37760.fb2 Der Wanderer und sein Schatten - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 4

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Der gesuchte Stil. — Der gefundene Stil ist eine Beleidigung für den Freund des gesuchten Stils.

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Gelöbnis. — Ich will keinen Autor mehr lesen, dem man anmerkt, er wollte ein Buch machen: sondern nur jene, deren Gedanken unversehens ein Buch wurden.

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Die künstlerische Konvention. — Dreiviertel Homer ist Konvention; und ähnlich steht es bei allen griechischen Künstlern, die zu der modernen Originalitätswut keinen Grund hatten. Es fehlte ihnen alle Angst vor der Konvention; durch diese hingen sie ja mit ihrem Publikum zusammen. Konventionen sind nämlich die für das Verständnis der Zuhörer eroberten Kunstmittel, die mühevoll erlernte gemeinsame Sprache, mit welcher der Künstler sich wirklich mitteilen kann. Zumal wenn er, wie der griechische Dichter und Musiker, mit jedem seiner Kunstwerke sofort siegen will — da er öffentlich mit einem oder zweien Nebenbuhlern zu ringen gewöhnt ist — , so ist die erste Bedingung, daß er sofort auch verstanden werde: was aber nur durch die Konvention möglich ist. Das, was der Künstler über die Konvention hinaus erfindet, das gibt er aus freien Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten Fall mit dem Erfolge, daß er eine neue Konvention schafft. Für gewöhnlich wird das Originale angestaunt, mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden; der Konvention hartnäckig ausweichen heißt: nicht verstanden werden wollen. Worauf weist also die moderne Originalitätswut hin?

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Affektation der Wissenschaftlichkeit bei Künstlern. — Schiller glaubte, gleich anderen deutschen Künstlern, wenn man Geist habe, dürfe man über allerlei schwierige Gegenstände auch wohl mit der Feder improvisieren. Und nun stehen seine Prosa-Aufsätze da — in jeder Beziehung ein Muster, wie man wissenschaftliche Fragen der Ästhetik und Moral nicht angreifen dürfe — und eine Gefahr für junge Leser, welche, in ihrer Bewunderung des Dichters Schiller, nicht den Mut haben, vom Denker und Schriftsteller Schiller gering zu denken. — Die Versuchung, welche den Künstler so leicht und so begreiflicherweise befällt, auch einmal über die gerade ihm verbotene Wiese zu gehen und in der Wissenschaft ein Wort mitzusprechen — der Tüchtigste nämlich findet zeitweilig sein Handwerk und seine Werkstätte unausstehlich — , diese Versuchung bringt den Künstler so weit, aller Welt zu zeigen, was sie gar nicht zu sehen braucht, nämlich daß es in seinem Denkzimmerchen eng und unordentlich aussieht — warum auch nicht? er wohnt ja nicht darin! — , daß die Vorratsspeicher seines Wissens teils leer, teils mit Krimskrams gefüllt sind — warum auch nicht? es steht dies sogar im Grunde dem Künstler-Kinde nicht übel an — , namentlich aber, daß selbst für die leichtesten Handgriffe der wissenschaftlichen Methode, die selbst Anfängern geläufig sind, seine Gelenke zu ungeübt und schwerfällig sind — und auch dessen braucht er sich wahrlich nicht zu schämen! — Da gegen entfaltet er oftmals keine geringe Kunst darin, alle die Fehler, Unarten und schlechten Gelehrtenhaftigkeiten, wie sie in der wissenschaftlichen Zunft vorkommen, nachzuahmen, im Glauben, dies eben gehöre, wenn nicht zur Sache, so doch zum Schein der Sache; und dies gerade ist das Lustige an solchen Künstler-Schriften, daß hier der Künstler, ohne es zu wollen, doch tut, was seines Amtes ist: die wissenschaftlichen und unkünstlerischen Naturen zu parodieren. Eine andere Stellung zur Wissenschaft als die parodische sollte er nämlich nicht haben, soweit er eben der Künstler und nur der Künstler ist.

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Die Faust-Idee. — Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht; ein großer Gelehrter aller vier Fakultäten ist der Übeltäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiß nicht! Ohne die Beihilfe des leibhaftigen Teufels hätte es der große Gelehrte nicht zustande gebracht. — Sollte dies wirklich der größte deutsche» tragische Gedanke «sein, wie man unter Deutschen sagen hört? — Für Goethe war aber auch dieser Gedanke noch zu fürchterlich; sein mildes Herz konnte nicht umhin, die kleine Nähterin,»die gute Seele, die nur einmal sich vergessen«, nach ihrem unfreiwilligen Tode in die Nähe der Heiligen zu versetzen; ja selbst den großen Gelehrten brachte er, durch einen Possen, der dem Teufel im entscheidenden Augenblick gespielt wird, noch zur rechten Zeit in den Himmel, ihn,»den guten Menschen «mit dem» dunklen Drange«: — dort im Himmel finden sich die Liebenden wieder. — Goethe sagt einmal, für das eigentlich Tragische sei seine Natur zu konziliant gewesen.

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Gibt es» deutsche Klassiker«? — Sainte-Beuve bemerkt einmal, daß zu der Art einiger Literaturen das Wort» Klassiker «durchaus nicht klingen wolle: wer werde zum Beispiel so leicht von» deutschen Klassikern «reden! — Was sagen unsre deutschen Buchhändler dazu welche auf dem Wege sind, die fünfzig deutschen Klassiker, an die wir schon glauben sollen, noch um weitere fünfzig zu vermehren? Scheint es doch fast, als ob man eben nur 30 Jahre lang tot zu sein und als erlaubte Beute öffentlich dazuliegen brauche, um unversehens plötzlich als Klassiker die Trompete der Auferstehung zu hören! Und dies in einer Zeit und unter einem Volke, wo selbst von den sechs großen Stammvätern der Literatur fünf unzweideutig veralten oder veraltet sind, — ohne daß diese Zeit und dieses Volk sich gerade dessen zu schämen hätten! Denn jene sind vor den Stärken dieser Zeit zurückgewichen — man überlege es sich nur mit aller Billigkeit! — Von Goethe, wie angedeutet, sehe ich ab, er gehört in eine höhere Gattung von Literaturen, als» National-Literaturen «sind: deshalb steht er auch zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. Nur für wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die meisten ist er nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Kultur, Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre imstande, in der deutschen Politik der letzten 70 Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen! (während jedenfalls darin ein Stück Schiller, und vielleicht sogar ein Stückchen Lessing tätig gewesen ist). Aber jene andern fünf! Klopstock veraltete schon bei Lebzeiten auf eine sehr ehrwürdige Weise; und so gründlich, daß das nachdenkliche Buch seiner späteren Jahre, die Gelehrten-Republik, wohl bis heutigen Tag von niemandem ernst genommen worden ist. Herder hatte das Unglück, daß seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; für die feineren und stärkeren Köpfe (wie für Lichtenberg) war zum Beispiel selbst Herders Hauptwerk, seine Ideen zur Geschichte der Menschheit, sofort beim Erscheinen etwas Veraltetes. Wieland, der reichlich gelebt und zu leben gegeben hat, kam als ein kluger Mann dem Schwinden seines Einflusses durch den Tod zuvor. Lessing lebt vielleicht heute noch, — aber unter jungen und immer jüngeren Gelehrten! Und Schiller ist jetzt aus den Händen der Jünglinge in die der Knaben, aller deutschen Knaben geraten! Es ist ja eine bekannte Art des Veraltens, daß ein Buch zu immer unreiferen Lebensaltern hinabsteigt. — Und was hat diese fünf zurückgedrängt, so daß gut unterrichtete und arbeitsame Männer sie nicht mehr lesen? Der bessere Geschmack, das bessere Wissen, die bessere Achtung vor dem Wahren und Wirklichen: also lauter Tugenden, welche gerade durch jene fünf (und durch zehn und zwanzig andere weniger lauten Namens) erst wieder in Deutschland angepflanzt worden sind, und welche jetzt als hoher Wald über ihren Gräbern neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten der Vergessenheit breiten. — Aber Klassiker sind nicht Anpflanzer von intellektuellen und literarischen Tugenden, sondern Vollender und höchste Lichtspitzen derselben, welche über den Völkern stehen bleiben, wenn diese selber zugrundegehen: denn sie sind leichter, freier, reiner als sie. Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreißig sehr alten, nie veralteten Büchern lebt: in den Klassikern.

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Interessant, aber nicht schön. — Diese Gegend verbirgt ihren Sinn, aber sie hat einen, den man erraten möchte: wohin ich sehe, lese ich Worte und Winke zu Worten aber ich weiß nicht, wo der Satz beginnt, der das Rätsel aller dieser Winke löst, und werde zum Wendehals darüber, zu untersuchen, ob von hier oder von dort aus zu lesen ist.

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Gegen die Sprach-Neuerer. — In der Sprache neuern oder altertümeln, das Seltene und Fremdartige vorziehen, auf Reichtum des Wortschatzes statt auf Beschränkung trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften oder verderbten Geschmacks. Eine edle Armut, aber innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine meisterliche Freiheit zeichnet die griechischen Künstler der Rede aus: sie wollen weniger haben, als das Volk hat — denn dieses ist am reichsten in Altem und Neuem — aber sie wollen dies Weniger besser haben. Man ist schnell mit dem Aufzählen ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten fertig, aber kommt nicht zu Ende im Bewundern, wenn man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs mit dem Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten und Wendungen ein gutes Auge hat.

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Die traurigen und die ernsten Autoren. — Wer zu Papier bringt, was er leidet, wird ein trauriger Autor: aber ein ernster, wenn er uns sagt, was er litt und weshalb er jetzt in der Freude ausruht.

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Gesundheit des Geschmacks. — Wie kommt es, daß die Gesundheiten nicht so ansteckend sind wie die Krankheiten — überhaupt, und namentlich im Geschmack? Oder gibt es Epidemien der Gesundheit? —

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Vorsatz. — Kein Buch mehr lesen, das zu gleicher Zeit geboren und (mit Tinte) getauft wurde.

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Den Gedanken verbessern. — Den Stil verbessern — das heißt den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! — Wer dies nicht sofort zugibt, ist auch nie davon zu überzeugen.

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Klassische Bücher. — Die schwächste Seite jedes klassischen Buches ist die, daß es zu sehr in der Muttersprache seines Autors geschrieben ist.

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Schlechte Bücher. — Das Buch soll nach Feder, Tinte und Schreibtisch verlangen: aber gewöhnlich verlangen Feder, Tinte und Schreibtisch nach dem Buche. Deshalb ist es jetzt so wenig mit Büchern.

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Sinnesgegenwart. — Das Publikum wird, wenn es über Gemälde nachdenkt, dabei zum Dichter, und wenn es über Gedichte nachdenkt, zum Forscher. Im Augenblick, da der Künstler es anruft, fehlt es ihm immer am rechten Sinn, nicht also an der Geistes-, sondern an der Sinnesgegenwart.

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Gewählte Gedanken. — Der gewählte Stil einer bedeutenden Zeit wählt nicht nur die Worte, sondern auch die Gedanken aus, — und zwar beide aus dem Üblichen und Herrschenden: die gewagten und allzufrisch riechenden Gedanken sind dem reiferen Geschmack nicht minder zuwider als die neuen tollkühnen Bilder und Ausdrücke. Später riecht beides — der gewählte Gedanke und das gewählte Wort — leicht nach Mittelmäßigkeit, weil der Geruch des Gewählten sich schnell verflüchtigt und dann nur noch das Übliche und Alltägliche daran geschmeckt wird.

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Hauptgrund der Verderbnis des Stils. — Mehr Empfindung für eine Sache zeigen wollen, als man wirklich hat, verdirbt den Stil, in der Sprache und in allen Künsten. Vielmehr hat alle große Kunst die umgekehrte Neigung: sie liebt es, gleich jedem sittlich bedeutenden Menschen, das Gefühl auf seinem Wege anzuhalten und nicht ganz ans Ende laufen zu lassen. Diese Scham der halben Gefühls-Sichtbarkeit ist zum Beispiel bei Sophokles auf das Schönste zu beobachten; und es scheint die Züge der Empfindung zu verklären, wenn diese sich selber nüchterner gibt, als sie ist.

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Zur Entschuldigung der schwerfälligen Stilisten. — Das Leicht-Gesagte fällt selten so schwer ins Gehör, als die Sache wirklich wiegt — das liegt aber an den schlecht geschulten Ohren, welche aus der Erziehung durch das, was man bisher Musik nannte, in die Schule der höheren Tonkunst, das heißt der Rede, übergehen müssen.

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Vogelperspektive. — Hier stürzen Wildwasser von mehreren Seiten einem Schlunde zu: ihre Bewegung ist so stürmisch und reißt das Auge so mit sich fort, daß die kahlen und bewaldeten Gebirgshänge ringsum nicht abzusinken, sondern wie hinabzufliehen scheinen. Man wird beim Anblick angstvoll gespannt, als ob etwas Feindseliges hinter alledem verborgen liege, vor dem alles flüchten müsse, und gegen das uns der Abgrund Schutz verliehe. Diese Gegend ist gar nicht zu malen, es sei denn, daß man wie ein Vogel in der freien Luft über ihr schwebe. Hier ist einmal die sogenannte Vogelperspektive nicht eine künstlerische Willkür, sondern die einzige Möglichkeit.

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Gewagte Vergleichungen. — Wenn die gewagten Vergleichungen nicht Beweise vom Mutwillen des Schriftstellers sind, so sind sie Beweise seiner ermüdeten Phantasie. In jedem Falle aber sind sie Beweise seines schlechten Geschmackes.

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In Ketten tanzen. — Bei jedem griechischen Künstler, Dichter und Schriftsteller ist zu fragen: welches ist der neue Zwang, den er sich auferlegt und den er seinen Zeitgenossen reizvoll macht (so daß er Nachahmer findet)? Denn was man» Erfindung«(im Metrischen zum Beispiel) nennt, ist immer eine solche selbstgelegte Fessel.»In Ketten tanzen«, es sich schwer machen und dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten, — das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen wollen. Schon bei Homer ist eine Fülle von vererbten Formeln und epischen Erzählungsgesetzen wahrzunehmen innerhalb deren er tanzen mußte: und er selber schuf neue Konventionen für die Kommenden hinzu. Dies war die Erziehungs-Schule der griechischen Dichter: zuerst also einen vielfältigen Zwang sich auferlegen lassen durch die früheren Dichter; sodann einen neuen Zwang hinzuerfinden, ihn sich auferlegen und ihn anmutig besiegen: so daß Zwang und Sieg bemerkt und bewundert werden.

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Fülle der Autoren. — Das Letzte, was ein guter Autor bekommt, ist Fülle; wer sie mitbringt, wird nie ein guter Autor werden. Die edelsten Rennpferde sind mager, bis sie von ihren Siegen ausruhen dürfen.

142

Keuchende Helden. — Dichter und Künstler, die an Engbrüstigkeit des Gefühls leiden, lassen ihre Helden am meisten keuchen: sie verstehen sich auf das leichte Atmen nicht.

143

Der Halb-Blinde. — Der Halb-Blinde ist der Todfeind aller Autoren, welche sich gehen lassen. Diese sollten seinen Ingrimm kennen, mit dem er ein Buch zuschlägt, aus welchem er merkt, daß sein Verfasser fünfzig Seiten braucht, um fünf Gedanken mitzuteilen; jenen Ingrimm darüber, den Rest seiner Augen fast ohne Entgelt in Gefahr gebracht zu haben. — Ein Halb-Blinder sagte: alle Autoren haben sich gehen lassen. — »Auch der heilige Geist?«— Auch der heilige Geist. Aber der durfte es; er schrieb für, die Ganz-Blinden.

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Der Stil der Unsterblichkeit. — Thukydides sowohl wie Tacitus — beide haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht: dies würde, wenn man es sonst nicht wüßte, schon aus ihrem Stile zu erraten sein. Der eine glaubte seinen Gedanken durch Einsalzen, der andere durch Einkochen Dauerhaftigkeit zu geben; und beide, scheint es, haben sich nicht verrechnet.

145

Gegen Bilder und Gleichnisse. — Mit Bildern, und Gleichnissen überzeugt man, aber beweist nicht. Deshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche Scheu vor Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade das Überzeugende, das Glaublich-Machende nicht und fordert vielmehr das kälteste Mißtrauen auch schon durch die Ausdrucksweise und die kahlen Wände heraus: weil das Mißtrauen der Prüfstein für das Gold der Gewißheit ist.

146

Vorsicht. — Wem es an gründlichem Wissen gebricht, der mag sich in Deutschland ja hüten, zu schreiben. Denn der gute Deutsche sagt da nicht:»er ist unwissend«, sondern:»er ist von zweifelhaftem Charakter«. — Dieser übereilte Schluß macht übrigens den Deutschen alle Ehre.

147

Bemalte Gerippe. — Bemalte Gerippe: das sind jene Autoren, welche das, was ihnen an Fleisch abgeht, durch künstliche Farben ersetzen möchten.

148

Der großartige Stil und das Höhere. — an lernt es schneller, großartig schreiben, als leicht und schlicht schreiben. Die Gründe davon verlieren sich ins Moralische.

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Sebastian Bach. — Sofern man Bachs Musik nicht als vollkommener und gewitzigter Kenner des Kontrapunktes und aller Arten des fugierten Stiles hört und demgemäß des eigentlichen artistischen Genusses entraten muß, wird es uns als Hörern seiner Musik zumute sein (um uns grandios mit Goethe auszudrücken), als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf. Das heißt: wir fühlen, daß hier etwas Großes im Werden ist, aber noch nicht ist: unsere große moderne Musik. Sie hat schon die Welt überwunden, dadurch daß sie die Kirche, die Nationalitäten und den Kontrapunkt überwand. In Bach ist noch zuviel krude Christlichkeit, krudes Deutschtum, krude Scholastik; er steht an der Schwelle der europäischen (modernen) Musik, aber schaut sich von hier nach dem Mittelalter um.

150

Händel. — Händel, im Erfinden seiner Musik kühn, neuerungssüchtig, wahrhaft, gewaltig, dem Heroischen zugewandt und verwandt, dessen ein Volk fähig ist, — wurde bei der Ausarbeitung oft befangen und kalt, ja an sich selber müde; da wendete er einige erprobte Methoden der Durchführung an, schrieb schnell und viel und war froh, wenn er fertig war, — aber nicht in der Art froh, wie es Gott und andere Schöpfer am Abende ihres Werktages gewesen sind.

151

Haydn. — Soweit sich Genialität mit einem schlechthin guten Menschen verbinden kann, hat Haydn sie gehabt. Er geht gerade bis an die Grenze, welche die Moralität dem Intellekt zieht; er macht lauter Musik, die» keine Vergangenheit «hat.

152

Beethoven und Mozart. — Beethovens Musik erscheint häufig wie eine tiefbewegte Betrachtung beim unerwarteten Wiederhören eines längst verloren geglaubten Stückes» Unschuld in Tönen«: es ist Musik über Musik. Im Liede der Bettler und Kinder auf der Gasse, bei den eintönigen Weisen wandernder Italiener, beim Tanze in der Dorfschenke oder in den Nächten des Karnevals, — da entdeckt er seine» Melodien«: er trägt sie wie eine Biene zusammen, indem er bald hier bald dort einen Laut, eine kurze Folge erhascht. Es sind ihm verklärte Erinnerungen aus der» besseren Welt«: ähnlich wie Plato es sich von den Ideen dachte. — Mozart steht ganz anders zu seinen Melodien: er findet seine Inspirationen nicht beim Hören von Musik, sondern im Schauen des Lebens, des bewegtesten südländischen Lebens: er träumte immer von Italien, wenn er nicht dort war.

153

Rezitativ. — Ehemals war das Rezitativ trocken; jetzt leben wir in der Zeit des nassen Rezitativs: es ist ins Wasser gefallen, und die Wellen reißen es, wohin sie wollen.

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«Heitere «Musik. — Hat man lange die Musik entbehrt, so geht sie nachher wie ein schwerer Südwein allzuschnell ins Blut und hinterläßt eine narkotisch betäubte, halbwache, schlaf-sehnsüchtige Seele; namentlich tut dies gerade die heitere Musik, welche zusammen Bitterkeit und Verwundung, Überdruß und Heimweh gibt und alles wie in einem verzuckerten Giftgetränk wieder und wieder zu schlürfen nötigt. Dabei scheint der Saal der heiter rauschenden Freude sich zu verengern, das Licht an Helle zu verlieren und bräuner zu werden: zuletzt ist es einem zu Mute, als ob die Musik wie in ein Gefängnis hineinklinge, wo ein armer Mensch vor Heimweh nicht schlafen kann.

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Franz Schubert. — Franz Schubert, ein geringerer Artist als die anderen großen Musiker, hatte doch von allen den größten Erbreichtum an Musik. Er verschwendete ihn mit voller Hand und aus gütigem Herzen: so daß die Musiker noch ein paar Jahrhunderte an seinen Gedanken und Einfällen zu zehren haben werden. In seinen Werken haben wir einen Schatz von unverbrauchten Erfindungen; andere werden ihre Größe im Verbrauchen haben. — Dürfte man Beethoven den idealen Zuhörer eines Spielmannes nennen, so hätte Schubert darauf ein Anrecht, selber der ideale Spielmann zu heißen.

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Modernster Vortrag der Musik. — Der große tragisch dramatische Vortrag in der Musik bekommt seinen Charakter durch Nachahmung der Gebärden des großen Sünders, wie ihn das Christentum sich denkt und wünscht: des langsam Schreitenden, leidenschaftlich Grübelnden, des von Gewissensqual Hin- und Hergeworfenen, des entsetzt Fliehenden, des entzückt Haschenden, des verzweifelt Stillestehenden — und was sonst alles die Merkmale des großen Sündertums sind. Nur unter der Voraussetzung des Christen, daß alle Menschen große Sünder sind und gar nichts tun, als sündigen, ließe es sich rechtfertigen, jenen Stil des Vortrags auf alle Musik anzuwenden: insofern die Musik das Abbild alles menschlichen Tun und Treibens wäre, und als solches die Gebärdensprache des großen Sünders fortwährend zu sprechen hätte. Ein Zuhörer, der nicht genug Christ wäre, um diese Logik zu verstehen, dürfte freilich bei einem solchen Vortrage erschreckt ausrufen:»Um des Himmels willen, wie ist denn die Sünde in die Musik gekommen!»

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Felix Mendelssohn. — Felix Mendelssohns Musik ist die Musik des guten Geschmacks an allem Guten, was dagewesen ist: sie weist immer hinter sich. Wie könnte sie viel» Vor-sich«, viel Zukunft haben! — Aber hat er sie denn haben wollen? Er besaß eine Tugend, die unter Künstlern selten ist, die der Dankbarkeit ohne Nebengedanken: auch diese Tugend weist immer hinter sich.

158

Eine Mutter der Künste. — In unserem skeptischen Zeitalter gehört zur eigentlichen Devotion fast ein brutaler Heroismus des Ehrgeizes; das fanatische Augenschließen und Kniebeugen genügt nicht mehr. Wäre es nicht möglich, daß der Ehrgeiz, in der Devotion der Letzte für alle Zeiten zu sein, der Vater einer letzten katholischen Kirchenmusik würde, wie er schon der Vater des letzten kirchlichen Baustils gewesen ist? (Man nennt ihn Jesuitenstil.)

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Freiheit in Fesseln — eine fürstliche Freiheit. — Der letzte der neueren Musiker, der die Schönheit geschaut und angebetet hat gleich Leopardi, der Pole Chopin, der Unnachahmliche — alle vor und nach ihm Gekommenen haben auf dies Beiwort kein Anrecht — Chopin hatte dieselbe fürstliche Vornehmheit der Konvention, welche Raffael im Gebrauche der herkömmlichsten einfachsten Farben zeigt, — aber nicht in bezug auf Farben, sondern auf die melodischen und rhythmischen Herkömmlichkeiten. Diese ließ er gelten, als geboren in der Etiquette, aber wie der freieste und anmutigste Geist in diesen Fesseln spielend und tanzend — und zwar ohne sie zu verhöhnen.

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Chopins Barcarole. — Fast alle Zustände und Lebensweisen haben einen seligen Moment. Den wissen die guten Künstler herauszufischen. So hat einen solchen selbst das Leben am Strande, das so langweilige, schmutzige, ungesunde, in der Nähe des lärmendsten und habgierigsten Gesindels sich abspinnende; — diesen seligen Moment hat Chopin in der Barcarole so zum Ertönen gebracht, daß selbst Götter dabei gelüsten könnte, lange Sommerabende in einem Kahne zu liegen.

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Robert Schumann. — Der» Jüngling«, wie ihn die romantischen Liederdichter Deutschlands und Frankreichs um das erste Drittel dieses Jahrhunderts träumten, — dieser Jüngling ist vollständig in Sang und Ton übersetzt worden — durch Robert Schumann, den ewigen Jüngling, so lange er sich in voller eigner Kraft fühlte: es gibt freilich Momente, in denen seine Musik an die ewige» alte Jungfer «erinnert.

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Die dramatischen Sänger. — »Warum singt dieser Bettler?«— Er versteht wahrscheinlich nicht zu jammern. — »Dann tut er Recht: aber unsere dramatischen Sänger, welche jammern, weil sie nicht zu singen verstehen — tun sie auch das Rechte?»

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Dramatische Musik. — Für den, welcher nicht sieht, was auf der Bühne vorgeht, ist die dramatische Musik ein Unding; so gut der fortlaufende Kommentar zu einem verloren gegangenen Texte ein Unding ist. Sie verlangt ganz eigentlich, daß man auch die Ohren dort habe, wo die Augen stehen; damit ist aber an Euterpe Gewalt geübt: diese arme Muse will, daß man ihre Augen und Ohren dort stehen lasse, wo alle anderen Musen sie auch haben.

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Sieg und Vernünftigkeit. — Leider entscheidet auch bei den ästhetischen Kriegen, welche Künstler mit ihren Werken und deren Schutzreden erregen, zuletzt die Kraft und nicht die Vernunft. Jetzt nimmt alle Welt als historische Tatsache an, daß Gluck im Kampfe mit Piccini Recht gehabt habe: jedenfalls hat er gesiegt; die Kraft stand auf seiner Seite.

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Vom Prinzipe des Vortrags in der Musik. — Glauben denn wirklich die jetzigen Künstler des musikalischen Vortrags, das höchste Gebot ihrer Kunst sei, jedem Stück so viel Hochrelief zu geben, als nur möglich ist, und es um jeden Preis eine dramatische Sprache reden zu lassen? Ist dies, zum Beispiel auf Mozart angewendet, nicht ganz eigentlich eine Sünde wider den Geist, den heiteren, sonnigen, zärtlichen, leichtsinnigen Geist Mozarts, dessen Ernst ein gütiger und nicht ein furchtbarer Ernst ist, dessen Bilder nicht aus der Wand herausspringen wollen, um die Anschauenden in Entsetzen und Flucht zu jagen. Oder meint ihr, Mozartische Musik sei gleichbedeutend mit» Musik des steinernen Gastes«? Und nicht nur Mozartische, sondern alle Musik? — Aber ihr entgegnet, die größere Wirkung spreche zugunsten eures Prinzips — und ihr hättet recht, wofern nicht die Gegenfrage übrig bliebe, auf wen da gewirkt worden sei, und auf wen ein vornehmer Künstler überhaupt nur wirken wollen dürfe! Niemals auf das Volk! Niemals auf die Unreifen! Niemals auf die Empfindsamen! Niemals auf die Krankhaften! Vor allem aber: niemals auf die Abgestumpften!

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Musik von heute. — Diese modernste Musik, mit ihren starken Lungen und schwachen Nerven, erschrickt immer zuerst vor sich selber.

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Wo die Musik heimisch ist. — Die Musik erlangt ihre große Macht nur unter Menschen, welche nicht diskutieren können oder dürfen. Ihre Förderer ersten Ranges sind deshalb Fürsten, welche wollen, daß in ihrer Nähe nicht viel kritisiert, ja nicht einmal viel gedacht werde; sodann Gesellschaften, welche unter irgend einem Drucke (einem fürstlichen oder religiösen) sich an das Schweigen gewöhnen müssen, aber um so stärkere Zaubermittel gegen die Langeweile des Gefühls suchen (gewöhnlich die ewige Verliebtheit und die ewige Musik); drittens ganze Völker, in denen es keine» Gesellschaft «gibt, aber um so mehr einzelne mit einem Hang zur Einsamkeit, zu halbdunklen Gedanken und zur Verehrung alles Unaussprechlichen: es sind die eigentlichen Musikseelen. — Die Griechen, als ein red- und streitlustiges Volk, haben deshalb die Musik nur als Zukost zu Künsten vertragen, über welche sich wirklich streiten und reden läßt: während über die Musik sich kaum reinlich denken läßt. Die Pythagoreer, jene Ausnahme-Griechen in vielen Stücken, waren, wie verlautet, auch große Musiker: dieselben, welche das fünfjährige Schweigen, aber nicht die Dialektik erfunden haben.

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Sentimentalität in der Musik. — Man sei der ernsten und reichen Musik noch so gewogen, um so mehr vielleicht wird man in einzelnen Stunden von dem Gegenstück derselben überwunden, bezaubert und fast hinweggeschmolzen; ich meine: von jenen allereinfachsten italienischen Opern-Melismen, welche, trotz aller rhythmischen Einförmigkeit und harmonischen Kinderei, uns mitunter wie die Seele der Musik selber anzusingen scheinen. Gebt es zu oder nicht, ihr Pharisäer des guten Geschmacks: es ist so, und mir liegt jetzt daran, dieses Rätsel, daß es so ist, zum Raten aufzugeben und selber ein wenig daran herumzuraten. — Als wir noch Kinder waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge zum erstenmal gekostet, niemals wieder war der Honig so gut wie damals, er verführte zum Leben, zum längsten Leben, in der Gestalt des ersten Frühlings, der ersten Blumen, der ersten Schmetterlinge, der ersten Freundschaft. Damals — es war vielleicht um das neunte Jahr unseres Lebens — hörten wir die erste Musik, und das war die, welche wir zuerst verstanden, die einfachste und kindlichste also, welche nicht viel mehr als ein Weiterspinnen des Ammenliedes und der Spielmannsweise war. (Man muß nämlich auch für die geringsten» Offenbarungen «der Kunst erst vorbereitet und eingelernt werden: es gibt durchaus keine» unmittelbare «Wirkung der Kunst, so schön auch die Philosophen davon gefabelt haben.) An jene ersten musikalischen Entzückungen — die stärksten unseres Lebens — knüpft unsere Empfindung an, wenn wir jene italienischen Melismen hören: die Kindes-Seligkeit und der Verlust der Kindheit, das Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes — das rührt dabei die Saiten unsrer Seele an, so stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart der Kunst allein nicht vermag. — Diese Mischung ästhetischer Freude mit einem moralischen Kummer, welche man gemeinhin jetzt» Sentimentalität «zu nennen pflegt, etwas gar zu hoffärtig, wie mir scheint — es ist die Stimmung Faustens am Schlusse der ersten Szene — diese» Sentimentalität «der Hörenden kommt der italienischen Musik zugute, welche sonst die erfahrenen Feinschmecker der Kunst, die reinen»Ästhetiker«, zu ignorieren lieben. — Übrigens wirkt fast jede Musik erst von da an zauberhaft, wo wir aus ihr die Sprache der eigenen Vergangenheit reden hören: und insofern scheint dem Laien alle alte Musik immer besser zu werden, und alle eben geborene nur wenig wert zu sein: denn sie erregt noch keine» Sentimentalität«, welche, wie gesagt, das wesentlichste Glücks-Element der Musik für jeden ist, der nicht rein als Artist sich an dieser Kunst zu freuen vermag.

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Als Freunde der Musik. — Zuletzt sind und bleiben wir der Musik gut, wie wir dem Mondlicht gut bleiben. Beide wollen ja nicht die Sonne verdrängen, — sie wollen nur, so gut sie es können, unsere Nächte erhellen. Aber nicht wahr? scherzen und lachen dürfen wir trotzdem über sie? Ein wenig wenigstens? Und von Zeit zu Zeit! Über den Mann im Monde! Über das Weib in der Musik!

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