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Groß und vergänglich. — Was den Betrachtenden zu Tränen rührt, das ist der schwärmerische Glückes- Blick, mit dem eine schöne junge Frau ihren Gatten ansieht. Man empfindet alle Herbst-Wehmut dabei, über die Größe sowohl, als über die Vergänglichkeit des menschlichen Glückes.
Opfer-Sinn. — Manche Frau hat den intelletto del sacrifizio und wird ihres Lebens nicht mehr froh, wenn der Gatte sie nicht opfern will: sie weiß dann mit ihrem Verstande nicht mehr wohin? und wird unversehens aus dem Opfertier der Opferpriester selber.
Das Unweibliche. — »Dumm wie ein Mann «sagen die Frauen:»feige wie ein Weib «sagen die Männer. Die Dummheit ist am Weibe das Unweibliche.
Männliches und weibliches Temperament und die Sterblichkeit. — Daß das männliche Geschlecht ein schlechteres Temperament hat, als das weibliche, ergibt sich auch daraus, daß die männlichen Kinder der Sterblichkeit mehr ausgesetzt sind, als die weiblichen, offenbar weil sie leichter» aus der Haut fahren«: ihre Wildheit und Unverträglichkeit verschlimmert alle Übel leicht bis ins Tödliche.
Die Zeit der Zyklopen-Bauten. — Die Demokratisierung Europas ist unaufhaltsam: wer sich dagegen stemmt, gebraucht doch eben die Mittel dazu, welche erst der demokratische Gedanke jedermann in die Hand gab, und macht diese Mittel selber handlicher und wirksamer: und die grundsätzlichsten Gegner der Demokratie (ich meine die Umsturzgeister) scheinen nur deshalb da zu sein, um durch die Angst, welche sie erregen, die verschiedenen Parteien immer schneller auf der demokratischen Bahn vorwärts zu treiben. Nun kann es einem angesichts derer, welche jetzt bewußt und ehrlich für diese Zukunft arbeiten, in der Tat bange werden: es liegt etwas Ödes und Einförmiges in ihren Gesichtern, und der graue Staub scheint auch bis in ihre Gehirne hinein geweht zu sein. Trotzdem: es ist möglich, daß die Nachwelt über dieses unser Bangen einmal lacht und an die demokratische Arbeit einer Reihe von Geschlechtern etwa so denkt, wie wir an den Bau von Steindämmen und Schutzmauern — als an eine Tätigkeit, die notwendig viel Staub auf Kleider und Gesichter breitet und unvermeidlich wohl auch die Arbeiter ein wenig blödsinnig macht; aber wer würde deswegen solches Tun ungetan wünschen! Es scheint, daß die Demokratisierung Europas ein Glied in der Kette jener ungeheuren prophylak- tischen Maßregeln ist, welche der Gedanke der neuen Zeit sind und mit denen wir uns gegen das Mittelalter abheben. Jetzt erst ist das Zeitalter der Zyklopenbauten! Endliche Sicherheit der Fundamente, damit alle Zukunft auf ihnen ohne Gefahr bauen kann! Unmöglichkeit fürderhin, daß die Fruchtfelder der Kultur wieder über Nacht von wilden und sinnlosen Bergwässern zerstört werden! Steindämme und Schutzmauern gegen Barbaren, gegen Seuchen, gegen leibliche und geistige Verknechtung! Und dies alles zunächst wörtlich und gröblich, aber allmählich immer höher und geistiger verstanden, so daß alle hier angedeuteten Maßregeln die geistreiche Gesamtvorbereitung des höchsten Künstlers der Gartenkunst zu sein scheinen, der sich dann erst zu seiner eigentlichen Aufgabe wenden kann, wenn jene vollkommen ausgeführt ist! — Freilich: bei den weiten Zeitstrecken, welche hier zwischen Mittel und Zweck liegen, bei der großen, übergroßen, Kraft und Geist von Jahrhunderten anspannenden Mühsal, die schon not tut, um nur jedes einzelne Mittel zu schaffen oder herbeizuschaffen, darf man es den Arbeitern an der Gegenwart nicht zu hart anrechnen, wenn sie laut dekretieren, die Mauer und das Spalier sei schon der Zweck und das letzte Ziel; da ja noch niemand den Gärtner und die Fruchtpflanzen sieht, um derentwillen das Spalier da ist.
Das Recht des allgemeinen Stimmrechts. — Das Volk hat sich das allgemeine Stimmrecht nicht gegeben, es hat dasselbe, überall, wo es jetzt in Geltung ist, empfangen und vorläufig angenommen: jedenfalls hat es aber das Recht, es wieder zurückzugeben, wenn es seinen Hoffnungen nicht genug tut. Dies scheint jetzt allerorten der Fall zu sein: denn wenn bei irgend einer Gelegenheit, wo es gebraucht wird, kaum Zweidrittel, ja vielleicht nicht einmal die Majorität aller Stimmberechtigten an die Stimm-Urne kommt, so ist dies ein Votum gegen das ganze Stimmsystem überhaupt. — Man muß hier sogar noch viel strenger urteilen. Ein Gesetz, welches bestimmt, daß die Majorität über das Wohl aller die letzte Entscheidung habe, kann nicht auf derselben Grundlage, welche durch dasselbe erst gegeben wird, aufgebaut werden; es bedarf notwendig einer noch breiteren: und dies ist die Einstimmigkeit aller. Das allgemeine Stimmrecht darf nicht nur der Ausdruck eines Majoritäten-Willens sein: das ganze Land muß es wollen. Deshalb genügt schon der Widerspruch einer sehr kleinen Minorität, dasselbe als untunlich wieder beiseite zu stellen: und die Nichtbeteiligung an einer Abstimmung ist eben ein solcher Widerspruch, der das ganze Stimmsystem zum Falle bringt. Das» absolute Veto «des einzelnen oder, um nicht ins Kleinliche zu verfallen, das Veto weniger Tausende hängt über diesem System, als die Konsequenz der Gerechtigkeit: bei jedem Gebrauche, den man von ihm macht, muß es, laut der Art von Beteiligung, erst beweisen, daß es noch zu Recht besteht.
Das schlechte Schließen. — Wie schlecht schließt man, auf Gebieten, wo man nicht zu Hause ist, selbst wenn man als Mann der Wissenschaft noch so sehr an das gute Schließen gewöhnt ist! Es ist beschämend! Und nun ist klar, daß im großen Welttreiben, in Sachen der Politik, bei allem Plötzlichen und Drängenden, wie es fast jeder Tag heraufführt, eben dieses schlechte Schließen entscheidet: denn niemand ist völlig in dem zu Hause, was über Nacht neu gewachsen ist; alles Politisieren, auch bei den größten Staatsmännern, ist Improvisieren auf gut Glück.
Prämissen des Maschinen-Zeitalters. — Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat.
Ein Hemmschuh der Kultur. — Wenn wir hören: dort haben die Männer nicht Zeit zu den produktiven Geschäften; Waffenübungen und Umzüge nehmen ihnen den Tag weg, und die übrige Bevölkerung muß sie ernähren und kleiden, ihre Tracht aber ist auffallend, oftmals bunt und voll Narrheiten; dort sind nur wenige unterscheidende Eigenschaften anerkannt, die einzelnen gleichen einander mehr als anderwärts oder werden doch als Gleiche behandelt; dort verlangt und gibt man Gehorsam ohne Verständnis: man befiehlt, aber man hütet sich zu überzeugen; dort sind die Strafen wenige, diese wenigen aber sind hart und gehen schnell zum Letzten, Fürchterlichsten; dort gilt der Verrat als das größte Verbrechen, schon die Kritik der Übelstände wird nur von den Mutigsten gewagt; dort ist ein Menschenleben wohlfeil, und der Ehrgeiz nimmt häufig die Form an, daß er das Leben in Gefahr bringt, — wer dies alles hört, wird sofort sagen:»es ist das Bild einer barbarischen, in Gefahr schwebenden Gesellschaft.«Vielleicht, daß der eine hinzufügt:»es ist die Schilderung Spartas«; ein anderer wird aber nachdenklich werden und vermeinen, es sei unser modernes Militärwesen beschrieben, wie es inmitten unsrer andersartigen Kultur und Sozietät dasteht — als ein lebendiger Anachronismus, als das Bild, wie gesagt, einer barbarischen, in Gefahr schwebenden Gesellschaft, als ein posthumes Werk der Vergangenheit, welches für die Räder der Gegenwart nur den Wert eines Hemmschuhs haben kann. — Mitunter tut aber auch ein Hemmschuh der Kultur auf das Höchste not: wenn es nämlich zu schnell bergab oder, wie in diesem Falle vielleicht, bergauf geht.
Mehr Achtung vor den Wissenden! — Bei der Konkurrenz der Arbeit und der Verkäufer ist das Publikum zum Richter über das Handwerk gemacht: das hat aber keine strenge Sachkenntnis und urteilt nach dem Scheine der Güte. Folglich wird die Kunst des Scheines (und vielleicht der Geschmack) unter der Herrschaft der Konkurrenz steigen, dagegen die Qualität aller Erzeugnisse sich verschlechtern müssen. Folglich wird, wofern nur die Vernunft nicht im Werte fällt, irgendwann jener Konkurrenz ein Ende gemacht werden und ein neues Prinzip den Sieg über sie davontragen. Nur der Handwerksmeister sollte über das Handwerk urteilen, und das Publikum abhängig sein vom Glauben an die Person des Urteilenden und an seine Ehrlichkeit. Demnach keine anonyme Arbeit! Mindestens müßte ein Sachkenner als Bürge derselben dasein und seinen Namen als Pfand einsetzen, wenn der Name des Urhebers fehlt oder klanglos ist. Die Wohlfeilheit eines Werkes ist für den Laien eine andere Art Schein und Trug, da erst die Dauerhaftigkeit entscheidet, daß und inwiefern eine Sache wohlfeil ist; jene aber ist schwer und von dem Laien gar nicht zu beurteilen. — Also: was Effekt auf das Auge macht und wenig kostet, das bekommt jetzt das Übergewicht, — und das wird natürlich die Maschinenarbeit sein. Hinwiederum begünstigt die Maschine, das heißt die Ursache der größten Schnelligkeit und Leichtigkeit der Herstellung, auch ihrerseits die verkäuflichste Sorte: sonst ist kein erheblicher Gewinn mit ihr zu machen; sie würde zu wenig gebraucht und zu oft stille stehen. Was aber am verkäuflichsten ist, darüber entscheidet das Publikum, wie gesagt: es muß das Täuschendste sein, das heißt das, was einmal gut scheint und sodann auch wohlfeil scheint. Also auch auf dem Gebiete der Arbeit muß unser Losungswort sein:»Mehr Achtung vor den Wissenden!»
Die Gefahr der Könige. — Die Demokratie hat es in der Hand, ohne alle Gewaltmittel, nur durch einen stetig geübten gesetzmäßigen Druck, das König- und Kaisertum hohl zu machen: bis eine Null übrig bleibt, vielleicht, wenn man will, mit der Bedeutung jeder Null, daß sie, an sich nichts, doch an die rechte Seite gestellt, die Wirkung einer Zahl verzehnfacht. Das Kaiser- und Königtum bliebe ein prachtvoller Zierrat an der schlichten und zweckmäßigen Gewandung der Demokratie, das schöne Überflüssige, welches sie sich gönnt, der Rest alles historisch ehrwürdigen Urväterzierrates, ja das Symbol der Historie selber — und in dieser Einzigkeit etwas höchst Wirksames, wenn es, wie gesagt, nicht für sich allein steht, sondern richtig gestellt wird. — Um der Gefahr jener Aushöhlung vorzubeugen, halten die Könige jetzt mit den Zähnen an ihrer Würde als Kriegsfürsten fest: dazu brauchen sie Kriege, das heißt Ausnahmezustände, in denen jener langsame, gesetzmäßige Druck der demokratischen Gewalten pausiert.
Der Lehrer ein notwendiges Übel. — So wenig wie möglich Personen zwischen den produktiven Geistern und den hungernden und empfangenden Geistern! Denn die Mittlerwesen fälschen fast unwillkürlich die Nahrung, die sie vermitteln: sodann wollen sie zur Belohnung für ihr Vermitteln zu viel für sich, was also den originalen, produktiven Geistern entzogen wird: nämlich Interesse, Bewunderung, Zeit, Geld und anderes. — Also: man sehe immerhin den Lehrer als ein notwendiges Übel an, ganz wie den Handelsmann: als ein Übel, das man so klein wie möglich machen muß! — Wenn vielleicht die Not der deutschen Zustände jetzt ihren Hauptgrund darin hat, daß viel zu viele vom Handel leben und gut leben wollen (also dem Erzeugenden die Preise möglichst zu verringern und den Verzehrenden die Preise möglichst zu erhöhen suchen, um am möglichst großen Schaden beider den Vorteil zu haben): so kann man gewiß einen Hauptgrund der geistigen Notstände in der Überfülle von Lehrern sehen ihretwegen wird so wenig und so schlecht gelernt.
Die Achtungssteuer. — Den uns Bekannten, von uns Geehrten, sei es ein Arzt, Künstler, Handwerker, der etwas für uns tut und arbeitet, bezahlen wir gern so hoch als wir können, oft sogar über unser Vermögen: dagegen bezahlt man den Unbekannten so niedrig es nur angehen will; hier ist ein Kampf, in welchem jeder um den Fußbreit Landes kämpft und mit sich kämpfen macht. Bei der Arbeit des Bekannten für uns ist etwas Unbe- zahlbares, die in seine Arbeit unsertwegen hineingelegte Empfindung und Erfindung: wir glauben das Gefühl hiervon nicht anders als durch eine Art Aufopferung unsererseits ausdrücken zu können. — Die stärkste Steuer ist die Achtungssteuer. Je mehr die Konkurrenz herrscht und man von Unbekannten kauft, für Unbekannte arbeitet, desto niedriger wird diese Steuer, während sie gerade der Maßstab für die Höhe des menschlichen Seelen-Verkehres ist.
Das Mittel zum wirklichen Frieden. — Keine Regierung gibt jetzt zu, daß sie das Heer unterhalte, um gelegentliche Eroberungsgelüste zu befriedigen; sondern der Verteidigung soll es dienen. Jene Moral, welche die Notwehr billigt, wird als ihre Fürsprecherin angerufen. Das heißt aber: sich die Moralität und dem Nachbar die Immoralität vorbehalten, weil er angriffs- und eroberungslustig gedacht werden muß, wenn unser Staat notwendig an die Mittel der Notwehr denken soll; überdies erklärt man ihn, der genau ebenso wie unser Staat die Angriffslust leugnet und auch seinerseits das Heer vorgeblich nur aus Notwehrgründen unterhält, durch unsere Erklärung, weshalb wir ein Heer brauchen, für einen Heuchler und listigen Verbrecher, welcher gar zu gern ein harmloses und ungeschicktes Opfer ohne allen Kampf überfallen möchte. So stehen nun alle Staaten jetzt gegeneinander: sie setzen die schlechte Gesinnung des Nachbars und die gute Gesinnung bei sich voraus. Diese Voraussetzung ist aber eine Inhumanität, — so schlimm und schlimmer als der Krieg: ja, im Grunde ist sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen, weil sie, wie gesagt, dem Nachbar die Immoralität unter- schiebt und dadurch die feindselige Gesinnung und Tat zu provozieren scheint. Der Lehre von dem Heer als einem Mittel der Notwehr muß man ebenso gründlich abschwören als den Eroberungsgelüsten. Und es kommt vielleicht ein großer Tag, an welcher ein Volk, durch Kriege und Siege, durch die höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft:»wir zerbrechen das Schwert«— und sein gesamtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrümmert. Sich wehrlos machen, während man der Wehrhafteste war, aus einer Höhe der Empfindung heraus, — das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muß: während der sogenannte bewaffnete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede der Gesinnung ist, der sich und dem Nachbar nicht traut und halb aus Haß, halb aus Furcht die Waffen nicht ablegt. Lieber zugrunde gehn als hassen und fürchten, und zweimal lieber zugrunde gehn als sich hassen und fürchten machen, — dies muß einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden! — Unsern liberalen Volksvertretern fehlt es, wie bekannt, an Zeit zum Nachdenken über die Natur des Menschen: sonst würden sie wissen, daß sie umsonst arbeiten, wenn sie für eine» allmähliche Herabminderung der Militärlast «arbeiten. Vielmehr: erst wenn diese Art Not am größten ist, wird auch die Art Gott am nächsten sein, die hier allein helfen kann. Der Kriegsglorien-Baum kann nur mit einem Male, durch einen Blitzschlag zerstört werden: der Blitz aber kommt, ihr wißt es ja, aus der Höhe. –
Ob der Besitz mit der Gerechtigkeit ausgeglichen werden kann. — Wird die Ungerechtigkeit des Besitzes stark empfunden — der Zeiger der großen Uhr ist einmal wieder an dieser Stelle — , so nennt man zwei Mittel, derselben abzuhelfen: einmal eine gleiche Verteilung und sodann die Aufhebung des Eigentums und den Zurückfall des Besitzes an die Gemeinschaft. Letzteres Mittel ist namentlich nach dem Herzen unserer Sozialisten, welche jenem altertümlichen Juden darüber gram sind, daß er sagte: du sollst nicht stehlen. Nach ihnen soll das siebente Gebot vielmehr lauten: du sollst nicht besitzen. — Die Versuche nach dem ersten Rezepte sind im Altertum oft gemacht worden, zwar immer nur in kleinem Maßstabe, aber doch mit einem Mißerfolg, der auch uns noch Lehrer sein kann.»Gleiche Ackerlose «ist leicht gesagt; aber wieviel Bitterkeit erzeugt sich durch die dabei nötig werdende Trennung und Scheidung, durch den Verlust von altverehrtem Besitz, wieviel Pietät wird verletzt und geopfert! Man gräbt die Moralität um, wenn man die Grenzsteine umgräbt. Und wieder, wieviel neue Bitterkeit unter den neuen Besitzern, wieviel Eifersucht und Scheelsehen, da es zwei wirklich gleiche Ackerlose nie gegeben hat, und wenn es solche gäbe, der menschliche Neid auf den Nachbar nicht an deren Gleichheit glauben würde. Und wie lange dauerte diese schon in der Wurzel vergiftete und ungesunde Gleichheit! In wenigen Geschlechtern war durch Erbschaft hier das eine Los auf fünf Köpfe, dort waren fünf Lose auf einen Kopf gekommen: und im Falle man durch harte Erbschafts-Gesetze solchen Mißständen vorbeugte, gab es zwar noch die gleichen Ackerlose, aber dazwischen Dürftige und Unzufriedene, welche nichts besaßen, außer der Mißgunst auf die Anverwandten und Nachbarn und dem Verlangen nach dem Umsturz aller Dinge. — Will man aber, nach dem zweiten Rezepte, das Eigentum der Gemeinde zurückgeben und den einzelnen nur zum zeitweiligen Pächter machen, so zerstört man das Ackerland. Denn der Mensch ist gegen alles was er nur vorübergehend besitzt, ohne Vorsorge und Aufopferung, er verfährt damit ausbeuterisch, als Räuber oder als liederlicher Verschwender. Wenn Plato meint, die Selbstsucht werde mit der Aufhebung des Besitzes aufgehoben, so ist ihm zu antworten, daß, nach Abzug der Selbstsucht, vom Menschen jedenfalls nicht die vier Kardinaltugenden übrig bleiben werden, — wie man sagen muß: die ärgste Pest könnte der Menschheit nicht so schaden, als wenn eines Tages die Eitelkeit aus ihr entschwände. Ohne Eitelkeit und Selbstsucht — was sind denn die menschlichen Tugenden? Womit nicht von ferne gesagt sein soll, daß es nur Namen und Masken von jenen seien. Platos utopistische Grundmelodie, die jetzt noch von den Sozialisten fortgesungen wird, beruht auf einer mangelhaften Kenntnis des Menschen: ihm fehlte die Historie der moralischen Empfindungen, die Einsicht in den Ursprung der guten nützlichen Eigenschaften der menschlichen Seele. Er glaubte, wie das ganze Altertum, an Gut und Böse, wie an Weiß und Schwarz: also an eine radikale Verschiedenheit der guten und der bösen Menschen, der guten und der schlechten Eigenschaften. — Damit der Besitz fürderhin mehr Vertrauen einflöße und moralischer werde, halte man alle Arbeitswege zum kleinen Vermögen offen, aber verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung; man ziehe alle Zweige des Transports und Handels, welche der Anhäufung großer Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel, aus den Händen der Privaten und Privatgesellschaften — und betrachte ebenso die Zuviel- wie die Nichts-Besitzer als gemeingefährliche Wesen.
Der Wert der Arbeit. — Wollte man den Wert der Arbeit danach bestimmen, wieviel Zeit, Fleiß, guter und schlechter Wille, Zwang, Erfindsamkeit oder Faulheit, Ehrlichkeit oder Schein darauf verwendet ist, so kann der Wert niemals gerecht sein; denn die ganze Person müßte auf die Waagschale gesetzt werden können, was unmöglich ist. Hier heißt es» richtet nicht!«Aber der Ruf nach Gerechtigkeit ist es ja, den wir jetzt von denen hören, welche mit der Abschätzung der Arbeit unzufrieden sind. Denkt man weiter, so findet man jede Persönlichkeit unverantwortlich für ihr Produkt, die Arbeit: ein Verdienst ist also niemals daraus abzuleiten, jede Arbeit ist so gut oder schlecht, wie sie bei der und der notwendigen Konstellation von Kräften und Schwächen, Kenntnissen und Begehrungen sein muß. Es steht nicht im Belieben das Arbeiters, ob er arbeitet; auch nicht, wie er arbeitet. Nur die Gesichtspunkte des Nutzens, engere und weitere, haben Wertschätzung der Arbeit geschaffen. Das, was wir jetzt Gerechtigkeit nennen, ist auf diesem Felde sehr wohl am Platz als eine höchst verfeinerte Nützlichkeit, welche nicht auf den Moment nur Rücksicht nimmt und die Gelegenheit ausbeutet, sondern auf Dauerhaftigkeit aller Zustände sinnt und deshalb auch das Wohl des Arbeiters, seine leibliche und seelische Zufriedenheit ins Auge faßt, — damit er und seine Nachkommen gut auch für unsere Nachkommen arbeiten und noch auf längere Zeiträume, als das menschliche Einzelleben ist, hinaus zuverlässig werden. Die Ausbeutung des Arbeiters war, wie man jetzt begreift, eine Dummheit, ein Raub-Bau auf Kosten der Zukunft, eine Gefährdung der Gesellschaft. Jetzt hat man fast schon den Krieg: und jedenfalls werden die Kosten, um den Frieden zu erhalten, um Verträge zu schließen und Vertrauen zu erlangen, nunmehr sehr groß sein, weil die Torheit der Ausbeutenden sehr groß und langdauernd war.
Vom Studium des Gesellschafts-Körpers. — Das Übelste für den, welcher jetzt in Europa, namentlich in Deutschland, Ökonomik und Politik studieren will, liegt darin, daß die tatsächlichen Zustände, anstatt die Regeln zu exemplifizieren, die Ausnahme oder die Übergangs- und Ausgangsstadien exemplifizieren. Man muß deshalb über das tatsächlich Bestehende erst hinwegsehen lernen und zum Beispiel den Blick fernhin auf Nordamerika richten, — wo man die anfänglichen und normalen Bewegungen des gesellschaftlichen Körpers noch mit den Augen sehen und aufsuchen kann, wenn man nur will, — während in Deutschland dazu schwierige historische Studien oder, wie gesagt, ein Fernglas nötig sind.
Inwiefern die Maschine demütigt. — Die Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit seinen Stolz, sein individuell Gutes und Fehlerhaftes, was an jeder Nicht-Maschinenarbeit klebt, — also sein bißchen Humanität. Früher war alles Kaufen von Handwerkern ein Auszeichnen von Personen, mit deren Abzeichen man sich umgab: der Hausrat und die Kleidung wurde dergestalt zur Symbolik gegenseitiger Wertschätzung und persönlicher Zusammengehörigkeit, während wir jetzt nur inmitten anonymen und unpersönlichen Sklaventums zu leben scheinen. — Man muß die Erleichterung der Arbeit nicht zu teuer kaufen.
Hundertjährige Quarantäne. — Die demokratischen Einrichtungen sind Quarantäne-Anstalten gegen die alte Pest tyrannenhafter Gelüste: als solche sehr nützlich und sehr langweilig.
Der gefährlichste Anhänger. — Der gefährlichste Anhänger ist der, dessen Abfall die ganze Partei vernichten würde: also der beste Anhänger.
Das Schicksal und der Magen. — Ein Butterbrot mehr oder weniger im Leibe des Jockeys entscheidet gelegentlich über Wettrennen und Wetten, also über Glück und Unglück von Tausenden. — Solange das Schicksal der Völker noch von den Diplomaten abhängt, werden die Mägen der Diplomaten immer der Gegenstand patriotischer Beklemmung sein. Quosque tandem —
Sieg der Demokratie. — Es versuchen jetzt alle politischen Mächte, die Angst vor dem Sozialismus auszubeuten, um sich zu stärken. Aber auf die Dauer hat doch allein die Demokratie den Vorteil davon: denn alle Parteien sind jetzt genötigt, dem» Volke «zu schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird. Das Volk ist vom Sozialismus, als einer Lehre von der Veränderung des Eigentumerwerbes, am entferntesten: und wenn es erst einmal die Steuerschraube in den Händen hat, durch die großen Majoritäten seiner Parlamente, dann wird es mit der Progressivsteuer dem Kapitalisten-, Kaufmanns- und Börsenfürstentum an den Leib gehen und in der Tat langsam einen Mittelstand schaffen, der den Sozialismus wie eine überstandene Krankheit vergessen darf.- Das praktische Ergebnis dieser um sich greifenden Demokratisierung wird zunächst ein europäischer Völkerbund sein, in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen Zweckmäßigkeiten abgegrenzt, die Stellung eines Kantons und dessen Sonderrechte innehat: mit den historischen Erinnerungen der bisherigen Völker wird dabei wenig noch gerechnet werden, weil der pietätvolle Sinn für dieselben unter der neuerungssüchtigen und versuchslüsternen Herrschaft des demokratischen Prinzips allmählich von Grund aus entwurzelt wird. Die Korrekturen der Grenzen, welche dabei sich nötig zeigen, werden so ausgeführt, daß sie dem Nutzen der großen Kantone und zugleich dem des Gesamtverbandes dienen, nicht aber dem Gedächtnisse irgend welcher vergrauten Vergangenheit. Die Gesichtspunkte für diese Korrekturen zu finden wird die Aufgabe der zukünftigen Diplomaten sein, die zugleich Kulturforscher, Landwirte, Verkehrskenner sein müssen und keine Heere, sondern Gründe und Nützlichkeiten hinter sich haben. Dann erst ist die äußere Politik mit der inneren unzertrennbar verknüpft: während jetzt immer noch die letztere ihrer stolzen Gebieterin nachläuft und im erbärmlichen Körbchen die Stoppelähren sammelt, die bei der Ernte der ersteren übrig bleiben.
Ziel und Mittel der Demokratie. — Die Demokratie will möglichst vielen Unabhängigkeit schaffen und verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs. Dazu hat sie nötig, sowohl den Besitzlosen als den eigentlich Reichen das politische Stimmrecht abzusprechen: als den zwei unerlaubten Menschenklassen, an deren Beseitigung sie stetig arbeiten muß, weil diese ihre Aufgabe immer wieder in Frage stellen. Ebenso muß sie alles verhindern, was auf die Organisation von Parteien abzuzielen scheint. Denn die drei großen Feinde der Unabhängigkeit in jenem dreifachen Sinne sind die Habenichtse, die Reichen und die Parteien. — Ich rede von der Demokratie als von etwas Kommendem. Das, was schon jetzt so heißt, unterscheidet sich von den älteren Regierungsformen allein dadurch, daß es mit neuen Pferden fährt: die Straßen sind noch die alten, und die Räder sind auch noch die alten. — Ist die Gefahr bei diesen Fuhrwerken des Völkerwohls wirklich geringer geworden?
Die Besonnenheit und der Erfolg. — Jene große Eigenschaft der Besonnenheit, welche im Grunde die Tugend der Tugenden, ihre Urgroßmutter und Königin ist, hat im gewöhnlichen Leben keineswegs immer den Erfolg auf ihrer Seite: und der Freier würde sich getäuscht finden, der nur des Erfolgs wegen sich um jene Tugend beworben hätte. Sie gilt nämlich unter den prak- tischen Leuten für verdächtig und wird mit der Hinterhaltigkeit und heuchlerischen Schlauheit verwechselt: wem dagegen ersichtlich die Besonnenheit abgeht, — der Mann, der rasch zugreift und auch einmal danebengreift, hat das Vorurteil für sich, ein biederer, zuverlässiger Geselle zu sein. Die praktischen Leute mögen also den Besonnenen nicht, er ist für sie, wie sie meinen, eine Gefahr. Andererseits nimmt man den Besonnenen leicht als ängstlich, befangen, pedantisch — die unpraktischen und genießenden Leute gerade finden ihn unbequem, weil er nicht leichthin lebt wie sie, ohne an das Handeln und die Pflichten zu denken: er erscheint unter ihnen wie ihr leibhaftes Gewissen, und der helle Tag wird bei seinem Anblick ihrem Auge bleich. Wenn ihm also der Erfolg und die Beliebtheit fehlen, so mag er sich immer zum Troste sagen:»so hoch sind eben die Steuern, welche du für den Besitz des köstlichsten Gutes unter Menschen zahlen mußt, — er ist es wert!»
Et in Arcadia ego. — Ich sah hinunter, über Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch Tannen und altersernste Fichten hindurch: Felsbrocken aller Art um mich, der Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Herde bewegte, streckte und dehnte sich vor mir; einzelne Kühe und Gruppen ferner, im schärfsten Abendlichte, neben dem Nadelgehölz; andere näher, dunkler; alles in Ruhe und Abendsättigung. Die Uhr zeigte gegen halb sechs. Der Stier der Herde war in den weißen, schäumenden Bach getreten und ging langsam widerstrebend und nachgebend seinem stürzenden Laufe nach: so hatte er wohl seine Art von grimmigem Behagen. Zwei dunkelbraune Geschöpfe, bergamasker Herkunft, waren die Hirten: das Mädchen fast als Knabe gekleidet. Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend — alles groß, still und hell. Die gesamte Schönheit wirkte zum Schaudern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung; unwillkürlich, wie als ob es nichts Natürlicheres gäbe, stellte man sich in diese reine scharfe Lichtwelt (die gar nichts Sehnendes, Erwartendes, Vor- und Zurückblickendes hatte) griechische Heroen hinein; man mußte wie Poussin und sein Schüler empfinden: heroisch zugleich und idyllisch. — Und so haben einzelne Menschen auch gelebt, so sich dauernd in der Welt und die Welt in sich gefühlt, und unter ihnen einer der größten Menschen, der Erfinder einer heroisch-idyllischen Art zu philosophieren: Epikur.
Rechnen und messen. — Viele Dinge sehen, miteinander erwägen, gegeneinander abrechnen und aus ihnen einen schnellen Schluß, eine ziemlich sichere Summe bilden, — das macht den großen Politiker, Feldherrn, Kaufmann: also die Geschwindigkeit in einer Art von Kopfrechnen. Eine Sache sehen, in ihr das einzige Motiv zum Handeln, die Richterin alles übrigen Handelns finden, macht den Helden, auch den Fanatiker — also eine Fertigkeit im Messen mit einem Maßstabe.
Nicht unzeitig sehen wollen. — Solange man etwas erlebt, muß man dem Erlebnis sich hingeben und die Augen schließen, also nicht darin schon den Beobachter machen. Das nämlich würde die gute Verdauung des Erlebnisses stören: anstatt einer Weisheit trüge man eine Indigestion davon.
Aus der Praxis des Weisen. — Um weise zu werden, muß man gewisse Erlebnisse erleben wollen, also ihnen in den Rachen laufen. Sehr gefährlich ist dies freilich; mancher» Weise «wurde dabei aufgefressen.
Die Ermüdung des Geistes. — Unsere gelegentliche Gleichgültigkeit und Kälte gegen Menschen, welche uns als Härte und Charaktermangel ausgelegt wird, ist häufig nur eine Ermüdung des Geistes: bei dieser sind uns die Anderen, wie wir uns selber, gleichgültig oder lästig.
«Eins ist not.«— Wenn man klug ist, ist einem allein darum zu tun, daß man Freude im Herzen habe. — Ach, setzte jemand hinzu, wenn man klug ist, tut man am besten, weise zu sein.
Ein Zeugnis der Liebe. — Jemand sagte:»Über zwei Personen habe ich nie gründlich nachgedacht: es ist das Zeugnis meiner Liebe zu ihnen.»
Wie man schlechte Argumente zu verbessern sucht — Mancher wirft seinen schlechten Argumenten noch ein Stück seiner Persönlichkeit hintennach, wie als ob jene dadurch richtiger ihre Bahn laufen würden und sich in gerade und gute Argumente verwandeln ließen; ganz wie die Kegelschieber auch nach dem Wurfe noch mit Gebärden und Schwenkungen der Kugel die Richtung zu geben suchen.
Die Rechtlichkeit. — Es ist noch wenig, wenn man in bezug auf Rechte und Eigentum ein Muster- Mensch ist; wenn man zum Beispiel als Knabe nie Obst in fremden Gärten nimmt, als Mann nicht über ungemähte Wiesen läuft, — um kleine Dinge zu nennen, welche wie bekannt, den Beweis für diese Art von Musterhaftigkeit besser geben als große. Es ist noch wenig: man ist dann immer erst eine» juristische Person«, mit jenem Grad von Moralität, deren sogar eine» Gesellschaft«, ein Menschen-Klumpen fähig ist.
Mensch! — Was ist die Eitelkeit des eitelsten Menschen gegen die Eitelkeit, welche der Bescheidenste besitzt, in Hinsicht darauf, daß er sich in der Natur und Welt als» Mensch «fühlt.
Nötigste Gymnastik. — Durch den Mangel an kleiner Selbstbeherrschung bröckelt die Fähigkeit zur großen ab. Jeder Tag ist schlecht benutzt und eine Gefahr für den nächsten, an dem man nicht wenigstens einmal sich etwas im kleinen versagt hat: diese Gymnastik ist unentbehrlich, wenn man sich die Freude, sein eigener Herr zu sein, erhalten will.
Sich selber verlieren. — Wenn man erst sich selber gefunden hat, muß man verstehen, sich von Zeit zu Zeit zu verlieren — und dann wieder zu finden: vorausgesetzt daß man ein Denker ist. Diesem ist es nämlich nachteilig, immerdar an eine Person gebunden zu sein.
Wann Abschied nehmen not tut. — Von dem, was du erkennen und messen willst, mußt du Abschied nehmen, wenigstens auf eine Zeit. Erst wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Türme über die Häuser erheben.
Am Mittag. — Wem ein tätiger und stürmereicher Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die monden- und jahrelang dauern kann. Es wird still um ihn, die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den großen Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte — so dünkt es ihm. Er will nichts, er sorgt sich um nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, — es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück. — Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mittag ist vorbei, das Leben reißt ihn wieder an sich, das Leben mit blinden Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug, Vergessen, Genießen, Vernichten, Vergänglichkeit. Und so kommt der Abend herauf, stürmereicher und tatenvoller, als selbst der Morgen war. — Den eigentlich tätigen Menschen erscheinen die länger währenden Zustände des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht unangenehm.
Sich vor seinem Maler hüten. — Ein großer Maler, der in einem Porträt den vollsten Ausdruck und Augenblick, dessen ein Mensch fähig ist, enthüllt und niedergelegt hat, wird von diesem Menschen, wenn er ihn später im wirklichen Leben wiedersieht, fast immer nur eine Karikatur zu sehen glauben.
Die zwei Grundsätze des neuen Lebens. — Erster Grundsatz: man soll das Leben auf das Sicherste, Beweisbarste hin einrichten: nicht wie bisher auf das Entfernteste, Unbestimmteste, Horizont-Wolken- hafteste hin. Zweiter Grundsatz: man soll sich die Reihenfolge des Nächsten und Nahen, des Sicheren und weniger Sicheren feststellen, bevor man sein Leben einrichtet und in eine endgültige Richtung bringt.
Gefährliche Reizbarkeit. — Begabte Menschen, die aber träge sind, werden immer etwas gereizt erscheinen, wenn einer ihrer Freunde mit einer tüchtigen Arbeit fertig geworden ist. Ihre Eifersucht ist rege, sie schämen sich ihrer Faulheit — oder vielmehr, sie befürchten, der Tätige verachte sie gegenwärtig noch mehr als sonst. In dieser Stimmung kritisieren sie das neue Werk — und ihre Kritik wird zur Rache, zum höchsten Befremden des Urhebers.
Zerstören der Illusionen. — Die Illusionen sind gewiß kostspielige Vergnügungen: aber das Zerstören der Illusionen ist noch kostspieliger — als Vergnügen betrachtet, was es unleugbar für manchen Menschen ist.
Das Eintönige des Weisen. — Die Kühe haben mitunter den Ausdruck der Verwunderung, die auf dem Wege zur Frage stehen bleibt. Dagegen liegt im Auge der höheren Intelligenz das nil admirari ausgebreitet wie die Eintönigkeit des wolkenlosen Himmels.
Nicht zu lange krank sein. — Man hüte sich, zu lange krank zu sein: denn bald werden die Zuschauer durch die übliche Verpflichtung, Mitleiden zu bezeigen, ungeduldig, weil es ihnen zuviel Mühe macht, diesen Zustand lange bei sich aufrecht zu erhalten — und dann gehen sie unmittelbar zur Verdächtigung eures Charakters über, mit dem Schlusse:»ihr verdient es krank zu sein, und wir brauchen uns nicht mehr mit Mitleiden anzustrengen.»
Wink für Enthusiasten. — Wer gern hinge- rissen werden will und sich leicht nach oben tragen lassen möchte, soll zusehen, daß er nicht zu schwer werde: das heißt zum Beispiel, daß er nicht viel lerne und namentlich von der Wissenschaft sich nicht erfüllen lasse. Diese macht schwerfällig! — nehmt euch in Acht, ihr Enthusiasten!
Sich zu überraschen wissen. — Wer sich selber sehen will, so wie er ist, muß es verstehen, sich selber zu überraschen, mit der Fackel in der Hand. Denn es steht mit dem Geistigen so, wie es mit dem Körperlichen steht: wer gewohnt ist, sich im Spiegel zu schauen, vergißt immer seine Häßlichkeit: erst durch den Maler bekommt er den Eindruck derselben wieder. Aber er gewöhnt sich auch an das Gemälde und vergißt seine Häßlichkeit zum zweiten Male. — Dies nach dem allgemeinen Gesetze, daß der Mensch das Unveränderlich-Häßliche nicht erträgt: es sei denn auf einen Augenblick; er vergißt es oder leugnet es in allen Fällen. — Die Moralisten müssen auf jenen» Augenblick «rechnen, um ihre Wahrheiten vorbringen zu dürfen.
Meinungen und Fische. — Man ist Besitzer seiner Meinungen, wie man Besitzer von Fischen ist, — insofern man nämlich Besitzer eines Fischteiches ist. Man muß fischen gehen und Glück haben, — dann hat man seine Fische, seine Meinungen. Ich rede hier von lebendigen Meinungen, von lebendigen Fischen. Andere sind zufrieden, wenn sie ein Fossilien-Kabinett besitzen — und, in ihrem Kopfe,»Überzeugungen«.
Anzeichen von Freiheit und Unfreiheit. — Seine notwendigen Bedürfnisse soviel wie möglich selber befriedigen, wenn auch unvollkommen, das ist die Richtung auf Freiheit von Geist und Person. Viele, auch überflüssige Bedürfnisse sich befriedigen lassen, und so vollkommen als möglich, — erzieht zur Unfreiheit. Der Sophist Hippias, der alles was er trug, innen und außen, selbst erworben, selber gemacht hatte, entspricht eben damit der Richtung auf höchste Freiheit des Geistes und der Person. Nicht darauf kommt es an, daß alles gleich gut und vollkommen gearbeitet ist; der Stolz flickt schon die schadhaften Stellen aus.
Sich selber glauben. — In unserer Zeit mißtraut man jedem, der an sich selber glaubt; ehemals genügte es, um an sich glauben zu machen. Das Rezept, um jetzt Glauben zu finden, heißt:»Schone dich selber nicht! Willst du deine Meinung in ein glaubwürdiges Licht setzen, so zünde zuerst die eigene Hütte an!»