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Der hereinbrechende Abend sah das weite Rund um die Konzertmuschel und die beiden Podien bereits mit Publikum gefüllt. Auf weißen Stühlen saßen an kleinen, runden Korbtischen die Kurgäste, die in ihren besten Garderoben erschienen waren, in Abendkleidern aus bekannten Modeateliers, in Smokings aus den Werkstätten hochbezahlter Schneider. Pretiosen blitzten, Ringe, Broschen, Ketten. Perlen schimmerten. Die Fülle der Frisuren, der modischen Neuheiten und eleganten Extravaganzen regte zu leisen Gesprächen, zu eifersüchtigen Blicken und getuschelten Debatten des Neides, der Kritik, nur selten des Lobes oder der Bewunderung an. Joviale Herren fortgeschrittenen Alters wandelten durch die Stuhl- und Tischreihen, begleitet von auffallend jungen Damen, die alle ihre Töchter hätten sein können, es aber nicht waren.
Überall hingen an langen, bunten Kordeln Hunderte von Lampions, die ein weiches, mildes Licht über den Ort des Geschehens gossen, auf diese Weise ein farbenfrohes Bild schufen und zusammen mit dem Rauschen des Meeres, den Klängen der Kapelle und dem Stimmengemurmel des Publikums eine Atmosphäre erzeugten, die enthusiastische Besucher feenhaft nannten.
In der Konzertmuschel stand vor seiner Kapelle ein Bandleader, den man genausogut für fünfzig wie für dreißig hätte halten können. Kohlschwarz glänzte sein Haar, kohlschwarz glühten seine Augen. Der typische Südländer. Die Augen waren ein Werk der Natur, die Haare eines der zahlreichen Friseure, die schon damit beschäftigt gewesen waren, sie zu färben.
Benito Romana, der bekannte Tangospezialist.
Magnetisch zog er die Blicke angejahrter, frustrierter Ehefrauen, aber auch verträumter Teenager auf sich. Wenn er sich untertags am Strand sehen ließ, um Badefreuden zu genießen, klopften viele Damenherzen schneller. Nur vereinzelt gab es allerdings auch Augen, die schärfer hinsahen und an seinem kastanienbraungebrannten Körper Spuren des Verfalls entdeckten, Spuren, die darauf schließen ließen, daß ihn die Massagen der zwei Sängerinnen seiner Kapelle mehr in Mitleidenschaft zogen, als sie ihn in Form halten konnten.
Benito Romana stammte nicht aus südlichen Gefilden, sondern aus Berlin-Moabit und hieß schlicht Karl Puschke. Das wußte aber niemand, nicht einmal die Kurdirektion ahnte dies, die den erfolgreichen Orchesterleiter mit seiner ausgezeichneten Kapelle nach längeren Bemühungen aus einer rheinischen Großstadt nach Nik-keroog hatte locken können.
Sein Trick war es, ein gebrochenes Deutsch mit italienischen Brok-ken zu durchsetzen. Dafür wurde er von jung und alt, soweit es sich um Vertreterinnen des schwachen Geschlechts handelte, angehim-melt. Sein musikalisches Repertoire war groß; persönlich favorisierte er allerdings, wie schon erwähnt, den Tango; insofern wurde er von der Jugend, besonders der männlichen, manchmal doch auch schon als etwas antiquiert empfunden.
Am größeren Podium standen:
Johannes M. Markwart, ein wenig bedrückt nach einer sehr lauten Aussprache mit seiner Lola; Maitre Sandrou, ein bekannter Pariser Modellschneider, der zum Preisrichterkollegium gehörte; Kurdirektor Eberhard v. Vondel; Manfred Barke, ein noch unbekannter, aber sehr ehrgeiziger junger Filmregisseur; der Geschäftsführer des Kurhauses, der auf den seltsamen Namen Cölestin Höll-riegelskreuther hörte, obwohl er kein Bayer oder Tiroler, sondern ein waschechter Friese war; und schließlich und endlich ein älterer, kerzengerade dastehender Herr, der zur ersten Garnitur des Bades gehörte.
Dieser ältere Herr war Baron v. Waiden. Als ehemaliger Turnierreiter behielt er auch im täglichen Leben das steife Kreuz eines guten Sitzes auf dem Pferd bei und stolzierte mit seinem Hohlkreuz durch die Landschaft. Man nannte ihn deshalb auch nur den >Ba-ron v. Senkrecht<.
Die Gruppe dieser Persönlichkeiten war also um das Podium versammelt, das sich in der Nachbarschaft eines runden Pavillons befand, in dem sich die Bewerberinnen um den Preis der >Miß Nik-keroog< zusammengefunden hatten und einander nun, sparsam in Superbikinis gehüllt, mit kritischen Blicken musterten und sich gegenseitig am liebsten schon mit Fingernägeln bearbeitet hätten. Der Bademeister, der diese gefährliche Schar zu bändigen hatte, saß, von Resignation übermannt, in einer Ecke; er hatte alle Bemühungen aufgegeben, den streitsüchtigen Damen ihre niederen Instinkte auszureden und den hin und her fliegenden spitzen Bemerkungen Ermahnungen, sich zu mäßigen, entgegenzusetzen.
Die Giftigste von allen war Lola. Notdürftigst angetan mit einem aus winzigen Teilen bestehenden goldenen Seidenbikini, stellte sie ihre langen schlanken Beine, den biegsamen Leib und fast gänzlich unverhüllt auch die kleine, jedoch wohlgeformte Brust zur Schau. Sie tänzelte von einem Fuß auf den anderen und suchte jene Dame, mit der Johannes M. Markwart auf Abwege zu geraten sich angeschickt hatte.
Diese Dame, Karin Fabrici, stand im Hintergrund, an einen Sonnenschirm gelehnt, den man bei Einbruch der Dunkelheit zu schließen vergessen hatte, und überblickte das ganze herrliche Bild von Wohlstand, guter und giftiger Laune, offenen und verborgenen Wünschen, von echter Eleganz und von falscher. Sie hatte ihr neues, tief ausgeschnittenes Abendkleid aus großgeblümtem Organdy an, unter dem sie einen in Prinzeßform geschnittenen, ebenfalls weiten seidenen Unterrock in stahlblauer Farbe trug. Ein schlichtes Kollier aus zwei Topasen und einem Turmalin schmückte den schlanken Hals. Da der Abend kühl zu werden versprach, trug Karin um die Schulter einen breiten Schal aus Madeiraspitzen, dessen blendendes Weiß einen sehr, sehr hübschen Gegensatz zu dem durch den Organdy schimmernden Stahlblau des Unterrocks bildete. Im
Haar steckte eine kleine mit Brillantsplittern besetzte Rose aus Rotgold.
Karin fühlte sich bald einsam, und sie konnte dem Treiben, das sie beobachtete, keinen besonderen Reiz mehr abgewinnen. Allerdings hatte es noch gar nicht richtig angefangen. Sie kam sich aber jetzt schon irgendwie ausgeschlossen aus dem ganzen Betrieb vor. Das kam daher, daß sie ohne Begleitung war. Sie hatte noch keine Bekannten in Nickeroog, war heute erst angekommen, war also fremd in diesem Kreis und hatte Hemmungen, sich einfach an irgendeinen Tisch zu setzen. So verblieb sie denn weiter unter der Obhut ihres Sonnenschirms, beobachtete den Pulk der Herren um den Veranstalter Markwart, auf den sich alles konzentrierte, und rang mit dem Entschluß, fortzugehen und sich allein in ihren Strandkorb zu setzen und die Stille der Nacht, das Rauschen des Meeres und die Einsamkeit unter den glitzernden Sternen zu genießen. Ein Hindernis war da nur ihre Garderobe. Ein Abendkleid und ein Strandkorb — das paßte nicht gut zusammen.
Trotzdem wollte sich Karin gerade abwenden und das weite Rund der schaukelnden Lampions verlassen, als sie Bewegung in ihrer Nähe spürte. Leicht erschrocken wandte sie sich um und sah, daß sie Gesellschaft bekommen hatte. Walter Torgau stand hinter ihr.
«Guten Abend«, sagte er mit unterdrückter Stimme.
Fast hätte ihn Karin nicht erkannt. Angezogen wirkte er ganz anders als in der Badehose — nämlich irgendwie so, daß er >wer< war.
«Guten Abend«, grüßte auch Karin.
«Ich habe Sie gesucht.«
«Wozu?«
«Um mich für meine Beschlagnahme Ihres Strandkorbes zu entschuldigen.«
Das war natürlich nicht der Grund, trotzdem führ er fort:»Wissen Sie, ich habe mir das Ganze noch einmal überlegt und bin zu der Ansicht gekommen, daß das, was ich gemacht habe, wirklich unmöglich war. Man tut so etwas nicht. Bitte, verzeihen Sie mir.«
«Sie bereuen also Ihr Verbrechen?«antwortete Karin lächelnd.
«Zutiefst.«
«Dann geht es nur noch darum, die Buße festzusetzen.«»Welche denn?«
«Das muß ich mir noch überlegen. «Sie schien darüber nachzudenken, sagte aber dann:»Übrigens war ich gerade dabei, zu meinem Strandkorb zu gehen und mich in ihn zu setzen.«
«Jetzt?«fragte er ungläubig.
Sie lachte.
«Jetzt wäre ich wenigstens sicher, daß ihn mir niemand streitig machen würde.«
«Darf ich Sie hinbringen?«sagte er bereitwillig. Klar, daß er sich davon etwas versprach.
«Nein«, erwiderte Karin, die seine Absicht erkannte und sie damit durchkreuzte.
«Warum nicht?«
«Weil wir dann ja wieder soweit wären.«
«Wie weit?«
«Daß mir jemand meinen Strandkorb streitig machen würde.«»Sie irren sich.«
«Das glaube ich nicht.«
«Doch, doch, wir würden ihn uns brüderlich teilen.«
«Und was ist mit schwesterlich?«
«Das wäre Ihre Aufgabe.«
Beide lachten. Karin war dem Flirt, der begonnen hatte, weiß Gott nicht abgeneigt, doch eine innere Stimme ermahnte sie, ein bißchen die Bremse anzuziehen. Sie sagte deshalb:»Bleiben wir lieber hier.«»Sie sind wankelmütig«, entgegnete er.»Einmal so, einmal so.«»Warten wir auf das, was uns hier geboten wird.«
«Gefällt Ihnen denn dieser Käse?«
«Käse?«
«Was ist es denn sonst?«
«Das sagen Sie — als Mann?«
«Ja, das sage ich!«
Das klang sehr arrogant. Karin fing an, sich über ihn zu ärgern.
«Solche Veranstaltungen finden doch nur statt, weil die Männer sie verlangen«, erklärte sie.
«Nicht alle Männer.«
«Sie nicht, wollen Sie damit sagen?«
«Ganz recht.«
«Sie halten sich wohl für eine Ausnahme?«
«Vielleicht.«
«Aber eingebildet sind Sie trotzdem nicht, wie?«
«Geschmack hat nichts mit Einbildung zu tun.«
«Geschmack, aha.«
Das Gespräch spitzte sich zu.
«Und Sie haben Geschmack?«fuhr Karin fort.
«Ich denke schon.«
«Einen Geschmack, der sich nicht mit Schönheitskonkurrenzen verträgt?«
«Gegen eine Schönheitskonkurrenz von Pudeln oder Möpsen habe ich nichts einzuwenden«, meinte Walter Torgau wegwerfend.
«Aber gegen eine von attraktiven Mädchen?«sagte Karin.
«Attraktiven Mädchen?«Er nickte geringschätzig hin zu dem Pavillon mit den Bikini-Mädchen.»Sehen Sie sich doch die an. Billigste Ware.«
«Ich sehe, daß ein Teil dieser Ware, wie Sie sich ausdrücken, sehr hübsch ist.«
«Äußerlich vielleicht — aber das allein genügt nicht.«
«Soso.«
«Sie wissen genau, was ich meine. Ein wirkliches Klassemädchen suchen Sie dort vergebens — wie übrigens bei jeder dieser Veranstaltungen.«
Damit hatte Torgau zwar die Auffassung zum Ausdruck gebracht, die Karin selbst insgeheim auch vertrat, aber nun war sie, von ihm gereizt, soweit, daß sie zu ihrer eigenen Überraschung hervorstieß:»Und wenn ich daran teilnehmen würde?«
«Sie?«
«Ja.«»Lächerlich! Sie doch nicht!«
«Warum nicht?«
«Aus verschiedenen Gründen. Einer davon mag Sie ganz besonders überraschen.«
«Welcher?«
«Daß ich suchen würde, Sie daran zu hindern.«
Es blieb ein, zwei Sekunden lang still. Ein gefährlicher Funke tauchte in Karins Auge auf. Dann entgegnete sie gedehnt: »Was würden Sie?«
«Suchen, Sie daran zu hindern«, wiederholte Torgau. Es war der größte Fehler, den er der durch und durch emanzipierten Karin Fa-brici gegenüber machen konnte.
Nun überstürzte sich das Weitere.
«Erstens«, sagte Karin kampfeslustig,»sind Sie nicht mein Vater, der mir Vorschriften zu machen hätte — «
«Das nicht, aber — «
«Oder mein Mann — «
«Auch nicht, leider, aber — «
«Und zweitens würde ich mir auch dann, wenn Sie mein Vater wären — «
«Oder Ihr Mann — «
«— keine Vorschriften von Ihnen machen lassen, merken Sie sich das! Ich lasse mir überhaupt von niemandem mehr Vorschriften machen! Diese Zeiten sind für mich vorbei! Ich bin ein modernes junges Mädchen und weiß selbst, was ich zu tun habe!«
«Aha.«
Dieses ironische >Aha< trieb Karin erst richtig auf die Palme.
«Davon werden Sie sich sehr rasch überzeugen können«, erklärte sie.
«Fräulein Fabrici, Sie — «
Karin war überrascht.
«Woher wissen Sie meinen Namen?«unterbrach sie ihn.
«Ich habe mich erkundigt, das war nicht schwierig. Die Neuanmeldungen — «»Sie haben die Hotels abgeklappert?«
«Nein, nur die Kurdirektion.«
«Aha«, meinte nun Karin, sagte dies jedoch nicht ironisch, sondern wütend.
«Sie wollten sich doch dort über mich beschweren, Fräulein Fa-brici?«
«Ich bedaure, daß ich das noch nicht getan habe.«
«Meine Tante hat mir trotzdem schon den Kopf gewaschen.«
«Ihre Tante?«
«Die Gattin des Kurdirektors.«
«Woher wußte sie Bescheid?«
«Ich habe mich selbst bei ihr angezeigt«, feixte Torgau.»Mein Onkel war gerade nicht da.«
Das Grinsen verging ihm aber rasch wieder. Karin zeigte sich davon unbeeindruckt. Sie war immer noch wütend.
«Sie nehmen das Ganze wohl nicht ernst genug, sehe ich«, sagte sie.»Sie schlagen Kapital daraus, daß Ihre Verwandtschaft Sie vor Unannehmlichkeiten schützt. So gesehen, ist man Ihnen gewissermaßen ausgeliefert, und das nährt Ihren Größenwahn.«
«Größenwahn?«
«Größenwahn, ja. Sie wollten mir vorschreiben, nicht an dieser Schönheitskonkurrenz teilzunehmen. Aber Sie haben sich dazu die Falsche ausgesucht, Herr Torgau!«
Karins Augen flammten im Schein der Lampions.
«Warten Sie nur ein paar Minuten!«setzte sie hinzu und wandte sich von ihm ab.
Schon hatte sie sich einige Schritte entfernt, als ihr Torgau nachrief:»Wohin wollen Sie?«
Über ihre Schulter rief sie zurück:»Zu meinem Hotel.«
«Wozu?«
«Um den Bikini zu holen!«
Torgau stieß einen leisen Fluch aus und rief laut:»Karin!«
Umsonst. Karin Fabrici aus Düsseldorf zeigte sich taub. Rasch entschwand sie und ließ einen Mann zurück, der sich an die Hoffnung klammerte, daß der Weg zum Hotel sie abkühlen und zur Vernunft bringen werde.
In der gleichen Minute gab Johannes M. Markwart, der Veranstalter, dem Kapellmeister ein Zeichen, worauf das Orchester einen Tusch spielte. Still wurde es am Strand, und Markwarts weißer Frack leuchtete in einem grellen Scheinwerferkegel auf dem Laufsteg. Es ging los.
«Meine hochverehrten Damen und Herren«, sagte Markwart mit heller Stimme,»die Kurdirektion gibt sich die Ehre, Sie alle heute aufzunehmen in ein großes Preisrichterkollegium. Zur Wahl steht wieder einmal die >Miß Nickeroog< des laufenden Jahres. Eine erfreulich große Anzahl attraktiver junger Damen hat sich zur Verfügung gestellt, um der Konkurrenz den nötigen Glanz zu verleihen. Danken wir jeder von ihnen. Siegen kann nur eine, aber schon die Teilnahme allein bedeutet eine Auszeichnung. Wir alle kennen dieses berühmte Wort, das der elegante Baron de Coubertin in ähnlicher Form prägte, als er die Neugründung der Olympischen Spiele ins Leben rief. Eine Olympiade der Schönheit veranstalten wir heute auf Nickeroog. Mögen Sie, meine Damen und Herren, Gefallen daran finden, einen Gefallen, der groß genug ist, um jeden von Ihnen auch in den kommenden Jahren immer wieder hierher auf die Insel, dieses Juwel der Nordsee, zu locken. Dies wünscht Ihnen — und sich — die Kurdirektion aus ganzem Herzen.«
Baron v. Senkrecht stand am Fuß des Podiums und hatte zu jedem Satz Markwarts sein Einverständnis genickt, vor allem, als der Name seines Kollegen Coubertin gefallen war.
Markwart hatte noch nicht alles gesagt. Er legte nur eine kurze Pause ein. Nach den Ausführungen allgemeiner Natur, die er bisher zum besten gegeben hatte, wurde er nun konkret. Er fuhr fort:»>Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau'n<, heißt es in der Operette. So leicht ist jedoch heute Ihre Aufgabe, meine Herren im Publikum, nicht. Sie müssen sich schon entscheiden — ob blond oder braun, rot oder schwarz. Ob grüne Augen oder blaue, großer Busen oder kleiner, betonte Hüften oder knabenhafte… das sind alles Ausstattungen der Damen, zwischen denen Sie zu wählen haben. Nicht ganz so schwierig ist die Aufgabe für Sie, meine Damen im Publikum. Lassen Sie sich einen Rat geben von mir: Gucken Sie in den Spiegel, und richten Sie danach Ihre Wahl aus. Jeweils die Teilnehmerin an der Konkurrenz, die Ihnen am ähnlichsten sieht, bekommt Ihre Stimme — ich hoffe, auch die Ihres Gatten, falls Sie verheiratet sind. Ich.«
Markwart mußte infolge des großen Gelächters, das sich erhob, erneut eine Pause einlegen.
«Ich habe die Erfahrung gemacht«, fuhr er dann wieder fort,»daß auf diese Weise der eheliche Frieden am gesichertsten ist. Im übrigen — «
«Anfangen!«rief eine ungeduldige Männerstimme laut.
Baron v. Senkrecht blickte indigniert in die Richtung derselben.
«Im übrigen.«, sagte Markwart noch einmal.
«Fangt schon an, ja!«ertönte ein zweites männliches Organ.
Johannes M. Markwart beugte sich dem Druck. Er hätte zwar noch einiges zu sagen gehabt — schon in der Antike habe z.B. eine Schönheitskonkurrenz stattgefunden, als der Apfel des Paris der schönen Helena zugefallen sei —, unterließ dies aber, seufzte, murmelte statt dessen:»Also gut, ihr Kanaken«, zwang sich zu einem Lächeln, verbeugte sich vor dem Publikum, das zögernd zu applaudieren begann, und gab dem Kapellmeister wieder ein Zeichen, worauf der noch anhaltende Applaus der Leute von einem beginnenden schmelzenden Tango untermalt wurde.
Benito Romana dirigierte mit geschlossenen Augen, was ihm ein entrücktes Aussehen gab. In Wirklichkeit hatte er Magendrücken von einem übergroßen Eisbein, das er zum Abendessen verschlungen hatte. Während die Töne des Tangos >Küß mich unter Rosenblät-tern<, der eines ehrwürdigen Alters war, durch die lampionerleuchtete Nacht schwebte, trat das erste Mädchen aus dem Pavillon heraus, bestieg das Podium und schritt lächelnd, ein Täfelchen mit der Nummer 1 in der Hand, über den mit roten Teppichen belegten Laufsteg.
An den Tischen begann ein Tuscheln und Flüstern. Stimmzettel knisterten. Brillen wurden geputzt. Männer beugten sich nach vorn. Das Wasser lief ihnen im Mund zusammen. Wütende Blicke ihrer Gattinnen trafen sie. Besonders die dickeren der Damen im Publikum erblaßten vor Neid. Das Mädchen, an dem sich ihre Mißgunst entzündete, war gertenschlank, graziös, kaum 18 Jahre alt. Mit langen Beinen tänzelte sie über den Laufsteg. Frau Berta Bauer, eine Notarsgattin aus Kleve, die auch einmal nur 55 Kilo gewogen hatte, zischte ihrem Mann ins Ohr:»Paß auf, daß dir die Augen nicht aus den Höhlen fallen.«
«Was?«
«Du sollst nicht solche Stielaugen machen!«
«Berta«, sagte daraufhin der Notar,»wozu sind wir denn hier?«
«Laß die ebenfalls vier Kinder kriegen, dann hat sich's bei der auch ausgetänzelt.«
«Drei.«
«Was?«
«Drei Kinder. Du sprichst doch von denen, die du gekriegt hast — oder nicht? Wie kommst du auf vier?«
«Du vergißt wohl die Abtreibung, zu der du mich gezwungen hast, als wir noch nicht verheiratet waren? Auf die stand damals noch Zuchthaus. Zählt die für dich nicht?«
«Psst! Bist du verrückt?«
«Ob ich was bin?«
«Nicht so laut, ich bitte dich!«
Frau Bauer verstummte. Ihr Ziel hatte sie erreicht. Den Stielaugen ihres Gatten waren für den weiteren Abend Schranken gesetzt.
Das zweite Mädchen auf dem Laufsteg löste zwischen einem Paar aus München Konflikt aus. Die Urlaubsreise an die See hatte, schon ehe sie angetreten worden war, der Eintracht der beiden Schaden zugefügt gehabt. Und nun setzte sich das fort.
«Franz Joseph«, sagte sie,»gib mir eine Zigarette, bitte.«
Er reagierte nicht. Sein Blick war wie gebannt auf das Mädchen Nr. 2 gerichtet.
«Gib mir eine Zigarette, Franz Joseph.«
Wieder nichts.
«Franz Joseph!!«
«Ja?«
Nun hatte sie sich also bemerkbar machen können. Kurz blickte Franz Joseph zu ihr hin, schaute aber gleich wieder vor zum Laufsteg.
«Ich möchte eine Zigarette.«
Er zeigte auf den Tisch, ohne den Blick vom Laufsteg abzuwenden.
«Nimm dir eine, da liegt doch die Packung. Oder hast du keine Augen im Kopf, Maria?«
Maria preßte die Lippen zusammen, grub eine Zigarette aus der Packung heraus und klemmte sie sich zwischen Zeige- und Mittelfinger. Der Auftritt des Mädchens Nr. 2 war zu Ende, der des Mädchens Nr. 3 folgte. Franz Joseph war nicht minder gebannt als vorher.
«Spitze!«sagte er halblaut zu sich selbst.
Maria räusperte sich.
Als sie damit nicht den gewünschten Erfolg erzielte, sagte sie wieder:»Feuer, bitte.«
Franz Joseph war wieder taub.
«Franz Joseph!«
«Was ist denn schon wieder?«
«Feuer!«
Er warf ihr das Feuerzeug in den Schoß. Wortlos.
Maria sagte, nachdem sie sich gezwungenermaßen selbst bedient und einen erbitterten, tiefen Zug genommen hatte:»Danke.«
«Bitte.«
Das war kein Wechsel von Höflichkeitsfloskeln, sondern schon eher ein Schlagabtausch.
Es blieb nicht lange still zwischen den beiden, und Maria war wieder zu vernehmen.
«Mir wird es kühl.«
«Habe ich dir nicht gesagt, daß du dir eine Strickjacke mitnehmen sollst? Habe ich dir das nicht gesagt?«
«Eine Strickjacke zum Abendkleid — dieser Vorschlag konnte auch nur von dir kommen!«
«Dann mußt du dich eben jetzt mit deinem Schal begnügen. «Sein Mund verzog sich spöttisch.»Lang genug ist er ja.«
Das zitierte Stück wies in der Tat beträchtliche Ausmaße auf. Seine Enden reichten von den Schultern, um die sich Maria ihn gelegt hatte, bis hinunter auf den Sandboden. Trotzdem schien er den Anforderungen, die momentan an ihn gestellt wurden, nicht gerecht zu werden, denn Maria sagte:»Der Schal ist zuwenig.«
Franz Joseph zuckte die Achseln. Dann kann ich dir auch nicht helfen, hieß das.
Dem Laufsteg wurde inzwischen das Mädchen Nr. 4 zur Zierde, dann die Konkurrentin Nr. 5.
Die Brise, die vom Meer her wehte, ließ neben der Münchnerin auch noch einige andere dünngewandete Damen erschauern. Sie gaben das durch entsprechende Bemerkungen zu erkennen. Das Gegenmittel, auf das ein Kavalier aus Nürnberg verfiel, war nicht neu.»Bestell dir einen Schnaps«, sagte er zu seiner Gattin.
Maria machte ihren Franz Joseph auf ihre Leidensgenossinnen aufmerksam, indem sie ihm mitteilte:»Ich bin nicht die einzige, die friert.«
«Geteiltes Leid ist halbes Leid«, tröstete er sie. Das war blanker Zynismus, an dem auch noch festzuhalten er sich sogar nicht scheute, indem er fortfuhr:»Das verdankst du deiner Meeresbrise, von der du mir zu Hause in München vorgeschwärmt hast. Die ewigen Berge, in die ich wieder fahren wollte, hingen dir zum Hals heraus, sagtest du. Oder sagtest du das nicht?«
«Deine ewigen Berge hängen mir auch jetzt noch zum Hals heraus.«
«Dann beschwer dich nicht über die Meeresbrise, nach der du dich gesehnt hast. Genieße sie, statt dich über sie zu beklagen.«
Maria saß in der Falle, sie hatte keine andere Wahl, als hier auszuharren. Franz Joseph wandte seine Aufmerksamkeit wieder ungeteilt dem Laufsteg zu.
Größere Bewegung kam in das Publikum, als sich die Konkurrentin Nr. 8 präsentierte — eine üppige Blondine. Animierte Herren schlugen die Beine übereinander und zwinkerten sich gegenseitig zu, als die Kapelle zufällig gerade auch noch den Schlager >Süße Früchte soll man naschen< spielte. Dieser Tango war zwar auch wieder uralt, aber darauf mußte man bei Benito Romana immer vorbereitet sein.
Anders als die Männer reagierten natürlich wieder die Frauen, als die Blondine frech und aufreizend über den Laufsteg wippte und kokett in die Männeraugen blickte, die sie von unten her anstarrten. Unter den Gattinnen aller Schattierungen wurde der Neid sichtbar, der sie gelangweilte Mienen zeigen oder sie uninteressiert an ihren Gläsern nippen ließ.
Die Kellner vergaßen zu servieren. Die Blondine traf den Nerv vieler. Sogar der Baron v. Senkrecht fühlte sich von ihr angesprochen, obwohl sie eine eindeutig ordinäre Person war — oder gerade deshalb.
«Wissen Sie, an wen die mich erinnert?«sagte er zu Manfred Barke, dem Filmregisseur.»An eine Sizilianerin im Krieg.«
«Sind Sizilianerinnen nicht alle schwarz wie die Sünde?«antwortete Barke grinsend.
«Doch. «Der Baron nickte zum Laufsteg hinauf.»Aber erstens wissen Sie nicht, ob die dort oben das nicht auch ist. Und zweitens sprach ich im Moment nicht das Haar derselben an.«
«Sondern?«
«Den Hintern.«
Der Baron war ganz außer sich. Er sandte der Üppigen, als sie den Laufsteg verließ, feurige Blicke nach und fuhr fort:»Toll! Wirklich toll, mein lieber Barke! So etwas an der Kandare — Herrgott, da heißt es, geraden Sitz bewahren und nicht — «
Er brach ab, winkte mit der Hand.
«Na, Sie wissen schon«, schloß er. Und als Barke grinsend nickte, setzte er noch einmal hinzu:»Im Frieden gilt es allerdings in solchen Gegenden vorsichtig zu sein. Die Weiber dort haben männliche Anverwandte — Väter, Brüder —, die mit dem Messer schnell zur Hand sind, wenn sie die Ehre ihrer Tochter oder Schwester angetastet wähnen. Im Krieg kannten wir freilich diese Probleme nicht. Schließlich hatten wir ja die überlegenen Waffen in Händen.«
Manfred Barke hatte einen Einfall.
«Das Ganze«, sagte er,»wäre eigentlich ein prima Thema für einen Film.«
«Allerdings«, pflichtete der Baron bei.»Freilich wäre dabei strikte darauf zu achten, daß die Rolle der Wehrmacht nicht wieder im falschen Licht erscheint, so wie wir das jetzt seit Jahrzehnten bis zum Überdruß vorgeführt bekommen. Ich hoffe, Sie verstehen mich?«
«Sie spielen«, nickte der Filmmensch,»auf die soldatische Ehre an?«
«Ganz richtig.«
Das Gespräch der beiden, das noch sehr interessant hätte werden können, erfuhr leider eine Unterbrechung. Johannes M. Markwart trat hinzu und sagte zum Regisseur:»Na, kommen Sie auf Ihre Rechnung?«
Barke blickte hinauf zum Laufsteg, den gerade eine übernervöse Brünette erkletterte.
«Bis jetzt nicht«, erwiderte er.
Die Brünette stolperte über ihre eigenen Beine und erntete demoralisierendes Gelächter, das ihr den Rest gab, sie zu Tränen rührte und einen mitleidigen, hilfsbereiten Geist zwang, sie am Ende des Steges mit einem Becher Eissoda in Empfang zu nehmen und dadurch vor einer Ohnmacht zu schützen.
Barkes Kommentar war vernichtend.
«Mann!«stieß er verächtlich hervor.
«Und was sagen Sie zu der?«fragte ihn Markwart, dessen Lola nun der Brünetten folgte. Lolas Auftritt war eingebettet in Markwarts pflichtbewußtes Lächeln, das ihn, wenn er es versäumt hätte, möglicherweise sein Augenlicht gekostet hätte. Johannes M. Markwart hatte Lolas Fingernägel schon fürchten gelernt, Barke nicht.
«Was soll ich zu der schon sagen«, lautete Barkes Antwort, begleitet von einem Achselzucken.
Etwas Schlimmeres als Reaktion wäre gar nicht mehr denkbar gewesen. Dem Regisseur war das Verhältnis Markwarts mit Lola unbekannt, sonst hätte er vielleicht ein bißchen mehr Takt geübt.
Die ganze Schönheitskonkurrenz entwickelte sich zu einem mittleren Fiasko, wie alle diese Veranstaltungen, die man unter dem Motto Unterhaltung um jeden Preis< einem von Langeweile bedrohten Publikum schuldig zu sein glaubt.
Kurdirektor v. Vondel litt.
«Das geht nicht mehr so weiter«, sagte er leise zu Cölestin Höll-riegelskreuther, dem Geschäftsführer des Kurhauses.»Wir müssen uns für nächstes Jahr endlich etwas anderes einfallen lassen. Ich erwarte von Ihnen möglichst bald entsprechende Vorschläge.«
Immer ich, dachte Höllriegelskreuther. Soll er sich doch seinen Kopf selber zerbrechen, der Idiot.
«Dasselbe sagte ich mir soeben auch, Herr Direktor«, erklärte er.»Geben Sie mir eine Woche Zeit.«
«Tres bien«, lächelte Maitre Sandrou, der danebenstand. Er verstand von allem, was um ihn herum gesprochen wurde, fast kein Wort, lächelte trotzdem unentwegt und sagte immer wieder nur:»Tres bien«- sehr gut.
Er hatte auch Lola und die stolpernde Brünette tres bien< gefunden.
«Es gäbe wohl nur ein Mittel, dem sein >tres bien< auf den Lippen ersterben zu lassen«, raunte der zum Sarkasmus neigende Filmregisseur Barke dem Veranstalter Markwart ins Ohr.
«Und das wäre?«
«Seine Frau über den Laufsteg zu treiben.«
Eleganz war an Madame Sandrou alles, Schönheit nichts. Das Modehaus in Paris gehörte ihr. Albert war ein armer Junge aus der Provinz gewesen. Sie hatte ihn sich, er hatte sie sich geangelt. Auf diese Weise können durchaus funktionierende Ehen entstehen, deren
Basis das Geld der Gattin auf der einen Seite, sowie das Aussehen plus die Virilität des Gatten auf der anderen Seite bilden.
Danielle Sandrou wußte allerdings — und das hat in sämtlichen Fällen, die so gelagert sind, ausnahmslos stets Gültigkeit —, daß sie ihren Albert keine Stunde aus den Augen lassen durfte. Deshalb war sie auch mit nach Nickeroog gekommen. Sie saß an einem der vordersten Tische, damit ihr nichts entging.
Anzeichen mehrten sich, daß das Interesse des Publikums an der Veranstaltung zu erlahmen begann. Die Leute fingen an, sich zu unterhalten und einander nach den Plänen des kommenden Tages zu fragen.
«Ein Mädchen hätte ich ja gehabt«, sagte Johannes M. Markwart zum Regisseur Barke,»das auch Sie vom Stuhl gerissen hätte, das garantiere ich Ihnen.«
Er zuckte die Achseln.
«.leider ist sie nicht erschienen«, schloß er.
«Weshalb nicht?«fragte Barke.»Bekam sie kalte Füße?«
«Anscheinend.«
«Hatte sie denn zugesagt?«
«Nein, direkt zugesagt nicht, aber — «
Markwart blickte plötzlich mit starren Augen über Barkes Schultern hinweg zum Pavillon.
«Moment mal«, unterbrach er sich.»Da ist sie ja.«
Barke drehte sich um und stieß nach zwei, drei Sekunden einen Pfiff durch die Zähne aus. Das war eine Reaktion, die mehr aussagte, als ein Wust bombastischer Worte hätte tun können.
Sehr rasch mußte Markwart erkennen, daß seine sofortige Anwesenheit im Pavillon erforderlich war. Er setzte sich in Bewegung. Noch während er unterwegs war, rief er scharf:»Lola!«
Ein Skandal mußte verhindert werden. Lola hatte schon die ganze Zeit auf der Lauer gelegen. Karin Fabricis Auftauchen im Pavillon hatte ihr also nicht entgehen können. Rascher als Markwart entdeckte sie Karin und stürmte in den Pavillon, den sie zehn Minuten vorher zu ihrem Auftritt verlassen hatte. Wer sie kannte, wußte, was nun ganz rasch zu passieren drohte.
«Lola!«rief Markwart ein zweites Mal.
Lola achtete nicht darauf. Sie hatte nur Augen für Karin, auf die sie eindrang. Karin wußte nicht, wie ihr geschah, erkannte jedoch das Furienhafte an der Feindin, die ihr rätselhafterweise urplötzlich erstanden war, und dachte nur noch an Flucht. Zurück konnte sie nicht mehr, dieser Ausgang des Pavillons war ihr durch Lola verstellt. Sie entwich also nach vorn, sah das Treppchen vor sich, das schon sechzehn Mädchen im Bikini erstiegen hatten, und rettete sich auf den Laufsteg. Dort oben war sie in Sicherheit.
Das ging alles so schnell, daß auch Walter Torgau, wäre er in der Nähe gewesen, Karin nicht mehr am Betreten des Laufstegs hätte hindern können.
Markwart packte Lola am Arm, riß sie von der Treppe zurück und stieß sie in den Pavillon hinein.
«Laß mich!«fauchte sie, sich wehrend.»Laß mich, du Schwein!«
Er hatte keine andere Wahl als die, ihr den Arm auf den Rücken zu drehen.
«Willst du mich ruinieren?«keuchte er.
«Jajaja!«
«Und warum?«
«Um dir dein abgekartetes Spiel mit der zu versalzen!«
«Das ist kein abgekartetes Spiel. Ich bin selbst so überrascht wie du, daß sie auftaucht.«
Lola hörte auf, sich losreißen zu wollen, und blickte ihn an.
«Das glaube ich dir nicht.«
«Frag sie selbst. Frag, wen du willst.«
Der Zweifel in Lolas Gesicht wollte nicht weichen.
«Sieh sie dir doch an«, fuhr er fort.»Sie hat ja nicht einmal eine Nummer für ihren Auftritt zur Verfügung.«
Das stimmte. Verblüfft mußte Lola sich das widerstrebend selbst eingestehen.
Auf dem Laufsteg tat sich Seltsames. Karin mußte anhalten, als sie die Stufen emporgesaust war und dann oben geblendet im grellen Licht des Scheinwerfers stand. Unten herrschte für sie momentan nur Dunkelheit. Karin konnte nichts und niemanden erkennen. Bin ich verrückt, fragte sie sich, was mache ich da überhaupt? Wenn mich Vater sehen würde — großer Gott!
Aber zu jenem Gedanken an eine Korrektur des Geschehenen war es jetzt zu spät. Als Karin oben stand und der Kegel des Scheinwerfers sie erfaßte, gab es kein Zurück mehr.
Die Ereignisse im Pavillon fanden ihren Abschluß darin, daß Lola, um sich selbst nicht ins Unrecht zu setzen, ihrem Johannes eine klatschende Ohrfeige verabreichte und sich laut heulend ins Innere des Pavillons flüchtete.
Baron v. Senkrecht hatte die Situation noch nicht erfaßt. Er starrte auf das Mädchen auf dem Laufsteg und hätte, wenn man ihn nach seinem sizilianischen Abenteuer gefragt hätte, nur noch eine Miene der Geringschätzigkeit zeigen können. Das Ringen zwischen Markwart und Lola am Fuße des Treppchens entging ihm zwar nicht, er konnte es aber geistig nicht verarbeiten. Seine Wahrnehmungen wurden fast ausschließlich von Karin in Anspruch genommen.
«Kolossal«, staunte er.»Sehen Sie sich das an, verehrter junger Freund — ein deutsches Mädchen von der besten Sorte.«
Auch Manfred Barke gab zu:»In der Tat erstklassig.«
Sogar Albert Sandrou zwang sich zu einem neuen Urteil, indem er sagte:»Tres — tres — tres bien.«
Gerne hätte er auch noch mit der Zunge geschnalzt oder sich in französischer Weise die eigenen Fingerspitzen geküßt, doch zu bei-dem befand sich der Tisch, an dem seine Gattin saß, in zu gefährlicher Nähe.
Benito Romana vergaß sein Magendrücken, als er Karin auf dem Laufsteg erblickte. Zum Zeichen dafür, daß eine neue Situation für ihn entstanden war, flüsterte er nach allen Seiten, stimmte die Kapelle auf einen anderen Takt ein und hob sein Stöckchen zu dem Walzer >Dunkelrote Rosen<.
Durch die Menge der Zuschauer ging ein Raunen. Mit einem Schlag besannen sich die Leute wieder darauf, weswegen sie hier waren. Witze blieben nur halb erzählt. Was man morgen machen wollte, interessierte plötzlich niemanden mehr. Einige Männer — jüngere — scheuten sich sogar nicht, sich von ihren Plätzen zu erheben und an den Laufsteg zu drängen, um das stumme Mädchen im Scheinwerferlicht besser sehen zu können.
Karin stand sekundenlang mit geschlossenen Augen im grellen Lichtkegel, um sich an ihn zu gewöhnen. Dann hörte sie die Musik, blinzelte nach allen Seiten, zwang sich zu einem Lächeln, holte tief Atem und schritt über den Laufsteg, schritt die Bahn ab, die sie vielleicht, wie ihr urplötzlich einfiel, Meter um Meter bis in die Unendlichkeit hinein von Walter Torgau entfernte. Hoffentlich nicht, durchzuckte es sie.
Dunkelrote Rosen.
Wie oft hatte sie dieses Lied schon im Radio gehört — und nun ging sie bei dem Walzer selbst über eine Brücke unter den Augen Hunderter. und nur aus Trotz, nur aus dem Willen heraus, ihm Widerstand zu leisten, ihm, den sie. den sie.
Nein, sagte sie sich in Gedanken hart selbst, den ich keineswegs liebe!
Wer ist er denn überhaupt?
Ich kenne ihn doch gar nicht.
Ein Mann, der sich in fremde Strandkörbe setzt.
Einer, der mir Vorschriften machen wollte.
Der sich nicht schämt, in einem absolut indiskutablen Bademantel herumzulaufen.
Der mit seinem Onkel angibt.
Wahrscheinlich stimmt das gar nicht, daß er mit dem Kurdirektor verwandt ist.
Und wenn's stimmt, was bedeutet das schon? Von seinem Onkel kann er nicht herunterbeißen, wenn er.
Wenn er was?
Wenn er eine Frau ernähren will.
«Welche Nummer?«übertönte eine Männerstimme die Musik. Karin schreckte auf, nachdem ihr während der wenigen Schritte über den Laufsteg so vieles durch den Kopf gegangen war. Noch hatte sie das Ende des Steges gar nicht erreicht. Sie blieb stehen, lächelte ins Publikum, zeigte ihre leeren Hände vor, zuckte mit den Schultern. Was wollt ihr? hieß das. Ihr sollt mich ja gar nicht wählen. Eine Nummer ist deshalb nicht nötig. Warum ich hier rübergerannt bin, hat ganz andere Gründe.
Inzwischen war es ganz still geworden am Strand. Man hörte keine Stimmen mehr, kein Gemurmel, nicht einmal das Rascheln der Wahlzettel. Nur die Musik Benito Romanas brauchte noch ein Weilchen, bis auch sie verklang.
Dunkelrote Rosen schenk' ich, schöne Frau.
Und was das bedeutet, wissen Sie genau.
Als Karin Fabrici den Laufsteg verlassen hatte und auf dem anderen Podium angekommen war, stand da schon Johannes M. Markwart und nahm sie in Empfang. Obwohl sie ihm einiges eingebrockt hatte, wagte er nicht, ihr Vorwürfe zu machen oder sich vor den Augen des Publikums eine Blöße zu geben, indem er sie vom Podest gewiesen hätte — nein, mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß, bat er sie nur, auf einem der weißen Stühle Platz zu nehmen, und entfernte sich dann mit einem gebrummten» Wir sprechen uns noch «vom Podium.
Alle spürten es, das Blatt hatte sich gewendet, die Veranstaltung hatte ein neues Gesicht bekommen. Eine Sensation hatte sich angebahnt. Die Sensation war Karin Fabrici.
Obwohl Johannes M. Markwart noch fünf oder sechs Mädchen in petto hatte, stand die Entscheidung schon unverrückbar fest. Die einzigen, die das anscheinend noch nicht wahrhaben wollten, waren diese fünf oder sechs jungen Damen, von denen es am vernünftigsten gewesen wäre, auf ihre Auftritte zu verzichten, die dies aber nicht einsehen wollten und dennoch — eine nach der anderen — über den Laufsteg tänzelten. Das Publikum war unhöflich oder grausam genug, ihnen keine Beachtung mehr zu schenken. Noch hat-te die letzte ihre Hoffnungen nicht begraben und schwenkte ihre Hüften bei jedem Schritt mit einem Dreh, vom dem sich, wie sie glaubte, Marilyn Monroe noch eine Scheibe hätte herunterschneiden können, als sich die Leute schon über ihre Stimmzettel beugten, um ihr Votum abzugeben. Dazu bedurfte es aber vorher doch noch einiger Worte des Veranstalters, der sich aufs Podium schwang und sagte:»Meine sehr verehrten Damen und Herren, nun sind Sie an der Reihe, fällen Sie Ihre Entscheidung. Die Prozedur ist für Sie aufgrund der Nummern, mit denen die Bewerberinnen ausgestattet waren, einfach. Durch eine nicht vorherzusehende kleine Panne in der Organisation, die ich als Leiter der Veranstaltung gerne auf mich nehme, obwohl ich nicht für sie verantwortlich bin, geschah es allerdings, daß eine der jungen Damen sich Ihnen ohne Nummer präsentierte. Sollte jemand unter Ihnen, verehrtes Publikum, das Bedürfnis haben, seine Wahl auf diese junge Dame fallen zu lassen, schlage ich hiermit vor, daß er dann auf seinen Stimmzettel die Zahl x schreibt. Wird dagegen irgendein Einwand erhoben?«
Die Frage war überflüssig. Markwart ließ seinen Blick umherschweifen, es blieb aber still.
Dann wurden die Stimmzettel eingesammelt, doch noch während Johannes M. Markwart unter Aufsicht der ganzen Jury seiner Aufgabe des Auszählers gerecht wurde und Benito Romana der Spannung, die in der Luft lag, mit einem scharfen Foxtrott ein Ventil zu öffnen suchte, wußte man schon, wer heute Miß Nickeroog< geworden war.
Ein heller Tusch durchschnitt die Stille der Nacht. Markwart stand wieder auf dem Podium und hob die Hand. Obwohl fast allen klar war, was er verkünden würde, steigerte sich die Spannung nun doch noch einmal. Ein Teil der Leute drängte sich wieder an die Rampe und schielte zu dem anderen Podium hinüber, auf dem die Bewerberinnen saßen. Nur Lola fehlte. Sie hatte sich in die Dunkelheit außerhalb des Bereichs der Lampions zurückgezogen und vergiftete sich selbst ihr Herz mit Haß und Wut. Vom Kurhaus her tauchte plötzlich ein Wagen auf, auf dessen Dach eine Filmkamera stand. Junge Männer, unter denen sich auch drei Fotoreporter befanden, umschwirrten das Podium der Mädchen und knipsten unter einem Gewitter grell aufflammender Vakublitze die Gruppe der Schönen.
«Die Wahl«, ertönte Markwarts Stimme,»die Sie, meine Damen und Herren trafen, fiel mit eindeutiger Mehrheit auf die Nummer x. Wir — «
Er mußte aussetzen. Heftiges Händeklatschen unterbrach ihn, laute Bravo-Rufe erschollen. Der Lärm hielt lange an, er schien sich überhaupt nicht mehr legen zu wollen, so daß Markwart nach einigen vergeblichen Anläufen dazu, seine Rede fortzusetzen, die Waffen streckte und wieder der Kapelle den Vortritt ließ. Ein von Benito Romana selbst komponierter >Krönungsmarsch< erklang, als Karin Fabrici langsam auf Johannes M. Markwart zutrat und sich über und über errötend die kleine goldene Krone auf die Locken setzen ließ. Dann konnte sie nichts dagegen tun, von ihm auch auf beide Wangen geküßt zu werden. Sie mußte viele Hände schütteln, wurde gefilmt, von den Reportern und auch von Amateuren geknipst und von Baron v. Senkrecht mit Komplimenten, denen es nicht an einer nationalen Tönung mangelte, überschüttet. Der Kurdirektor sprach zu ihr davon, daß ihr Auftritt einer alten Nickerooger Einführung neue Perspektiven eröffnet habe; seine Worte gingen aber im allgemeinen Tohuwabohu unter. Das gleiche Schicksal erlitt Mai-tre Sandrou, aus dessen Mund sich über Karin ein französischer Schwall ergoß, des Inhalts, daß ihre göttliche< Figur danach rufe<, von ihm mit einigen Modellroben >bedichtet< zu werden. Cölestin Höllriegelskreuther legte ihr das ganze Kurhaus zu Füßen. Manfred Barke kommandierte die Filmkamera.
Karin stand inmitten dieses Trubels ziemlich verlegen da und blickte über die Köpfe hinweg zu dem Sonnenschirm, an dem Walter Torgau gestanden hatte, als sie ihn zornig verlassen hatte und zum Hotel um ihren Bikini gerannt war.
Der Platz war leer. Karins Blick irrte über besetzte Tische und verlassene, über leere Stühle und umgestürzte, er wanderte über die Menge der klatschenden, lachenden, rufenden Zuschauer, die das Podium umstanden, suchte und fand noch einmal den einzigen Sonnenschirm, den zu schließen man vergessen hatte, und kehrte traurig zu Johannes M. Markwart zurück.
Er ist gegangen, dachte sie. Ich habe zuviel aufs Spiel gesetzt. Weshalb eigentlich? Ich wollte wieder einmal mir selbst etwas beweisen. War es das wert? Er ist fort. Sehe ich ihn je wieder? Warum frage ich mich das? Oben auf dem Laufsteg redete ich mir noch ein, daß er mich nicht interessiert. Was hatte ich gegen ihn?
Daß er sich in fremde Strandkörbe setzt.
Na und? Tun das nicht andere auch? Muß ein solcher Korb leer herumstehen?
Daß er mir Vorschriften machen wollte.
Na und? Vielleicht hat er das gar nicht so ernst gemeint.
Daß er sich nicht schämt, in einem solchen Bademantel herumzulaufen.
Bin ich verrückt? Ist der Bademantel wichtig — oder jener, der drinsteckt?
Daß er mit seinem Onkel angibt.
Hat er doch gar nicht. Er hat gesagt, daß er mit dem Kurdirektor verwandt ist, nachdem ich ihm angedroht hatte, mich über ihn zu beschweren. Das war sogar seine Pflicht. Wenn er mir das nicht gesagt hätte, wäre ich nämlich ganz bestimmt zum Kurdirektor gelaufen, um meine Beschwerde loszuwerden, und hätte nur eine — bestenfalls höfliche — Abfuhr erlebt. Ich wäre blamiert gewesen. Davor wollte er mich bewahren. Statt ihm also dankbar zu sein, stieß ich ihn vor den Kopf.
Ich Schaf.
Ich -
«Gnädiges Fräulein!«
Die Stimme Markwarts. Karin schreckte auf.
«Ja?«»Sie hören mir ja gar nicht zu. Wir wissen noch nicht einmal, wer Sie sind.«
«Entschuldigen Sie.«
«Würden Sie mir Ihren Namen verraten?«
«Karin Fabrici.«
«Woher kommen Sie?«
«Aus Düsseldorf.«
«Wunderbar! Eine Rheinländerin! Ich könnte mir vorstellen, daß Sie auch schon im Karneval eine ähnliche Rolle gespielt haben wie hier.«
«Nein.«
«Eigentlich hätte ich ja noch ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen — Sie wissen schon, warum. «Er lächelte verzeihend.»Aber.«
Er verstummte, winkte nachsichtig mit der Hand. Karin nickte dankbar.
«Ich bin müde«, sagte sie.
Das konnte Johannes M. Markwart nicht ernst nehmen. Eine Tasse Kaffee werde das rasch ins Lot bringen, meinte er.
Karin schüttelte den Kopf. Nein, hieß das.
«Doch, doch«, blieb Markwart hartnäckig, faßte sie unter und bat sie, die Herrschaft über ihr Königreichs wie er sich pathetisch ausdrückte, anzutreten.
Unwille zeigte sich in Karins Miene.
«Nein«, wiederholte sie,»ich bin wirklich müde. Lassen Sie mich in mein Hotel gehen. Morgen können Sie über mich verfügen. Jetzt aber möchte ich schlafen.«
«Aber Gnädigste, das geht doch nicht!«Markwart hob entsetzt die Arme.»Der Film, die Reporter, das Publikum, alle wollen Sie sehen und — «
«Morgen, alles morgen«, unterbrach ihn Karin Fabrici, ließ ihn stehen, stieg mit raschen Schritten die Stufen des Podiums hinunter, ging vorbei an erstaunten Männern, die sich genähert und gehofft hatten, ihre Bekanntschaft zu machen, und schlug die Richtung zu ihrem Hotel ein, in dessen Eingang sie bald verschwand, gefolgt von den Blicken all der Sprachlosen, denen sie entwichen war. Auch der Portier im Hotelinneren, an dem sie im Bikini — und deshalb etwas geniert — vorübereilte, fand keine Worte. Er stand mit offenem Mund da und war sich im klaren darüber, daß er das größte Wunder seit Jahren erlebte — eine frisch gewählte >Miß Nicker-oog<, die ihre Ruhe haben wollte.
In ihrem Zimmer legte sich Karin so, wie sie war, auf das Bett und starrte empor zur Decke. Sie fragte sich, was mit ihr los war. Gefühle, die sie bisher nicht gekannt hatte, machten ihr zu schaffen. Sie spürte ihr Herz und verstand das nicht. Natürlich war sie realistisch genug, ihre Unsicherheit und Ungewißheit mit jenem Mann in Zusammenhang zu bringen, den sie doch kaum kennengelernt hatte, den sie sich abwechselnd selbst abzulehnen befahl und dann wieder in wachsendem Maße innerlich an sich zog. Aber daß ihr ganzer Zustand etwas völlig Unerwartetes war, etwas Verrücktes, daran zweifelte sie jedenfalls nicht.
Am besten wäre es, sagte sie sich, ihn nicht wiederzusehen. Dann würde es keine Probleme geben. Probleme wünschte sie sich nämlich keine.
Karin Fabrici hatte nichts dagegen, mit einem Mann zu schlafen. Dazu sei für sie die Zeit einfach reif, hatte sie schon in Düsseldorf geglaubt. Das müsse jetzt — oder bald — über die Bühne gehen. Ein modernes junges Mädchen könne sich solchen Entwicklungen nicht verschließen.
Aber Liebe? Im Zusammenhang mit Defloration? Gleich beim erstenmal?
Nein — nur das nicht!
Genau das verstand nämlich Karin unter >Problemen<.
Sie wollte sich doch nicht selbst mit ihrer Großmutter in einen Topf werfen, die vor urdenklichen Zeiten.
Was denn?
Nun, die vor urdenklichen Zeiten, so ging das Gerücht in der Familie Fabrici, den ersten Mann, mit dem sie schlief, geheiratet hatte, und zwar vorher schon, weil sie ihn liebte. Heiliger Strohsack! Die arme Frau!
Karin Fabrici, die vielversprechende Enkelin jener Unglücklichen, führte wieder ein lautloses Selbstgespräch.
Wozu bin ich denn hierhergekommen nach Nickeroog? Warum fuhr ich nicht mit den Eltern nach Kärnten?
Klare Sache, wozu. Dazu braucht es aber einen Mann. Die Eltern wären dabei nur im Wege gewesen. Das habe ich doch schon oft genug erlebt.
Einen Mann, ja, den braucht es dazu.
Einen richtigen.
Keinen falschen; nicht den nächstbesten; keinen, der einen Buckel hat, schielt oder sich nicht wäscht.
Aber auch keinen allzu richtigen.
Keinen, der >Probleme< mit sich bringt.
Keinen Walter Torgau.
Also ist es wirklich am besten, ihn nicht wiederzusehen. Doch wie soll das gehen? Nickeroog ist zu klein, als daß man sich nicht unvermeidlich immer wieder über den Weg laufen würde. Es sei denn -
Karin empfand einen bösen Stich.
Es sei denn, er ist abgereist.
Nein!
Doch!
Weiß ich denn, ob sein Urlaub nicht schon zu Ende ist?
Oder ob er ihn nicht vorzeitig abbricht, weil ich ihn vor den Kopf gestoßen habe?
Aber dann müßte er mich.
Was denn?
Lieben?
Lieben.
Karin saß plötzlich aufrecht im Bett, wußte nicht, wie das vor sich gegangen war, schlang die Arme um die angezogenen Knie und setzte ihren inneren Monolog fort.
Ich bin verrückt.
Wie käme er dazu, mich zu lieben?
Mich Kratzbürste.
Und überhaupt, er kennt mich so wenig wie ich ihn. Er weiß nicht, woher ich komme und was ich mache.
Was mache ich denn überhaupt? Ich liege meinem Vater auf der Tasche, habe zwar das Abitur, aber seitdem tat sich eigentlich nichts mehr. Zwei Semester Betriebswirtschaft. Abgebrochen. Vater hatte ans Geschäft gedacht. Spätere Übergabe an mich und so. War aber nichts. Mutter erhofft heute noch ein Studium der Literaturwissenschaft von mir. Dies wäre der Traum ihres Lebens, sagte sie, nachdem ihr ein solches Studium versagt geblieben sei. Vater meint aber, für mich komme nun nur noch eine ordentliche Heirat in Frage; ein brauchbarer Schwiegersohn für ihn, ein Juniorchef für die Firma — der Peter Krahn.
Ist ja ein guter Kerl, der Peter.
Aber.
Vor das Bild des guten Kerls, an den Karin dachte, schob sich das des Mannes, der fremde Strandkörbe annektierte. Peter Krahn, dem die Düsseldorfer Mädchen nachliefen, der im Geld schwamm, der keinen Buckel hatte und nicht schielte, der es niemals gewagt hätte, Karin eine Vorschrift zu machen, verlor auf der Bühne in ihrem Inneren die Partie gegen Walter Torgau, einen Mann mit einem unerträglichen Wesen für ein emanzipiertes Mädchen. War denn das überhaupt die Möglichkeit?
Nein! sagte sich Karin Fabrici.
Sie stieg vom Bett, ging ins Bad und stellte sich vor den Spiegel. Sie sah sich an, musterte sich kritisch, war im großen und ganzen mit dem, was sie sah, zufrieden und dachte: Aber gefallen hast du ihm, er nahm an dir Interesse. Gefallen hast du allen heute abend, dafür wurde ein überzeugender Beweis geliefert, ein Beweis freilich, für den er sich nicht begeistern konnte. Wäre es besser gewesen, auf diesen Nachweis zu verzichten?
«Sicher wäre es das gewesen«, hörte und sah Karin das Mädchen, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, sagen. Sie war erstaunt, er-schrocken, begriff dann erst, daß sie selbst diejenige war, die laut gesprochen hatte.
In Karins Innerem herrschte ein ziemliches Durcheinander. Ihre Gefühle fielen nicht gerade von einem Extrem ins andere, doch sie sprangen von einer Seite auf die andere. Sie wußte nicht mehr recht, wohin mit sich.
Mit einem Seufzer wandte sie sich vom Spiegel ab, entkleidete sich völlig — soweit man überhaupt noch von einer >Entkleidung< sprechen kann, wenn es ein Bikini ist, dessen man sich entledigt — und nahm ein Bad. Danach bürstete sie kurz ihr prachtvolles Haar. Und das war auch schon alles an Abendkosmetik, was bei Karin stattfand. Das Gesicht einzufetten, hatte sie noch nicht nötig. Überflüssig zu erwähnen, daß natürlich auch die Zähne geputzt wurden.
Ehe sie sich ins Bett legte, um zu schlafen, trat sie an das breite Fenster. Draußen im Freien war es still geworden. Leblos lag der Strand mit seinen erloschenen Lampions im Mondlicht da. Das Meer flimmerte und warf silberne Wellen an den blaß schimmernden weißen Strand. Wie Liebespaare, die versunken in ihr Glück eng umschlungen zusammensitzen, sahen die aneinandergerückten Strandkörbe aus. Einige Wimpel über den Sandburgen flatterten schwach im leichten Nachtwind. An einem Dünenhang saßen zwei Menschen und küßten sich. Nur ihre Umrisse waren zu erkennen, als sie sich zueinander beugten und sich umschlangen. Gleich einem riesigen bestickten dunklen Tuch spannte sich der nächtliche Himmel mit seinen Sternen über dem Ozean.
«Mutti«, sagte Karin leise und lehnte sich an den Rahmen der Balkontür,»ich denke an dich, Mutti. Nun hätte ich doch nichts dagegen, wenn du hier wärst. Ich hätte ein paar Fragen an dich. Sicher könntest du sie mir nicht beantworten — jedenfalls nicht richtig —, aber allein deine warme Stimme würde mir guttun. Ich bin unglücklich, Mutti, nein, das wäre zuviel gesagt. Es wäre aber auch zuviel gesagt, wenn ich behaupten würde, daß ich nicht unglücklich bin. Es ist ein Zustand dazwischen, weißt du. Ich habe einen Fehler gemacht, der mich vorläufig daran hindert, festzustellen, was ich bin: unglücklich. nicht unglücklich. oder gar glücklich? Vielleicht kann ich das noch klären. Schluß jetzt. Gute Nacht, Mutti. Und auch gute Nacht, Vati.«