37760.fb2 Der Wanderer und sein Schatten - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

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Die Kunst in der Zeit der Arbeit. — Wir haben das Gewissen eines arbeitsamen Zeitalters: dies erlaubt uns nicht, die besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber die größte und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Muße, der Erholung: wir weihen ihr die Reste unserer Zeit, unserer Kräfte. — Dies ist die allgemeinste Tatsache, durch welche die Stellung der Kunst zum Leben verändert ist: sie hat, wenn sie ihre großen Zeit- und Kraft-Ansprüche an die Kunst-Empfangenden macht, das Gewissen der Arbeitsamen und Tüchtigen gegen sich, sie ist auf die Gewissenlosen und Lässigen angewiesen, welche aber, ihrer Natur nach, gerade der großen Kunst nicht zugetan sind und ihre Ansprüche als Anmaßungen empfinden. Es dürfte deshalb mit ihr zu Ende sein, weil ihr die Luft und der freie Atem fehlt: oder — die große Kunst versucht, in einer Art Vergröberung und Verkleidung, in jener anderen Luft heimisch zu werden (mindestens es in ihr auszuhalten), die eigentlich nur für die kleine Kunst, für die Kunst der Erholung, der ergötzlichen Zerstreuung das natürliche Element ist. Dies geschieht jetzt allerwärts; auch die Künstler der großen Kunst versprechen Erholung und Zerstreuung, auch sie wenden sich an den Ermüdeten, auch sie bitten ihn um die Abendstunden seines Arbeitstages, — ganz wie die unterhaltenden Künstler, welche zufrieden sind, gegen den schweren Ernst der Stirnen, das Versunkene der Augen einen Sieg errungen zu haben. Welches ist nun der Kunstgriff ihrer größeren Genossen? Diese haben in ihren Büchsen die gewaltsamsten Erregungsmittel, bei denen selbst der Halbtote noch zusammenschrecken muß; sie haben Betäubungen, Berauschungen, Erschütterungen, Tränenkrämpfe: mit diesen überwältigen sie den Ermüdeten und bringen ihn in eine übernächtige Überlebendigkeit, in ein Außer-sich-sein des Entzückens und des Schreckens. Dürfte man, wegen der Gefährlichkeit ihrer Mittel, der großen Kunst, wie sie jetzt, als Oper, Tragödie und Musik, lebt, — dürfte man ihr als einer arglistigen Sünderin zürnen? Gewiß nicht, sie lebte ja selber hundertmal lieber in dem reinen Element der morgendlichen Stille und wendete sich an die erwartenden, unverbrauchten, kraftgefüllten Morgen-Seelen der Zuschauer und Zuhörer. Danken wir ihr, daß sie es vorzieht, so zu leben, als davonzufliehen: aber gestehen wir uns auch ein, daß für ein Zeitalter, welches einmal wieder freie, volle Fest- und Freudentage in das Leben einführt, unsere große Kunst unbrauchbar sein wird.

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Die Angestellten der Wissenschaft und die anderen. — Die eigentlich tüchtigen und erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesamt als» Angestellte «bezeichnen. Wenn, in jungen Jahren, ihr Scharfsinn hinreichend geübt, ihr Gedächtnis gefüllt ist, wenn Hand und Auge Sicherheit gewonnen haben, so werden sie von einem älteren Gelehrten auf eine Stelle der Wissenschaft angewiesen, wo ihre Eigenschaften Nutzen bringen können: späterhin, nachdem sie selber den Blick für die lückenhaften und schadhaften Stellen ihrer Wissenschaft erlangt haben, stellen sie sich von selber dorthin, wo sie not tun. Diese Naturen allesamt sind um der Wissenschaft willen da: aber es gibt seltnere, selten gelingende und völlig ausreifende Naturen,»um derentwillen die Wissenschaft da ist«— wenigstens scheint es ihnen selber so — : oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige, fast immer aber bis zu einem Grade zauberhafte Menschen. Sie sind nicht Angestellte und auch nicht Ansteller, sie bedienen sich dessen, was von jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist, in einer gewissen fürstenhaften Gelassenheit und mit geringem und seltenem Lobe: gleichsam als ob jene einer niedrigeren Gattung von Wesen angehörten. Und doch haben sie eben nur die gleichen Eigenschaften, wodurch diese anderen sich auszeichnen, und diese mitunter sogar ungenügender entwickelt: obendrein ist ihnen eine Beschränktheit eigentümlich, die jenen fehlt, um derentwegen es unmöglich ist, sie an einen Posten zu stellen und in ihnen nützliche Werkzeuge zu sehen, — sie können nur in ihrer eigenen Luft, auf eigenem Boden leben. Diese Beschränktheit gibt ihnen ein, was alles von einer Wissenschaft» zu ihnen gehöre«, das heißt, was sie in ihre Luft und Wohnung heimtragen können; sie wähnen immer ihr zerstreutes» Eigentum «zu sammeln. Verhindert man sie, an ihrem eigenen Neste zu bauen, so gehen sie wie obdachlose Vögel zugrunde; Unfreiheit ist für sie Schwindsucht. Pflegen sie einzelne Gegenden der Wissenschaft in der Art jener anderen, so sind es doch immer nur solche, wo gerade die ihnen nötigen Früchte und Samen gedeihen; was geht es sie an, ob die Wissenschaft, im ganzen gesehen, unangebaute oder schlecht gepflegte Gegenden hat? Es fehlt ihnen jede unpersönliche Teilnahme an einem Problem der Erkenntnis; wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen auch alle ihre Einsichten und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen Vielfachen, dessen einzelne Teile voneinander abhängen, ineinander greifen, gemeinsam ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen eignen Geruch hat. — Solche Naturen bringen, mit diesen ihren personenhaften Erkenntnis-Gebilden, jene Täuschung hervor, daß eine Wissenschaft (oder gar die ganze Philosophie) fertig sei und am Ziele stehe; das Leben in ihrem Gebilde übt diesen Zauber aus: als welcher zuzeiten sehr verhängnisvoll für die Wissenschaft und irreführend für jene vorhin beschriebenen, eigentlich tüchtigen Arbeiter des Geistes gewesen ist, zu andern Zeiten wiederum, als die Dürre und die Ermattung herrschten, wie ein Labsal und gleich dem Anhauche einer kühlen, erquicklichen Raststätte gewirkt hat. — Gewöhnlich nennt man solche Menschen Philosophen.

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Anerkennung des Talents. — Als ich durch das Dorf S. ging, fing ein Knabe aus Leibeskräften an, mit der Peitsche zu knallen, — er hatte es schon weit in dieser Kunst gebracht und wußte es. Ich warf ihm einen Blick der Anerkennung zu, — im Grunde tat mir's bitter wehe. — So machen wir es bei der Anerkennung vieler Talente. Wir tun ihnen wohl, wenn sie uns wehe tun.

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Lachen und Lächeln. — Je freudiger und sicherer der Geist wird, um so mehr verlernt der Mensch das laute Gelächter; dagegen quillt ihm ein geistiges Lächeln fortwährend auf, ein Zeichen seines Verwunderns über die zahllosen versteckten Annehmlichkeiten des guten Daseins.

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Unterhaltung der Kranken. — Wie man bei seelischem Kummer sich die Haare rauft, sich vor die Stirn schlägt, die Wange zerfleischt oder gar wie Ödipus die Augen ausbohrt: so ruft man gegen heftige körperliche Schmerzen mitunter eine heftige bittere Empfindung zu Hilfe, durch Erinnerung an Verleumder und Verdächtiger, durch Verdüsterung unserer Zukunft, durch Bosheiten und Dolchstiche, welche man im Geiste gegen Abwesende schleudert. Und es ist bisweilen dabei wahr: daß ein Teufel den andern austreibt, — aber man hat dann den andern. — Darum sei den Kranken jene andere Unterhaltung anempfohlen, bei der sich die Schmerzen zu mildern scheinen: über Wohltaten und Artigkeiten nachzudenken, welche man Freund und Feind erweisen kann.

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Mediokrität als Maske. — Die Mediokrität ist die glücklichste Maske, die der überlegene Geist tragen kann, weil sie die große Menge, das heißt die Mediokren, nicht an Maskierung denken läßt — : und doch nimmt er sie gerade ihretwegen vor, — um sie nicht zu reizen, ja nicht selten aus Mitleid und Güte.

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Die Geduldigen. — Die Pinie scheint zu horchen, die Tanne zu warten: und beide ohne Ungeduld: — sie denken nicht an den kleinen Menschen unter sich, den seine Ungeduld und seine Neugierde auffressen.

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Die besten Scherze. — Der Scherz ist mir am willkommensten, der an Stelle eines schweren, nicht unbedenklichen Gedankens steht, zugleich als Wink mit dem Finger und Blinzeln des Auges.

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Zubehör aller Verehrung. — Überall, wo die Vergangenheit verehrt wird, soll man die Säuberlichen und Säubernden nicht einlassen. Der Pietät wird ohne ein wenig Staub, Unrat und Unflat nicht wohl.

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Die große Gefahr der Gelehrten. — Gerade die tüchtigsten und gründlichsten Gelehrten sind in der Gefahr, ihr Lebensziel immer niedriger gesteckt zu sehen und, im Gefühl davon, in der zweiten Hälfte ihres Lebens immer mißmutiger und unverträglicher zu werden. Zuerst schwimmen sie mit breiten Hoffnungen in ihre Wissenschaft hinein und messen sich kühnere Aufgaben zu, deren Ziele mitunter durch ihre Phantasie schon vorweggenommen werden: dann gibt es Augenblicke wie im Leben der großen entdeckenden Schiffahrer, — Wissen, Ahnung und Kraft heben einander immer höher, bis eine ferne neue Küste zum ersten Male dem Auge aufdämmert. Nun erkennt aber der strenge Mensch von Jahr zu Jahr mehr, wie viel daran gelegen ist, daß die Einzelaufgabe des Forschers so beschränkt wie möglich genommen werde, damit sie ohne Rest gelöst werden könne und jene unerträgliche Vergeudung von Kraft vermieden werde, an welcher frühere Perioden der Wissenschaft litten: alle Arbeiten wurden zehnmal gemacht, und dann hatte immer noch der elfte das letzte und beste Wort zu sagen. Je mehr aber der Gelehrte dieses Rätsel-Lösen ohne Rest kennen lernt und übt, um so größer wird auch seine Lust daran: aber ebenso wächst auch die Strenge seiner Ansprüche in bezug auf das, was hier» ohne Rest «genannt ist. Er legt alles beiseite, was in diesem Sinne unvollständig bleiben muß, er gewinnt einen Widerwillen und eine Witterung gegen das Halb-Lösbare, — gegen alles, was nur im Ganzen und Unbestimmteren eine Art Sicherheit ergeben kann. Seine Jugendpläne zerfallen vor seinem Blicke: kaum bleiben einige Knoten und Knötchen daraus übrig, an deren Entknüpfung jetzt der Meister seine Lust hat, seine Kraft zeigt. Und nun, mitten in dieser so nützlichen, so rastlosen Tätigkeit überfällt ihn, den Ältergewordenen, plötzlich und dann öfter wieder ein tiefer Mißmut, eine Art Gewissens-Qual: er sieht auf sich hin, wie auf einen Verwandelten, als ob er verkleinert, erniedrigt, zum kunstfertigen Zwergen umgeschaffen wäre, er beunruhigt sich darüber, ob nicht das meisterliche Walten im kleinen eine Bequemlichkeit sei, eine Ausflucht vor der Mahnung zur Größe des Lebens und Gestaltens. Aber er kann nicht mehr hinüber, — die Zeit ist um.

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Die Lehrer im Zeitalter der Bücher. — Dadurch, daß die Selbst-Erziehung und Verbrüderungs- Erziehung allgemeiner wird, muß der Lehrer in seiner jetzt gewöhnlichen Form fast entbehrlich werden. Lernbegierige Freunde, die sich zusammen ein Wissen aneignen wollen, finden in unserer Zeit der Bücher einen kürzeren und natürlicheren Weg, als» Schule «und» Lehrer «sind.

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Die Eitelkeit als die große Nützlichkeit. — Ursprünglich behandelt der starke Einzelne nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft und die schwächeren Einzelnen als Gegenstand des Raub- Baues: er nützt sie aus, so viel er kann, und geht dann weiter. Weil er sehr unsicher lebt, wechselnd zwischen Hunger und Überfluß, so tötet er mehr Tiere, als er verzehren kann, und plündert und mißhandelt die Menschen mehr, als nötig wäre. Seine Machtäußerung ist eine Racheäußerung zugleich gegen seinen pein- und angstvollen Zustand: sodann will er für mächtiger gelten, als er ist, und mißbraucht deshalb die Gelegenheiten: der Furchtzuwachs, den er erzeugt, ist sein Machtzuwachs. Er merkt zeitig, daß nicht das, was er ist, sondern das, was er gilt, ihn trägt oder niederwirft: hier ist der Ursprung der Eitelkeit. Der Mächtige sucht mit allen Mitteln Vermehrung des Glaubens an seine Macht. — Die Unterworfenen, die vor ihm zittern und ihm dienen, wissen wiederum, daß sie genau so viel wert sind, als sie ihm gelten: weshalb sie auf diese Geltung hinarbeiten und nicht auf ihre eigene Befriedigung an sich. Wir kennen die Eitelkeit nur in den abgeschwächtesten Formen, in ihren Sublimierungen und kleinen Dosen, weil wir in einem späten und sehr gemilderten Zustande der Gesellschaft leben: ursprünglich ist sie die große Nützlichkeit, das stärkste Mittel der Erhaltung. Und zwar wird die Eitelkeit um so größer sein, je klüger der einzelne ist: weil die Vermehrung des Glaubens an Macht leichter ist, als die Vermehrung der Macht selber, aber nur für den, der Geist hat — oder, wie es für Urzustände heißen muß, der listig und hinterhaltig ist.

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Wetterzeichen der Kultur. — Es gibt so wenig entscheidende Wetterzeichen der Kultur, daß man froh sein muß, für seinen Haus- und Gartengebrauch wenigstens ein untrügliches in den Händen zu haben. Um zu prüfen, ob jemand zu uns gehört oder nicht — ich meine zu den freien Geistern — , so prüfe man seine Empfindung für das Christentum. Steht er irgendwie anders zu ihm als kritisch, so kehren wir ihm den Rücken: er bringt uns unreine Luft und schlechtes Wetter. — Unsere Aufgabe ist es nicht mehr, solche Menschen zu lehren, was ein Skirokko-Wind ist; sie haben Mosen und die Propheten des Wetters und der Aufklärung: wollen sie diese nicht hören, so —

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Zürnen und strafen hat seine Zeit. — Zürnen und strafen ist unser Angebinde von der Tierheit her. Der Mensch wird erst mündig, wenn er dies Wiegengeschenk den Tieren zurückgibt. — Hier liegt einer der größten Gedanken vergraben, welche Menschen haben können, der Gedanke an einen Fortschritt aller Fortschritte. — Gehen wir einige Jahrtausende miteinander vorwärts, meine Freunde! Es ist sehr viel Freude noch den Menschen vorbehalten, wovon den Gegenwärtigen noch kein Geruch zugeweht ist! Und zwar dürfen wir uns diese Freude versprechen, ja als etwas Notwendiges verheißen und beschwören, im Fall nur die Entwicklung der menschlichen Vernunft nicht stille steht! Einstmals wird man die logische Sünde, welche im Zürnen und Strafen, einzeln oder gesellschaftsweise geübt, verborgen liegt, nicht mehr übers Herz bringen: einstmals, wenn Herz und Kopf so nah beieinander zu wohnen gelernt haben, wie sie jetzt noch einander ferne stehen. Daß sie sich nicht mehr so ferne stehen wie ursprünglich, ist beim Blick auf den ganzen Gang der Menschheit ziemlich ersichtlich; und der einzelne, der ein Leben innerer Arbeit zu überschauen hat, wird mit stolzer Freude sich der überwundenen Entfernung, der erreichten Annäherung bewußt werden, um daraufhin noch größere Hoffnungen wagen zu dürfen.

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Abkunft der» Pessimisten«. — Ein Bissen guter Nahrung entscheidet oft, ob wir mit hohlem Auge oder hoffnungsreich in die Zukunft schauen: dies reicht ins Höchste und Geistigste hinauf. Die Unzufriedenheit und Welt-Schwärzerei ist dem gegenwärtigen Geschlechte von den ehemaligen Hungerleidern her vererbt. Auch unsern Künstlern und Dichtern merkt man häufig an, wenn sie selber auch noch so üppig leben, daß sie von keiner guten Herkunft sind, daß sie von unterdrückt lebenden und schlecht genährten Vorfahren mancherlei ins Blut und Gehirn mitbekommen haben, was als Gegenstand und gewählte Farbe in ihrem Werke wieder sichtbar wird. Die Kultur der Griechen ist die der Vermögenden, und zwar der Altvermögenden: sie lebten ein paar Jahrhunderte hindurch besser als wir (in jedem Sinne besser, namentlich viel einfacher in Speise und Trank): da wurden endlich die Gehirne so voll und fein zugleich, da floß das Blut so rasch hindurch, einem freudigen, hellen Weine gleich, daß das Gute und Beste bei ihnen nicht mehr düster, verzückt und gewaltsam, sondern schön und sonnenhaft heraustrat.

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Vom vernünftigen Tode. — Was ist vernünftiger, die Maschine stillzustellen, wenn das Werk, das man von ihr verlangte, ausgeführt ist, — oder sie laufen zu lassen, bis sie von selber stille steht, das heißt bis sie verdorben ist? Ist letzteres nicht eine Vergeudung der Unterhaltungskosten, ein Mißbrauch mit der Kraft und Aufmerksamkeit der Bedienenden? Wird hier nicht weggeworfen, was anderswo sehr not täte? Wird nicht selbst eine Art Mißachtung gegen die Maschinen überhaupt verbreitet dadurch, daß viele von ihnen so nutzlos unterhalten und bedient werden? — Ich spreche vom unfreiwilligen (natürlichen) und vom freiwilligen (vernünftigen) Tode. Der natürliche Tod ist der von aller Vernunft unabhängige, der eigentlich unvernünftige Tod, bei dem die erbärmliche Substanz der Schale darüber bestimmt, wie lange der Kern bestehen soll oder nicht: bei dem also der verkümmernde, oft kranke und stumpfsinnige Gefängniswärter der Herr ist, der den Punkt bezeichnet, wo sein vornehmer Gefangener sterben soll. Der natürliche Tod ist der Selbstmord der Natur, das heißt die Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das unvernünftige, welches an das erstere gebunden ist. Nur unter der religiösen Beleuchtung kann es umgekehrt erscheinen: weil dann, wie billig, die höhere Vernunft (Gottes) ihren Befehl gibt, dem die niedere Vernunft sich zu fügen hat. Außerhalb der religiösen Denkungsart ist der natürliche Tod keiner Verherrlichung wert. — Die weisheitsvolle Anordnung und Verfügung des Todes gehört in jene jetzt ganz unfaßbar und unmoralisch klingende Moral der Zukunft, in deren Morgenröte zu blicken ein unbeschreibliches Glück sein muß.

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Zurückbildend. — Alle Verbrecher zwingen die Gesellschaft auf frühere Stufen der Kultur zurück, als die ist, auf welcher sie gerade steht; sie wirken zurückbildend. Man denke an die Werkzeuge, welche die Gesellschaft der Notwehr halber sich schaffen und unterhalten muß: an den verschmitzten Polizisten, den Gefängniswärter, den Henker; man vergesse den öffentlichen Ankläger und den Advokaten nicht; endlich frage man sich, ob nicht der Richter selber und die Strafe und das ganze Gerichtsverfahren in ihrer Wirkung auf die Nicht-Verbrecher viel eher niederdrückende, als erhebende Erscheinungen sind; es wird eben nie gelingen, der Notwehr und der Rache das Gewand der Unschuld umzulegen; und so oft man den Menschen als ein Mittel zum Zwecke der Gesellschaft benutzt und opfert, trauert alle höhere Menschlichkeit darüber.

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Krieg als Heilmittel. — Matt und erbärmlich werdenden Völkern mag der Krieg als Heilmittel anzuraten sein, falls sie nämlich durchaus noch fortleben wollen: denn es gibt für die Völker-Schwindsucht auch eine Brutalitäts-Kur. Das ewige Leben-wollen und Nichtsterben-können ist aber selber schon ein Zeichen von Greisenhaftigkeit der Empfindung: je voller und tüchtiger man lebt, um so schneller ist man bereit, das Leben für eine einzige gute Empfindung dahinzugeben. Ein Volk, das so lebt und empfindet, hat die Kriege nicht nötig.

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Geistige und leibliche Verpflanzung als Heilmittel. — Die verschiedenen Kulturen sind verschiedene geistige Klimata, von denen ein jedes diesem oder jenem Organismus vornehmlich schädlich oder heilsam ist. Die Historie im Ganzen, als das Wissen um die verschiedenen Kulturen, ist die Heilmittellehre, nicht aber die Wissenschaft der Heilkunst selber. Der Arzt ist erst recht noch nötig, der sich dieser Heilmittellehre bedient, um jeden in sein ihm gerade ersprießliches Klima zu senden — zeitweilig oder auf immer. In der Gegenwart leben, innerhalb einer einzigen Kultur, genügt nicht als allgemeines Rezept, dabei würden zu viele höchst nützliche Arten von Menschen aussterben, die in ihr nicht gesund atmen können. Mit der Historie muß man ihnen Luft machen und sie zu erhalten suchen; auch die Menschen zurückgebliebener Kulturen haben ihren Wert. — Dieser Kur der Geister steht zur Seite, daß die Menschheit in leiblicher Beziehung danach streben muß, durch eine medizinische Geographie dahinterzukommen, zu welchen Entartungen und Krankheiten jede Gegend der Erde Anlaß gibt, und umgekehrt, welche Heilfaktoren sie bietet: und dann müssen allmählich Völker, Familien und Einzelne so lange und so anhaltend verpflanzt werden, bis man über die angeerbten physischen Gebrechen Herr geworden ist. Die ganze Erde wird endlich eine Summe von Gesundheits-Stationen sein.

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Der Baum der Menschheit und die Vernunft. — Das, was ihr als Übervölkerung der Erde in greisenhafter Kurzsichtigkeit fürchtet, gibt dem Hoffnungsvolleren eben die große Aufgabe in die Hand: die Menschheit soll einmal ein Baum werden, der die ganze Erde überschattet, mit vielen Milliarden von Blüten, die alle nebeneinander Früchte werden sollen, und die Erde selbst soll zur Ernährung dieses Baumes vorbereitet werden. Daß der jetzige noch kleine Ansatz dazu an Saft und Kraft zunehme, daß in unzähligen Kanälen der Saft zur Ernährung des Ganzen und des Einzelnen umströme — aus diesen und ähnlichen Aufgaben ist der Maßstab zu entnehmen, ob ein jetziger Mensch nützlich oder unnütz ist. Die Aufgabe ist unsäglich groß und kühn: wir alle wollen dazutun, daß der Baum nicht vor der Zeit verfaule! Dem historischen Kopfe gelingt es wohl, das menschliche Wesen und Treiben sich im Ganzen der Zeit so vor die Augen zu stellen, wie uns allen das Ameisen- Wesen mit seinen kunstvoll getürmten Haufen vor Augen steht. Oberflächlich beurteilt, würde auch das gesamte Menschentum gleich dem Ameisentum von» Instinkt «reden lassen. Bei strengerer Prüfung nehmen wir wahr, wie ganze Völker, ganze Jahrhunderte sich abmühen, neue Mittel ausfindig zu machen und auszuprobieren, womit man einem großen menschlichen Ganzen und zuletzt dem großen Gesamt-Fruchtbaume der Menschheit wohltun könne; und was auch immer bei diesem Ausprobieren die Einzelnen, die Völker und die Zeiten für Schaden leiden, durch diesen Schaden sind jedesmal einzelne klug geworden, und von ihnen aus strömt die Klugheit langsam auf die Maßregeln ganzer Völker, ganzer Zeiten über. Auch die Ameisen irren und vergreifen sich; die Menschheit kann recht wohl durch Torheit der Mittel verderben und verdorren, vor der Zeit, es gibt weder für jene, noch für diese einen sicher führenden Instinkt. Wir müssen vielmehr der großen Aufgabe ins Gesicht sehen, die Erde für ein Gewächs der größten und freudigsten Fruchtbarkeit vorzubereiten, — einer Aufgabe der Vernunft für die Vernunft!

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Das Lob des Uneigennützigen und sein Ursprung. — Zwischen zwei nachbarlichen Häuptlingen war seit Jahren Hader: man verwüstete einander die Saaten, führte Herden weg, brannte Häuser nieder, mit einem unentschiedenen Erfolge im Ganzen, weil ihre Macht ziemlich gleich war. Ein Dritter, der durch die abgeschlossene Lage seines Besitztums von diesen Fehden sich fernhalten konnte, aber doch Grund hatte, den Tag zu fürchten, an dem einer dieser händelsüchtigen Nachbarn entscheidend zum Übergewicht kommen würde, trat endlich zwischen die Streitenden, mit Wohlwollen und Feierlichkeit: und im Geheimen legte er auf seinen Friedensvorschlag ein schweres Gewicht, indem er jedem einzeln zu verstehen gab, fürderhin gegen den, welcher sich wider den Frieden sträube, mit dem andern gemeinsame Sache zu machen. Man kam vor ihm zusammen, man legte zögernd in seine Hand die Hände, welche bisher die Werkzeuge und allzuoft die Ursache des Hasses gewesen waren, — und wirklich, man versuchte es ernstlich mit dem Frieden. Jeder sah mit Erstaunen, wie plötzlich sein Wohlstand, sein Behagen wuchs, wie man jetzt am Nachbar einen kaufs- und verkaufsbereiten Händler, anstatt eines tückischen oder offen höhnenden Übeltäters, hatte, wie selbst, in unvorhergesehenen Notfällen, man sich gegenseitig aus der Not ziehen konnte, anstatt, wie es bisher geschehen, diese Not des Nachbars auszunutzen und aufs höchste zu steigern; ja es schien, als ob der Menschenschlag in beiden Gegenden sich seitdem verschönert hätte: denn die Augen hatten sich erhellt, die Stirnen sich entrunzelt, allen war das Vertrauen zur Zukunft zu eigen geworden, — und nichts ist den Seelen und Leibern der Menschen förderlicher, als dies Vertrauen. Man sah einander alle Jahre am Tage des Bündnisses wieder, die Häuptlinge sowohl wie deren Anhang: und zwar vor dem Angesicht des Mittlers, dessen Handlungsweise man, je größer der Nutzen war, den man ihr verdankte, immer mehr anstaunte und verehrte. Man nannte sie uneigennützig — man hatte den Blick viel zu fest auf den eigenen, seither eingeernteten Nutzen gerichtet, um von der Handlungsweise des Nachbars mehr zu sehen, als daß sein Zustand infolge derselben sich nicht so verändert habe wie der eigene: er war vielmehr, derselbe geblieben, und so schien es, daß jener den Nutzen nicht im Auge gehabt habe. Zum ersten Male sagte man sich, daß die Uneigennützigkeit eine Tugend sei: gewiß mochten im Kleinen und Privaten sich oftmals bei ihnen ähnliche Dinge ereignet haben, aber man hatte das Augenmerk für diese Tugend erst, als sie zum ersten Male in ganz großer Schrift, lesbar für die ganze Gemeinde, an die Wand gemalt wurde. Erkannt als Tugenden, zu Namen gekommen, in Schätzung gebracht, zur Aneignung anempfohlen sind die moralischen Eigenschaften erst von dem Augenblicke an, da sie sichtbar über Glück und Verhängnis ganzer Gesellschaften entschieden haben: dann ist nämlich die Höhe der Empfindung und die Erregung der inneren schöpferischen Kräfte bei vielen so groß, daß man dieser Eigenschaft Geschenke bringt, vom Besten, was jeder hat: der Ernste legt ihr seinen Ernst zu Füßen, der Würdige seine Würde, die Frauen ihre Milde, die Jünglinge alles Hoffnungs- und Zukunftsreiche ihres Wesens; der Dichter leiht ihr Worte und Namen, reiht sie in den Reigentanz ähnlicher Wesen ein, gibt ihr einen Stammbaum und betet zuletzt, wie es Künstler tun, das Gebilde seiner Phantasie als neue Gottheit an — er lehrt sie anbeten. So wird eine Tugend, weil die Liebe und die Dankbarkeit aller an ihr arbeitet, wie an einer Bildsäule, zuletzt eine Ansammlung des Guten und Verehrungswürdigen, eine Art Tempel und göttlicher Person zugleich. Sie steht fürderhin als einzelne Tugend da, als ein Wesen für sich, was sie bis dahin nicht war, und übt die Rechte und die Macht einer geheiligten Übermenschlichkeit aus. — Im späteren Griechenland standen die Städte voll von solchen vergottmenschlichten Abstrakten (man verzeihe das absonderliche Wort um des absonderlichen Begriffs willen); das Volk hatte sich auf seine Art einen platonischen» Ideenhimmel «inmitten seiner Erde hergerichtet, und ich glaube nicht, daß dessen Inwohner weniger lebendig empfunden wurden, als irgend eine althomerische Gottheit.

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Dunkel — Zeiten. — »Dunkel-Zeiten «nennt man solche in Norwegen, da die Sonne den ganzen Tag unter dem Horizonte bleibt: die Temperatur fällt dabei fortwährend langsam. — Ein schönes Gleichnis für alle Denker, welchen die Sonne der Menschheits-Zukunft zeitweilig verschwunden ist.

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Der Philosoph der Üppigkeit. — Ein Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute Freunde, — das war die Üppigkeit Epikurs.

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Die Epochen des Lebens. — Die eigentlichen Epochen im Leben sind jene kurze Zeiten des Stillstandes, mitten inne zwischen dem Aufsteigen und Absteigen eines regierenden Gedankens oder Gefühls. Hier ist wieder einmal Sattheit da: alles andere ist Durst und Hunger — oder Überdruß.

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Der Traum. — Unsere Träume sind, wenn sie einmal ausnahmsweise gelingen und vollkommen werden — für gewöhnlich ist, der Traum eine Pfuscher-Arbeit — , symbolische Szenen- und Bilder-Ketten an Stelle einer erzählenden Dichter-Sprache; sie umschreiben unsere Erlebnisse oder Erwartungen oder Verhältnisse mit dichterischer Kühnheit und Bestimmtheit, daß wir dann morgens immer über uns erstaunt sind, wenn wir uns unserer Träume erinnern. Wir verbrauchen im Traume zu viel Künstlerisches — und sind deshalb am Tage oft zu arm daran.

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Natur und Wissenschaft. — Ganz wie in der Natur werden auch in der Wissenschaft die schlechteren unfruchtbareren Gegenden zuerst gut angebaut — weil hierfür eben die Mittel der angehenden Wissenschaft ungefähr ausreichen. Die Bearbeitung der fruchtbarsten Gegenden setzt eine sorgsam entwickelte, ungeheure Kraft von Methoden, gewonnene Einzel-Resultate und eine organisierte Schar von Arbeitern, gut geschulten Arbeitern, voraus;- dies alles findet sich erst spät zusammen. — Die Ungeduld und der Ehrgeiz greifen oft zu früh nach diesen fruchtbarsten Gegenden; aber die Ergebnisse sind dann gleich Null. In der Natur würden sich solche Versuche dadurch rächen, daß die Ansiedler verhungerten.

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Einfachleben. — Eine einfache Lebensweise ist jetzt schwer: dazu tut viel mehr Nachdenken und Erfindungsgabe not, als selbst sehr gescheite Leute haben. Der Ehrlichste von ihnen wird vielleicht noch sagen:»Ich habe nicht die Zeit, darüber so lange nachzudenken. Die einfache Lebensweise ist für mich ein zu vornehmes Ziel; ich will warten, bis Weisere, als ich bin, sie gefunden haben.»

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Spitzen und Spitzchen. — Die geringe Fruchtbarkeit, die häufige Ehelosigkeit und überhaupt die geschlechtliche Kühle der höchsten und kultiviertesten Geister, sowie der zu ihnen gehörenden Klassen, ist wesentlich in der Ökonomie der Menschheit: die Vernunft erkennt und macht Gebrauch davon, daß bei einem äußersten Punkte der geistigen Entwicklung die Gefahr einer nervösen Nachkommenschaft sehr groß ist: solche Menschen sind Spitzen der Menschheit — sie dürfen nicht weiter in Spitzchen auslaufen.

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Keine Natur macht Sprünge. — Wenn der Mensch sich noch so stark fortentwickelt und aus einem Gegensatz in den andern überzuspringen scheint: bei genaueren Beobachtungen wird man doch die Verzahnungen auffinden, wo das neue Gebäude aus dem älteren herauswächst. Dies ist die Aufgabe des Biographen: er muß nach dem Grundsatze über das Leben denken, daß keine Natur Sprünge macht.

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Zwar reinlich. — Wer sich mit reingewaschenen Lumpen kleidet, kleidet sich zwar reinlich, aber doch lumpenhaft.

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Der Einsame spricht. — Man erntet als Lohn für vielen Überdruß, Mißmut, Langeweile — wie dies alles eine Einsamkeit ohne Freunde, Bücher, Pflichten, Leidenschaften mit sich bringen muß — jene Viertelstunden tiefster Einkehr in sich und die Natur. Wer sich völlig gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich auch gegen sich selber: den kräftigsten Labetrunk aus dem eigenen innersten Born wird er nie zu trinken bekommen.

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Falsche Berühmtheit. — Ich hasse jene angeblichen Naturschönheiten, welche im Grunde nur durch das Wissen, namentlich das geographische, etwas bedeuten, an sich aber dem schönheitsdurstigen Sinne dürftig bleiben: zum Beispiel die Ansicht des Mont blanc von Genf aus — etwas Unbedeutendes ohne die zu Hilfe eilende Gehirnfreude des Wissens; die näheren Berge dort sind alle schöner und ausdrucksvoller — aber» lange nicht so hoch«, wie jenes absurde Wissen, zur Abschwächung, hinzufügt. Das Auge widerspricht dabei dem Wissen: wie soll es sich im Widersprechen wahrhaft freuen können!

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Vergnügungs-Reisende. — Sie steigen wie Tiere den Berg hinauf, dumm und schwitzend; man hatte ihnen zu sagen vergessen, daß es unterwegs schöne Aussichten gebe.

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Zu viel und zu wenig. — Die Menschen durchleben jetzt alle zu viel und durchdenken zu wenig: sie haben Heißhunger und Kolik zugleich und werden deshalb immer magerer, so viel sie auch essen. — Wer jetzt sagt:»ich habe nichts erlebt«— ist ein Dummkopf.

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Ende und Ziel. — Nicht jedes Ende ist das Ziel. Das Ende der Melodie ist nicht deren Ziel; aber trotzdem: hat die Melodie ihr Ende nicht erreicht, so hat sie auch ihr Ziel nicht erreicht. Ein Gleichnis.

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Neutralität der großen Natur. — Die Neutralität der großen Natur (in Berg, Meer, Wald und Wüste) gefällt, aber nur eine kurze Zeit: nachher werden wir ungeduldig.»Wollen denn diese Dinge gar nichts zu uns sagen? Sind wir für sie nicht da?«Es entsteht das Gefühl eines crimen laesae majestatis humanae.

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Die Absichten vergessen. — Man vergißt über der Reise gemeinhin deren Ziel. Fast jeder Beruf wird als Mittel zu einem Zwecke gewählt und begonnen, aber als letzter Zweck fortgeführt. Das Vergessen der Absichten ist die häufigste Dummheit, die gemacht wird.

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Sonnenbahn der Idee. — Wenn eine Idee am Horizonte eben aufgeht, ist gewöhnlich die Temperatur der Seele dabei sehr kalt. Erst allmählich entwickelt die Idee ihre Wärme, und am heißesten ist diese (das heißt sie tut ihre größten Wirkungen), wenn der Glaube an die Idee schon wieder im Sinken ist.

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Wodurch man alle wider sich hätte. — Wenn jetzt jemand zu sagen wagte:»wer nicht für mich ist, der ist wider mich«, so hätte er sofort alle wider sich. — Diese Empfindung macht unserm Zeitalter Ehre.

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Sich des Reichtums schämen. — Unsere Zeit verträgt nur eine einzige Gattung von Reichen, solche, welche sich ihres Reichtums schämen. Hört man von jemandem» er ist sehr reich«, so hat man dabei sofort eine ähnliche Empfindung wie beim Anblick einer widerlich anschwellenden Krankheit, einer Fett- oder Wassersucht: man muß sich gewaltsam seiner Humanität erinnern, um mit einem solchen Reichen so verkehren zu können, daß er von unserm Ekelgefühle nichts merkt. Sobald er aber gar sich etwas auf seinen Reichtum zugute tut, so mischt sich zu unserm Gefühle die fast mitleidige Verwunderung über einen so hohen Grad der menschlichen Unvernunft: so daß man die Hände gen Himmel erheben und rufen möchte» armer Entstellter, Überbürdeter, hundertfach Gefesselter, dem jede Stunde etwas Unangenehmes bringt oder bringen kann, in dessen Gliedern jedes Ereignis von zwanzig Völkern nachzuckt, wie magst du uns glauben machen, daß du dich in deinem Zustande wohlfühlst! Wenn du irgendwo öffentlich erscheinst, so wissen wir, daß es eine Art Spießrutenlaufens ist, unter lauter Blicken, welche für dich nur kalten Haß oder Zudringlichkeit oder schweigsamen Spott haben. Dein Erwerben mag leichter sein als das der anderen: aber es ist ein überflüssiges Erwerben, welches wenig Freude macht, und dein Bewahren alles Erworbenen ist jedenfalls jetzt ein mühseligeres Ding als irgend ein mühseliges Erwerben. Du leidest fort — während, denn du verlierst fortwährend. Was nützt es dir, daß man dir immer neues künstliches Blut zuführt: deshalb tun doch die Schröpfköpfe nicht weniger weh, die auf deinem Nacken sitzen, beständig sitzen! — Aber, um nicht unbillig zu werden, es ist schwer, vielleicht unmöglich für dich, nicht reich zu sein: du mußt bewahren, mußt neu erwerben, der vererbte Hang deiner Natur ist das Joch über dir — aber deshalb täusche uns nicht und schäme dich ehrlich und sichtlich des Joches, das du trägst: da du ja im Grunde deiner Seele müde und unwillig bist, es zu tragen. Diese Scham schändet nicht.»

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Ausschweifung in der Anmaßung. — Es gibt so anmaßende Menschen, daß sie eine Größe, welche sie öffentlich bewundern, nicht anders zu loben wissen, als indem sie dieselbe als Vorstufe und Brücke, die zu ihnen führt, darstellen.

211

Auf dem Boden der Schmach. — Wer den Menschen eine Vorstellung nehmen will, tut sich gewöhnlich nicht genug damit, sie zu widerlegen und den unlogischen Wurm, der in ihr sitzt, herauszuziehen: vielmehr wirft er, nachdem der Wurm getötet ist, die ganze Frucht auch noch in den Kot, um sie den Menschen unansehnlich zu machen und Ekel vor ihr einzuflößen. So glaubt er das Mittel gefunden zu haben, die bei widerlegten Vorstellungen so gewöhnliche» Wiederauferstehung am dritten Tage «unmöglich zu machen. — Er irrt sich, denn gerade auf dem Boden der Schmach, inmitten des Unflates, treibt der Fruchtkern der Vorstellung schnell neue Keime. — Also: ja nicht verhöhnen, beschmutzen, was man endgültig beseitigen will, sondern es achtungsvoll auf Eis legen, immer und immer wieder, in Anbetracht, daß Vorstellungen ein sehr zähes Leben haben. Hier muß man nach der Maxime handeln:»Eine Widerlegung ist keine Widerlegung.»

212

Los der Moralität. — Da die Gebundenheit der Geister abnimmt, ist sicherlich die Moralität (die vererbte, überlieferte, instinkthafte Handlungsweise nach moralischen Gefühlen) ebenfalls in Abnahme: nicht aber die einzelnen Tugenden, Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Seelenruhe, — denn die größte Freiheit des bewußten Geistes führt einmal schon unwillkürlich zu ihnen hin und rät sie sodann auch als nützlich an.

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Der Fanatiker des Mißtrauens und seine Bürgschaft. — Der Alte: Du willst das Ungeheure wagen und die Menschen im Großen belehren? Wo ist deine Bürgschaft? — Pyrrhon: Hier ist sie: ich will die Menschen vor mir selber warnen, ich will alle Fehler meiner Natur öffentlich bekennen und meine Übereilungen, Widersprüche und Dummheiten vor aller Augen bloßstellen. Hört nicht auf mich, will ich ihnen sagen, bis ich nicht eurem Geringsten gleich geworden bin, und noch geringer bin, als er; sträubt euch gegen die Wahrheit, so lange ihr nur könnt, aus Ekel vor dem, der ihr Fürsprecher ist. Ich werde euer Verführer und Betrüger sein, wenn ihr noch den mindesten Glanz von Achtbarkeit und Würde an mir wahrnehmt. — Der Alte: Du versprichst zuviel, du kannst diese Last nicht tragen — Pyrrhon — So will ich auch dies den Menschen sagen, daß ich zu schwach bin und nicht halten kann, was ich verspreche. Je größer meine Unwürdigkeit, um so mehr werden sie der Wahrheit mißtrauen, wenn sie durch meinen Mund geht. — Der Alte: Willst du denn der Lehrer des Mißtrauens gegen die Wahrheit sein? — Pyrrhon: Des Mißtrauens, wie es noch nie in der Welt war, des Mißtrauens gegen Alles und Jedes. Es ist der einzige Weg zur Wahrheit. Das rechte Auge darf dem linken nicht trauen, und Licht wird eine Zeitlang Finsternis heißen müssen: dies ist der Weg, den ihr gehen müßt. Glaubt nicht, daß er euch zu Fruchtbäumen und schönen Weiden führe. Kleine harte Körner werdet ihr auf ihm finden, — das sind die Wahrheiten: Jahrzehntelang werdet ihr die Lügen händevoll verschlingen müssen, um nicht Hungers zu sterben, ob ihr schon wisset, daß es Lügen sind. Jene Körner aber werden gesäet und eingegraben, und vielleicht, vielleicht gibt es einmal einen Tag der Ernte: niemand darf ihn versprechen, er sei denn ein Fanatiker. — Der Alte: Freund, Freund! Auch deine Worte sind die des Fanatikers! — Pyrrhon: Du hast recht! ich will gegen alle Worte mißtrauisch sein. — Der Alte: Dann wirst du schweigen müssen. — Pyrrhon: Ich werde den Menschen sagen, daß ich schweigen muß und daß sie meinem Schweigen mißtrauen sollen. — Der Alte: Du trittst also von deinem Unternehmen zurück? — Pyrrhon: Vielmehr- du hast mir eben das Tor gezeigt, durch welches ich gehen muß. — Der Alte: Ich weiß nicht — : verstehen wir uns jetzt noch völlig? — Pyrrhon: Wahrscheinlich nicht. — Der Alte: Wenn du dich nur selber völlig verstehst! — Pyrrhon dreht sich um und lacht. — Der Alte: Ach Freund! Schweigen und Lachen — ist das jetzt deine ganze Philosophie? — Pyrrhon: Es wäre nicht die schlechteste.-

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Europäische Bücher. — Man ist beim Lesen von Montaigne, La Rochefoucauld, La Bruyere, Fontenelle (namentlich der dialogues des morts), Vauvenargues, Chamfort dem Altertum näher als bei irgend welcher Gruppe von sechs Autoren anderer Völker. Durch jene Sechs ist der Geist der letzten Jahrhunderte der alten Zeitrechnung wieder erstanden — sie zusammen bilden ein wichtiges Glied in der großen noch fortlaufenden Kette der Renaissance. Ihre Bücher erheben sich über den Wechsel des nationalen Geschmacks und der philosophischen Färbungen, in denen für gewöhnlich jetzt jedes Buch schillert und schillern muß, um berühmt zu werden: sie enthalten mehr wirkliche Gedanken als alle Bücher deutscher Philosophen zusammengenommen: Gedanken von der Art, welche Gedanken macht, und die — ich bin in Verlegenheit zu Ende zu definieren; genug, daß es mir Autoren zu sein scheinen, welche weder für Kinder noch für Schwärmer geschrieben haben, weder für Jungfrauen noch für Christen, weder für Deutsche noch für — ich bin wieder in Verlegenheit, meine Liste zu schließen. — Um aber ein deutliches Lob zu sagen: sie wären, griechisch geschrieben, auch von Griechen verstanden worden. Wieviel hätte dagegen selbst ein Plato von den Schriften unserer besten deutschen Denker, zum Beispiel Goethes und Schopenhauers, überhaupt verstehen können, von dem Widerwillen zu schweigen, welchen ihre Schreibart ihm erregt haben würde, nämlich das Dunkle, Übertriebene und gelegentlich wieder Klapperdürre, — Fehler, an denen die Genannten noch am wenigsten von den deutschen Denkern und doch noch allzuviel leiden (Goethe, als Denker, hat die Wolke lieber umarmt, als billig ist, und Schopenhauer wandelt nicht ungestraft fast fortwährend unter Gleichnissen der Dinge statt unter den Dingen selber). — Dagegen, welche Helligkeit und zierliche Bestimmtheit bei jenen Franzosen! Diese Kunst hätten auch die feinohrigsten Griechen gutheißen müssen, und eines würden sie sogar bewundert und angebetet haben, den französischen Witz des Ausdrucks: so etwas liebten sie sehr, ohne gerade darin besonders stark zu sein.

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Mode und modern. — Überall, wo noch die Unwissenheit, die Unreinlichkeit, der Aberglaube im Schwange sind, wo der Verkehr lahm, die Landwirtschaft armselig, die Priesterschaft mächtig ist, da finden sich auch noch die NationaItrachten. Dagegen herrscht die Mode, wo die Anzeichen des Entgegengesetzten sich finden. Die Mode ist also neben den Tugenden des jetzigen Europa zu finden: sollte sie wirklich deren Schattenseite sein? — Zunächst sagt die männliche Bekleidung, welche modisch und nicht mehr national ist, von dem, der sie trägt, aus, daß der Europäer nicht als Einzelner noch als Standes- und Volksgenosse auffallen will, daß er sich eine absichtliche Dämpfung dieser Arten von Eitelkeit zum Gesetz gemacht hat: dann, daß er arbeitsam ist und nicht viel Zeit zum Ankleiden und Sich-putzen hat, auch alles Kostbare und Üppige in Stoff und Faltenwurf im Widerspruch mit seiner Arbeit findet; endlich, daß er durch seine Tracht auf die gelehrteren und geistigeren Berufe als die hinweist, welchen er als europäischer Mensch am nächsten steht oder stehen möchte: während durch die noch vorhandenen Nationaltrachten der Räuber, der Hirt oder der Soldat als die wünschbarsten und tonangebenden Lebensstellungen hindurchschimmern. Innerhalb dieses Gesamt-Charakters der männlichen Mode gibt es dann jene kleinen Schwankungen, welche die Eitelkeit der jungen Männer, der Stutzer und Nichtstuer der großen Städte hervorbringt, also derer, welche als europäische Menschen noch nicht reif geworden sind. — Die europäischen Frauen sind dies noch viel weniger, weshalb die Schwankungen bei ihnen viel größer sind: sie wollen auch das Nationale nicht und hassen es, als Deutsche, Franzosen, Russen an der Kleidung erkannt zu werden, aber als einzelne wollen sie sehr gern auffallen; ebenso soll niemand schon durch ihre Bekleidung im Zweifel gelassen werden, daß sie zu einer angeseheneren Klasse der Gesellschaft (zur» guten «oder» hohen «oder» großen «Welt) gehören, und zwar wünschen sie nach dieser Seite hin gerade um so mehr voreinzunehmen, als sie nicht oder kaum zu jener Klasse gehören. Vor allem aber will die junge Frau nichts tragen, was die etwas ältere trägt, weil sie durch den Verdacht eines höheren Lebensalters im Preise zu fallen glaubt: die ältere wiederum möchte durch jugendlichere Tracht so lange täuschen, als es irgend angeht, — aus welchem Wettbewerb sich zeitweilig immer Moden ergeben müssen, bei denen das eigentlich Jugendliche ganz unzweideutig und unnachahmlich sichtbar wird. Hat der Erfindungsgeist der jungen Künstlerinnen in solchen Bloßstellungen der Jugend eine Zeitlang geschwelgt, oder um die ganze Wahrheit zu sagen — hat man wieder einmal den Erfindungsgeist älterer höfischer Kulturen, sowie den der noch bestehenden Nationen, und überhaupt den ganzen kostümierten Erdkreis zu Rate gezogen und etwa die Spanier, die Türken und Altgriechen zur Inszenierung des schönen Fleisches zusammengekoppelt: so entdeckt man endlich immer wieder, daß man sich doch nicht zum Besten auf seinen Vorteil verstanden habe; daß, um auf die Männer Wirkung zu machen, das Versteckspielen mit dem schönen Leibe glücklicher sei, als die nackte und halbnackte Ehrlichkeit; und nun dreht sich das Rad des Geschmackes und der Eitelkeit einmal wieder in entgegengesetzter Richtung: die etwas älteren jungen Frauen finden, daß ihr Reich gekommen sei, und der Wettkampf der lieblichsten und absurdesten Geschöpfe tobt wieder von neuem. Je mehr aber die Frauen innerlich zunehmen und nicht mehr unter sich, wie bisher, den unreifen Altersklassen den Vorrang zugestehen, um so geringer werden diese Schwankungen ihrer Tracht, um so einfacher ihr Putz: über welchen man billigerweise nicht nach antiken Mustern das Urteil sprechen darf, also nicht nach dem Maßstabe der Gewandung südländischer See-Anwohnerinnen, sondern in Berücksichtigung der klimatischen Bedingungen der mittleren und nördlichen Gegenden Europas, derer nämlich, in welchen jetzt der geist- und formerfindende Genius Europas seine liebste Heimat hat. — Im ganzen wird also gerade nicht das Wechselnde das charakteristische Zeichen der Mode und des Modernen sein, denn gerade der Wechsel ist etwas Rückständiges und bezeichnet die noch ungereiften männlichen und weiblichen Europäer: sondern die Ablehnung der nationalen, ständischen und individuellen Eitelkeit. Dementsprechend ist es zu loben, weil es kraft- und zeitersparend ist, wenn einzelne Städte und Gegenden Europas für alle übrigen in Sachen der Kleidung denken und erfinden, in Anbetracht dessen, daß der Formensinn nicht jedermann geschenkt zu sein pflegt; auch ist es wirklich kein allzu hochfliegender Ehrgeiz, wenn zum Beispiel Paris, so lange jene Schwankungen noch bestehen, es in Anspruch nimmt, der alleinige Erfinder und Neuerer in diesem Reiche zu sein. Will ein Deutscher, aus Haß gegen diese Ansprüche einer französischen Stadt, sich anders kleiden, zum Beispiel so wie Albrecht Dürer sich trug, so möge er erwägen, daß er dann ein Kostüm hat, welches ehemalige Deutsche trugen, welches aber die Deutschen ebensowenig erfunden haben, — es hat nie eine Tracht gegeben, welche den Deutschen als Deutschen bezeichnete; übrigens mag er zusehen, wie er aus dieser Tracht herausschaut und ob etwa der ganz moderne Kopf nicht mit all seiner Linien- und Fältchenschrift, welche das neunzehnte Jahrhundert hineingrub, gegen eine Dürerische Bekleidung Einsprache tut. — Hier, wo die Begriffe» modern «und» europäisch «fast gleich gesetzt sind, wird unter Europa viel mehr an Länderstrecken verstanden, als das geographische Europa, die kleine Halbinsel Asiens, umfaßt: namentlich gehört Amerika hinzu, soweit es eben das Tochterland unserer Kultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa unter den Kultur-Begriff,»Europa«; sondern nur alle jene Völker und Völkerteile, welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christentum ihre gemeinsame Vergangenheit haben.

216

Die» deutsche Tugend«. — Es ist nicht zu leugnen, daß vom Ausgange des vorigen Jahrhunderts an ein Strom moralischer Erweckung durch Europa floß. Damals erst wurde die Tugend wieder beredt; sie lernte es, die ungezwungenen Gebärden der Erhebung, der Rührung finden, sie schämte sich ihrer selber nicht mehr und ersann Philosophien und Gedichte zur eigenen Verherrlichung. Sucht man nach den Quellen dieses Stromes: so findet man einmal Rousseau, aber den mythischen Rousseau, den man sich nach dem Eindrucke seiner Schriften — fast könnte man wieder sagen: seiner mythisch ausgelegten Schriften — und nach den Fingerzeigen, die er selber gab, erdichtet hatte (— er und sein Publikum arbeiteten beständig an dieser Idealfigur). Der andere Ursprung liegt in jener Wiederauferstehung des stoisch-großen Römertums, durch welche die Franzosen die Aufgabe der Renaissance auf das würdigste weitergeführt haben. Sie gingen von der Nachschöpfung antiker Formen mit herrlichstem Gelingen zur Nachschöpfung antiker Charaktere über: so daß sie ein Anrecht auf die allerhöchsten Ehren immerdar behalten werden, als das Volk, welches der neueren Menschheit bisher die besten Bücher und die besten Menschen gegeben hat. Wie diese doppelte Vorbildlichkeit, die des mythischen Rousseau und die jenes wiedererweckten Römergeistes, auf die schwächeren Nachbarn wirkte, sieht man namentlich an Deutschland: welches infolge seines neuen und ganz ungewohnten Aufschwunges zu Ernst und Größe des Wollens und Sich — Beherrschens zuletzt vor seiner eigenen neuen Tugend in Staunen geriet und den Begriff» deutsche Tugend «in die Welt warf, wie als ob es nichts Ursprünglicheres, Erbeigneres geben könnte als diese. Die ersten großen Männer, welche jene französische Anregung zur Größe und Bewußtheit des sittlichen Wollens auf sich überleiteten, waren ehrlicher und vergaßen die Dankbarkeit nicht. Der Moralismus Kants — woher kommt er? Er gibt es wieder und wieder zu verstehen: von Rousseau und dem wiedererweckten stoischen Rom. Der Moralismus Schillers: gleiche Quelle, gleiche Verherrlichung der Quelle. Der Moralismus Beethovens in Tönen: er ist das ewige Loblied Rousseaus, der antiken Franzosen und Schillers. Erst» der deutsche Jüngling «vergaß die Dankbarkeit, inzwischen hatte man ja das Ohr nach den Predigern des Franzosenhasses hingewendet: jener deutsche Jüngling, der eine Zeitlang mit mehr Bewußtheit als man bei andern Jünglingen für erlaubt hält, in den Vordergrund trat. Wenn er nach seiner Vaterschaft spürte, so mochte er mit Recht an die Nähe Schillers, Fichtes und Schleiermachers denken: aber seine Großväter hätte er in Paris, in Genf suchen müssen, und es war sehr kurzsichtig zu glauben, was er glaubte: daß die Tugend nicht älter als dreißig Jahre sei. Damals gewöhnte man sich daran, zu verlangen, daß beim Worte» deutsch «auch noch so nebenbei die Tugend mitverstanden werde: und bis auf den heutigen Tag hat man es noch nicht völlig verlernt. — Nebenbei bemerkt, jene genannte moralische Erweckung hat für die Erkenntnis der moralischen Erscheinungen, wie sich fast erraten läßt, nur Nachteile und rückschreitende Bewegungen zur Folge gehabt. Was ist die ganze deutsche Moralphilosophie, von Kant an gerechnet, mit allen ihren französischen, englischen und italienischen Ausläufern und Nebenzüglern? Ein halbtheologisches Attentat gegen Helvetius, ein Abweisen der lange und mühsam erkämpften Freiblicke oder Fingerzeige des rechten Weges, welche er zuletzt gut ausgesprochen und zusammengebracht hat. Bis auf den heutigen Tag ist Helvetius in Deutschland der bestbeschimpfte aller guten Moralisten und guten Menschen.

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Klassisch und romantisch. — Sowohl die klassisch als die romantisch gesinnten Geister- wie es diese beiden Gattungen immer gibt — tragen sich mit einer Vision der Zukunft: aber die ersteren aus einer Stärke ihrer Zeit heraus, die letzteren aus deren Schwäche.

218

Die Maschine als Lehrerin. — Die Maschine lehrt durch sich selber das Ineinandergreifen von Menschenhaufen, bei Aktionen, wo jeder nur eins zu tun hat: sie gibt das Muster der Partei — Organisation und der Kriegsführung. Sie lehrt dagegen nicht die individuelle Selbstherrlichkeit: sie macht aus Vielen Eine Maschine, und aus jedem einzelnen ein Werkzeug zu Einem Zwecke. Ihre allgemeinste Wirkung ist: den Nutzen der Zentralisation zu lehren.

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Nicht seßhaft. — Man wohnt gerne in der kleinen Stadt; aber von Zeit zu Zeit treibt gerade sie uns in die einsamste unenthüllteste Natur: dann nämlich, wenn jene uns einmal wieder zu durchsichtig geworden ist. Endlich gehen wir, um uns wieder von dieser Natur zu erholen, in die große Stadt. Einige Züge aus derselben — und wir erraten den Bodensatz ihres Bechers, — der Kreislauf, mit der kleinen Stadt am Anfange, beginnt von neuem. — So leben die Modernen: welche in allem etwas zu gründlich sind, um seßhaft zu sein gleich den Menschen anderer Zeiten.

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