Shaman das abgetrennte Beinstück in ein Handtuch und trug es zusammen mit einem Spaten, den er im Keller gefunden hatte, in das Waldstück hinter dem Haus. Dort versuchte er, es zu vergraben, doch der Boden war hart gefroren, und der Spaten schlitterte über die eisige Oberfläche. Schließlich suchte Shaman dürres Holz zusammen und schichtete einen Scheiterhaufen auf, um das Beinstück nach Wikingerart zu bestatten. Er legte den blutigen Klumpen auf den Stoß, bedeckte ihn mit Holz und spritzte ein wenig Lampenöl darüber. Als er ein Streichholz anriss und an das Holz hielt, loderte das Feuer sofort auf. An einen Baum gelehnt, stand er da und sah den Flammen zu, mit trockenen Augen, aber einem schrecklichen Gefühl im Herzen, denn er fragte sich, was für eine Welt das denn ist, in der ein Mann seinem eigenen Bruder das Bein abschneiden und es verbrennen muss.
Der Sergeant in der Schreibstube des Gefangenenlagers kannte sich aus in der Unteroffiziershierarchie der Region, und er wusste, dass dieser fette, tonnenförmige Sergeant-Major nicht in Elmira stationiert war.
Normalerweise hätte er einen Soldaten, der fremd war, aufgefordert, die Einheit zu nennen, zu der er gehörte.
Doch das Auftreten dieses Mannes und vor allem sein Blick verrieten deutlich, dass er hier war, um etwas zu erfahren - nicht, um Auskunft zu geben. Der Sergeant wusste zwar, dass ein Sergeant-Major kein Gott war, aber er wusste auch, dass solche Dienstränge die Armee am Laufen hielten. Diese geringe Anzahl von Männern im höchsten Unteroffiziersrang konnten einem Soldaten eine günstige Stationierung verschaffen oder für eine Strafversetzung in ein einsames Fort sorgen; sie konnten einen Mann in dienstliche Schwierigkeiten bringen oder ihm heraushelfen; sie konnten Karrieren fördern oder zerstören. In der Welt der Sergeanten war ein Sergeant-Major furchteinflößender als jeder Offizier- und er beeilte sich deshalb, ihm gefällig zu sein.
»Ja, Sir«, sagte er schneidig nach einem Blick in die Unterlagen. »Sie haben ihn um etwas mehr als einen Tag verpasst. Dieser Kerl ist wirklich krank. Hat nur noch ein Bein, wissen Sie. Sein Bruder ist Arzt, Cole heißt er.
Hat ihn gestern vormittag in einem Wagen weggebracht.«
»In welche Richtung sind sie gefahren?« Der Sergeant sah ihn an und hob die Schultern. Der Dicke brummte und spuckte auf den frisch geputzten Boden. Dann verließ er die Schreibstube, bestieg seine wundervolle braune Kavalleriestute und ritt durch das Haupttor aus dem Gefangenenlager. Ein Tag Vorsprung bedeutete nichts, wenn der Bruder einen Invaliden mit sich schleppte. Es gab nur eine einzige Straße, sie konnten also nur in die eine oder in die andere Richtung gefahren sein. Er entschied sich für die nordwestliche. Sooft er an einem Laden, einem Farmhaus oder einem anderen Reisenden vorbeikam, hielt er an und fragte nach den Fremden. Auf diese Art ließ er die Dörfer Horseheads und Big Fiats hinter sich. Doch wen er auch fragte, niemand hatte das Fuhrwerk gesehen, nach dem er suchte.
Der Sergeant-Major war ein erfahrener Schnüffler. Er wusste, wenn eine Spur so unergiebig ist, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um die falsche Fährte. Also wendete er sein Pferd und ritt in die andere Richtung. Er ritt am Gefangenenlager vorbei und durch die Stadt Elmira. Zwei Meilen außerhalb der Stadt traf er einen Farmer, der sich an den Pritschenwagen erinnerte. Einige Meilen hinter der Ortsgrenze von Wellsburg kam er zu einer Gemischtwarenhandlung.
Der Besitzer lächelte, als er sah, dass der massige Soldat sich fröstelnd vor seinen Ofen stellte. »Kalt, nicht?«
Der Sergeant-Major verlangte Kaffee, und der Ladenbesitzer nickte und brachte ihm welchen.
Er nickte noch einmal, als der Mann seine Frage stellte.
»Aber natürlich. Die wohnen bei Mrs. Pauline Clay. Ich werd’ Ihnen sagen, wie Sie da hinkommen. Netter Mensch, dieser Dr. Cole. Kauft öfters bei mir ein. Freunde von Ihnen?«
Der Sergeant-Major nickte. »Gut, dass ich sie gefunden habe«, sagte er.
Die Nacht nach der Operation verbrachte Shaman in einem Sessel neben dem Bett seines Bruders. Alex schlief, doch sehr unruhig, offensichtlich hatte er Schmerzen.
Gegen Morgen döste Shaman kurz ein. Als er die Augen im grauen Licht des Morgens wieder aufschlug, sah Alex ihn an.
»Bigger, was ist?«
Alex leckte sich die trockenen Lippen, und Shaman holte Wasser und stützte ihm den Kopf, damit er trinken konnte, gestattete ihm allerdings nur wenige kleine Schlucke. »Ich hab’ mich was gefragt«, sagte Alex schließlich.
»Was?«
»Wie kann ich dir je wieder... einen Tritt in den Arsch geben... ohne auf die Schnauze zu fallen?«
Wie wohl das Shaman tat, dieses schiefe Grinsen wieder zu sehen.
»Du hast mir noch mehr von dem Bein weggeschnippelt, nicht?« Alex’ vorwurfsvoller Blick verletzte den erschöpften Shaman.
»Ja, aber ich glaube, ich habe etwas anderes retten können.«
»Was denn?«
»Dein Leben.«
Alex überlegte und nickte dann. Einen Augenblick später war er wieder eingeschlafen.
Am ersten Tag nach der Operation wechselte Shaman zweimal den Verband. Er roch an dem Stumpf und untersuchte ihn, immer in Angst, den Gestank oder andere Kennzeichen von Fäulnis wahrzunehmen, denn er hatte schon so manchen wenige Stunden nach der Amputation an einer Infektion sterben sehen. Aber er roch nichts, und das rosige Gewebe des Stumpfes schien gesund zu sein. Alex war praktisch fieberfrei, aber sehr kraftlos, und Shaman hatte wenig Vertrauen in die Reserven seines Bruders. Also machte er sich in Mrs. Clays Küche an die Arbeit. Vormittags gab er Alex eine kleine Portion Haferschleim zu essen und mittags ein weichgekochtes Ei. Am frühen Nachmittag begann es, in dicken Flocken zu schneien. Bald bedeckte Schnee den Boden, und Shaman überprüfte besorgt seine Vorräte. Er beschloss, noch einmal mit dem Wagen zur Gemischtwarenhandlung zu fahren, für den Fall, dass sie eingeschneit würden. Als Alex das nächstemal aufwachte, erklärte er ihm, was er vorhabe, und sein Bruder nickte zum Zeichen des Einverständnisses. Es war schön, durch die stille, verschneite Welt zu fahren. Eigentlich hatte Shaman sich ein Suppenhuhn besorgen wollen; zu seiner Enttäuschung hatte Barnard kein Huhn, er bot ihm dafür aber ein Stück ordentliches Rindfleisch an, das eine nahrhafte Suppe ergeben würde, und Shaman entschied sich für dieses.
»Hat Ihr Freund Sie gefunden?« fragte der Ladenbesitzer, während er das Fett wegschnitt. »Welcher Freund?«
»Dieser Soldat. Ich hab’ ihm den Weg zu Mrs. Clays Haus beschrieben.«
»Oh? Wann war denn das?«
»Gestern, ein paar Stunden vor Ladenschluss. Mordskerl, ziemlich dick. Schwarzer Bart. Einige Streifen«, sagte er und deutete auf seinen Arm. »Ist er nicht gekommen?« Er sah Shaman mit zusammengekniffenen Augen an.
»Ich hoffe, es war kein Fehler, dass ich ihm gesagt habe, wo Sie wohnen?«
»Aber nein, Mr. Barnard. Ich weiß zwar nicht, wer das gewesen sein könnte, aber vermutlich hat er gemerkt, dass ihm doch keine Zeit für einen Besuch blieb, und so ist er einfach weitergeritten.« Was will denn die Army jetzt noch? dachte Shaman, als er den Laden verließ.
Auf halbem Weg nach Hause überkam ihn plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Er widerstand dem Drang, sich einfach umzudrehen und nachzusehen, doch einige Minuten später brachte er das Pferd zum Stehen und stieg ab, um das Zaumzeug zu richten. Dabei sah er sich unauffällig, aber gründlich um. Es war schwierig, in dem dichten Schneetreiben etwas zu erkennen, doch plötzlich wirbelte eine heftige Bö die Flocken hoch, und Shaman sah, dass ihm in einiger Entfernung ein Reiter folgte.
Alex ging es gut, als Shaman zu Hause ankam. Nachdem das Pferd ausgespannt und im Stall versorgt war, stellte Shaman in der Küche Wasser auf den Herd, um aus Fleisch, Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln und weißen Rüben eine kräftige Suppe zu kochen.
Shaman machte sich Sorgen. Er überlegte, ob er Alex anvertrauen solle, was er erfahren hatte, und setzte sich schließlich an das Bett seines Bruders, um es ihm zu erzählen. »Das heißt, wir bekommen vielleicht Besuch von der Army«, schloss er.
Doch Alex schüttelte den Kopf. »Wenn er wirklich von der Army wäre, hätte er gleich an die Tür geklopft...
Jemand wie du, der einen Verwandten aus dem Lager holt, hat doch zwangsläufig Geld bei sich. Es ist wahrscheinlicher, dass er hinter dem her ist... Ich nehme nicht an, dass du eine Waffe hast?«
»Doch.« Shaman ging hinaus und holte den Colt aus seinem Koffer.
Alex bestand darauf, dass er ihn vor seinen Augen reinigte und mit frischen Patronen lud. Als er ihn dann auf den Nachttisch legte, war er noch besorgter als zuvor. »Warum wartet dieser Mann und beobachtet uns nur?«
»Er forscht uns aus... um sicherzugehen, dass wir alleine hier hausen. Um zu sehen, welche Fenster in der Nacht erleuchtet sind, in welchem Zimmer wir uns aufhalten und ähnliches.«
»Ich glaube, wir machen zuviel Aufhebens um die ganze Sache«, sagte Shaman schließlich. »Ich glaube, der Mann, der nach uns gefragt hat, ist wahrscheinlich ein Kundschafter der Army, der nur feststellen will, ob wir nicht auch noch andere Gefangene aus dem Lager holen wollen. Vermutlich werden wir nie wieder etwas von ihm hören.«
Alex zuckte mit den Achseln und nickte. Aber Shaman fiel es schwer, seinen eigenen Worten zu glauben. Falls sie wirklich in Gefahr waren, konnte er sich eine günstigere Ausgangsposition vorstellen, als mit seinem frisch operierten Bruder hier eingesperrt zu sein.
An diesem Nachmittag gab er Alex warme Milch mit Honig. Am liebsten hätte er ihn mit üppigen, nahrhaften Speisen vollgestopft, damit Alex wieder Fleisch auf die Rippen bekam, aber er wusste, dass das Zeit brauchte.
Danach schlief Alex ein, und als er einige Stunden später wieder aufwachte, wollte er reden. Und so erfuhr Shaman, wie es Bigger seit seiner Flucht von zu Hause ergangen war. »Bis nach New Orleans haben Mal Howard und ich auf einem Kahn gearbeitet. Wir bekamen Streit wegen eines Mädchens, und er ist alleine nach Tennessee weitergezogen, um sich dort zu melden.« Alex hielt inne und sah seinen Bruder an. »Weißt du, was mit Mal passiert ist?«
»Seine Leute haben nie etwas von ihm gehört.« Alex nickte, es schien ihn nicht zu überraschen. »Ich wäre damals beinahe wieder heimgekommen. Hätt’ ich’s bloß getan! Aber da unten wimmelte es nur so von Werbern der Konföderierten, und ich hab’ mich gemeldet. Hab’ mir gedacht, du kannst reiten und schießen, also bin ich zur Kavallerie gegangen.«
»Warst du oft im Einsatz?«
Alex nickte trübsinnig. »Zwei Jahre lang. Ich hatte vielleicht eine Wut auf mich, als sie mich in Kentucky gefangennahmen! Sie haben uns in ein Lager gesperrt, aus dem sogar ein Baby hätte ausbrechen können. Ich hab’ nur auf den richtigen Augenblick gewartet und bin dann getürmt. Drei Tage lang war ich frei und hab’ mich von dem ernährt, was ich in Gärten und so stehlen konnte. Dann kam ich zu diesem Farmhaus, wo ich um etwas zu essen gebettelt habe. Eine Frau hat mir ein Frühstück vorgesetzt, und ich hab’ ihr gedankt wie ein Gentleman und nichts Unanständiges versucht - was wahrscheinlich ein Fehler war. Eine halbe Stunde später hab’ ich dann schon die Hunde gehört, die sie hinter mir hergehetzt haben. Ich bin sofort in ein riesiges Maisfeld gerannt.
Hohe, grüne Stengel, so dicht beieinander, dass ich nicht zwischen den Reihen durchschlüpfen konnte. Ich musste die Stengel niedertrampeln, und das sah natürlich aus, als wäre da ein Bär drinnen. Fast den ganzen Vormittag war ich in dem Feld, immer auf der Flucht vor den Hunden. Ich hab’ schon gedacht, ich komm’ da gar nicht mehr raus. Und als ich dann endlich auf der anderen Seite ins Freie gelangt bin, standen diese zwei Yankees da, grinsten mich an und zielten mit ihren Gewehren auf mich. Diesmal schickten sie mich nach Maryland. Das war das schlimmste Lager. Schlechtes Essen oder gar keins, fauliges Wasser, und wenn du dem Zaun zu nahe kommst, schießen sie dich tot. Ich war wirklich froh, als sie mich von dort fortgeschafft haben.
Aber dann passierte eben dieses Zugunglück.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nur noch an ein lautes Knirschen erinnern und an Schmerzen im Fuß. Ich war eine Weile bewusstlos, und als ich aufwachte, hatten sie mir den Fuß schon abgeschnitten, und ich war in einem anderen Zug nach Elmira.«
»Wie hast du es denn nach der Amputation geschafft, einen Tunnel zu graben?«
Alex grinste. »Das war einfach. Ich hatte gehört, dass ein Trupp durch einen Tunnel raus wollte. Ich hab’ mich damals noch ziemlich stark gefühlt und hab’ einfach mitgegraben. Siebzig Meter hatten wir geschafft, direkt unter der Mauer durch. Mein Stumpf war noch nicht ganz verheilt, und beim Buddeln bekam ich immer wieder Dreck in die Wunde. Wahrscheinlich hatte ich deshalb solche Probleme mit meinem Bein. Ich konnte natürlich nicht mit ihnen raus, aber zehn Mann haben es geschafft, und ich hab’ nie gehört, dass sie wieder festgenommen wurden. Ich bin jeden Abend glücklich und zufrieden eingeschlafen, weil ich immer an die zehn freien Männer gedacht hab’.«
Shaman atmete tief durch. »Bigger«, sagte er dann, »Pa ist tot.«
Alex schwieg eine Weile, dann nickte er. »Ich glaube, mir war das schon klar, als ich dich mit seiner Tasche gesehen hab’. Hätte er noch gelebt, hätte er nicht dich geschickt, sondern wäre selber gekommen.«
Shaman lächelte. »Ja, das stimmt.« Er erzählte seinem Bruder, wie es Rob J. Cole bis zu seinem Tod ergangen war. Während seines Berichts begann Alex, leise zu weinen, und fasste nach Shamans Arm. Danach schwiegen sie beide, Hand in Hand. Auch nachdem Alex eingeschlafen war, saß Shaman noch lange da, ohne die Hand des Bruders loszulassen.
Es schneite bis zum späten Nachmittag. Nach Einbruch der Dunkelheit ging Shaman von einem Fenster zum anderen und spähte hinaus. Auf allen vier Seiten des Hauses glänzte das Mondlicht auf unberührtem Schnee, ohne eine Spur. Inzwischen hatte er sich auch eine Erklärung zurechtgelegt: Er vermutete, dass der dicke Soldat nach ihm gesucht hatte, weil jemand einen Arzt brauchte. Vielleicht war der Patient inzwischen gestorben, oder er hatte sich wieder erholt, oder vielleicht hatte der Mann auch einen anderen Arzt gefunden. Es klang einigermaßen einleuchtend, und es beruhigte ihn. Zum Abendessen gab er Alex eine Schüssel nahrhafter Suppe mit einem eingeweichten Kräcker dann. Sein Bruder schlief unruhig. Eigentlich hatte Shaman in dieser Nacht in dem Bett im anderen Zimmer schlafen wollen, doch er döste im Sessel neben Alex’ Bett ein. Sehr früh am Morgen - auf seiner Uhr, die neben dem Revolver auf dem Nachttisch lag, sah er, dass es zwei Uhr dreißig war-wurde er von Alex geweckt. Sein Bruder hatte sich halb aus dem Bett gestemmt und sah - die Augen weit aufgerissen - verstört umher. Unten schlägt jemand ein Fenster ein, formte er mit den Lippen. Shaman nickte. Er stand auf und nahm den Revolver vom Tisch. Die Waffe lag schwer in seiner linken Hand, ein unvertrauter Gegenstand. Die Augen auf Alex’ Gesicht gerichtet, wartete Shaman. Hatte Alex es sich nur eingebildet? Oder geträumt? Die Gästezimmertür war geschlossen. Hatte Alex vielleicht nur einen Eiszapfen zersplittern hören?
Doch während Shaman so dastand, wurde sein ganzer Körper zur Hand auf dem Klavier, und er spürte die schleichenden Schritte. »Jemand ist im Haus«, flüsterte er.
Jetzt spürte er immer deutlicher Schritte auf der Treppe - wie Töne einer aufsteigenden Tonleiter.
»Er kommt die Treppe hoch. Ich werde die Lampe ausblasen.« Er sah, dass Alex verstand. Sie kannten sich in dem Gästezimmer aus, der Eindringling jedoch nicht, für sie war deshalb die Dunkelheit ein Vorteil. Shaman bekam trotzdem Angst, denn ohne Licht konnte er Alex’ Lippen nicht sehen.
Er nahm die Hand seines Bruders und legte sie auf seinen Oberschenkel. »Wenn du hörst, dass er das Zimmer betritt, gib ein Zeichen!«, sagte er, und Alex nickte.
Alex’ einzelner Stiefel stand auf dem Boden. Shaman nahm die Waffe in die rechte Hand, hob den Stiefel mit der linken auf und blies die Lampe aus.
Es schien unendlich lange zu dauern. Sie konnten nichts anderes tun, als bewegungslos in der Dunkelheit zu warten. Schließlich wurden die gelben Ritzen zwischen Tür und Rahmen schwarz. Der Eindringling hatte die Lampe im Gang gelöscht, damit sich seine Silhouette nicht im Türrahmen abzeichnete.
Gefangen in der vertrauten Welt vollkommener Stille, spürte Shaman einen Luftzug, als der Mann die Tür öffnete.
Und Alex’ Hand drückte auf sein Bein.
Er warf den Stiefel quer durchs Zimmer an die gegenüberliegende Wand.
Er sah das zweifache gelbe Aufblitzen, eins nach dem anderen, und versuchte, mit dem schweren Navyrevolver rechts neben die Flammenzungen zu zielen. Als er am Abzug zog, bäumte sich der Revolver in seiner Hand auf, und er nahm ihn in beide Hände, bevor er wieder und wieder schoss, die Erschütterung der Explosionen in seinen Händen und Armen, die Feuerblitze in seinen Augen, den Atem des Teufels in seiner Nase. Dann war die Munition verbraucht, er stand da, nackt und verletzlich wie nie in seinem Leben, und wartete auf den stechenden Schmerz einer Kugel.
»Bist du in Ordnung, Bigger?« rief er schließlich wie ein Narr, konnte er doch die Antwort nicht hören. Er tastete auf dem Tisch nach den Streichhölzern und zündete mit unsicheren Händen die Lampe wieder an.
»Bist du in Ordnung?« fragte er Alex noch einmal, doch der deutete nur auf den Mann am Boden. Shaman war ein armseliger Schütze. Hätte der Mann andere Bedingungen gehabt, hätte er sie vermutlich beide erschossen, doch er hatte sie nicht gehabt. Shaman ging vorsichtig auf ihn zu wie auf einen erlegten Bären, dessen Tod nicht ganz sicher ist. Überall sah er Spuren seines ungeübten Schießens: Löcher in der Wand, zersplitterte Bodendielen. Die beiden Schüsse des Eindringlings hatten den Schuh verfehlt, aber den Aufsatz von Mrs. Clays Ahornkommode zerstört. Der Mann lag wie schlafend auf der Seite, ein fetter Soldat mit einem schwarzen Bart, einen überraschten Ausdruck im leblosen Gesicht. Ein Schuss hatte ihn ins linke Bein getroffen, genau an der Stelle, an der Shaman Alex amputieren musste. Eine andere Kugel steckte in der Brust direkt über dem Herzen.
Als Shaman die Halsschlagader befühlte, war zwar die fleischige Kehle noch warm, aber von einem Puls war nichts mehr zu spüren.
Alex’ Kräfte schienen restlos erschöpft, er brach zusammen. Shaman saß auf dem Bett und wiegte seinen weinenden und zitternden Bruder wie ein kleines Kind in den Armen.
Alex war überzeugt, dass er wieder ins Gefangenenlager kam, wenn der Tote entdeckt würde. Er flehte Shaman an, den dicken Soldaten in den Wald zu schleppen und ihn dort zu verbrennen, so wie er es mit seinem Beinstumpf getan hatte.
Shaman tröstete ihn und klopfte ihm beruhigend auf den Rücken, behielt dabei aber einen kühlen Kopf.
»Ich habe ihn getötet, nicht du. Wenn jemand Schwierigkeiten bekommt, dann bestimmt nicht du. Der Mann wird sicher vermisst werden. Der Ladenbesitzer weiß, dass er herkommen wollte - andere vielleicht auch. Das Zimmer ist demoliert, und wir brauchen Handwerker, die darüber reden werden. Wenn ich die Leiche verstecke oder verbrenne, riskiere ich, dass sie mich aufhängen. Wir werden die Leiche nicht anrühren.«
Alex beruhigte sich ein wenig. Shaman saß bei ihm und redete mit ihm, bis das graue Licht des Morgens ins Zimmer kroch und er die Lampe löschen konnte. Er trug seinen Bruder hinunter ins Wohnzimmer und bettete ihn unter warmen Decken aufs Sofa. Dann legte er Holz im Ofen nach und lud den Revolver neu, den er neben Alex auf einen Stuhl legte.
»Ich komme mit Leuten von der Army zurück. Also schieß um Gottes willen erst, wenn du dir ganz sicher bist, dass nicht wir es sind!« Er sah seinem Bruder in die Augen. »Sie werden uns verhören, immer und immer wieder, getrennt und gemeinsam. Es ist wichtig, dass du bei alldem die reine Wahrheit sagst. Denn nur so können sie uns nicht das Wort im Mund umdrehen. Hast du mich verstanden?« Alex nickte, und Shaman streichelte ihm die Wange. Dann verließ er das Haus.
Der Schnee war kniehoch, und Shaman konnte den Wagen nicht nehmen. Statt dessen legte er dem Pferd einen Halfter um, den er im Stall fand, und ritt es ohne Sattel. Bis weit hinter Barnards Laden war der Weg tief verschneit, und er kam nur langsam vorwärts. Doch innerhalb der Stadtgrenze von Elmira hatte man den Schnee mit Walzen plattgedrückt, so dass er schneller reiten konnte.
Shaman fühlte sich wie erstarrt, doch nicht vor Kälte. Er hatte schon Patienten verloren, obwohl er der Meinung gewesen war, sie retten zu können, und es hatte ihn immer tief bekümmert. Aber noch nie zuvor hatte er einen Menschen getötet.
Er war zu früh am Telegrafenamt und musste warten, bis es um sieben Uhr geöffnet wurde. Dann schickte er eine Nachricht an Nick Holden ab: Habe einen Soldaten in Notwehr getötet. Bitte verbürgen Sie sich bei den zivilen und militärischen Behörden von Elmira für meinen Charakter und den von Alex Bledsoe Cole! In Dankbarkeit, Robert J. Cole.
Danach ritt er direkt zum Büro des Sheriffs und meldete die Tat.
Zappeln im Netz
In kürzester Zeit war Mrs. Clays Haus überfüllt. Der Sheriff, ein untersetzter, grauhaariger Mann, litt an morgendlichen Verdauungsstörungen. Er runzelte gelegentlich die Stirn und rülpste häufig. Begleitet wurde er von zwei Deputies. Seine Benachrichtigung der Army hatte fünf Soldaten auf den Plan gerufen: einen Leutnant, zwei Sergeanten und zwei Gemeine. Eine halbe Stunde später kam Major Oliver P. Poole, ein dunkelhäutiger Offizier mit einer Brille und einem dünnen, schwarzen Schnurrbart. Alle richteten sich nach ihm, es war offensichtlich, dass er das Sagen hatte.
Zunächst vertrieben sich Zivilisten und Soldaten die Zeit damit, die Leiche zu betrachten, im Haus ein und aus zu gehen, in ihren schweren Stiefeln die Treppe hinauf und hinunter zu poltern und mit zusammengesteckten Köpfen zu tuscheln. Sie ließen alle Wärme, die im Haus war, entweichen und trugen Schnee und Eis herein, was auf Mrs. Clays gewachsten Holzböden ein Chaos anrichtete.
Der Sheriff und seine Männer waren vorsichtig, die Soldaten sehr ernst und der Major auf eine kalte Art höflich.
Oben im Schlafzimmer untersuchte Major Poole die Einschussstellen im Boden, in den Wänden, der Kommode und der Leiche des Soldaten. »Sie können ihn nicht identifizieren, Dr. Cole?«
»Ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Glauben Sie, dass er Sie berauben wollte?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich weiß nur, dass ich im dunklen Zimmer einen Stiefel an die Wand geworfen habe, er auf das Geräusch hin geschossen hat und ich auf ihn geschossen habe.«
»Haben Sie in seine Taschen gesehen?«
»Nein, Sir.«
Der Major tat es und legte den Inhalt der Taschen des fetten Soldaten auf die Decke am Fußende des Bettes. Viel war es nicht: eine Dose Clock-Time-Schnupftabak, ein zusammengeknülltes, schmutziges Taschentuch, siebzehn Dollar und achtunddreißig Cent sowie ein Urlaubsschein der Armee, den Poole las und dann Shaman gab. »Sagt Ihnen der Name irgend etwas?«
Der Urlaubsschein war ausgestellt für: Sergeant-Major Henry Bowman Korff, Headqnarters, US Army Eastern Quartermaster Command, Elizabeth, New Jersey.
Shaman las den Schein und schüttelte den Kopf. »Ich habe den Namen noch nie gelesen oder gehört«, konnte er aufrichtig sagen. Aber als er dann einige Minuten später die Treppe hinunterging, merkte er, dass dieser Name in ihm unerfreuliche Erinnerungen wachrief. Auf halbem Weg nach unten wusste er, warum. Nie wieder würde er nun darüber nachgrübeln müssen, wie es sein Vater bis zu seinem Tod getan hatte, was mit dem dritten Mann geschehen war, der an dem Morgen, als Makwa-ikwa vergewaltigt und getötet wurde, aus Holden’s Crossing geflohen war. Nun musste er nicht mehr nach einem Fettwanst namens Hank Cough suchen - Hank Korff hatte ihn gefunden.
Kurze Zeit später kam der Coroner und erklärte den Verstorbenen offiziell für tot. Er begrüßte Shaman sehr kühl.
Alle Männer zeigten offen oder versteckt Distanz, ja Feindschaft, und Shaman verstand auch, weshalb. Alex war ihr Kriegsgegner, er hatte gegen sie gekämpft und wahrscheinlich einige Nordstaatler getötet, und bis vor wenigen Tagen war er ihr Kriegsgefangener gewesen. Jetzt aber hatte Alex’ Bruder einen Soldaten des Nordens in Uniform getötet. Shaman war erleichtert, als sie den gewichtigen Toten auf eine Bahre luden und unter Mühen die Treppe hinunter- und aus dem Haus trugen. Nun begannen die Verhöre. Der Major saß in dem Gästezimmer, in dem die Schießerei stattgefunden hatte. Neben ihm hockte auf einem Küchenschemel einer der Sergeanten und schrieb mit. Shaman saß auf der Bettkante.
Major Poole fragte ihn nach seinen politischen und anderen Verbindungen, und Shaman erwiderte, er sei in seinem Leben nur zwei Organisationen beigetreten, der Society for the Abolition of Slavery während der College-Zeit und der Rock Island County Medical Society.
»Sind Sie ein Copperhead, Dr. Cole?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Und Sie haben auch nicht den kleinsten Funken Sympathie für den Süden?«
»Ich bin gegen die Sklaverei. Ich will, dass der Krieg zu Ende geht, ohne noch mehr Leid anzurichten, und ich unterstütze den Süden nicht.«
»Warum ist Sergeant-Major Korff in dieses Haus gekommen?«
»Ich habe keine Ahnung.« Shaman war entschlossen, den lange zurückliegenden Mord an einer Indianerfrau in Illinois und die Tatsache, dass drei Männer und ein politischer Geheimbund in die Vergewaltigung und den Tod dieser Frau verwickelt waren, nicht zu erwähnen. Das war alles zu weit entfernt, zu mysteriös. Er wusste, wenn er es zur Sprache brachte, würde er nur den Argwohn dieses unfreundlichen Armeeoffiziers herausfordern und sich und seinen Bruder noch mehr gefährden.
»Sie verlangen von uns zu akzeptieren, dass ein Sergeant-Major der United States Army bei einem versuchten Raubüberfall getötet wurde.«
»Nein, ich verlange nicht, dass Sie irgend etwas akzeptieren. Major Poole. Glauben Sie, dass ich diesen Mann eingeladen habe, in einem von mir gemieteten Haus ein Fenster einzuschlagen, das Haus unbefugt um zwei Uhr morgens zu betreten und im Krankenzimmer meines Bruders eine Waffe abzufeuern?«
»Warum hat er es dann getan?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Shaman, und der Major runzelte die Stirn.
Während Poole Shaman verhörte, befragte der Leutnant im Wohnzimmer Alex. Gleichzeitig durchsuchten die Gemeinen und die Deputies des Sheriffs den Stall und das Haus, sie öffneten Shamans Gepäck und leerten Schubladen und Schränke.
Von Zeit zu Zeit unterbrachen die beiden Offiziere die Verhöre, um sich zu besprechen.
»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Ihre Mutter eine Südstaatlerin ist?« fragte Major Poole Shaman nach einer solchen Pause. »Meine Mutter wurde in Virginia geboren, hat aber mehr als ihr halbes Leben in Illinois verbracht. Ich habe es Ihnen nicht gesagt, weil Sie mich nicht danach gefragt haben.«
»Das haben wir in Ihrer Arzttasche gefunden. Was ist das, Dr. Cole?« Poole breitete vier Zettel auf dem Bett aus.
»Auf jedem stehen Name und Adresse einer Person, eines Südstaatlers.«
»Es sind die Adressen von Angehörigen der Zeltkollegen meines Bruders im Gefangenenlager von Elmira. Diese Männer haben sich um meinen Bruder gekümmert und ihn gepflegt. Wenn der Krieg vorbei ist, werde ich mich mit ihnen in Verbindung setzen, um herauszufinden, ob sie es geschafft haben. Und wenn sie es geschafft haben, werde ich ihnen danken.«
Die Verhöre zogen sich in die Länge. Oft wiederholte Poole Fragen, die er schon einmal gestellt hatte, und Shaman wiederholte dann seine Antworten.
Mittags gingen die Männer zum Essen zu Barnard und ließen nur die beiden Gemeinen und einen Sergeanten im Haus zurück. Shaman ging in die Küche, kochte Haferschleim und brachte Alex, der bedrohlich erschöpft aussah, eine Schüssel davon. Alex sagte, er könne nichts essen.
»Du musst essen, das ist deine Art zu kämpfen!« sagte Shaman energisch, worauf Alex nickte und das mehlige Zeug auszulöffeln begann.
Nach dem Mittagessen wurden die Plätze getauscht, der Major verhörte nun Alex und der Leutnant Shaman.
Gegen drei Uhr nachmittags verlangte Shaman zur Verärgerung der Offiziere eine Unterbrechung und wechselte
- vor Publikum - den Verband an Alex’ Stumpf. Shaman war sehr erstaunt, als Major Poole ihn bat, drei seiner Soldaten zu jener Stelle im Wald zu führen, wo er das amputierte Stück von Alex’ Bein verbrannt hatte. Er zeigte ihnen den Ort, und sie schaufelten den Schnee beiseite und wühlten in den Ascheresten, bis sie verkohlte Fragmente von Schien- und Wadenbein fanden, die sie in ein Taschentuch legten und mitnahmen. Am Spätnachmittag gingen die Männer. Das Haus war nun wieder angenehm leer, aber es herrschte auch eine Atmosphäre der Unsicherheit und des Verletztseins. Eine Decke hing vor dem zerbrochenen Fenster, die Böden waren schmutzig, und in der Luft hing der Körper- und Pfeifengeruch der Männer. Shaman erhitzte die Fleischsuppe. Zu seiner freudigen Überraschung hatte Alex plötzlich wirklich Hunger, und er gab ihm zur Suppe auch eine reichliche Portion Rindfleisch und Gemüse. Auch Shamans Appetit wurde dadurch angeregt, und nach der Suppe aßen sie Butterbrot mit Marmelade und Apfelmus, und Shaman brühte frischen Kaffee auf. Dann trug er Alex nach oben und legte ihn in Mrs. Clays Bett. Er versorgte seinen Bruder und saß lange bei ihm, doch schließlich ging er in das Gästezimmer, wo er erschöpft aufs Bett fiel und sich bemühte, die Blutflecken auf dem Boden zu vergessen. In dieser Nacht schlief er ein wenig.
Am nächsten Morgen kamen weder der Sheriff noch seine Leute, aber die Soldaten waren schon da, ehe Shaman das Frühstücksgeschirr aufgeräumt hatte. Zunächst sah es so aus, als würde dieser Tag genauso verlaufen wie der vorangegangene, doch dann klopfte im Verlauf des Vormittags ein Mann an die Tür, der sich als George Hamilton Crockett, stellvertretender Kommissar für Indianerangelegenheiten aus Albany, vorstellte. Er unterhielt sich lange mit Major Poole und überreichte ihm einen Stapel Papiere, in denen sie im Verlauf des Gesprächs immer wieder blätterten.
Dann packten die Soldaten ihre Sachen zusammen und zogen ihre Mäntel an. Angeführt von dem mürrischen Major Poole, verließen sie das Haus.
Mr. Crockett blieb noch eine Weile und unterhielt sich mit den Cole-Brüdern. Er erzählte ihnen, dass sein Büro mit Telegrammen aus Washington förmlich bombardiert worden sei. »Der Vorfall ist etwas unglücklich. Die Army hat schwer daran zu schlucken, dass einer der Ihren im Haus eines Konföderierten getötet worden ist.
Üblicherweise töten sie die Konföderierten, die ihre Männer töten.«
»Das haben sie mit ihren Fragen und ihrer Beharrlichkeit ziemlich deutlich gemacht«, sagte Shaman.
»Sie haben nichts zu befürchten. Die Beweislage ist zu eindeutig. Sergeant-Major Korffs Pferd wurde im Wald angebunden gefunden. Die Fußabdrücke des Mannes im Schnee führten vom Pferd zum Fenster an der Rückwand des Hauses. Das Glas war zerbrochen, das Fenster wurde offengelassen. Als sie seine Leiche untersuchten, hielt er noch die Waffe in der Hand, aus der zwei Schüsse abgegeben worden waren. Wenn in Kriegszeiten die Gemüter erhitzt sind, kann es schon passieren, dass bei einer nicht allzu sorgfältigen Ermittlung in einem solchen Fall die Eindeutigkeit der Beweislage übersehen wird, aber nicht, wenn einflussreiche Kreise sich für den Fall interessieren und eingehend mit ihm beschäftigen.«
Crockett lächelte und richtete herzliche Grüße des Honorable Nicholas Holden aus. »Der Kommissar hat mich gebeten, Ihnen zu versichern, dass er persönlich nach Elmira kommt, falls er gebraucht wird. Ich bin froh, ihm nun versichern zu können, dass eine solche Reise unnötig ist«, sagte er.
Am nächsten Morgen schickte Major Poole einen seiner Sergeanten mit der Nachricht, die Cole-Brüder würden gebeten, Elmira bis zum offiziellen Abschluss der Untersuchung nicht zu verlassen. Auf die Frage, wann das der Fall sein werde, antwortete der Sergeant nicht unhöflich, dass er das nicht wisse.
Also blieben sie weiter in dem kleinen Haus. Mrs. Clay hatte sofort erfahren, was passiert war, und kam vorbei, um sich den Schaden anzusehen. Blass und wortlos starrte sie das zerbrochene Fenster an, entsetzt wanderte ihr Blick über die Einschussstellen und den blutbesudelten Boden. Als sie den ruinierten Kommodenaufsatz sah, stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Die Kommode stammt noch von meiner Mutter.«
»Ich kümmere mich darum, dass sie repariert und das Haus wieder in Ordnung gebracht wird«, sagte Shaman.
»Können Sie mir einen Schreiner empfehlen?«
Noch am selben Nachmittag schickte sie jemanden vorbei, einen hageren, schon etwas älteren Mann namens Bert Clay, den Cousin ihres verstorbenen Gatten. Er wiegte missbilligend den Kopf, machte sich aber unverzüglich an die Arbeit. Als erstes besorgte er eine Glasscheibe mit den richtigen Abmessungen, um das Fenster zu reparieren. Die Beschädigungen im Gästezimmer waren komplizierter. Die zersplitterten Bodendielen mussten ersetzt, die blutbesudelten Stellen abgeschliffen und neu eingelassen werden. Die Löcher in der Wand könne er mit Gips ausfüllen und das Zimmer neu streichen, meinte Bert. Doch als er sich die Kommode ansah, schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht. Das ist Vogelaugen-Ahorn. Kann sein, dass ich irgendwo ein Stück davon finde, aber das wird teuer.«
»Besorgen Sie es!« sagte Shaman entschlossen.
Es dauerte eine Woche, bis Bert die Reparaturen ausgeführt hatte. Als er fertig war, kam Mrs. Clay und sah sich alles sehr genau an. Sie nickte, dankte Bert und meinte, es sei alles in Ordnung, auch die Kommode. Doch Shaman gegenüber verhielt sie sich sehr kühl, und er sah ein, dass ihr Haus für sie nie wieder dasselbe sein würde wie früher. Alle, denen er begegnete, verhielten sich kalt ihm gegenüber. Mr. Barnard lächelte und plauderte nicht mehr, wenn er in seinen Laden kam, und er merkte, dass Leute auf der Straße ihn ansahen und dann die Köpfe zusammensteckten. Die allgemeine Feindseligkeit zerrte an seinen Nerven. Major Poole hatte gleich zu Anfang den Colt konfisziert, und Shaman und Alex fühlten sich schutzlos. Nachts ging Shaman mit dem Schürhaken und einem Küchenmesser ins Bett, lag dann wach und versuchte, die Schwingungen eines Eindringlings zu erspüren, dabei war es nur der Wind, der am Haus rüttelte. Nach drei Wochen hatte Alex Gewicht zugelegt. Er sah jetzt besser aus, konnte es aber kaum mehr erwarten, wegzukommen, und so waren sie beide erleichtert, als Poole sie endlich wissen ließ, dass sie abreisen könnten. Shaman hatte Alex Zivilkleidung gekauft. Er half ihm beim Anziehen und steckte ihm das linke Hosenbein hoch, damit es ihn nicht störte. Alex versuchte, mit Hilfe seiner Krücken zu gehen, hatte aber Schwierigkeiten. »Ich komme mir ganz einseitig vor, weil jetzt so viel von dem Bein weg ist«, sagte er, doch Shaman erwiderte, er werde sich daran gewöhnen.
Bei Barnard kaufte Shaman einen großen Laib Käse und legte ihn als Entschädigung für Mrs. Clay auf den Tisch. Mit dem Mietstallbesitzer hatte er vereinbart, Pferd und Wagen am Bahnhof zurückzugeben, und deshalb konnte Alex auf Stroh gebettet dorthinfahren, so wie er zuvor das Gefangenenlager verlassen hatte. Als der Zug hielt, trug Shaman Alex auf den Armen in ein Abteil und setzte ihn auf einen Fensterplatz, während die anderen Reisenden sie angafften oder verlegen wegsahen. Die beiden sprachen kaum etwas, doch als der Zug anfuhr und Elmira verließ, legte Alex seinem Bruder die Hand auf den Arm.
Sie fuhren auf einer nördlicheren Route nach Hause als auf der, die Shaman nach Elmira geführt hatte. Shaman zog es vor, über Chicago anstatt über Cairo zu reisen, denn er glaubte nicht, dass der Mississippi bei ihrer Ankunft in Illinois schon eisfrei sein würde. Es war eine beschwerliche Reise. Das unaufhörliche Rütteln der Waggons bereitete Alex starke Schmerzen. Unterwegs mussten sie häufig umsteigen, und jedesmal musste Shaman seinen Bruder auf den Armen von einem Zug zum anderen tragen. Außerdem waren die Züge fast nie pünktlich. Mehrmals wurde der Zug, in dem sie fuhren, auf einem Nebengleis abgestellt, um einen Truppentransport vorbeizulassen. Einmal schaffte es Shaman, für etwa fünfzig Meilen Polstersessel in einem Salonwagen zu ergattern, doch meistens saßen sie auf den harten Holzbänken der gewöhnlichen Abteile. Als sie Erie in Pennsylvania erreichten, hatte Alex weiße Flecken in den Mundwinkeln, und Shaman wusste, dass sein Bruder nicht mehr Weiterreisen konnte. Er mietete ein Hotelzimmer, damit Alex sich eine Weile in einem weichen Bett ausruhen könnte. Beim Verbandwechseln an diesem Abend begann er, Alex einiges von dem zu erzählen, was er aus dem Tagebuch seines Vaters erfahren hatte.
Er berichtete ihm von dem Schicksal der drei Männer, die Makwa-ikwa vergewaltigt und ermordet hatten. »Ich glaube, es war meine Schuld, dass Henry Korff hinter uns her war. Damals in dem Asyl in Chicago, in dem David Goodnow verwahrt wird, habe ich zuviel über die Mörder gesagt. Ich habe nach dem Supreme Order of the Star-Spangled Banner gefragt, und nach Hank Cough, und ich habe wohl den Eindruck hinterlassen, als wäre ich hinter ihnen her. Wahrscheinlich war einer vom Personal ein Mitglied des Geheimbunds, vielleicht mehrere.
Zweifellos hat man Korff gewarnt, und der hat beschlossen, uns zu beseitigen.«
Alex schwieg einen Augenblick und sah dann seinen Bruder mit besorgtem Gesicht an. »Aber Shaman... Korff wusste, wo er uns suchen musste. Das bedeutet, jemand in Holden’s Crossing muss ihm verraten haben, dass du nach Elmira abgereist bist.«
Shaman nickte. »Das geht mir auch schon lange im Kopf herum«, sagte er leise.
Eine Woche nachdem sie Elmira verlassen hatten, erreichten sie Chicago. Shaman schickte seiner Mutter ein Telegramm und teilte ihr mit, dass er Alex nach Hause bringe. Er verheimlichte ihr nicht, dass Alex ein Bein verloren hatte, und bat sie, sie vom Bahnhof abzuholen. Als der Zug mit einer Stunde Verspätung in Rock Island einlief, wartete Sarah mit Doug Penfield am Bahnsteig. Shaman trug Alex die Waggonstufen hinunter, und Sarah warf die Arme um ihren Sohn und weinte wortlos.
»Lass mich ihn absetzen, er ist zu schwer«, beklagte sich Shaman schließlich und hob Alex auf den Sitz des Buckboard. Auch Alex hatte geweint. »Du siehst gut aus, Ma«, sagte er schließlich. Seine Mutter setzte sich neben ihn und hielt seine Hand. Shaman ergriff die Zügel, während Doug auf seinem Pferd ritt, das hinten am Wagen angebunden gewesen war. »Wo ist Alden?« fragte Shaman.
»Er hat sich ins Bett gelegt. Er wird immer schwächer, Shaman, die Anfälle werden immer schlimmer. Und als sie vor ein paar Wochen am Fluss Eis hackten, ist er ausgerutscht und schwer gestürzt«, sagte Sarah.
Unterwegs verschlang Alex die Landschaft mit den Augen. Shaman ebenfalls, doch er hatte ein eigenartiges Gefühl dabei: So wie für Mrs. Clay ihr Haus nicht mehr dasselbe sein würde, so war auch sein Leben nicht mehr das alte. Seit seiner Abreise von hier hatte er einen Mann getötet. Die Welt war aus den Fugen.
Es dämmerte bereits, als sie das Haus erreichten. Sie legten Alex in sein eigenes Bett, wo er mit geschlossenen Augen dalag, nichts als Freude in seinem Gesicht.
Sarah kochte zur Feier der Rückkehr ihres verlorenen Sohnes etwas Besonderes. Es gab Brathühnchen mit Kartoffel- und Karottenbrei. Sie hatten noch kaum zu Ende gegessen, als Lillian mit einer Terrine Eintopf über den Langen Weg dahergeeilt kam. »Deine Hungertage sind vorbei!« rief sie, nachdem sie Alex geküsst und ihn willkommen geheißen hatte. Rachel sagte sie, müsse bei ihren Kindern bleiben, werde ihn aber gleich am nächsten Morgen besuchen.
Die beiden Frauen saßen so nahe bei Alex, wie die Stühle es gestatteten, und Shaman ließ sie mit ihm alleine. Er ging zu Aldens Hütte. Der alte Knecht schlief, als er eintrat, und die Hütte stank nach Whiskey. Shaman schlich sich wieder hinaus und schlug den Langen Weg ein. Der Schnee war plattgetreten und überfroren, an einigen Stellen war es sehr glatt. Durch das Fenster des Geiger-Hauses sah er Rachel vor dem Kamin sitzen und lesen.
Sie ließ das Buch sofort sinken, als er an die Scheibe klopfte.
Sie küssten sich, als läge einer von ihnen im Sterben. Rachel nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinauf in ihr Zimmer. Unten schliefen die Kinder, ihr Bruder Lionel reparierte im Stall Pferdegeschirre, und ihre Mutter konnte jeden Augenblick zurückkommen, doch sie liebten sich trotzdem - in ihren Kleidern auf Rachels Bett, zärtlich, aber entschlossen und mit einer verzweifelten Dankbarkeit.
Als er später den Langen Weg zurückging, war die Welt für ihn wieder im Lot.
Alex’ Familienname
Shaman gab es einen Stich, als er sah, wie mühsam Alden sich über die Farm schleppte. Sein Hals und seine Schultern waren steifer, als sie es bei Shamans Abreise gewesen waren, und sein Gesicht wirkte wie eine starre, geduldige Maske, auch dann, wenn ihn schwere Anfälle quälten. Er tat alles langsam und bewusst, wie ein Mann, der sich zitternd unter Wasser bewegt.
Aber sein Verstand war klar. Er fand Shaman im Stall und gab ihm die kleine Vitrine, die er für Rob J.s Skalpell geschreinert hatte, und das neue Bistouri, um das Shaman ihn gebeten hatte. Dann bat er Shaman, sich zu setzen, und er berichtete ihm in knappen Worten, wie die Farm den Winter überstanden hatte, die Anzahl der Tiere, die Menge des verbrauchten Futters und die Aussichten für den Lämmerwurf im Frühling. »Ich lasse Doug trockenes Holz ins Zuckerhaus bringen, damit wir Sirup kochen können, sobald die Baumsäfte fließen.«
»Gut«, sagte Shaman. Er zögerte einen Augenblick und machte Alden dann das unangenehme Geständnis, dass er Doug aufgetragen habe, sich für die im Frühjahr anfallenden Arbeiten nach einem guten Handlanger umzusehen.
Alden nickte langsam. Er räusperte sich lange und spuckte dann umständlich aus. »Bin nicht mehr so frisch, wie ich’s mal war«, sagte er, als wolle er Shaman das schonend beibringen. »Soll diesen Frühling doch ein anderer pflügen! Ist auch nicht nötig, dass der Vormann einer Farm die schwere Arbeit tut, wenn wir junge Kerle bekommen können, die ihre Muskeln spielen lassen wollen«, sagte Shaman, und Alden nickte noch einmal, bevor er den Stall wieder verließ. Shaman sah, dass er einige Zeit brauchte, um in Bewegung zu kommen, wie ein Mann, der beschlossen hat zu pinkeln, aber nicht kann. Doch hatte er dann den ersten Schritt gemacht, bewegten sich seine Füße gleichmäßig und wie aus eigenem Antrieb, und der Rest von Alden ließ sich von ihnen einfach davontragen.
Es tat Shaman gut, wieder in seiner Praxis zu sein. Sosehr die Nonnen sich auch bemüht hatten, für seine Patienten zu sorgen, einen Arzt konnten sie nicht ersetzen. Einige Wochen lang arbeitete er sehr schwer, er holte aufgeschobene Operationen nach und erledigte pro Tag mehr Hausbesuche als früher.
Als er eines Tages beim Konvent vorbeischaute, begrüßte Mater Miriam Ferocia ihn freundlich und hörte mit stiller Freude seinem Bericht von Alex’ Rückkehr zu. Auch sie hatte Neuigkeiten zu berichten: »Die Erzdiözese hat uns mitgeteilt, dass unser vorläufiger Haushaltsplan bewilligt ist, und man fordert uns auf, mit dem Bau des Krankenhauses zu beginnen.«
Der Bischof hatte sich die Pläne persönlich angesehen und sie für gut befunden, den Nonnen aber davon abgeraten, das Hospital auf Klostergrund zu bauen. »Er meint, der Konvent sei zu schwierig zu erreichen, zu weit vom Fluss und den Hauptstraßen entfernt. Jetzt müssen wir uns einen Bauplatz suchen.«
Sie griff hinter ihren Stuhl und reichte Shaman zwei schwere, cremefarbene Ziegel. »Was halten Sie davon?«
Sie waren hart und klirrten beinahe, als er sie aneinanderstieß. »Ich verstehe zwar nicht viel von Ziegeln, aber die sehen wunderbar aus.«
»Die ergeben Mauern wie für eine Burg«, sagte die Oberin. »Das Krankenhaus wird im Sommer kühl und im Winter warm sein. Es sind sehr dicht gebrannte Ziegel, die nehmen kein Wasser mehr auf. Und sie sind hier in der Gegend erhältlich, bei einem Mann namens Rosswell, der neben der Lehmgrube auf seinem Grund eine Ziegelbrennerei errichtet hat. Er hat so viel vorrätig, dass wir mit dem Bau beginnen können, und er ist ganz erpicht darauf, noch mehr für uns zu brennen. Er sagt, wenn wir eine dunklere Farbe wünschen, kann er die Ziegel räuchern.«
Shaman hob die Ziegel, die sich solide und konkret anfühlten, als halte er bereits die Wände des Krankenhauses in der Hand. »Ich finde, diese Farbe passt ausgezeichnet.«
»Das finde ich auch«, erwiderte Mater Miriam Ferocia, und die beiden lachten sich fröhlich an, wie zwei Kinder, die sich eine Süßigkeit teilen.
Spät an diesem Abend saß Shaman in der Küche und trank mit seiner Mutter Kaffee. »Ich habe Alex von seiner... Verwandtschaft mit Nick Holden erzählt«, sagte sie.
»Und wie hat Alex es aufgenommen?«
Sarah hob die Schultern. »Er hat es... einfach akzeptiert.« Sie lächelte schwach. »Er könne genausogut Nick Holden zum Vater haben wie einen toten Verbrecher, hat er gesagt.« Sie schwieg einen Augenblick, doch dann wandte sie ihr Gesicht wieder Shaman zu, und er sah, dass sie nervös war.
»Reverend Blackmer verläßt Holden’s Crossing«, sagte sie. »Der Pfarrer der Baptistenkirche in Davenport ist nach Chicago berufen worden, und die Kongregation hat Sydney die freie Stelle angeboten.«
»Das tut mir leid. Ich weiß, wie sehr du ihn schätzt. Und jetzt muss die Kirche hier sich wieder nach einem neuen Priester umsehen.«
»Shaman«, sagte sie. »Sydney hat mich gebeten, mit ihm zu gehen - ihn zu heiraten.«
Er nahm ihre Hand, sie war kalt. »... Und was willst du tun, Mutter?«
»Wir sind... einander sehr nahe gekommen, seit seine Frau gestorben ist. Und als dann ich Witwe wurde, war er für mich ein Turm der Kraft.« Sie drückte fest Shamans Hand. »Ich habe deinen Vater wirklich und aufrichtig geliebt. Ich werde ihn immer lieben.«
»Ich weiß.«
»In ein paar Wochen ist es ein Jahr seit seinem Tod. Hättest du etwas dagegen, wenn ich noch einmal heirate?«
Er stand auf und ging zu ihr.
»Ich bin eine Frau, die nur als Ehefrau leben kann.«
»Ich will einzig, dass du glücklich bist«, sagte er und legte seine Arme um sie.
Sie musste sich beinahe mit Gewalt aus seiner Umarmung lösen, damit er ihre Lippen sehen konnte. »Ich habe Sydney gesagt, wir können nicht heiraten, solange Alex mich noch braucht.«
»Ma, es ist besser für ihn, wenn du ihn nicht mehr hinten und vorne bedienst.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Ihr Gesicht strahlte. Einen Augenblick sah er, wie sie wohl als junges Mädchen ausgesehen haben musste, und das Herz blieb ihm beinahe stehen.
»Danke, mein lieber Shaman! Ich werde es Sydney sagen«, rief sie freudig.
Der Stumpf seines Bruders verheilte wunderbar. Alex war in der beständigen Obhut seiner Mutter und der Kirchendamen. Obwohl er zunahm und seine knochige Gestalt allmählich wieder kräftig wurde, lächelte er selten, und sein Blick blieb überschattet. In Rock Island schuf sich eben ein Mann namens Wallace einen Ruf als Hersteller falscher Gliedmaßen, und nach langem Drängen ließ Alex sich dazu überreden, mit Shaman zu ihm zu fahren. An einer Wand von Wallaces Werkstatt hing eine faszinierende Sammlung von holzgeschnitzten Händen, Füßen, Armen und Beinen. Der Prothesenmacher war von einer Rundlichkeit, die einen dazu verleitete, auf einen fröhlichen, heiteren Charakter zu schließen, doch dieser Mann nahm seine Arbeit sehr ernst. Mehr als eine Stunde lang vermaß er Alex, der dazu stehen, sitzen, sich strecken, gehen, erst ein Knie und dann beide beugen, sich hinknien und sich hinlegen musste. Zum Schluss kündigte er ihnen an, sie könnten das falsche Bein in sechs Wochen abholen. Alex war nur einer aus einer ganzen Armee von Krüppeln. Shaman sah sie, sooft er in die Stadt fuhr, ehemalige Soldaten mit fehlenden Gliedmaßen und viele von ihnen mit verstümmelter Seele.
Stephen Hume, der alte Freund seines Vaters, kehrte hochdekoriert zurück, doch drei Tage nach seiner Ernennung zum Brigadegeneral anlässlich der Schlacht bei Vicksburg hatte ihn eine Kugel knapp unterhalb des rechten Ellbogens getroffen. Er hatte den Arm zwar nicht verloren, aber durch die Verletzung waren die Nerven zerstört, so dass er nur noch ein nutzloses Anhängsel wie einen dauerhaft gebrochenen Arm in einer schwarzen Schlinge trug. Zwei Monate vor Humes Heimkehr war der Honorable Daniel P. Allen gestorben, und der Gouverneur ernannte den Kriegshelden zu dessen Nachfolger als Richter am Bezirksgericht. Richter Hume hatte seine Arbeit bereits aufgenommen, woran Shaman sah, dass einige der ehemaligen Soldaten ohne Anpassungsschwierigkeiten ins Zivilleben zurückkehrten, während andere Probleme hatten, die sie plagten und lähmten. Er versuchte, alle Entscheidungen, die die Farm betrafen, mit Alex zu besprechen. Noch immer gab es kaum Männer für die Farmarbeit, doch Doug Penfield hatte einen gewissen Billy Edwards aufgetrieben, der in Iowa bereits mit Schafen zu tun gehabt hatte. Shaman sprach mit ihm und sah, dass er kräftig und arbeitswillig war; zudem hatte George Cliburn ihn empfohlen. Shaman fragte Alex, ob auch er mit Edwards reden wolle.
»Nein, keine Lust.«
»Aber wäre es denn nicht besser, wenn du es tätest? Schließlich wird der Mann für dich arbeiten, wenn du dich wieder um die Farm kümmerst.«
»Ich glaube nicht, dass ich mich je wieder um die Farm kümmern werde.«
»Was?«
»Vielleicht arbeite ich mit dir. Ich kann doch dein Gehör sein wie dieser Mann im Krankenhaus in Cincinnati, von dem du mir erzählt hast.«
Shaman lächelte. »Aber ich brauche doch kein Vollzeitgehör. Es ist fast immer jemand da, der mir seine Ohren leiht, wenn ich sie brauche. Nein, ernsthaft: Hast du schon eine Vorstellung, was du machen willst?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
»Na, du hast ja Zeit, es dir zu überlegen«, sagte Shaman und war froh, nicht weiter auf das Thema eingehen zu müssen.
Billy Edwards war ein guter Arbeiter, aber wenn er zu arbeiten aufhörte, war er ein Quassler. Er redete über Bodenqualität und Schafzucht, von den Getreidepreisen und von den Vorteilen, die ein Eisenbahnanschluss mit sich bringen würde. Doch eines Tages redete er über die Rückkehr der Indianer nach Iowa, und sofort horchte Shaman auf.
»Was soll das heißen: Sie sind zurückgekehrt?«
»Eine gemischte Truppe aus Sauks und Mesquakies. Sie haben das Reservat in Kansas verlassen und sind nach Iowa zurückgekommen.« Wie Makwa-ikwas Leute, dachte Shaman. »Gibt es Schwierigkeiten? Mit den Leuten in der Gegend?«
Edwards kratzte sich am Kopf. »Nein. Es kann ihnen eigentlich keiner mehr Schwierigkeiten machen. Diese Indianer sind schlau. Sie haben sich ihr eigenes Land gekauft, ganz legal. Mit guten amerikanischen Dollars.« Er grinste. »Natürlich ist das Land, das sie gekauft haben, wahrscheinlich das schlechteste im ganzen Staat, ‘ne Menge gelber Erde. Aber sie haben Felder angesät und sich Hütten gebaut - eine richtige kleine Stadt. Sie nennen sie Tama, nach einem ihrer Häuptlinge, soweit ich weiß.«
»Wo liegt diese Indianerstadt?«
»Ungefähr hundert Meilen westlich von Davenport. Und ein bisschen nördlich davon.« Shaman wusste sofort, dass er die Stadt sehen musste.
Ein paar Tage später kam Nick Holden in einem großartigen neuen Wagen mit Kutscher auf die Cole-Farm gefahren. In weiser Voraussicht vermied es Shaman, den Kommissar für Indianerangelegenheiten nach den Sauks und Mesquakies in Iowa zu fragen. Er und seine Mutter dankten Holden für seine Hilfe, und er war höflich und freundlich, doch es war offensichtlich, dass er wegen Alex gekommen war.
Den ganzen Vormittag saß er bei ihm am Bett. Als Shaman gegen Mittag seine Praxis schloss, sah er überrascht, dass Nick und dessen Kutscher Alex in den Wagen halfen.
Sie blieben den ganzen Nachmittag und einige Abendstunden weg. Bei der Rückkehr halfen Nick und der Kutscher Alex ins Haus, wünschten allen höflich eine gute Nacht und fuhren weg.
Alex erzählte nicht viel von den Ereignissen des Tages. »Wir sind ein bisschen herumgefahren. Und haben geredet.« Er lächelte. »Das heißt, vorwiegend hat er geredet, und ich habe zugehört. Wir hatten ein gutes Abendessen bei Anna Wiley.« Er zuckte mit den Achseln. Alex wirkte nachdenklich und ging früh zu Bett, denn der Tag hatte ihn angestrengt.
Am nächsten Morgen waren Nick und die Kutsche wieder da. Diesmal nahm Nick Alex mit nach Rock Island, und am Abend berichtete Alex von zwei erlesenen Mahlzeiten im dortigen Hotel.
Am dritten Tag fuhren sie nach Davenport. Alex kam früher nach Hause als an den beiden anderen Tagen, und Shaman hörte, wie er Nick eine angenehme Rückreise nach Washington wünschte.
»Ich melde mich mal wieder, wenn ich darf«, sagte Nick.
»Aber natürlich, Sir.«
Als Shaman an diesem Abend zu Bett ging, rief Alex ihn in sein Zimmer. »Nick will mich adoptieren«, sagte er.
»Was?«
Alex nickte. »Am ersten Tag hat er mir erzählt, dass Präsident Lincoln ihn um den Rücktritt gebeten hat, damit er einen anderen ernennen kann. Nick meint, es sei Zeit, dass er hierher zurückkommt und sich zur Ruhe setzt.
Heiraten will er nicht, aber er hätte gern einen Sohn. Sagt, er habe die ganze Zeit gewusst, dass er mein Vater ist.
Die drei Tage lang sind wir nur durch die Gegend gefahren und haben uns seine Besitztümer angesehen.
Außerdem hat er in West-Pennsylvania noch eine gutgehende Bleistiftfabrik und wer weiß, was sonst noch alles.
Er will, dass ich sein Erbe werde und meinen Namen in Holden ändere.«
Shaman fühlte sich traurig und zornig. »Na, du hast ja gesagt, dass du kein Farmer mehr sein willst.«
»Ich habe Nick versichert, dass es für mich keinen Zweifel daran gibt, wer mein Vater war. Mein Vater war der Mann, der meine jugendliche Unvernunft und meine Schandtaten geduldig ertragen, mir Disziplin beigebracht und Liebe geschenkt hat. Ich habe zu ihm gesagt, mein Name ist Cole.«
Shaman berührte seinen Bruder an der Schulter. Er brachte kein Wort heraus, sondern nickte nur. Dann küsste er seinen Bruder auf die Wange und ging zu Bett.
Am vereinbarten Tag holten sie die Prothese ab. Wallace hatte den Fuß so geschnitzt, dass man Strumpf und Schuh darüberziehen konnte.
Alex’ Stumpf wurde in die Muffe eingepasst und das Ganze mit Lederriemen unter- und oberhalb des Knies befestigt.
Alex hasste das Ding vom ersten Augenblick an. Das Tragen bereitete ihm große Schmerzen.
»Das kommt daher, dass Ihr Stumpf noch ganz empfindlich ist«, sagte Wallace. »Je öfter Sie die Prothese tragen, desto eher bilden sich Schwielen. Und bald spüren Sie überhaupt nichts mehr.«
Sie bezahlten den Holzfuß und nahmen ihn mit nach Hause. Aber Alex stellte ihn in den Schrank im Gang und weigerte sich, ihn anzulegen.
Wenn er ging, schleppte er sich auf den Krücken vorwärts, die Jimmie-Joe ihm im Gefangenenlager angefertigt hatte.
Eines Morgens Mitte März manövrierte Billy Edwards eine Wagenladung Stämme über den Hof und versuchte eben, das Ochsengespann, das er sich vom jungen Gruber geliehen hatte, zu wenden. Alden stand, auf seinen Stock gestützt, hinter dem Fuhrwerk und rief ihm Anweisungen zu.
»Rückwärts, Junge! Zurück mit dem Ding!«
Billy gehorchte. Es war nur vernünftig anzunehmen, dass Alden, da er ihm befohlen hatte, rückwärts zu fahren, aus dem Weg gehen werde. Ein Jahr zuvor hätte Alden das auch ohne weiteres getan, doch jetzt sagte sein Verstand ihm zwar, dass er aus dem Weg gehen müsse, seine Krankheit aber verhinderte, dass der Befehl schnell genug die Beine erreichte. Ein hinten herausragender Stamm prallte mit der Kraft eines Rammbocks auf Aldens rechte Brustseite und warf ihn ein gutes Stück weit nach hinten, wo er regungslos im schlammigen Schnee liegen blieb.
Billy platzte in die Praxis, als Shaman eben die neu angekommene Molly Thornwell untersuchte, deren Schwangerschaft durch die lange Reise aus Maine nicht gelitten hatte. »Es ist Alden! Ich glaube, ich habe ihn getötet«, rief Billy.
Sie trugen den Alten ins Haus und legten ihn auf den Küchentisch.
Shaman schnitt seine Kleidung auf und untersuchte ihn eingehend. Mit blassem Gesicht schleppte sich Alex humpelnd die Treppe herunter und sah Shaman fragend an.
»Einige Rippen sind gebrochen. In seiner Hütte können wir ihn nicht pflegen. Ich werde ihn ins Gästezimmer legen, und ich ziehe wieder zu dir in unser altes Zimmer.«
Alex nickte. Er trat beiseite und sah zu, wie Shaman und Billy Alden nach oben trugen.
Bald darauf erhielt Alex doch noch Gelegenheit, Shamans Gehör zu sein. Er horchte konzentriert an Aldens Brust und berichtete Shaman, was er hörte. »Wird er wieder gesund?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Shaman. »Seine Lunge scheint nicht verletzt zu sein. Einem gesunden, kräftigen Menschen machen ein paar gebrochene Rippen nicht allzuviel aus, aber in seinem Alter und mit seiner Krankheit...«
Alex nickte. »Ich werde bei ihm bleiben und ihn pflegen.«
»Bist du sicher? Ich kann Mater Miriam um Krankenschwestern ersuchen.«
»Ich würde es gerne tun«, sagte Alex. »Ich habe genug Zeit!«
So hatte Shaman zusätzlich zu den Patienten, die sich auf ihn verließen, auch noch zwei Mitglieder seines Haushalts, die ihn brauchten. Obwohl er ein sehr mitfühlender Arzt war, merkte er, dass die Behandlung ihm Nahestehender nicht das gleiche war wie die Behandlung anderer Patienten. Er fühlte noch mehr Verantwortung und sorgte sich mehr. Wenn er am Ende des Tages nach Hause eilte, schienen die Schatten länger und dunkler zu sein.
Doch es gab auch heitere Augenblicke. Eines Nachmittags besuchten ihn zu seiner freudigen Überraschung Joshua und Hattie alleine. Es war das erstemal, dass sie ohne Begleitung den Langen Weg gehen durften, und sie waren sehr würdevoll und ernst, als sie Shaman fragten, ob er vielleicht Zeit habe, mit ihnen zu spielen. Er freute sich und es war ihm eine Ehre, mit ihnen eine Stunde lang im Wald spazierenzugehen, wo sie die Blüten der ersten Porzellansternchen und deutliche Spuren eines Hirsches im Schnee sahen.
Alden hatte Schmerzen. Shaman gab ihm Morphium, doch das Betäubungsmittel, das Alden vorzog, wurde aus Getreide destilliert. »Also gut, gib ihm Whiskey!« sagte Shaman zu Alex. »Aber in Maßen, verstanden?«
Alex nickte und hielt sein Wort. Das Krankenzimmer bekam nun bald den für Alden typischen Whiskeygeruch, auch wenn ihm nur zwei Unzen am Mittag und noch einmal zwei Unzen am Abend gestattet waren.
Manchmal löste Sarah oder Lillian Alex ab. Eines Abends übernahm Shaman die Krankenwache. Er setzte sich neben das Bett und las in einer medizinischen Zeitschrift, die er aus Cincinnati erhalten hatte. Alden war unruhig, wachte immer wieder auf und schlief dann wieder ein. Im Halbschlaf murmelte er und unterhielt sich mit unsichtbaren Personen, wiederholte Arbeitsbesprechungen mit Doug Penfield oder fluchte auf Raubzeug, das hinter den Schafen her war. Shaman betrachtete das alte, faltige Gesicht, die müden Augen, die große, rote Nase mit den haarigen Löchern, und er dachte an Alden, wie er ihn früher gekannt hatte, stark und tüchtig, der ehemalige Jahrmarktsboxer, der den Cole-Jungen beigebracht hatte, ihre Fäuste zu gebrauchen.
Allmählich beruhigte sich Alden und schlief eine Weile lang tief. Shaman beendete den Artikel über Knickbrüche und wollte gerade den über den grauen Star beginnen, als er den Kopf hob und merkte, dass Alden ihn ruhig und mit klarem, festem Blick ansah. »Ich wollte nicht, dass er dich umbringt. Ich wollte doch nur, dass er dich einschüchtert«, sagte Alden.
Eine Reise nach Nauvoo
Da Shaman und Alex sich nun wieder ein Zimmer teilten, kamen sie sich manchmal vor, als wären sie noch die kleinen Jungen von einst. Als Alex eines Morgens bei Tagesanbruch schlaflos in seinem Bett lag, zündete er die Lampe an und beschrieb seinem Bruder die Geräusche des beginnenden Frühlings: das Trillern und Jubilieren der Vögel, das ungeduldige Plätschern der Bäche, die ihre alljährliche Reise zum Meer begannen, das dröhnende Rauschen des Flusses, das knirschende Krachen, wenn zwei riesige Eisschollen aufeinanderprallten. Aber Shaman war mit seinen Gedanken nicht beim Wesen der Natur. Er dachte über das Wesen des Menschen nach, er erinnerte sich an Dinge und fügte Geschehnisse zusammen, die in der Verbindung plötzlich neue Bedeutung erhielten. Mehr als einmal stand er mitten in der Nacht auf und ging auf kalten Böden durch das stille Haus, um in den Tagebüchern seines Vaters etwas nachzulesen.
Und er beobachtete Alden mit besonderer Sorgfalt und einer eigenartigen, faszinierten Sanftmut, einer neuen, kühlen Wachsamkeit. Manchmal betrachtete er den alten Mann, als sähe er ihn zum erstenmal. Alden verbrachte die Tage in einem ruhelosen Halbschlaf. Doch eines Abends riss Alex, als er ihn mit dem Stethoskop abhörte, die Augen auf. »Da ist ein neues Geräusch... als würde man zwei Haarsträhnen mit den Fingern aneinander reiben.«
Shaman nickte. »Das sind Rasselgeräusche.«
»Und was bedeuten sie?«
»Dass mit seiner Lunge etwas nicht stimmt«, sagte Shaman.
Am 9. April heirateten Sarah Cole und Sydney Blackmer in der First Baptist Church von Holden’s Crossing. Die Trauung vollzog Reverend Gregory Bushman, dessen Stelle Sydney in Davenport einnehmen sollte. Sarah trug ihr bestes graues Kleid, das Lillian an Kragen und Manschetten mit von Rachel erst am Tag zuvor fertiggestellter Spitze verschönert hatte.
Mr. Bushman predigte sehr schön, es machte ihm offensichtlich Freude, einen Kollegen zu verheiraten. Alex erklärte Shaman, dass Sydney sein Gelübde mit der kräftigen, selbstsicheren Stimme eines Geistlichen ablegte, Sarah dagegen das ihre leise und in zitterndem Ton. Als das Paar sich nach der Zeremonie der Gemeinde zuwandte, sah Shaman, dass seine Mutter unter ihrem kurzen Schleier lächelte. Nach dem Gottesdienst zog die Gemeinde zum Farmhaus der Coles. Die meisten Gäste brachten einen zugedeckten Teller mit Speisen mit, obwohl die ganze Woche zuvor Sarah und Alma Schroeder gekocht und Lillian gebacken hatten. Die Leute aßen und aßen, und Sarah freute sich sehr darüber.
»Wir haben alle Schinken und Würste aus dem Kühlhaus aufgebraucht. Ihr werdet noch im Frühjahr schlachten müssen«, sagte sie zu Doug Penfield.
»Aber mit Vergnügen, Mrs. Blackmer«, erwiderte Doug galant - als erster, der sie bei diesem Namen nannte.
Nachdem der letzte Gast gegangen war, nahm Sarah ihren gepackten Koffer und küsste ihre Söhne. Sydney fuhr sie in seinem Buggy zu dem Pfarrhaus, das sie schon wenige Tage später wieder verlassen würde, um mit ihm nach Davenport zu ziehen.
Kurze Zeit später holte Alex seinen falschen Fuß aus dem Schrank im Gang und schnallte ihn sich ohne fremde Hilfe an. Shaman hatte es sich im Arbeitszimmer bequem gemacht und las in medizinischen Fachzeitschriften.
Immer und immer wieder stapfte Alex an der geöffneten Tür vorbei, während er mit vorsichtigen Schritten im Gang auf und ab ging. Shaman merkte an der Stärke der Erschütterungen, dass sein Bruder das Bein mit der Prothese viel zu hoch hob, und er wusste, welche Schmerzen Alex jeder Schritt bereiten musste. Als Shaman in ihr gemeinsames Schlafzimmer kam, war Alex bereits eingeschlafen. Die Prothese steckte noch in Strumpf und Schuh und stand neben Alex’ rechtem Schuh, als gehöre sie dort hin.
Am nächsten Vormittag trug Alex die Prothese in der Kirche als Hochzeitsgeschenk für Sarah. Die Brüder waren zwar keine Kirchgänger, aber ihre Mutter hatte sie gebeten, zur Feier ihrer Verehelichung an diesem Sonntag am Gottesdienst teilzunehmen, und nun konnte sie den Blick nicht von ihrem Erstgeborenen lösen, als der den Mittelgang entlang zur vordersten Bank ging, die für die Familie des Pfarrers reserviert war. Alex stützte sich auf einen Stock aus Eschenholz, den Rob J. in seiner Praxis aufbewahrt hatte, um ihn an Patienten auszuleihen.
Manchmal zog er den falschen Fuß etwas nach, manchmal hob er ihn zu hoch. Aber er strauchelte nicht und ging mit festem Schritt auf seine Mutter zu.
Sie saß zwischen ihren Söhnen und erlebte, wie ihr Gatte mit der Gemeinde andächtig betete. Die Predigt begann er damit, allen zu danken, die mit ihm seine Hochzeit gefeiert hatten. Er sagte, dass Gott ihn nach Holden’s Crossing geführt habe und ihn nun wieder wegführe, und er dankte allen, die seine Amtszeit hier so bedeutungsvoll für ihn gemacht hatten.
Er war eben dabei, diejenigen beim Namen zu nennen, die ihm geholfen hatten, das Werk des Herrn zu tun, als plötzlich Lärm durch die halbgeöffneten Kirchenfenster drang. Zuerst war es nur ein schwaches Jubeln, das aber sehr schnell anschwoll. Eine Frau kreischte, und heisere Schreie waren zu hören. Auf der Hauptstraße feuerte jemand einen Schuss ab, und eine ganze Salve folgte.
Die Kirchentür sprang auf, und Paul Williams stürzte herein. Er lief zum Pfarrer und flüsterte ihm ins Ohr.
»Brüder und Schwestern«, sagte Sydney dann, und offensichtlich hatte er Mühe zu sprechen. »In Rock Island ist ein Telegramm eingetroffen ... Robert E. Lee hat sich gestern mit seiner Armee General Grant ergeben.«
Ein Raunen ging durch die Gemeinde. Einige standen auf. Shaman sah, dass sein Bruder sich mit geschlossenen Augen in der Bank zurück lehnte.
»Was bedeutet das, Shaman ?« fragte seine Mutter.
»Das bedeutet, dass es endlich überstanden und vorbei ist«, antwortete Shaman.
Shaman kam es so vor, als wären die Leute, wohin er in den nächsten Tagen auch kam, vor Frieden und Hoffnung trunken. Sogar die Schwerkranken lächelten und sprachen davon, dass nun bessere Tage angebrochen seien, und überall herrschten Freude und Lachen - doch auch Trauer, denn jeder kannte einen, der dem Krieg zum Opfer gefallen war.
Als Shaman am Donnerstag nach seinen Hausbesuchen zurückkehrte, wartete Alex hoffnungsvoll und zugleich ängstlich auf ihn, denn Alden zeigte verwirrende Symptome. Seine Augen waren offen, und er war bei Bewusstsein. Aber die Rasselgeräusche in seiner Lunge, sagte Alex, seien stärker geworden. »Außerdem fühlt er sich heiß an.«
»Hast du Hunger, Alden?« fragte ihn Alex. Alden sah ihn an, sagte aber nichts. Shaman und Alex stützten ihn auf und fütterten ihn mit Suppe, aber es war schwierig, weil er immer stärker zitterte. Seit Tagen gaben sie ihm nur Suppe oder Haferschleim, da Shaman Angst hatte, er könne feste Nahrung in die Luftröhre bekommen.
Shaman goss Terpentin in einen Kübel mit heißem Wasser, ließ Alden den Kopf über den Dampf halten und breitete ein Handtuch darüber. Lange atmete Alden die Dämpfe ein, bekam aber schließlich einen so heftigen Hustenanfall, dass Shaman den Kübel entfernte und diese Behandlung nicht noch einmal versuchte. In Wirklichkeit hatte er kein Mittel mehr, das Alden noch helfen konnte.
Die bittersüße Freude dieser Woche schlug am Freitagnachmittag in Entsetzen um. Als Shaman die Hauptstraße entlangritt, sah er sofort, dass die Nachricht von einer entsetzlichen Katastrophe die Runde machen musste. Die Leute standen in kleinen Gruppen beisammen und redeten. Er sah Anna Wiley, die weinend auf der Veranda ihrer Pension an einem Pfosten lehnte. Simeon Cowan, der Mann von Dorothy Burnham Cowan, saß auf seinem Buckboard, die Augen halb geschlossen, die Lippen zwischen Zeigefinger und rissigem Daumen eingeklemmt.
»Was ist denn los?« fragte Shaman Simeon und war überzeugt davon, dass man den Frieden widerrufen hatte.
»Abraham Lincoln ist tot. Er wurde gestern Abend in einem Theater in Washington von dem verdammten Schauspieler Booth erschossen.« Shaman weigerte sich, einer solchen Nachricht Glauben zu schenken, doch sie wurde ihm von allen Seiten bestätigt, als er abstieg und die Leute fragte. Obwohl niemand etwas Genaues wusste, war doch offensichtlich, dass die Geschichte stimmte, und er ritt heim, um Alex die Neuigkeit zu berichten.
»Der Vizepräsident wird an seine Stelle treten«, sagte Alex. »Andrew Johnson ist bestimmt schon vereidigt.«
Dann saßen sie lange schweigend im Wohnzimmer. »Unser armes Land!« sagte Shaman schließlich, als wäre Amerika ein Patient, der lange und heftig gegen die entsetzlichste aller Krankheiten angekämpft hatte und jetzt von einer Klippe gestürzt war.
Eine graue Zeit zog herauf. Wenn Shaman Hausbesuche machte, sah er nur traurige, ernste Gesichter, und abends läutete immer die Kirchenglocke. Eines Tages half Shaman Alex auf Trude, damit er ausreiten konnte; es war das erstemal seit seiner Gefangennahme, dass Alex auf einem Pferd saß. Bei seiner abendlichen Rückkehr erzählte er Shaman, dass der Klang der Glocke weit über die Prärie hinausgetragen werde, ein trostloser, verlorener Klang.
Wieder einmal wachte Shaman bei Alden, und als er irgendwann nach Mitternacht den Kopf von seiner Lektüre hob, sah er, dass der alte Mann ihn anblickte. »Willst du etwas, Alden?« Der Knecht schüttelte fast unmerklich den Kopf.
Shaman beugte sich über ihn. »Alden. Erinnerst du dich noch an den Abend, als vor dem Stall auf meinen Vater geschossen wurde? Und du im Wald nachgesehen und niemanden gefunden hast?« Alden zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Du hast auf meinen Vater geschossen.«
Alden leckte sich die Lippen. »...Wollt’ ihn nicht treffen... ihm nur Angst einjagen, damit er Ruhe gibt.«
»Willst du Wasser?«
Alden antwortete nicht, doch etwas später fragte er: »Wie hast du das herausgefunden?«
»Während du krank warst, hast du etwas gesagt, das mich eine Menge Dinge hat verstehen lassen. Zum Beispiel, weshalb du mich gedrängt hast, nach Chicago zu fahren und David Goodnow zu suchen. Du hast gewusst, dass er hoffnungslos debil und stumm ist, dass ich von ihm nichts erfahren würde.«
»... Was weißt du sonst noch?«
»Ich weiß, dass du in dieser Sache drinsteckst. Und zwar über beide Ohren.«
Alden nickte, auch das fast unmerklich. »Ich hab’ sie nicht umgebracht. Ich...« Ein langer, entsetzlicher Hustenanfall schüttelte Alden, und Shaman hielt ihm eine Schüssel hin, damit er ausspucken konnte - grauen, rosagefleckten Schleim. Danach war er bleich und erschöpft, und er schloss die Augen.
»Alden. Warum hast du Korff verraten, wohin ich fahre?«
»Du wolltest die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Hast in Chicago für ziemlichen Wirbel gesorgt. Korff hat jemand zu mir geschickt, nachdem du weg warst. Ich hab’ ihm gesagt, wo du hinwillst. Ich hab’ mir gedacht, er will nur mit dir reden, dir angst machen, so wie er mir angst gemacht hat.«
Alden keuchte. Shaman lagen noch eine Unmenge Fragen auf der Zunge, aber er wusste, wie krank Alden war.
Er saß da und war hin und her gerissen zwischen seinem Zorn und dem Eid, den er geleistet hatte. Am Ende schluckte er seine Fragen hinunter und sah Alden nur an, der mit geschlossenen Augen dalag und ab und zu ein wenig Blut hustete oder von Anfällen geschüttelt wurde.
Fast eine halbe Stunde später fing Alden von selbst wieder zu reden an: »Ich war der Anführer der American Party hier in der Gegend... An diesem Morgen hab’ ich Gruber... beim Schlachten geholfen. Bin früh wieder weg, um die drei zu treffen. In unserem Wald. Als ich hinkam, hatten sie die Frau... bereits gehabt. Ist auf dem Boden gelegen und hat gehört, wie ich mit denen geredet hab’. Ich hab’ angefangen zu schreien: Wie ich denn jetzt noch hierbleiben könnte? Sie würden ja wieder verschwinden, aber mich würde die Indianerin in furchtbare Schwierigkeiten bringen. Korff hat kein Wort gesagt. Hat einfach nur das Messer genommen und sie umgebracht.«
Shaman konnte ihm in diesem Augenblick keine Frage stellen. Er spürte, dass er vor Wut zitterte. Am liebsten hätte er geschrien wie ein Kind.
»Sie haben mir eingeschärft, nur ja nichts zu sagen, und sind fortgeritten. Ich hab’ gleich ein paar Sachen in eine Kiste gepackt. Hab’ mir ausgerechnet, dass ich würde fliehen müssen... Wusst’ nur nicht, wohin. Aber nachdem sie sie gefunden haben, hat kein Mensch sich um mich gekümmert oder mir auch nur Fragen gestellt.«
»Und du hast sogar geholfen, ihr Grab zu schaufeln, du elender Kerl«, sagte Shaman. Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Vielleicht traf der Ton seiner Worte Alden mehr als der Inhalt. Der Alte schloss die Augen und begann zu husten. Und diesmal ließ der Husten nicht mehr nach.
Shaman holte Chinin und etwas Schwarzwurzeltee, doch als er versuchte, Alden etwas einzuflößen, würgte und spuckte der und durchnässte sein Nachthemd, so dass es gewechselt werden musste. Einige Stunden später saß Shaman wieder an Aldens Bett und erinnerte sich an den Knecht, wie er ihn sein Leben lang gekannt hatte: der geschickte Handwerker, der Angelruten und Schlittschuhe angefertigt hatte, der Kundige, der ihnen Jagen und Fischen beigebracht hatte, der jähzornige Säufer.
Der Lügner, der Mann, der bei Vergewaltigung und Mord Beihilfe geleistet hatte.
Shaman stand auf, holte die Lampe und hielt sie Alden über das Gesicht. »Alden! Hör mir zu! Mit was für einem Messer hat Korff sie erstochen? Mit welcher Waffe, Alden?«
Aber die Lider blieben geschlossen. Alden Kimball war nicht anzusehen, ob er Shamans Stimme gehört hatte.
Gegen Morgen bekam Alden hohes Fieber. Er war bewusstlos. Wenn er hustete, war der Auswurf übelriechend, und das Sputum färbte sich immer mehr rot. Shaman legte den Zeigefinger auf Aldens Handgelenk; der Puls lief ihm davon, einhundertacht Schläge pro Minute. Er zog Alden aus und rieb ihn gerade mit Alkohol ab, als er bemerkte, dass der Tag schon angebrochen war. Alex spähte zur Tür herein. »Mein Gott. Er sieht ja schrecklich aus. Hat er Schmerzen?«
»Ich glaube nicht, dass er noch etwas spürt.«
Es fiel ihm schwer, Alex alles zu erzählen, und für Alex war es noch schwerer, dies alles zu hören, aber Shaman ließ trotzdem nichts aus. Alex hatte lange mit Alden eng zusammengearbeitet, hatte sich die anstrengende und schmutzige tägliche Farmarbeit mit ihm geteilt, hatte von ihm unzählige Handgriffe und Kniffe gelernt und hatte bei ihm Zuspruch und Aufmunterung gefunden, als er sich wie ein vaterloser Bastard vorkam und gegen Rob J.s Autorität rebellierte. Shaman wusste, dass Alex Alden liebte.
»Wirst du es den Behörden melden?« Alex wirkte äußerlich ruhig. Nur sein Bruder wusste, wie sehr er litt.
»Es wäre zwecklos. Er hat eine Lungenentzündung, die sich sehr schnell verschlimmert.«
»Stirbt er?«
Shaman nickte. »Um seinetwillen bin ich froh«, sagte Alex.
Sie saßen beisammen und überlegten, ob es eine Möglichkeit gab, irgendwelche Angehörigen zu benachrichtigen. Niemand wusste, wo sich die Mormonenfrauen mit ihren Kindern aufhielten, die der Knecht verlassen hatte, bevor er auf Rob J.s Farm gekommen war. Shaman bat Alex, in Aldens Hütte nachzuforschen, und der machte sich sofort daran. Doch als er zurückkam, schüttelte er nur den Kopf. »Drei Krüge Whiskey, zwei Angelruten, eine Flinte, Werkzeug, ein Pferdegeschirr, das er reparierte, schmutzige Wäsche. Und das da.«
Er hielt ein Blatt Papier in der Hand. »Eine Liste mit den Namen von Männern aus der Umgebung. Ich glaube, es ist die Mitgliederliste der American Party in dieser Region.«
Shaman wollte sie nicht sehen. »Du verbrennst sie am besten.«
»Bist du sicher?«
Shaman nickte. »Ich werde den Rest meines Lebens hier verbringen und mich um die Leute kümmern. Wenn ich als Arzt in ihre Häuser gehe, will ich nicht wissen, wer von ihnen ein Nichtswisser ist«, sagte er, und Alex nickte und steckte die Liste weg.
Shaman schickte Billy Edwards mit den Namen der Patienten, die zu Hause behandelt werden mussten, in den Konvent, und ließ Mater Miriam Ferocia bitten, die Hausbesuche zu übernehmen. Er schlief, als Alden im Laufe des Vormittags starb. Noch ehe er aufwachte, hatte Alex Alden bereits die Augen geschlossen und ihm frische Kleidung angezogen.
Als sie Doug und Billy den Tod des alten Mannes mitteilten, kamen die beiden ins Haus und standen ein paar Augenblicke vor dem Bett. Dann gingen sie in den Stall, um einen Sarg zu zimmern. »Ich will nicht, dass er hier auf der Farm begraben wird«, sagte Shaman.
Alex schwieg einen Augenblick, doch dann nickte er. »Wir können ihn nach Nauvoo bringen. Ich glaube, er hatte unter den Mormonen dort Freunde«, schlug er vor.
Der Sarg wurde mit dem Buckboard nach Rock Island gebracht und dort auf ein Flachboot verfrachtet. Die Cole-Brüder setzten sich in der Nähe auf eine Kiste Pflugscharen. Und während an diesem Tag die Leiche Abraham Lincolns in einem Eisenbahnzug auf die lange Reise nach Westen ging, fuhr die Leiche des Knechtes den Mississippi hinunter.
In Nauvoo wurde der Sarg am Dampfschiffkai ausgeladen, und Alex wartete bei ihm, während Shaman in ein Lagerhaus ging und dort einem Angestellten namens Perley Robinson erklärte, was sie in die Stadt geführt habe.
»Alden Kimball? Kenn’ ich nicht. Sie müssen Mrs. Bidamon um Erlaubnis bitten, wenn Sie ihn hier begraben wollen. Warten Sie! Ich werde Sie fragen.«
Kurz darauf war er schon wieder zurück. Die Witwe des Propheten Joseph Smith hatte gesagt, sie kenne Alden Kimball als Mormonen und ehemaligen Siedler in Nauvoo, und er könne im Friedhof der Stadt begraben werden.
Der kleine Friedhof lag weiter landeinwärts. Der Fluss war nicht zu sehen, aber Bäume spendeten Schatten, und jemand, der mit einer Sense umgehen konnte, hielt das Gras kurz. Zwei kräftige junge Männer schaufelten das Grab, und Perley Robinson, der zum Ältestenrat gehörte, las endlos aus dem »Buch Mormon«, während die Nachmittagsschatten immer länger wurden.
Danach rechnete Shaman ab. Die Begräbniskosten beliefen sich auf sieben Dollar, einschließlich der viereinhalb Dollar für die Grabstelle. »Für zwanzig Dollar sorge ich dafür, dass er einen schönen Stein bekommt«, sagte Robinson. »Gut«, erwiderte Alex schnell. »In welchem Jahr wurde er geboren?«
Alex schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht. Lassen Sie einfach Alden Kimball. Gestorben 1865
einmeißeln.«
»Wissen Sie was? Wir könnten Heiliger daruntersetzen.« Aber Shaman sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Nur den Namen und das Todesjahr«, sagte er.
Perley Robinson sagte, dass in Kürze ein Boot vorbeifahre. Er zog die rote Fahne auf, damit es anlegte, und bald saßen die Brüder auf Deck, während die Sonne aus einem blutenden Himmel auf Iowa niedersank. »Was hat ihn wohl zu den Nichtswissern gebracht?« fragte Shaman nach einer Weile.
Alex erwiderte, ihn habe das nicht überrascht. »Er hatte einen starken Hass in sich. Und er war wegen vieler Dinge verbittert. Er hat mir oft erzählt, dass sein Vater als ein in Amerika Geborener in Vermont als Knecht gestorben sei und dass auch er als Knecht sterben werde. Es ärgerte ihn, wenn er sah, dass Ausländer sich Farmen kauften.«
»Warum hat er es denn selber nicht getan? Pa hätte ihm doch sicher geholfen, sich etwas Eigenes zu schaffen.«
»Etwas war in ihm. Wir haben die ganzen Jahre mehr von ihm gehalten als er selber von sich«, erwiderte Alex.
»Kein Wunder, dass er trank. Denk doch nur, womit der arme Kerl die ganze Zeit leben musste!« Shaman schüttelte den Kopf. »Wenn ich über ihn nachdenke, habe ich ihn als einen Mann vor Augen, der insgeheim über Pa lacht. Und der mich an einen Mann verraten hat, von dem er wusste, dass er ein Mörder war.«
»Das hat dich aber nicht davon abgehalten, ihn fürsorglich zu pflegen, auch nachdem du es wusstest«, bemerkte Alex.
»Na ja«, sagte Shaman bitter. »Im Grunde war es das zweitemal in meinem Leben, dass ich einen Menschen töten wollte.«
»Aber du hast es nicht getan. Statt dessen hast du versucht, ihn zu retten«, sagte Alex. Er sah Shaman an. »... Im Lager in Elmira, da habe ich mich um die Männer in meinem Zelt gekümmert. Wenn sie krank waren, habe ich mir überlegt, was Pa tun würde, und dann habe ich es getan. Es hat mich glücklich gemacht.« Shaman nickte.
»Glaubst du, dass ich auch Arzt werden könnte?« Die Frage verblüffte Shaman. Er zwang sich dazu, gründlich zu überlegen, bevor er antwortete. Dann nickte er. »Ich glaube schon, Alex.«
»Aber ich bin bei weitem kein so gelehriger Schüler wie du.«
»Du bist viel intelligenter, als du zugeben willst. In der Schule hattest du keine große Lust zu lernen. Aber wenn du jetzt hart arbeitest, glaube ich, dass du es schaffst. Du könntest bei mir in die Lehre gehen.«
»Ich möchte so lange bei dir arbeiten, bis ich mich in Chemie und Anatomie und in allem anderen, was ich deiner Meinung nach brauche, genügend vorbereitet habe. Dann möchte ich lieber an eine Medical School gehen, wie ihr - du und Pa - es getan habt. Ich möchte gern in den Osten. Vielleicht bei Pas Freund in Boston studieren, bei Dr. Holmes.«
»Du hast ja bereits ganz genaue Pläne! Du hast wohl schon sehr lange darüber nachgedacht?«
»Ja. Und ich hatte noch nie solche Angst«, erwiderte Alex. Und die beiden lächelten zum erstenmal seit Tagen.
Familiengeschenke
Auf dem Rückweg von Nauvoo machten die Brüder in Davenport halt und besuchten ihre Mutter, die in dem kleinen, ziegelgemauerten Pfarrhof neben der Kirche hilflos zwischen unausgepackten Schachteln und Kisten saß. Sydney war bereits seelsorgerisch unterwegs. Shaman sah, dass Sarahs Augen gerötet waren. »Stimmt etwas nicht, Ma?«
»Nein. Sydney ist ein äußerst gütiger Mann, und wir lieben uns sehr Ich will nirgendwo anders sein als hier, aber... es ist eben eine große Veränderung. Alles ist neu und erschreckend, und ich lass mich davon verrückt machen.«
Aber sie war froh, ihre Söhne zu sehen.
Sie fing wieder an zu weinen, als sie ihr von Alden erzählten, und es sah aus, als wolle sie nicht mehr aufhören.
»Ich weine nicht nur wegen Alden«, sagte sie, als sie versuchten, sie zu trösten, »ich weine auch aus schlechtem Gewissen. Ich habe Makwa-ikwa nie gemocht, und ich war nicht nett zu ihr. Aber...«
»Ich glaube, ich weiß, wie ich dich auf andere Gedanken bringen kann«, sagte Alex. Er begann, ihre Kisten auszupacken, und Shaman ebenfalls. Nach wenigen Minuten waren ihre Tränen getrocknet, und sie half ihnen.
»Ihr wisst ja gar nicht, wo die Sachen alle hingehören!« Beim Auspacken erzählte ihr Alex von seinem Entschluss, Medizin zu studieren, und Sarah hieß ihn respektvoll und erfreut gut. »Darüber wäre Rob J. sehr glücklich gewesen.«
Sie führte sie durch das kleine Haus. Die Einrichtung war in einem schlechten Zustand und zu spärlich. »Ich werde Sydney bitten, ein paar Möbelstücke in den Schuppen zu bringen, und wir holen uns dann einige von meinen Sachen aus Holden’s Crossing.« Sarah kochte Kaffee und schnitt einen Apfelkuchen an, den eine »ihrer«
Gemeindedamen gebracht hatte. Während sie ihn aßen, kritzelte Shaman Ziffern auf die Rückseite einer alten Rechnung. »Was machst du denn da?« fragte Sarah.
»Ich habe eine Idee.« Er sah die beiden an, weil er nicht genau wusste, wie er anfangen sollte, doch dann fragte er sie direkt: »Was würdet ihr davon halten, wenn ich dem neuen Krankenhaus eine Viertelparzelle unseres Landes schenke?«
Alex wollte sich eben eine Gabel voll Kuchen in den Mund schieben, doch jetzt hielt er inne, um etwas zu sagen.
Shaman drückte die Hand, die die Gabel hielt, nach unten, damit er den Mund seines Bruders sehen konnte.
»Ein Achtel der Farm?« fragte Alex noch einmal. »Nach meiner Rechnung könnte das Hospital, wenn wir das Land stiften, dreißig statt fünfundzwanzig Betten haben.«
»Aber Shaman... fünfundzwanzig Morgen?«
»Wir haben doch die Herde bereits verkleinert. Und es wäre immer noch Land zur Bewirtschaftung übrig, auch wenn wir die Herde wieder vergrößern sollten.«
Seine Mutter runzelte die Stirn. »Du musst darauf achten, dass das Krankenhaus nicht zu nahe an unserem Haus gebaut wird.« Shaman holte tief Atem. »Das Haus steht auf der Viertelparzelle, die ich dem Krankenhaus stiften will. Damit hätte das Krankenhaus eine eigene Anlegestelle am Fluss und Wegerecht zur Überlandstraße.« Die beiden anderen sahen ihn nur an.
»Du wirst ja jetzt hier wohnen«, sagte er zu seiner Mutter. »Ich möchte für Rachel und die Kinder ein neues Haus bauen. Und du«, sagte er zu Alex, »wirst während des Studiums und der Ausbildung einige Jahre von zu Hause weg sein. Ich würde aus dem Haus eine Ambulanz machen, eine Stätte, wo Patienten, die nicht so krank sind, dass sie im Krankenhaus liegen müssen, behandelt werden können. Es ließen sich dort auch zusätzliche Untersuchungsräume einrichten und Wartezimmer. Vielleicht auch die Krankenhausverwaltung und eine Apotheke. Wir könnten das Ganze die Robert Judson Cole Memorial Clinic nennen.«
»Ach, das würde mir schon gefallen«, sagte seine Mutter, und als er ihr in die Augen sah, wusste er, dass er sie auf seiner Seite hatte. Auch Alex nickte. »Bist du sicher?«
»Ja«, sagte Alex.
Es war schon spät, als sie das Pfarrhaus verließen und mit der Fähre den Mississippi überquerten. Und nachdem sie Pferd und Wagen im Mietstall in Rock Island abgeholt hatten, war es bereits Nacht. Aber sie kannten den Weg sehr gut und fuhren im Dunkeln nach Hause. In Holden’s Crossing angekommen, merkte Shaman, dass es schon viel zu spät war, um noch zum Konvent zu reiten. Er wusste, er würde diese Nacht nicht schlafen können und gleich in aller Frühe hinübereilen. Er konnte es nicht erwarten, Mater Miriam Ferocia die gute Nachricht zu bringen.
Fünf Tage später spazierten vier Landvermesser mit ihren Theodoliten und stählernen Maßbändern über die Viertelparzelle. Es gab keinen Architekten in der Region zwischen den Flüssen, aber der Bauunternehmer mit dem besten Ruf war ein Mann namens Oscar Ericsson aus Rock Island. Shaman und die Oberin trafen sich mit ihm und unterhielten sich lange mit ihm. Der Unternehmer hatte bereits ein Rathaus und einige Kirchen gebaut, doch vorwiegend Privathäuser und Geschäfte. Das war seine erste Gelegenheit, ein Krankenhaus zu errichten, und er hörte den beiden sehr aufmerksam zu. Als sie dann seine Grobskizzen betrachteten, wussten sie, dass sie ihren Baumeister gefunden hatten.
Ericsson begann damit, einen Plan für das Gelände zu erstellen und den Verlauf von Wegen und Straßen vorzuschlagen. Ein Fußweg zwischen der Ambulanz und der Anlegestelle hätte direkt an Aldens Hütte vorbeigeführt. »Am besten wird es sein, Sie und Billy reißen sie ab und zersägen die Stämme und Bretter zu Feuerholz«, sagte Shaman zu Doug Penfield, und die beiden Arbeiter machten sich sofort ans Werk. Als Ericssons erster Arbeitstrupp ankam, um den Baugrund vorzubereiten, war es, als hätte die Hütte nie existiert.
An diesem Nachmittag fuhr Shaman mit Boss vor dem Buckboard zu seinen Hausbesuchen, da kam ihm die Mietkutsche aus Rock Island entgegen. Neben dem Kutscher saß ein Mann, und Shaman winkte beiden zu, als sie vorbeifuhren. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ihm bewusst wurde, wer der Fahrgast gewesen war, und er wendete das Gefährt in einem weiten Bogen und eilte ihnen nach. Sobald er auf gleicher Höhe mit der Mietkutsche war, winkte er dem Kutscher, er solle anhalten, und sprang dann mit einem Satz vom Buckboard.
»Jay!« rief er.
Auch Jason Geiger kletterte von dem Wagen. Er hatte abgenommen; kein Wunder, dass Shaman ihn nicht gleich erkannt hatte. »Shaman?« sagte er. »Mein Gott, du bist es wirklich.« Er hatte keinen Koffer, nur einen Segeltuchsack mit einer Zugschnur, den Shaman nun in seinen Buckboard warf.
Jay lehnte sich im Sitz zurück und schien die Umgebung förmlich einzuatmen. »Wie hab’ ich das alles vermisst!« Er warf einen Blick auf die Behandlungstasche und nickte. »Lillian hat mir geschrieben, dass du jetzt Arzt bist. Ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich war, als ich das las. Deinen Vater muss...« Er fuhr nicht fort.
Dann sagte er: »Dein Vater stand mir näher als meine Brüder.«
»Er hat sich immer glücklich geschätzt, dich zum Freund zu haben.«
Geiger nickte. »Erwarten sie dich?«
»Nein. Ich habe es selber erst vor wenigen Tagen erfahren. Unionstruppen mit eigenem medizinischen Personal haben mein Lazarett übernommen und zu uns gesagt, wir könnten nach Hause gehen. Ich habe mir sofort Zivilkleider angezogen und mich in einen Zug gesetzt. In Washington hieß es, Lincolns Leiche sei in der Rotunde des Kapitols aufgebahrt, und ich bin hingegangen. Eine solche Menschenmenge hast du noch nie gesehen. Ich bin den ganzen Tag angestanden.«
»Hast du seine Leiche gesehen?«
»Einen kurzen Augenblick lang. Er wirkte sehr würdig. Eigentlich wollte man stehenbleiben und etwas zu ihm sagen, aber die Menge schob einen weiter. Mir fiel ein, dass diese Menge mich in Stücke reißen würde, wenn sie die graue Uniform in meinem Sack sehen könnte.« Er seufzte. »Lincoln wäre ein Versöhner gewesen. Jetzt fürchte ich, dass die, die jetzt an der Macht sind, seine Ermordung als Vorwand benutzen werden, um den Süden in den Staub zu stoßen.« Er brach ab, denn Shaman war in die Zufahrt eingebogen, die von der Straße zum Haus der Geigers führte. Shaman ließ Boss bis zur Seitentür fahren, die die Familie immer benutzte. »Kommst du mit rein?« fragte Jay. Shaman lächelte und schüttelte den Kopf. Er wartete, bis Jay den Segeltuchsack aus dem Wagen genommen hatte und steif die Treppe hinaufging. Es war sein Haus, und er betrat es, ohne anzuklopfen, während Shaman Boss leise zuschnalzte und losfuhr.
Tags darauf wartete Shaman, bis der letzte Patient sein Behandlungszimmer verlassen hatte, dann ging er auf dem Langen Weg zu den Geigers. Als er klopfte, öffnete Jason die Tür, und Shaman sah sofort an seinem Gesicht, dass Rachel mit ihm gesprochen hatte. »Komm herein!«
»Vielen Dank, Jay.«
Es half nicht viel, dass die beiden Kinder Shamans Stimme bereits erkannt hatten und aus der Küche gelaufen kamen, um sich an seine Beine zu klammern. Lillian stürzte hinter ihnen her und zerrte sie mit sich, während sie Shaman zur Begrüßung zunickte. Obwohl Joshua und Hattie protestierten, brachte sie die beiden in die Küche zurück.
Jay führte Shaman ins Wohnzimmer und deutete auf einen der Rosshaarsessel, auf den Shaman sich gehorsam setzte. »Meine Enkel haben Angst vor mir.«
»Sie kennen dich noch nicht richtig. Lillian und Rachel haben ihnen die ganze Zeit von dir erzählt. Opa hier und Zadik dort. Sobald sie dich als diesen guten Opa erkannt haben, wird alles gut.« Shaman fiel ein, dass Jay Geiger es vielleicht nicht schätzte, unter den gegebenen Umständen über seine Enkel belehrt zu werden, und er versuchte deshalb, das Thema zu wechseln. »Wo ist Rachel?« »Sie ist spazierengegangen. Sie... hat sich aufgeregt.«
Shaman nickte. »Sie hat dir von mir erzählt. Weißt du, ich habe sie mein ganzes Leben lang geliebt. Gott sei Dank bin ich kein Junge mehr... Jay, ich weiß, was du befürchtest.«
»Nein, Shaman. Bei allem Respekt, das wirst du nie wissen. Diese beiden Kinder haben das Blut von Hohepriestern in ihren Adern. Sie müssen als Juden erzogen werden.«
»Das werden sie auch. Wir haben das ausführlich besprochen. Rachel wird ihren Glauben nicht aufgeben. Joshua und Hattie können von dir erzogen werden, von dem Mann, der auch ihre Mutter erzogen hat. Ich möchte gerne mit ihnen Hebräisch lernen; ich hatte es eine Zeitlang im College belegt.«
»Wirst du konvertieren?«
»Nein... Eigentlich denke ich daran, ein Quäker zu werden.« Geiger schwieg. »Wenn deine Familie in einer Stadt leben würde, in der es nur deine Glaubensgenossen gäbe, könntest du Verbindungen erwarten, wie du sie dir für deine Kinder wünschst. Aber du hast die Deinen in die Welt hinausgeführt.«
»Ja, dafür übernehme ich die Verantwortung. Und jetzt muss ich sie zurückführen.«
Shaman schüttelte den Kopf. »Sie werden nicht mitkommen. Sie können es nicht.«
Jays Gesichtsausdruck blieb unverändert.
»Rachel und ich werden heiraten. Und wenn du sie tödlich verletzt, indem du die Spiegel verhängst und die Totenklage anstimmst, werde ich sie bitten, die Kinder zu nehmen und mit mir zu kommen, weit, weit weg von hier.«
Einen Augenblick lang fürchtete er einen berüchtigten Geigerschen Temperamentsausbruch, doch Jay nickte.
»Heute morgen hat sie mir gesagt, sie würde gehen.«
»Und gestern hast du mir gesagt, dass mein Vater dir im Herzen näher stand als deine Brüder. Ich weiß, dass du seine Familie liebst. Können wir uns denn nicht so lieben, wie wir sind?«
Jason war blass geworden. »Sieht so aus, als müssten wir es versuchen«, sagte er nachdenklich. Dann stand er auf und streckte Shaman die Hand entgegen.
Shaman beachtete die Hand nicht, sondern umschlang Jason mit beiden Armen. Einen Augenblick später spürte er seine Hände, die ihm tröstend über den Rücken strichen.
In der dritten Aprilwoche kehrte der Winter zurück nach Illinois. Die Temperaturen fielen, und es schneite.
Shaman sorgte sich wegen der Knospen auf den Pfirsichbäumen. Auf der Baustelle wurde die Arbeit unterbrochen, aber er ging mit Ericsson durch das Farmhaus und zeigte ihm, wo er Regale und Instrumentenschränke einbauen solle. Beide waren der Meinung, dass die Räume selbst kaum verändert werden mussten, um aus dem Haus eine Ambulanz zu machen. Als es aufhörte zu schneien, nutzte Doug Penfield die Kälte, um zu schlachten, wie er es Sarah versprochen hatte. Shaman ging an dem Schlachthaus hinter dem Stall vorbei und sah drei Schweine an ihren zusammengebundenen Hinterläufen von einer hohen Stange hängen. Drei waren viel zuviel, wurde ihm plötzlich bewusst, denn Rachel würde in ihrem Haushalt weder Schinken noch geräucherten Speck verwenden, und er musste über dieses Aufscheinen der interessanten Zusammenhänge, die sein Leben nun allmählich prägten, lächeln. Die Schweine waren bereits ausgeblutet, ausgenommen, in kochendes Wasser getaucht und von Borsten befreit. Sie waren von rosig-weißer Farbe, und er wollte schon weitergehen, als ihm die kleinen, einander gleichen Öffnungen in ihren dicken Halsschlagadern, aus denen sie geblutet hatten, ins Auge sprangen: Dreieckige Wunden, wie die Löcher, die Skistöcke im Schnee hinterließen.
Ohne sie nachmessen zu müssen, wusste Shaman, dass sie die richtige Größe hatten. Er stand da und starrte sie wie gebannt an, als Doug mit der Knochensäge dazukam.
»Die Löcher da. Womit haben Sie die gemacht?«
»Mit Aldens Stechmesser.« Doug lächelte ihn an. »Das ist eine wirklich komische Geschichte. Ich hab’ Alden immer wieder gebeten, mir so eins zu machen, schon seit dem erstenmal, als ich hier geschlachtet habe. Immer und immer wieder hab’ ich ihn darum gebeten. Und er hat immer gesagt, er macht mir eins. Er hat nämlich gemeint, dass es besser ist, Schweine abzustechen, als ihnen die Kehle durchzuschneiden. Er hat erzählt, dass er früher selber so ein Stechmesser gehabt hat, das dann aber verlorengegangen sei. Aber er hat mir nie eins gemacht. Dann haben wir seine Hütte abgerissen, und da war es: unter einem der Bodenbretter. Hat’s wahrscheinlich nur kurz weggelegt, als der Boden repariert wurde, und hat’s dann vergessen und das Brett einfach darübergenagelt. Hab’s nicht mal groß nachschleifen müssen.« Kurz darauf hielt Shaman das Stechmesser in der Hand. Es war das Instrument, das Barney McGowan vergeblich versucht hatte sich vorzustellen, als Shaman ihm im Pathologiesaal der Poliklinik von Cincinnati Makwas Wunden beschrieb und ihn fragte, von welcher Waffe sie stammen könnten. Es war etwa fünfundvierzig Zentimeter lang. Der Griff war rund und glatt und lag gut in der Hand. Wie Shamans Vater schon bei der Autopsie vermutet hatte, liefen die letzten achtzehn Zentimeter spitz zu, so dass die Wunde immer größer wurde, je tiefer das Stechmesser ins Gewebe drang. Seine drei Kanten funkelten gefährlich, und es war offensichtlich, dass sich der Stahl sehr gut schärfen ließ. Alden hatte immer guten Stahl verwendet. Shaman sah den Arm sich heben und senken. Heben und senken. Elfmal.
Bestimmt hatte sie nicht geschrien. Shaman sagte sich, dass sie wohl tief in ihrem Inneren war, an diesem Ort, wo kein Schmerz sie erreichen konnte. Er hoffte verzweifelt, dass das so war.
Er ließ Doug bei seiner Arbeit und trug das Instrument den Kurzen Weg zum Fluss hinunter. Er hielt es vorsichtig von sich weg, als könne es sich in eine Schlange verwandeln, die plötzlich hochschnellte, um ihn zu beißen. Er ging zwischen den Bäumen hindurch, vorbei an Makwas Grab und dem Platz, wo einst ihr hedonoso-te gestanden hatte. Am Ufer des Flusses holte er weit aus.
Das Stechmesser drehte und drehte sich, es segelte durch die Frühlingsluft und funkelte in der hellen Sonne wie ein Schwert. Aber es war nicht Excalibur. Kein von Gott gesandter Arm stieß aus der Tiefe hervor, um es aufzufangen und drohend zu schwingen. Statt dessen verschwand es, fast ohne Wellen zu machen, an der tiefsten Stelle des Flusses im Wasser. Shaman wusste, dass der Fluss es nie wieder hergeben würde, und eine Last, die er seit vielen Jahren trug - so lange schon, dass er sich ihrer gar nicht mehr bewusst war -, hob sich wie ein Vogel von seinen Schultern.
Neuland erschließen
Ende April war der Schnee wieder verschwunden, sogar in den verborgenen, schattigen Winkeln tief im Wald.
Die Spitzen der Pfirsichbäumchen waren erfroren, doch schon regte sich neues Leben unter dem schwärzlichen Gewebe und trieb grüne Knospen ans Licht. Am 13. Mai, einem milden Frühlingstag, wurden auf der Cole-Farm die Bauarbeiten mit dem ersten Spatenstich offiziell begonnen. Kurz nach Mittag stieg Seine Exzellenz James Duggan, der Bischof der Diözese Chicago, begleitet von drei Monsignores, in Rock Island aus dem Zug.
Sie wurden von Mater Miriam Ferocia und zwei Mietkutschen empfangen, die die Gesellschaft auf die Farm brachten. Dort wartete bereits eine größere Versammlung auf sie, darunter fast alle Ärzte der Gegend, die Schwestern des Konvents und der Priester, der ihnen als Beichtvater diente, die Stadtväter, ausgewählte Politiker wie Nick Holden und der Kongressabgeordnete John Kurland sowie eine Reihe von weiteren Bürgern. Mater Miriams Stimme klang fest und sicher, als sie die geistlichen Würdenträger begrüßte, doch ihr deutscher Akzent war deutlicher zu hören als gewöhnlich, was nur passierte, wenn sie nervös war. Sie stellte der Gemeinde die Prälaten vor und bat Bischof Duggan, das Bittgebet zu sprechen.
Dann machte sie Shaman mit den Gästen bekannt, der sie zu einer Besichtigungstour über das Gelände führte.
Der Bischof, ein stattlicher Mann mit gerötetem Gesicht und einer dichten, grauen Mähne, war offensichtlich sehr angetan von dem, was er sah. Als sie den Bauplatz erreichten, sprach Kurland kurz über die Bedeutung, die dieses Krankenhaus für seinen Wahlbezirk haben werde. Bischof Duggan ließ sich von Mater Miriam eine Schaufel reichen und schritt zum ersten Spatenstich, als hätte er das schon öfter getan. Dann nahm die Oberin die Schaufel, nach ihr Shaman und jeder Politiker, und schließlich schlossen sich noch einige Leute der Zeremonie an, die eines Tages mit Stolz ihren Kindern erzählen wollten, dass auch sie für das Krankenhaus des hl.
Franziskus den Spaten in die Hand genommen hätten.
Anschließend begaben sich alle zu einem Empfang in den Konvent. Auch hier stand eine ausgedehnte Besichtigungstour am Anfang: durch den Garten, zu den Schaf- und Ziegenherden auf der Wiese, in den Stall und schließlich in das Klostergebäude selbst. Miriam Ferocia musste sich auf einem schmalen Grat bewegen, denn einerseits wollte sie natürlich den Bischof mit angemessener Gastfreundschaft ehren, andererseits wusste sie jedoch, dass sie nicht als Verschwenderin erscheinen durfte. Sie löste das Problem bewundernswert, indem sie aus klostereigenen Erzeugnissen kleine Käsestangen hatte backen lassen, die warm zu Kaffee und Tee serviert wurden. Alles schien sehr gut zu laufen, doch Shaman hatte den Eindruck, dass Miriam Ferocia immer nervöser und besorgter wurde. Er bemerkte, dass sie Nick Holden nachdenklich ansah, der in dem gepolsterten Ledersessel neben dem Tisch der Oberin saß.
Als Holden aufstand und wegging, schien sie gespannt auf etwas zu warten, denn sie sah wiederholt zu Bischof Duggan hinüber. Shaman hatte sich bereits auf der Farm mit dem Bischof unterhalten, und ging jetzt zu ihm, um mit ihm zu sprechen, sobald sich die Gelegenheit ergab.
»Exzellenz«, sagte er, »sehen Sie, hier hinter mir, diesen großen Ledersessel mit den geschnitzten Armlehnen?«
Der Bischof schien verwirrt. »Ich sehe ihn, ja.«
»Exzellenz, diesen Stuhl haben die Nonnen in einem Wagen über die Prärie bis hierher gebracht. Sie nennen ihn den Bischofssessel. Sie träumten immer davon, dass ihr geistiger Hirte sie eines Tages besuchen kommen und sich in diesem schönen Stuhl ausruhen würde.« Bischof Duggan nickte ernsthaft, zwinkerte dabei jedoch Shaman zu. »Dr. Cole, ich glaube, Sie werden es weit bringen«, sagte er. Der Bischof war ein umsichtiger Mann.
Er ging zuerst zum Kongressabgeordneten und sprach mit ihm über die Zukunft der Militärpfarrer nach dem Ende des Krieges, erst ein paar Minuten später näherte er sich Miriam Ferocia. »Kommen Sie, Mutter Oberin!«
sagte er. »Wir wollen uns ein bisschen unterhalten!« Er zog einen einfachen Holzstuhl neben den Ledersessel und ließ sich mit einem wohligen Seufzen in die Polster sinken.
Bald waren die beiden in eine Unterhaltung über die Angelegenheiten des Klosters vertieft. Mater Miriam Ferocia saß aufrecht auf dem geraden Stuhl, und ihren Augen konnte man die Freude darüber ansehen, dass der Bischof sich so gut in dem Sessel machte: Er saß da, beinahe wie ein König, den Rücken gegen die Lederpolster gelehnt, die Hände auf die geschnitzten Armlehnen gestützt. Mary Peter Celestine, die das Gebäck servierte, bemerkte das Strahlen im Gesicht ihrer Oberin. Sie warf Mary Benedicta, die den Kaffee nachschenkte, einen Blick zu, und beide lächelten verschwörerisch.
Am Tag nach dem Empfang brachten der Sheriff und ein Deputy die Leiche einer dicken Frau mittleren Alters mit langen, schmutzigen, braunen Haaren zur Cole-Farm. Der Sheriff wusste nicht, wer die Frau war. Man hatte sie tot auf der Ladefläche eines geschlossenen Frachtkarrens entdeckt, der Zucker und Mehl für Haskins Gemischtwarenhandlung geliefert hatte.
»Wir glauben, sie ist in Rock Island in den Wagen gekrochen, aber niemand weiß, woher sie kommt, oder sonst etwas über sie«, sagte der Sheriff. Er trug sie mit dem Deputy in den Schuppen. Die beiden legten sie auf den Tisch, nickten dann zum Abschied und fuhren wieder weg. »Anatomiestunde!« kündigte Shaman seinem Bruder an. Sie zogen die Leiche aus, die alles andere als sauber war, und Alex sah zu, wie Shaman ihr Stroh und Läuse aus den Haaren kämmte. Mit dem Skalpell, das Alden ihm geschmiedet hatte, setzte Shaman den y-förmigen Schnitt, mit dem er die Brust öffnete. Dann entfernte er mit der Rippensäge das Brustbein und erklärte Alex dabei, wie die einzelnen Körperteile hießen und was er tat und weshalb. Als er zwischendurch den Kopf hob, sah er, dass Alex mit sich zu kämpfen hatte. »Gleichgültig, wie verkommen der menschliche Körper ist, er ist ein Wunder, das wir mit Staunen betrachten und gut behandeln müssen. Wenn ein Mensch stirbt, verlässt die Seele oder der Geist- die Griechen nennen es anemos - den Körper. Die Menschen haben sich schon immer darüber gestritten, ob dieser anemos auch stirbt oder in eine andere Welt übergeht.« Er lächelte, als er daran dachte, dass sein Vater und Barney ihm die gleiche Botschaft übermittelt hatten, und es erfüllte ihn mit ganz großer Freude, dass er nun das Vermächtnis weitergeben durfte. »Als Pa Medizin studierte, hat ihm sein Professor gesagt, dass der Geist den Körper zurücklässt wie einer, der ein Haus verlässt, in dem er lange gewohnt hat. Pa hat immer gesagt, wir müssen den Körper mit Würde behandeln, aus Respekt vor dem Menschen, der in dem Haus gewohnt hat.«
Alex nickte, und Shaman sah, dass er sich mit echtem Interesse über den Tisch beugte. Und während Alex die Hände seines Bruders beobachtete, kehrte auch die Farbe wieder in sein Gesicht zurück.
Jay hatte angeboten, Alex in Chemie und Pharmakologie zu unterrichten. An diesem Nachmittag saßen sie auf der Veranda des Cole-Hauses und beschäftigten sich mit den Elementen, während Shaman in der Nähe eine Zeitschrift las und hin und wieder eindöste. Doch Jay und Alex mussten ihre Bücher weglegen und Shaman der Hoffnung auf ein Nickerchen Lebewohl sagen, als Nick Holden auf den Hof gefahren kam. Shaman bemerkte, dass Alex Nick höflich, aber ohne Herzlichkeit begrüßte.
Nick war gekommen, um sich zu verabschieden. Er war noch immer US-Kommissar für Indianerangelegenheiten und kehrte nach Washington zurück.
»Dann hat Präsident Johnson Sie wohl gebeten, im Amt zu bleiben?« fragte Shaman.
»Nur für eine gewisse Zeit. Der holt sich schon seine eigenen Leute, da brauchen Sie keine Angst zu haben«, erwiderte Nick und schnitt ein Gesicht. Er erzählte ihnen, ganz Washington sei aus dem Häuschen wegen eines Gerüchtes über angebliche Verbindungen zwischen dem ehemaligen Vizepräsidenten und Präsident Lincolns Mörder. »Es wird behauptet, man habe einen Brief an Johnson mit der Unterschrift von John Wilkes Booth entdeckt. Und an dem Nachmittag vor dem tödlichen Schuss habe Booth an der Rezeption von Johnsons Hotel nach diesem gefragt, ihn aber nicht angetroffen.« Shaman überlegte, ob Anschläge in Washington nicht nur auf Präsidenten verübt würden, sondern auch auf den guten Ruf von Männern. »Hat Johnson zu diesem Gerücht Stellung genommen?«
»Er zieht vor, es zu ignorieren. Er spielt lieber den Präsidenten und redet darüber, wie das Finanzloch gestopft werden kann, das der Krieg in den Staatssäckel gerissen hat.«
»Das größte Loch, das der Krieg gerissen hat, kann nicht wieder aufgefüllt werden«, sagte Jay. »Eine Million Männer sind getötet oder verletzt worden. Und es werden noch mehr sterben, weil es noch immer Konföderiertennester gibt, die sich noch nicht ergeben haben.« Sie dachten noch über diese schreckliche Bilanz nach, als Alex plötzlich fragte: »Was wäre mit diesem Land passiert, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und Lincoln den Süden in Frieden hätte ziehen lassen?«
»Die Konföderation hätte nicht lange überlebt«, sagte Jay. »Die Leute aus dem Süden verlassen sich nur auf ihren eigenen Staat und misstrauen einer Zentralregierung. Da wäre es fast sofort zu Streitereien gekommen. Die Konföderation hätte sich in kleinere, regionale Gebiete aufgesplittert, und auch die hätten sich nach einiger Zeit in ihre Einzelstaaten aufgelöst. Ich glaube, dass alle Staaten, einer nach dem anderen, reumütig und verlegen darum gebettelt hätten, wieder in die Union aufgenommen zu werden.«
»Die Union verändert sich«, bemerkte Shaman. »Die American Party hatte bei der letzten Wahl kaum noch Bedeutung. In Amerika geborene Soldaten haben irische, deutsche und skandinavische Kameraden auf dem Schlachtfeld sterben sehen, und sie sind nicht länger bereit, auf bigotte Politiker zu hören. Die >Chicago Daily Tribune< behauptet, die Nichtswisser seien am Ende.«
»Gott sei Dank!« sagte Alex.
»Sie waren doch nur eine politische Partei unter vielen«, meinte Nick beschwichtigend.
»Eine politische Partei, die andere, gefährlichere Gruppen ins Leben gerufen hat«, sagte Jay. »Aber denkt euch nichts! Dreieinhalb Millionen ehemalige Sklaven ziehen jetzt auf Arbeitssuche über das Land. Es wird neue gewalttätige Organisationen geben, die dann die Schwarzen bekämpfen, wahrscheinlich mit denselben Namen auf ihren Mitgliederlisten.«
Nick Holden stand auf, um sich zu verabschieden. »Übrigens, Geiger, hat Ihre Frau eigentlich Nachricht von ihrem berühmten Cousin?«
»Wenn wir wüssten, wo Judah Benjamin sich aufhält, glauben Sie wirklich, ich würde Ihnen das sagen?« fragte Jay ruhig.
Holden setzte sein übliches Lächeln auf.
Es stimmte, er hatte Alex das Leben gerettet, und Shaman war ihm dankbar dafür. Doch diese Dankbarkeit brachte ihn nicht dazu, Nick zu mögen. Tief in seinem Herzen hoffte Shaman, dass sein Bruder von diesem jungen Gesetzlosen namens Bill Mosby abstammte.
Es kam ihm nicht in den Sinn, Holden zu seiner Hochzeit einzuladen.
Shaman und Rachel heirateten am 22. Mai 1865 im Wohnzimmer der Geigers, nur im Kreis der beiden Familien.
Es war keine Hochzeit, wie ihre Eltern sie sich gewünscht hatten. Sarah hatte ihrem Sohn zu verstehen gegeben, da sein Stiefvater ein Geistlicher sei, wäre es eine Geste, die die Einheit der Familie stärke, wenn er Sydney bitte, die Zeremonie durchzuführen. Jay wiederum hatte seiner Tochter die Meinung unterbreitet, eine jüdische Frau könne nur von einem Rabbi verheiratet werden. Weder Rachel noch Shaman ließen sich auf einen Streit ein, und so wurde das Paar von Richter Stephen Hume getraut. Da Hume mit seiner einen Hand ohne Stehpult nicht mit Papieren umgehen konnte, musste Shaman ein solches aus der Kirche ausleihen, was einfach war, da noch kein neuer Priester berufen war. Mit den beiden Kindern stand das Paar vor dem Richter. Joshuas schweißfeuchte kleine Hand hielt Shamans Zeigefinger umklammert. Rachel, in einem Hochzeitskleid aus blauem Brokat mit einem breiten Kragen aus cremefarbener Spitze, hielt Hattie an der Hand. Hume war ein anständiger Mann, er wünschte ihnen alles Gute, und man konnte merkten, dass er es ernst meinte. Als er sie zu Mann und Frau erklärte und sie dann aufforderte »Gehet in Freude und Frieden«, nahm Shaman ihn beim Wort.
Die Welt drehte sich langsamer, und er spürte seine Seele sich erheben, wie er es zuvor nur ein einziges Mal erlebt hatte, als er in Cincinnati den Tunnel zwischen der Medical School und dem South-western Ohio Hospital als frischgebackener Arzt durchschritt. Shaman hatte erwartet, dass Rachel auf ihrer Hochzeitsreise nach Chicago oder in eine andere Großstadt würde fahren wollen, aber sie hatte ihn davon reden hören, dass Sauks und Mesquakies nach Iowa zurückgekehrt seien, und zu seiner freudigen Überraschung fragte sie ihn, ob sie nicht die Indianer besuchen könnten.
Sie brauchten ein Lasttier für die Vorräte und das Übernachtungsgepäck. Der Schmied Paul Williams hatte einen gutmütigen, grauen Wallach, den Shaman sich für elf Tage mietete. Tama, die Indianerstadt, lag etwa hundert Meilen entfernt, und Shaman rechnete mit je etwa vier Tagen für die Hin- und Rückreise und einigen Tagen für den Aufenthalt.
Schon wenige Stunden nach ihrer Hochzeit brachen sie auf, Rachel auf Trude und Shaman auf Boss, hinter sich am Zügel das Packpferd, das auf den Namen Ulysses hörte, »ohne General Grant zu nahe treten zu wollen«, wie Paul Williams sagte.
Shaman wäre über Nacht in Rock Island geblieben, aber sie waren für eine Reise zu Pferd gekleidet, nicht für ein Hotel, und Rachel wollte lieber in der offenen Prärie schlafen. Also brachten sie die Pferde mit der Fähre über den Fluss und ritten noch etwa zehn Meilen über Davenport hinaus.
Sie folgten einer schmalen, staubigen Straße zwischen weit ausgedehnten Feldern mit gepflügter, schwarzer Erde, doch es gab auch noch Flecken unberührter Prärie zwischen dem kultivierten Land. Auf einem solchen Stück unversehrter Grasnarbe, durch das ein Bach plätscherte, hielt Rachel das Pferd an und winkte, um Shamans Aufmerksamkeit auf die Stelle zu lenken. »Können wir hier bleiben?«
»Lass uns erst das Farmhaus suchen!«
Sie mussten noch fast eine Meile reiten. In der Umgebung des Anwesens wurde aus dem Grasland wieder Ackerboden, der später sicher Mais tragen würde. Im Hof bellte ein gelber Hund die Pferde an. Der Farmer reparierte gerade seine Pflugschar und runzelte argwöhnisch die Stirn, als Shaman ihn um Erlaubnis bat, am Bach übernachten zu dürfen. Doch als Shaman ihm eine Bezahlung anbot, winkte er ab. »Woll’n Sie ein Feuer anzünden?«
»Eigentlich schon. Es ist ja alles grün.«
»O ja, es wird sich nicht ausbreiten. Aus dem Bach können Sie trinken. Folgen Sie ihm ein Stück, dann finden Sie abgestorbene Bäume für Feuerholz.«
Sie dankten ihm und ritten zurück, bis sie ihre Stelle gefunden hatten. Gemeinsam nahmen sie den Pferden die Sättel ab und lösten die Riemen, mit denen das Gepäck befestigt war. Shaman ging viermal zu den abgestorbenen Bäumen, um Holz zu holen, und Rachel richtete in der Zwischenzeit das Lager her. Sie breitete ein altes Büffelfell aus, das ihr Vater vor Jahren von Steinhund gekauft hatte. Braunes Leder glänzte an den Stellen, wo das Fell bereits abgeschabt war, aber es taugte gerade recht, um ihre Körper vor der nackten Erde zu schützen. Über das Büffelfell breitete sie zwei Decken aus Cole-Wolle, denn der Sommer war noch einen Monat entfernt.
Shaman schichtete das Holz zwischen einige Steinen und zündete ein Feuer an. Er schüttete Kaffee in einen Topf, goss Bachwasser darüber und stellte das Gefäß aufs Feuer. Sie setzten sich auf ihre Sättel und aßen die Reste ihres Hochzeitsschmauses: in Scheiben geschnittenes, rosa Milchlamm, Bratkartoffeln und kandierte Karotten. Zum Nachtisch gab es Stücke vom Hochzeitskuchen mit Whiskeyglasur, und danach saßen sie am Feuer und tranken ihren Kaffee schwarz. Die Nacht brach herein. Am Himmel begannen die Sterne zu funkeln, und ein Sichelmond stieg langsam über dem flachen Land hoch. Bald darauf stellte Rachel ihre Tasse weg, nahm Seife, Waschlappen und Handtuch und verschwand in der undurchdringlicher werdenden Dunkelheit.
Es würde nicht das erstemal sein, dass sie sich liebten, und Shaman wunderte sich, dass er so verlegen war. Er zog sich aus und ging zu einer anderen Stelle am Bach, um sich hastig zu waschen, dann wartete er zwischen Decke und Büffelfell auf sie. Ihre Haut war noch kalt vom Wasser, als sie sich zu ihm legte, doch sie erwärmte sich schnell. Er wusste, dass sie die Stelle für ihr Nachtlager so gewählt hatte, dass es außerhalb des Lichtkreises des Feuers lag, doch es machte ihm nichts aus. Er konnte sie fühlen, und es gab nur noch ihre Hände, ihre Münder und ihre Leiber. Zum erstenmal liebten sie sich als Mann und Frau, und danach lagen sie auf dem Rücken und hielten einander bei den Händen. »Ich liebe dich, Rachel Cole«, sagte er unter einem Himmel, der sich über dem flachen Land wie eine Schüssel wölbte. Die niederen Sterne waren riesig und weiß.
Sie liebten sich noch einmal. Dann stand Rachel auf und lief zum Feuer. Sie zog einen glühenden Zweig heraus und wirbelte ihn herum, bis er zu lodern anfing. Nun kniete sie sich so nahe vor Shaman hin, dass er die Gänsehaut im Tal zwischen ihren braunen Brüsten, das edelsteingleiche Funkeln des Feuers in ihren Augen und ihren Mund sehen konnte. »Ich liebe dich auch, Shaman«, sagte sie.
Am nächsten Tag wurde, je tiefer sie nach Iowa hineinritten, das offene Land zwischen den Farmen immer größer. Etwa eine halbe Meile lang verlief die Straße durch eine Schweinefarm, wo der Gestank so stark war, dass er fast greifbar schien, doch danach kamen wieder Grasland und frische Luft.
Einmal richtete Rachel sich im Sattel auf und hob die Hand.
»Was ist?« fragte er.
»Geheul. Könnte das ein Wolf sein?«
Er glaubte, dass es sich um einen Hund handle. »Die Farmer hier haben die Wölfe sicher genauso ausgerottet wie bei uns zu Hause. Die Wölfe sind den Bisons und den Indianern gefolgt.«
»Vielleicht sehen wir noch so ein Geheimnis der Prärie, bevor wir wieder nach Hause kommen«, sagte sie.
»Einen Büffel etwa oder eine Wildkatze oder den letzten Wolf von Iowa.«
Sie kamen durch einige kleine Städte. Mittags hielten sie bei einem Gemischtwarenladen an, wo sie Kräcker, harten Käse und Pfirsiche aus der Dose aßen.
»Gestern haben wir gehört, dass Soldaten Jefferson Davis verhaftet haben. Sie halten ihn in Fort Monroe, Virginia, in Ketten«, sagte der Ladenbesitzer und spuckte auf den Sägemehlboden. »Ich hoffe, sie hängen den Hurensohn - verzeih’n Sie, Ma’am!«
Rachel nickte. Es war schwer, sich wie eine Lady zu benehmen, wenn man gerade die letzten Tropfen des Pfirsichsafts aus der Dose leckte.
»Wurde der Außenminister ebenfalls verhaftet? Judah Benjamin?«
»Den Juden? Nein, den haben sie noch nicht, soviel ich weiß.«
»Gut«, sagte Rache! laut und deutlich.
Sie nahmen die leere Dose mit, weil sie ihnen unterwegs nützlich sein konnte, und gingen zu ihren Pferden. Der Ladenbesitzer stand an der Brüstung seiner Veranda und sah ihnen nach, als sie auf der staubigen Straße davonritten.
An diesem Nachmittag durchquerten sie an einer Furt den Cedar, ohne nass zu werden, wurden dann freilich von einem plötzlichen Frühlingsschauer durchnässt. Es war schon fast dunkel, als sie zu einer Farm kamen und dort Zuflucht in einer Scheune suchten. Shaman spürte eine eigentümliche Freude, als er an die Beschreibung der Hochzeitsnacht seiner Eltern im Tagebuch des Vaters dachte. Er stürzte noch einmal hinaus in den Regen, um den Farmer um die Erlaubnis zum Übernachten zu bitten, die ihm bereitwillig gegeben wurde. Der Farmer hieß Williams, war aber nicht verwandt mit dem Schmied in Holden’s Crossing. Als Shaman zurückkehrte, folgte ihm Mrs. Williams dicht auf den Fersen mit einem Topf voll herzhafter Milchsuppe, in der Karotten, Kartoffeln und Gerste schwammen, sowie einem frischen Brot. Sie verließ die beiden so schnell wieder, dass sie überzeugt waren, die Farmersfrau müsse gemerkt haben, dass sie frisch verheiratet waren.
Der nächste Morgen war klar, und es war wärmer als tags zuvor. Am frühen Nachmittag erreichten sie den Iowa.
Billy Edwards hatte Shaman gesagt, sie brauchten dem Fluss nur nach Nordwesten zu folgen, dann würden sie die Indianer finden. Dieser Abschnitt des Flusslaufs war verlassen, und nach einer Weile kamen sie an eine kleine Bucht mit klarem, flachem Wasser und sandigem Grund. Sie hielten die Pferde an, und Shaman war blitzschnell aus den Kleidern und im Wasser.
»Komm rein!« drängte er Rachel.
Sie traute sich zuerst nicht. Doch die Sonne brannte heiß, und der Fluss sah aus, als hätte noch kein menschliches Auge ihn gesehen. So ging Rachel nach kurzem Zögern hinter einen Busch, um sich bis auf ihr baumwollenes Unterhemd auszuziehen. Sie kreischte, als sie das kalte Wasser auf der Haut spürte, und dann spielten die beiden wie Kinder. Das nasse Unterhemd klebte ihr am Körper, und er griff nach ihr, doch sie bekam es mit der Angst.
»Es kommt bestimmt jemand vorbei!« rief sie und rannte aus dem Wasser.
Sie zog ihr Kleid wieder an und hängte das Unterhemd zum Trocknen über einen Ast. Shaman hatte eine Angelschnur und einige Haken in seinem Gepäck, und sobald er angezogen war, suchte er sich Würmer und einen Zweig, den er als Rute benutzen konnte. Er ging ein Stück Flussaufwärts zu einer tiefen, strömungsfreien Stelle und hatte in kurzer Zeit zwei halbpfündige Barsche gefangen.
Zum Mittagessen gab es hartgekochte Eier aus Rachels umfangreichem Vorrat, doch abends wollten sie die Fische essen. Shaman nahm sie sofort aus. »Am besten, wir braten sie gleich, damit sie nicht verderben. Wir wickeln sie in ein Tuch und nehmen sie mit«, sagte er und entzündete ein kleines Feuer.
Während die Fische brieten, kam er wieder zu ihr. Diesmal ließ sie alle Vorsicht fahren. Es machte ihr nichts aus, dass seine Hände trotz gründlichen Waschens noch nach Fisch rochen und dass es noch helllichter Tag war.
Er schob ihren Rock hoch und liebte sie auf dem heißen, sonnigen Flussufer, mit dem Rauschen des Wassers in ihren Ohren.
Als sie einige Minuten später die Fische wendete, damit sie nicht verbrannten, kam ein Kahn um eine Flussbiegung. Drei bärtige, barfüßige Männer mit nacktem Oberkörper und zerrissenen Hosen saßen darin. Einer von ihnen hob die Hand und grüßte träge, und Shaman winkte zurück.
Kaum war das Boot verschwunden, stürzte sie zu ihrem Unterhemd, das im Wind flatterte wie eine große, weiße Flagge, die verriet, was die beiden getan hatten. Als er ihr nachlief, drehte sie sich um. »Was ist denn los mit uns?« fragte sie. »Was ist denn los mit mir? Wer bin ich eigentlich?«
»Du bist Rachel«, erwiderte er und nahm sie in die Arme. Er sagte es mit solcher Zufriedenheit, dass sie lächeln musste, als er sie küsste.
Tama
Früh am Morgen des fünften Tages überholten sie auf der Straße einen Reiter. Als Shaman ihn ansprach, um nach dem Weg zu fragen, sah er, dass der Mann zwar einfach gekleidet war, aber ein gutes Pferd mit einem teuren Sattel ritt. Seine Haare waren lang und schwarz, und seine Haut hatte die Farbe gebrannten Tons.
»Können Sie mir sagen, wie wir nach Tama kommen?« fragte Shaman.
»Nichts leichter als das. Ich reite selber dorthin. Kommen Sie doch einfach mit mir, wenn Sie wollen!«
»Vielen Dank.«
Der Indianer beugte sich vor und sagte noch etwas, aber Shaman schüttelte den Kopf. »Es ist für mich schwierig, während des Reitens zu reden. Ich muss Ihren Mund sehen, ich bin nämlich taub.«
»Oh.«
»Aber meine Frau hört ausgezeichnet«, sagte Shaman grinsend, und der Mann grinste zurück, wandte sich an Rachel und tippte sich an den Hut. Sie wechselten ein paar Worte, doch meistens ritten die drei schweigend nebeneinander her.
Als sie an einen Teich kamen, hielten sie an, um die Pferde saufen und fressen zu lassen und sich die Beine zu vertreten. Erst jetzt stellten sie sich richtig vor. Der Mann schüttelte ihnen die Hand und sagte, er heiße Charles P. Keyser.
»Wohnen Sie in Tama?«
»Nein, ich habe eine Farm acht Meilen von hier. Ich wurde in Potawatomi geboren, aber von Weißen aufgezogen, weil meine Eltern an Fieber starben. Ich versteh’ auch dieses indianische Geplapper kaum, bis auf ein paar Worte in Kickapoo. Ich habe eine Frau geheiratet, die halb Kickapoo, halb Französin war.«
Er erzählte, er gehe alle paar Jahre nach Tama, um dort einige Tage zu verbringen. »Weiß eigentlich gar nicht, warum.« Er zuckte mit den Achseln und lachte. »Vermutlich zieht’s die rote Haut zur roten Haut.«
Shaman nickte. »Glauben Sie nicht, unsere Pferde haben jetzt genug gefressen?«
»O ja. Wir wollen doch nicht, dass es sie zerreißt, oder?« erwiderte Keyser und die beiden stiegen auf und ritten weiter.
Am Vormittag erreichten sie Tama. Lange bevor sie zu den in einem großen Kreis stehenden Hütten kamen, liefen braunäugige Kinder und bellende Hunde hinter ihnen her.
Bald darauf hob Keyser die Hand, und sie hielten an, um abzusteigen. »Ich sag’ dem Häuptling Bescheid, dass wir hier sind«, sagte Keyser und ging zu einer nahe gelegenen Hütte. Als er mit einem breitschultrigen Indianer mittleren Alters zurückkehrte, hatte sich bereits eine kleine Gruppe um die Pferde versammelt.
Der stämmige Mann sagte etwas, das Shaman ihm nicht von den Lippen ablesen konnte. Es war nicht Englisch, aber der Mann nahm Shamans Hand, als der sie ihm entgegenstreckte. »Ich bin Dr. Robert J. Cole aus Holden’s Crossing in Illinois. Und das ist meine Frau, Rachel Cole.«
»Dr. Cole?« Ein junger Mann trat aus der Menge vor und musterte Shaman. »Nein. Sie sind zu jung.«
»Vielleicht kannten Sie meinen Vater?«
Der Mann sah ihn forschend an. »Bist du der taube Junge?... Bist du das, Shaman?«
»Ja.«
»Ich bin Kleiner Hund, der Sohn von Mond und Der singend einhergeht.«
Shaman freute sich sehr, als sie sich die Hände schüttelten, er erinnerte sich noch gut daran, wie sie als Kinder zusammen gespielt hatten. Der untersetzte Mann sagte etwas.
»Das ist Medi-ke, Schnappende Schildkröte, Häuptling der Stadt Tama«, sagte Kleiner Hund. »Er will, dass ihr drei in seine Hütte kommt.«
Schnappende Schildkröte bedeutete Kleiner Hund, dass er mitkommen solle, und den übrigen Indianern, dass sie sich zerstreuen sollten. Seine Hütte war klein, und es roch darin nach verbranntem Fleisch. Zusammengelegte Decken zeigten, wo die Bewohner schliefen, und in einer Ecke hing eine Segeltuchhängematte. Der Lehmboden war hart und gefegt, und auf diesem Boden servierte ihnen Kleines Licht, die Frau des Häuptlings, schwarzen Kaffee mit viel Ahornzucker und anderen, würzigen Zutaten. Er schmeckte wie Makwa-ikwas Kaffee. Nachdem Kleines Licht eingegossen hatte, flüsterte Schnappende Schildkröte ihr etwas zu, und sie verließ die Hütte.
»Du hast doch eine Schwester namens Vogelfrau gehabt«, sagte Shaman zu Kleiner Hund. »Ist sie auch hier?«
»Die ist schon lange tot. Ich habe noch eine andere Schwester, Grüne Weide, die jüngste. Sie ist mit ihrem Mann im Reservat in Kansas.« Niemand in Tama außer ihm sei von der Gruppe in Holden’s Crossing, sagte Kleiner Hund.
Schnappende Schildkröte ließ durch Kleiner Hund sagen, dass er ein Mesquakie sei und dass es in Tama etwa zweihundert Mesquakies und Sauks gebe. Dann folgte ein Sturzbach von Worten. Kleiner Hund übersetzte: »Er sagt, dass die Reservate sehr schlecht sind. Wie große Käfige. Wir waren krank vor Sehnsucht nach den früheren Tagen, dem alten Leben. Wir haben wilde Pferde gefangen, sie zugeritten und sie für so viel verkauft, wie wir eben dafür kriegen konnten. Wir haben das ganze Geld gespart. Dann kamen ungefähr hundert von uns hierher.
Wir mussten vergessen, dass Rock Island früher Sauk-e-nuk war, die große Stadt der Sauks, und dass Davenport Mesquak-e-nuk war, die große Stadt der Mesquakies. Die Welt hat sich verändert. Wir haben dem weißen Mann Geld für hundert Morgen gegeben, und wir haben uns den Kaufvertrag vom weißen Gouverneur mit seiner Unterschrift bestätigen lassen.«
Shaman nickte. »Das war gut«, sagte er, und Schnappende Schildkröte lächelte. Offensichtlich verstand er ein wenig Englisch, aber er sprach in seiner eigenen Sprache weiter, und sein Gesicht wurde ernst. »Er sagt«, fuhr Kleiner Hund fort, »die Regierung behauptet immer, dass sie unser riesiges Land gekauft hat. Der Weiße Vater nimmt sich unser Land und bietet den Stämmen dafür kleine Münzen statt des großen Papiergeldes. Er betrügt uns sogar noch um die Münzen und gibt uns billiges Zeug und Tand und behauptet, die Mesquakies und Sauks würden eine Jahresrente bekommen. Viele von unserem Volk lassen die wertlosen Sachen einfach auf der Erde liegen, damit sie verfaulen. Wir sagen ihnen, sie sollen mit lauter Stimme Geld verlangen und dann hierher kommen und noch mehr Land kaufen.«
»Gibt es Schwierigkeiten mit den Nachbarn?« fragte Shaman.
»Keine Schwierigkeiten«, antwortete Kleiner Hund und hörte dann wieder Schnappende Schildkröte zu. »Es sagt, dass wir niemanden bedrohen. Wenn unsere Leute zu den Weißen gehen, um mit ihnen zu handeln, stecken weiße Männer Münzen in die Rinde von Bäumen und sagen unseren Männern, sie dürfen die Münzen behalten, wenn sie sie mit ihren Pfeilen treffen. Einige von uns sagen, das ist eine Beleidigung, aber Schnappende Schildkröte lässt es zu. Er sagt, so bleiben wenigstens einige von uns mit Pfeil und Bogen in Übung.« Kleines Licht kam mit einem Mann in einem ausgefransten Baumwollhemd, einer fleckigen braunen Wollhose und einem roten Taschentuch um die Stirn in die Hütte. Sie sagte, dies sei Nepepaqua, Schlafwandler, ein Sauk und der Medizinmann.
Schlafwandler war kein Mann, der viele Worte machte. »Sie sagt, dass du ein Arzt bist.«
»Ja.«
»Gut. Kommst du bitte mit mir?«
Shaman nickte. Er und Rachel ließen Keyser bei Schnappende Schildkröte, holten nur kurz die Arzttasche und folgten dann dem Medizinmann.
Während sie durch den Ort gingen, suchte Shaman nach Eindrücken, die seiner Erinnerung entsprachen. Er sah keine Tipis, doch hinter den Hütten standen einige hedonoso-te. Die Leute trugen vorwiegend schäbige Kleider der Weißen, nur die Mokassins waren so, wie er sie in Erinnerung hatte, doch viele der Indianer trugen Arbeitsschuhe oder Armeestiefel.
Schlafwandler brachte sie zu einer Hütte am anderen Ende der Ansiedlung. In ihrem Inneren lag eine dünne junge Frau auf dem Boden und krümmte sich, die Hände auf ihrem dicken Bauch. Ihre Augen waren glasig, und sie sah aus, als sei sie nicht bei Verstand. Sie reagierte nicht, als Shaman sie etwas fragte. Ihr Puls ging schnell und unregelmäßig. Er befürchtete das Schlimmste, doch als er ihre Hände in die seinen nahm, spürte er mehr Lebenskraft, als er erwartet hatte.
Sie sei Watwaweiska, Kletterndes Eichhörnchen, sagte Schlafwandler, die Frau seines Bruders. Es sei ihre erste Geburt, und die Wehen hätten bereits gestern morgen eingesetzt. Zuvor habe sie sich schon eine weiche, trockene Stelle im Wald ausgesucht, und dorthin sei sie gegangen. Immer und immer wieder seien die Schmerzen gekommen, und sie habe sich hingekauert, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte. Als dann das Wasser gekommen sei, seien ihre Beine und ihr Kleid nass geworden, aber sonst sei nichts passiert. Die Schmerzen seien nicht vergangen, und das Kind sei nicht gekommen. Bei Einbruch der Nacht hätten andere Frauen sie gesucht und hierher gebracht. Schlafwandler hatte ihr nicht helfen können.
Shaman zog Kletterndes Eichhörnchen das schweißnasse Kleid aus und betrachtete ihren Körper. Sie war sehr jung. Ihre Brüste waren klein, trotz der Milch, und ihr Becken war schmal. Die Vulva klaffte, doch von einem kleinen Kopf war nichts zu sehen. Shaman tastete vorsichtig den Bauch der jungen Frau ab, nahm dann sein Stethoskop und gab Rachel die Ohrstöpsel. Als er die Muschel an verschiedenen Stellen des Bauches anlegte, bestätigten die Geräusche, die Rachel ihm beschrieb, was er bereits mit Händen und Augen festgestellt hatte.
»Das Kind liegt verkehrt.«
Er ging nach draußen und bat um sauberes Wasser, woraufhin ihn Schlafwandler zu einem Bach im Wald führte.
Der Medizinmann sah neugierig zu, wie Shaman sich Hände und Arme einseifte und kräftig schrubbte. »Das gehört zu meiner Medizin«, sagte Shaman, und Schlafwandler nahm die Seife und machte es ihm nach. Wieder in der Hütte, nahm Shaman seine Dose mit sauberem Schmalz aus der Tasche und schmierte sich damit die Hände ein. Er führte zuerst einen Finger in den Geburtskanal ein, dann einen zweiten, so als würde er versuchen, in eine geschlossene Faust einzudringen. Er arbeitete sich langsam vorwärts. Zuerst spürte er gar nichts, doch dann zuckte die Frau während einer Wehe zusammen, und die enge Verkrampfung öffnete sich ein wenig. Er ertastete einen kleinen Fuß und die Nabelschnur, die um den Fuß gewickelt war. Die Nabelschnur war robust, aber straff gespannt, und er versuchte nicht, den Fuß aus ihr zu lösen, solange der Wehenanfall andauerte. Erst anschließend streifte er vorsichtig, nur mit seinen beiden Fingern, die Nabelschnur vom Fuß und zog den Fuß heran.
Der andere Fuß war weiter oben und stemmte sich gegen die Wand des Geburtskanals. Shaman bekam ihn erst während der nächsten Wehe zu fassen. Er zog auch ihn heran, bis zwei winzige rote Füße aus der Mutter herausragten. Aus den Füßen wurden langsam Beine, und bald konnten sie sehen, dass es ein Junge war. Der Bauch mit der Nabelschnur kam zum Vorschein. Doch dann kam es zum Stillstand, denn Schulter und Kopf klemmten im Geburtskanal wie ein Korken in einem Flaschenhals.
Shaman konnte das Kind nicht weiter herausziehen, und er konnte auch nicht tiefer hineinfassen, um die Nase des Kindes vom Fleisch der Mutter, in das sie gedrückt wurde, zu befreien. Mit der Hand im Geburtskanal kniete er da und suchte verzweifelt nach einer Lösung, doch er fürchtete, dass das Baby ersticken werde. Schlafwandler hatte in einer Ecke der Hütte sein mee-skome, und aus diesem zog er nun eine gut einen Meter lange Rebe. Das eine Ende dieser Rebe hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem flachen, hässlichen Kopf einer Viper, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch aufgesetzte schwarze, runde Augen und dünne, spitze Fangzähne.
Schlafwandler ließ die »Schlange« sich über den Bauch der jungen Frau winden, bis der Kopf knapp vor ihrem Gesicht hin und her pendelte. Der Medizinmann sang etwas in seiner Sprache, aber Shaman versuchte erst gar nicht, von seinen Lippen abzulesen. Er beobachtete statt dessen Kletterndes Eichhörnchen.
Er sah, dass die Frau den Blick auf die Schlange richtete und ihre Augen sich weiteten. Der Medizinmann ließ das Reben-Tier nun an ihrem Körper hinunterkriechen, bis der Kopf direkt über der Stelle war, unter der das Baby feststeckte. Shaman spürte ein Beben im Geburtskanal.
Er sah, dass Rachel den Mund öffnete, um zu protestieren, doch er brachte sie mit einem Blick zum Verstummen.
Die Fangzähne berührten den Bauch von Kletterndes Eichhörnchen. Plötzlich fühlte Shaman, wie alles sich weitete. Die Frau drückte heftig, und das Kind glitt weiter, so dass Shaman keine Mühe mehr hatte, es herauszuziehen. Lippen und Wangen des kleinen Jungen waren blau, doch sie röteten sich sofort. Mit zitterndem Finger wischte Shaman ihm den Schleim vom Mund. Das winzige Gesicht verzog sich entrüstet, und der Mund öffnete sich. Shaman spürte, dass der kleine Bauch eingezogen wurde, weil der Junge Luft holte, und er wusste, dass die anderen gleich darauf einen dünnen, hohen Schrei hörten.
Mit dem Medizinmann ging Shaman noch einmal zum Bach, um sich zu waschen. Schlafwandler sah zufrieden aus. Shaman war sehr nachdenklich. Vor dem Verlassen der Hütte hatte er sich die Rebe genau angesehen, um nachzuprüfen, ob es sich wirklich nur um eine Rebe handelte.
»Hat die Frau geglaubt, dass die Schlange ihr Baby verschlingt, und es deshalb geboren, um es zu retten?«
»Mein Lied hat ihr gesagt, dass die Schlange ein böser Manitu ist. Ein guter Manitu hat ihr geholfen.«
Shaman erkannte, dass die Wissenschaft in der Heilkunst nur bis zu einem gewissen Punkt von Nutzen ist.
Danach wird sie unterstützt vom Glauben, von dem Vertrauen auf etwas anderes. Dies war ein Vorteil, den der Medizinmann gegenüber dem Arzt hatte, denn Schlafwandler war Priester und Arzt. »Bist du ein Schamane?«
»Nein.« Schlafwandler sah ihn an. »Weißt du, was die Zelte der Weisheit sind?«
»Makwa hat uns von den Sieben Zelten erzählt.«
»Ja, sieben. Bei einigen Dingen bin ich im vierten Zelt, aber bei zu vielen bin ich noch im ersten.«
»Wirst du irgendwann Schamane werden?«
»Wer soll mich denn unterrichten? Weiße Wolke ist tot. Makwa-ikwa ist tot. Die Stämme sind zerstreut, die Mide’wiwin gibt es nicht mehr. Als ich mich in jungen Jahren dazu entschloss, ein Bewahrer der Geister zu werden, hörte ich von einem alten Sauk in Missouri, der fast ein Schamane war. Ich ging zu ihm und blieb zwei Jahre bei ihm. Aber dann ist er viel zu früh an den Pocken gestorben. Jetzt suche ich alte Leute, von denen ich etwas lernen könnte, aber es gibt nicht mehr viele, und die meisten wissen nichts. Unsere Kinder lernen Reservats-Englisch, und die Sieben Zelte der Weisheit sind verschwunden.« Shaman war plötzlich klar, was der Indianer meinte: Es gab für ihn keine Medical Schools mehr, denen er seine Bewerbungsschreiben schicken konnte. Die Sauks und die Mesquakies waren ein Überbleibsel, dem man die Religion, die Medizin und die Vergangenheit geraubt hatte.
Er hatte kurz die Schreckensvision von einer grünhäutigen Horde, die über die weiße Rasse hinwegfegt und nur wenige verstörte Überlebende zurücklässt, Überlebende, die höchstens noch eine unbestimmte Ahnung haben von einer früheren Zivilisation, von Hippokrates, Galen und Avicenna, Jahwe, Apollo und Jesus.
Offensichtlich hatte sich die Nachricht von der Geburt des Kindes in Windeseile im ganzen Dorf verbreitet.
Wenn die Indianer auch keine Menschen waren, die ihre Gefühle offen zeigten, so spürte Shaman doch ihre Dankbarkeit, als er nun durch die Siedlung ging. Charles Keyser kam zu ihm und erzählte, dass die Geburt, bei der im Vorjahr seine Frau gestorben war, dem Fall dieses Mädchens sehr ähnlich gewesen sei. »Der Doktor ist nicht rechtzeitig gekommen. Die einzige andere Frau, die dabei war, war meine Mutter, und die wusste auch nicht mehr als ich.«
»Sie dürfen sich deswegen keine Vorwürfe machen. Manchmal können wir eben ein Menschenleben nicht retten.
Ist das Kind auch gestorben?«
Keyser nickte.
»Haben Sie noch andere Kinder?«
»Zwei Mädchen und einen Jungen.« Shaman vermutete, dass Keyser unter anderem auch deshalb nach Tama gekommen war, weil er eine neue Frau suchte. Die Indianer schienen ihn zu kennen und zu mögen, einige begrüßten ihn sogar und nannten ihn Charlie Farmer.
»Warum nennen sie Sie so? Die Leute hier sind doch auch Farmer.« Keyser lachte. »Nicht so wie ich. Mein Daddy hat mir fünfzig Morgen Land hinterlassen mit der schwärzesten Iowa-Erde, die Sie je gesehen haben. Ich bestelle zwanzig Morgen davon, vorwiegend mit Winterweizen. Als ich das erstemal hierherkam, versuchte ich, diesen Leuten zu zeigen, wie man den Boden bestellt. Hab’ eine ganze Weile gebraucht, bis ich begriff, dass sie es nicht so machen wollen wie die Weißen. Die Männer, die ihnen das Land hier verkauft haben, dürften der Meinung gewesen sein, sie hätten die Indianer übers Ohr gehauen, weil es ein schlechter Boden ist. Aber die Leute in Tama decken ihre kleinen Gartenstücke mit Buschwerk, Unkraut und Abfall zu und lassen das Ganze verrotten, manchmal einige Jahre lang. Dann erst bestellen sie den Grund, aber mit Grabstöcken, nicht mit dem Pflug. Die Gärten liefern auf diese Weise genügend Nahrung. Zudem ist das Land hier voller Niederwild, und der Iowa gehört zu den fischreichsten Flüssen.«
»Dann leben die Indianer hier wirklich wie in alten Zeiten, so wie sie es wollten«, sagte Shaman.
Keyser nickte. »Schlafwandler meint, er habe sie gebeten, noch ein paar andere Leute zu behandeln. Es würde mich freuen, Ihnen helfen zu können, Dr. Cole.«
Shaman hatte bereits Rachel und Schlafwandler als Hilfskräfte. Doch dann fiel ihm ein, dass Keyser zwar aussah wie die Bewohner von Tama, sich hier aber offensichtlich nicht ganz zu Hause fühlte und deshalb wohl die Gesellschaft anderer Außenseiter brauchte. Also erwiderte er dem Farmer, er sei dankbar für seine Hilfe.
Es war ein seltsames Viergespann- das da von Hütte zu Hütte zog, doch schon bald wurde offensichtlich, dass sie einander gut ergänzten: Der Medizinmann verschaffte ihnen überall Zutritt und sang seine Gebete, Rachel hatte eine Tüte Süßigkeiten bei sich, mit denen sie das Vertrauen der Kinder gewann, und Charlie Keysers große Hände hatten die Kraft, aber auch das Feingefühl, die nötig waren, um jemanden festzuhalten, wenn es erforderlich war.
Shaman zog einige Zähne und wurde dafür mit dem Anblick von Patienten belohnt, die zwar Blutfäden spuckten, dabei aber lachten, weil die Ursache andauernder Schmerzen plötzlich verschwunden war.
Er stach Eiterbeulen auf, entfernte eine schwarz verfärbte, infizierte Zehe und beschäftigte Rachel damit, den Brustkorb hustender Indianer abzuhorchen. Einigen konnte er mit Sirup helfen, doch manche litten an Schwindsucht, und er war gezwungen, Schlafwandler zu sagen, dass er für sie nichts mehr tun könne. Außerdem sahen sie ein halbes Dutzend Männer und einige Frauen, die vom Alkohol betäubt waren, und Schlafwandler vertraute ihnen an, dass auch andere sich betranken, sobald sie sich Whiskey beschaffen konnten. Shaman wusste, dass die Krankheiten des weißen Mannes viel mehr Indianer getötet hatten als dessen Kugeln. Vor allem die Pocken hatten unter den Stämmen, die in den Wäldern und in der Prärie lebten, böse gewütet. Er hatte deshalb ein kleines hölzernes Kästchen mitgebracht, das halb mit Kuhpockenschorf gefüllt war.
Schlafwandler war sehr interessiert, als Shaman ihm berichtete, er habe eine Medizin, die die Pocken verhüte.
Doch Shaman gab sich auch große Mühe, ihm genau zu erklären, wie die Behandlung aussah und welche Folgen sie hatte: »Ich werden ihnen den Arm anritzen und ein winziges Stück Kuhpockenschorf in die Wunde einführen. Eine rote, juckende Blase etwa von der Größe einer kleinen Erbse wird sich entwickeln. Daraus wird eine grau verfärbte, nabelförmige Entzündung, und die Umgebung färbt sich großflächig rot und fühlt sich hart und heiß an. Nach der Impfung leiden die meisten etwa drei Tage lang an Kuhpocken, einer viel schwächeren und gutartigeren Krankheit als die eigentlichen Pocken, die aber immun macht gegen die tödliche Seuche. Diese Erkrankten bekommen höchstwahrscheinlich Kopfschmerzen und Fieber. Bei allen wird die Entzündung größer und dunkler und trocknet dabei aus, bis etwa am einundzwanzigsten Tag der Wundschorf abfällt und eine rosige Narbe hinterlässt.« Shaman trug Schlafwandler auf, dies alles seinen Leuten zu erklären and herauszufinden, wer sich impfen lassen wolle. Der Medizinmann blieb nicht lange aus. Vor den Pocken wollte jeder geschützt sein, und so machten sie sich daran, die ganze Gemeinde zu impfen. Schlafwandlers Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass sich die Leute in einer Reihe vor dem Doktor aufstellten, und ihnen zu erklären, was sie erwartete. Rachel saß auf einem Baumstumpf und zerteilte mit zwei Skalpellen den Kuhpockenschorf in dem kleinen Holzkästchen in winzige Stücke. Wenn ein Patient vor Shaman trat, fasste Charlie Keyser dessen linke Hand und hob sie, bis die Innenseite des Oberarms bloßlag, die Stelle, die gegen zufällige Verletzungen am besten geschützt ist. Mit einem spitzen Skalpell setzte Shaman einen flachen Schnitt und legte ein winziges Stück des Schorfs in die Wunde. Die Arbeit war nicht kompliziert, musste aber mit Sorgfalt erledigt werden, und so bewegte sich die Warteschlange nur langsam. Bei Sonnenuntergang beendete Shaman die Impfung. Ein Viertel der Bewohner von Tama war noch nicht geimpft, aber er sagte ihnen, die Sprechstunde sei beendet und sie sollten tags darauf wiederkommen.
Schlafwandler hatte den Instinkt eines erfolgreichen Baptistenpredigers, und in dieser Nacht rief er die Leute zusammen, um die Besucher mit einem Fest zu ehren. Auf der Lichtung wurde ein großes Feuer angezündet, um das sich alle versammelten. Shaman saß rechts von Schlafwandler, Kleiner Hund saß zwischen Shaman und Rachel, damit er für sie übersetzen konnte. Seinen Helfer Charlie sah Shaman neben einer schlanken, lächelnden Frau sitzen, und Kleiner Hund sagte ihm, sie sei eine Witwe mit zwei kleinen Jungen.
Schlafwandler bat Dr. Cole, er möge ihnen doch von Makwa-ikwa erzählen, der Frau, die ihre Schamanin gewesen war. Shaman wusste natürlich, dass jeder der Anwesenden mehr über das Massaker am Bad Axe wusste als er. Was damals am Zusammenfluss des Bad Axe mit dem Mississippi passiert war, hatte man wahrscheinlich an Tausenden von Lagerfeuern weitererzählt, und auch zukünftige Generationen würden diese Geschichte hören.
Aber er erzählte ihnen, dass zu den von den Langen Messern Getöteten auch ein Mann namens Grüner Büffel gehört hatte und eine Frau namens Vereinigung der Flüsse, Matapya. Er erzählte ihnen, wie ihre zehnjährige Tochter, Zwei Himmel, ihren kleinen Bruder außer Reichweite der Flinten der Armee gebracht hatte, indem sie, den Kleinen mit den Zähnen am Genick haltend, den Masesibowi hinuntergeschwommen war. Shaman berichtete weiter, wie das Mädchen Zwei Himmel ihre Schwester Große Frau gefunden hatte und wie die drei Kinder sich wie Hasen im Gebüsch versteckt hatten, bis die Soldaten sie fanden. Und wie ein Soldat das blutende Baby mit sich genommen hatte, von dem man nie wieder etwas hörte.
Er erzählte, dass die beiden Sauk-Mädchen in eine christliche Schule in Wisconsin verschleppt wurden und dass Große Frau von einem Missionar geschwängert und anschließend als Dienstmagd auf eine christliche Farm bei Fort Crawford gebracht wurde, wo sich ihre Spur verlor. Und dass das Mädchen Zwei Himmel aus der Schule geflohen war und sich bis Prophetstown durchgeschlagen hatte, wo der Shamane Weiße Wolke sie bei sich aufgenommen, sie durch die Sieben Zelte der Weisheit geführt und ihr einen neuen Namen gegeben hatte: Makwa-ikwa, die Bärenfrau. Und dass Makwa-ikwa die Schamanin ihres Stammes gewesen war, bis sie 1851 in Illinois von drei weißen Männern vergewaltigt und ermordet wurde.
Die Leute hörten ernst zu, aber niemand weinte. Sie waren es gewöhnt, Schreckensgeschichten über die zu hören, die sie liebten. Eine Wassertrommel und ein Schlagstock gingen von Hand zu Hand, bis sie bei Schlafwandler angelangt waren. Es handelte sich nicht um Makwas Wassertrommel, die verschwunden war, als die Sauks Illinois verlassen hatten, aber Shaman sah, dass es eine ganz ähnliche war. Nun kniete Schlafwandler sich vor die Trommel und begann, sie in einem rhythmischen Vierertakt zu schlagen und dazu zu singen: Ne-nye-ma-wa-wa,
Ne-nye-ma-wa-wa,
Ne-nye-ma-wa-wa,
Ke-ta-ko-ko-na-na.
Ich schlage sie viermal,
Ich schlage sie viermal,
Ich schlage sie viermal,
Ich schlage unsere Trommel viermal.
Shaman sah, dass die Leute in den Gesang des Medizinmannes einstimmten und dass viele von ihnen Kürbisflaschen in beiden Händen hielten und sie im Takt schüttelten, wie Shaman als Junge im Musikunterricht seine murmelgefüllte Zigarrenkiste geschüttelt hatte.
Ke-te-ma-ga-yo-se lye-ya-ya-ni,
Ke-te-ma-ga-yo-se lye-ya-ya-ni,
Me-to-se-ne-ni-o lye-ya-ya-ni,
Ke-te-ma-ga-yo-se lye-ya-ya-ni.
Segne uns, wenn du kommst,
Segne uns, wenn du kommst,
Die Leute, wenn du kommst,
Segne uns, wenn du kommst.
Shaman beugte sich vor und legte seine Hände knapp unterhalb der Lederbespannung an die Wassertrommel.
Wenn Schlafwandler sie schlug, war es Shaman, als würde er Donnergetöse zwischen seinen Händen halten. Als er Schlafwandler auf den Mund schaute, sah er erfreut, dass der Medizinmann jetzt etwas sang, das er kannte, eins von Makwas Liedern, und er sang mit:
... Wi-a-ya-ni,
Ni-na ne-gi-se ke-wi-to-se-me-ne ni-na.
... Wohin du auch gehst,
Ich gehe mit dir, mein Sohn.
Jemand brachte ein Holzscheit und warf es ins Feuer, und eine gelbe Säule tanzender Funken stieg in den schwarzen Himmel. Der Schein und die Hitze des Feuers machten Shaman benommen und matt, empfänglich für Visionen. Besorgt drehte er sich zu seiner Frau um. Rachel bot ihm einen Anblick, der ihre Mutter entsetzt hätte: Sie war ohne Kopfbedeckung, das Haar zerwühlt und wirr, auf ihrem Gesicht glänzte der Schweiß, und aus ihren Augen strahlte die Freude. Noch nie hatte sie fraulicher auf ihn gewirkt, menschlicher, begehrenswerter. Sie sah seinen Blick und beugte sich lächelnd vor, um ihm etwas zu sagen. Für jeden hörenden Menschen wären ihre Worte im Dröhnen der Trommel und im Gesang untergegangen, aber Shaman hatte keine Schwierigkeiten, sie von ihren Lippen abzulesen. »Das ist so schön, wie einen Büffel zu sehen!« sagte sie.
Am nächsten Morgen verließ Shaman, ohne seine Frau zu wecken, früh das Nachtlager und badete im Iowa, während Schwalben durch die Lüfte segelten und zu seinen Füßen kleine Fische mattgoldglänzend durchs Wasser schossen.
Es war kurz nach Sonnenaufgang, doch in der Siedlung lärmten schon Kinder, und als er an den Hütten vorbeiging, sah er barfüßige Frauen und einige Männer in der Kühle des Morgens ihre Gärten bestellen. Am Ortsrand traf er Schlafwandler, und die beiden blieben stehen und unterhielten sich angeregt wie zwei Gutsherren, die sich bei ihrem morgendlichen Verdauungsspaziergang begegnen. Schlafwandler fragte ihn nach Makwas Bestattung und ihrem Grab. Shaman tat sich schwer mit der Antwort. »Ich war ja noch ein kleiner Junge, als sie starb. Viel weiß ich nicht mehr davon«, sagte er. Aber aus dem Tagebuch seines Vaters war ihm bekannt, dass Makwas Grab am Morgen geschaufelt und sie am Nachmittag in ihrer besten Decke begraben worden war. Ihre Füße zeigten nach Westen, und der Schwanz einer Büffelkuh war ihr ins Grab gelegt worden.
Schlafwandler nickte zustimmend. »Was liegt zehn Schritt nordwestlich ihres Grabes?«
Shaman sah ihn verwundert an. »Ich erinnere mich nicht mehr. Ich weiß es nicht.«
Der Medizinmann machte ein ernstes Gesicht. Der alte Mann in Missouri, derjenige, der beinahe Schamane gewesen sei, habe ihm beigebracht, was beim Tod eines Schamanen beachtet werden müsse, sagte er. »Wenn ein Schamane bestattet wird«, fuhr er fort, »beziehen vier watawinonas, Kobolde der Hinterlist, zehn Schritte nordwestlich des Grabes Stellung. Die watawinonas bewachen abwechselnd das Grab - einer ist immer wach, während die anderen drei schlafen. Sie können dem toten Schamanen zwar nichts anhaben, aber solange man sie an diesem Ort lässt, kann er seine Kräfte nicht benutzen, um den Lebenden beizustehen, die um seine Hilfe bitten.« Shaman unterdrückte ein Seufzen. Vielleicht hätte er mehr Toleranz aufbringen können, wäre er mit dem Glauben an solche Dinge aufgewachsen. Während der Nacht war er wach gelegen und hatte sich gefragt, wie es wohl seinen Patienten zu Hause erging. Und jetzt wollte er seine Arbeit hier zum Abschluss bringen und sich so früh auf den Rückweg machen, dass sie die Nacht an der schönen Stelle des Flusslaufs verbringen konnten, an der sie schon auf dem Herweg ihr Lager aufgeschlagen hatten.
»Um die watawinonas zu vertreiben«, sagte Schlafwandler, »muss man ihren Schlafplatz finden und ihn ausbrennen.«
»Gut. Ich werde es tun.« Shaman hatte es zwar nicht vor, doch Schlafwandler schien diese Lüge zu erleichtern.
Kleiner Hund gesellte sich zu ihnen und fragte, ob er beim Armritzen Charlie Farmers Stelle einnehmen könne, da Keyser Tama noch in der Nacht gleich nach dem Verlöschen des Feuers verlassen habe. Shaman war enttäuscht, dass Keyser sich nicht verabschiedet hatte, doch er nickte Kleiner Hund zu und bat ihn zu helfen. Sie begannen früh mit den restlichen Impfungen. Diesmal ging es ein bisschen schneller, denn Shaman hatte an Übung gewonnen. Sie waren schon beinahe fertig, als ein von zwei Braunen gezogener Wagen auf die Lichtung fuhr. Keyser saß auf dem Kutschbock, und hinten im Wagen saßen drei Kinder, die neugierig auf die Sauks und die Mesqua-kies starrten.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie auch gegen die Pocken ritzen«, sagte Charlie, und Shaman erwiderte, dass er das mit Vergnügen tue. Als schließlich alle Dorfbewohner und die drei Kinder geimpft waren, half Charlie Shaman und Rachel beim Packen.
»Ich würde gerne einmal mit meinen Kindern das Grab der Schamanin besuchen«, sagte er, und Shaman entgegnete, er sei herzlich eingeladen.
Es dauerte eine Weile, bis Ulysses bepackt war. Vom frischgebackenen Vater, dem Mann von Kletterndes Eichhörnchen, erhielten sie ein Geschenk - drei Whiskeykrüge voller Ahornsirup -, das sie mit Freuden annahmen. Die Krüge waren mit ganz ähnlichen Reben zusammengebunden, wie Schlafwandler sie für seine Schlange benutzt hatte. Als Shaman sie oben auf Ulysses’ Last befestigte, sah es aus, als seien er und Rachel unterwegs zu einem großen Fest. Er verabschiedete sich von Schlafwandler und versprach, im nächsten Frühjahr wiederzukommen. Dann gab er Charles Keyser, Schnappende Schildkröte und Kleiner Hund die Hand. »Jetzt bist du cawso wabeskiou«, sagte Kleiner Hund. Cawso wabesciou, der Weiße Schamane. Er freute Shaman, denn er wusste, dass Kleiner Hund dies nicht nur als Spitzname gemeint hatte.
Viele winkten zum Abschied, und Rachel und Shaman taten es ebenfalls, als sie mit ihren drei Pferden Tama verließen und am Fluss entlang in Richtung Heimat ritten.
Der Frühaufsteher
Nach ihrer Rückkehr musste Shaman vier Tage lang den Preis zahlen, der von Ärzten verlangt wird, die Urlaub machen. Jeden Vormittag drängten sich in seinem Wartezimmer die Patienten, und jeden Nachmittag und Abend verbrachte er mit Hausbesuchen, so dass er immer erst spätnachts und müde zu Rachel und dem Anwesen der Geigers zurückkam.
Aber am fünften Tag, einem Samstag, verebbte der Strom der Patienten langsam, und am Sonntagmorgen wachte er neben Rachel mit der beglückenden Erkenntnis auf, dass er Zeit für sich selbst hatte. Wie gewöhnlich war er vor allen anderen aus den Federn, nahm seine Kleider und trug sie nach unten, um sich im Wohnzimmer leise anzuziehen, bevor er das Haus verließ.
Sein Weg führte ihn zu jener Stelle im Wald, wo Oscar Ericssons Arbeiter bereits den Bauplatz für das neue Haus und den Schuppen vorbereitet hatten. Es war nicht genau die Stelle, an der Rachel einst als Kind gestanden und von einem Haus geträumt hatte. Leider spielen bei den Träumen kleiner Mädchen Probleme der Entwässerung keine Rolle, und Ericsson hatte, nachdem er sich die Stelle angesehen hatte, nur den Kopf geschüttelt. Sie hatten sich schließlich auf einen günstigeren, etwa hundert Meter entfernten Bauplatz geeinigt, der, wie Rachel versicherte, immer noch nahe genug an ihrem Traum war. Shaman hatte den Bauplatz von Jay kaufen wollen, doch der bestand darauf, ihnen den Grund zur Hochzeit zu schenken. Da zwischen Shaman und seinem Schwiegervater inzwischen ein herzliches Verhältnis gegenseitiger Rücksichtnahme bestand, stand einer Lösung des Problems nichts im Wege.
Bei der Baustelle des Krankenhauses angekommen, sah Shaman, dass der Keller schon fast vollständig ausgehoben war. Die Erdhaufen in der Umgebung formten eine Landschaft aus riesigen Ameisenhügeln.
Die Grube sah kleiner aus, als er es für das Krankenhaus erwartet hatte, doch Ericsson hatte ihm erklärt, dass solche Gruben immer kleiner wirken. Das Fundament sollte aus Granitsteinen aus einem Steinbruch hinter Nauvoo gemauert werden. Das Material musste auf einem Flachboot den Mississippi heraufgeschafft und mit Ochsenkarren von Rock Island zur Baustelle transportiert werden, ein gefahrvolles Unternehmen, das Shaman beunruhigte, dem der Baumeister jedoch gelassen entgegensah.
Shaman ging zum Cole-Haus hinunter, das Alex nun bald verlassen würde. Dann bog er in den Kurzen Weg ein und versuchte sich vorzustellen, wie Patienten, die mit dem Boot ankamen, auf ihm zum Krankenhaus gingen.
Große Veränderungen standen bevor. Er dachte an das Schwitzhaus, das nun plötzlich an der falschen Stelle stand, und beschloss, eine sorgfältige Skizze der Anordnung der einzelnen flachen Steine anzufertigen, um das Schwitzhaus anschließend hinter dem neuen Stall wieder aufbauen zu können, damit auch Joshua und Hattie erleben konnten, wie gut es tat, in der herrlichen Hitze zu sitzen, bis man nicht mehr anders konnte, als sich in das erlösende Wasser des Flusses zu stürzen.
Als er sich Makwas Grab zuwandte, sah er, dass die Holztafel rissig und verwittert war und man die Runen nicht mehr erkennen konnte. Die Zeichen hatte sein Vater in einem der Tagebücher festgehalten, und er nahm sich vor, eine dauerhaftere Gedenktafel aufzustellen und das Grab einzuzäunen, damit dessen Frieden nicht gestört würde.
Unkraut wucherte auf dem Grab. Während er Bartgras und Prärieampfer, die sich zwischen die Taglilienbüschel gezwängt hatten, herausriss, ertappte er sich dabei, wie er Makwa berichtete, dass einige ihres Stammes glücklich und sicher in Tama lebten. Die kalte Wut, die er früher hier gespürt hatte, ob sie nun tief aus ihm selbst gekommen war oder nicht, diese Wut war verschwunden. Alles, was er jetzt fühlte, war tiefe Ruhe. Und doch...
Da war noch etwas.
Er richtete sich auf und kämpfte eine Weile mit sich. Doch dann wandte er sich exakt nach Nordwesten und begann, jeden Schritt zählend, sich vom Grab zu entfernen.
Nach zehn Schritten stand er inmitten der Ruinen des hedonoso-te. Vom Langhaus war nach so vielen Jahren nichts mehr übrig außer einem niederen, unebenen Haufen dünner Stämme und Streifen vermodernder Baumrinde, aus dem Spartgras und wilder Indigo sprossen. Es ist unsinnig, sagte er sich, das Grab herzurichten und das Schwitzhaus zu versetzen, diesen unansehnlichen Haufen dagegen so zu lassen, wie er ist. Aus dem Stall holte er sich eine große Kanne Lampenöl, die er über dem Haufen ausleerte. Holz und Rinde waren feucht vom Tau, aber sein Schwefelhölzchen fing gleich beim ersten Versuch Feuer, und das Öl entzündete sich und loderte auf. Augenblicke später stand der ganze Haufen in tanzenden blauen und gelben Flammen, und eine dunkle Rauchsäule stieg gerade in die Höhe, bis der Wind sie erfasste und über den Fluss trieb. Shaman sah den ersten watawinona, vermutlich den wachenden, auf einer Kugel beißenden, schwarzen Rauchs, die aus den obersten Stämmen herausplatzte, davonreiten.
Er glaubte, der zweite böse Kobold sei aufgewacht und geflohen, als das Innere des Stapels Feuer fing. Der dritte folgte in einer helleren Rauchschwade, in der die Funken tanzten, und der letzte watawinona segelte in einem in die Luft aufsteigenden Boot aus weißer Asche davon.
Shaman stand nahe am Feuer und spürte die Hitze auf seiner Haut -wie bei einer rituellen Feier der Sauks, dachte er. Er stellte sich vor, wie dieser Ort ausgesehen hatte, als der junge Rob J. Cole hier ankam: unberührte Prärie bis zum Waldsaum am Fluss. Und er dachte an die anderen, die hier gelebt hatten, an Makwa und Mond und Der singend einhergeht. Und an Alden. Während das Feuer langsam niederbrannte, fing er in Gedanken an zu singen: Tti-la-ye ke-wi-ta-mo-ne i-no-ki-i-i, ke-te-ma-ga-yo-se! Geister, ich spreche jetzt zu euch, gewährt mir eure Gnade!
Bald war nur noch eine dünne, harzige Schicht übrig, aus der dünne Rauchfäden aufstiegen. Er wusste, dass Gras darüberwachsen und jede sichtbare Erinnerung an das hedonoso-te auslöschen würde. Als das Feuer so weit erloschen war, dass er es sich selbst überlassen konnte, machte er sich mit der Ölkanne auf den Rückweg. Auf dem Langen Weg kam ihm eine kleine Gestalt entgegen. Sie versuchte mürrisch, einen kleinen Jungen hinter sich zu lassen, der gefallen war und sich das Knie aufgeschlagen hatte. Doch der kleine Junge humpelte störrisch hinter ihr drein. Er weinte, und seine Nase lief.
Shaman putzte Joshua mit seinem Taschentuch die Nase und küsste sein Knie neben der blutigen Stelle. Er versprach, es zu Hause wieder heil zu machen. Dann setzte er sich Hattie auf die Schultern, nahm Joshua in die Arme und marschierte los. Diese beiden waren die einzigen Kobolde auf der Welt, die ihm wichtig waren, diese beiden guten Kobolde, die seine Seele verzaubert hatten. Hattie zog ihn an den Ohren, damit er schneller ging, und er fing an zu traben wie Trude. Als sie so fest an seinen Ohren zerrte, dass sie schmerzten, drückte er Joshua gegen Hatties Beine, damit sie nicht herunterfallen konnte, und begann zu galoppieren wie Boss. Und nun rannte und rannte er, rannte auf das Beste in seinem Leben zu.