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13. Dezember

Katrin wachte auf und fragte sich, wozu. Es begann ein Tag, von dem sie schon mit geschlossenen Augen wusste, dass er nicht heller werden würde, wenn sie die Augen öffnete. An solchen Tagen opferte man die Geborgenheit unter der Bettdecke für die Gewissheit, dass es außerhalb nichts Befriedigenderes geben würde, als Pflichten zu erledigen. An solchen Tagen unternahm man hundert Anläufe sich einzubilden, dass man es gut erwischt hatte, dass alles in Ordnung sei, dass man sich nicht beklagen dürfe. Das war das Allerschlimmste an solchen Tagen: Sie ödeten einen ununterbrochen an, vom Zeitpunkt des unseligen Aufwachens bis zur rettenden Umklammerung des Kopfpolsters in der darauf folgenden Nacht, und man durfte sich nicht beklagen, denn man hatte es gut erwischt.

Man war zum Beispiel Augenarztassistentin und durfte sechs Stunden optisch-soziale Fließbandarbeit verrichten, musste sich dabei seine gute Laune wie mit einem Schraubschlüssel an der dafür verantwortlichen Stelle des Gehirns aufdrehen, um den Patienten kundenservicemäßig zu veranschaulichen, was aus so einem gottverdammt finsteren Dezembertag an Heiterkeit und Lebenslust herauszuquetschen sei. Dafür erntete man bestenfalls Lob nach Schema Werbeprogramm, für blendend weiße Zähne oder strahlend grüne Augen, häufiger aber noch Neid, weil die mieselsüchtige Menschheit glaubte, man hätte es, heiter und lebenslustig, wie man sogar noch an solchen Tagen zu sein schien, ganz besonders gut erwischt.

Katrin wachte auf und wünschte sich sofort ein Stück Birnenkuchen, um den bitteren Geschmack der sinnlos mit ihr aus dem Schlaf gerissenen Vorweihnachtszeit hinunterzuschlucken. Sie war trotzig wie ein kleines Kind, sie zappelte im Bett und ihr war nach weinen zumute, weil es niemanden gab, der ihr am Beginn dieses Tages, der nur zum Vergehen da war, ein Stück Birnenkuchen in den Mund schob und ihr über die Haare fuhr. Warum rief er nicht an? Warum lud er sie nicht wieder ein? Warum nicht jetzt? Worauf wartete er? Sie hatte nur noch eine Stunde Zeit. Sie hatte es ja gut erwischt und durfte in Kürze den ersten ihrer zwei Dutzend anstehenden Patienten begrüßen.

Seine E-Mail hatte sie erst am späten Abend gelesen. Ja, sie wäre gern mit Hund und Herrl in den Esterhazypark gegangen, sie mochte diesen Kurt, wie er nichts tat, und diesen Max, obwohl er nichts tat. Oder weil er nichts tat? Sie mochte den Nebel, aber sie mochte ihn nicht allein (da hatte sie Angst vor seiner umhüllenden Tristesse), nur in Begleitung, und nicht in irgendeiner Begleitung. Es wäre ein schöner Spaziergang gewesen und nachher hätten sie ja noch etwas trinken gehen können, Glühwein, ja, warum nicht Glühwein, warum nicht rot anlaufen vor innerer Hitze. Bei Max konnte man bestimmt rot anlaufen, ohne sich dafür zu genieren.

Stattdessen war sie wegen eines »akuten Notfalls« bei Beate gesessen. Joe hatte ihr seine aktuelle Frauengeschichte verraten. Katrin riet ihr, ihn endlich stehen zu lassen. Beate fragte Katrin, was sie falsch mache. Katrin dachte »alles« und sagte: »Wird schon werden.« Die traditionelle Zeremonie dauerte drei Stunden. Als Belohnung gab es zwischendurch Spaghetti Bolognese nach Beates Art. Katrin ging hungrig und leer nach Hause.

Am Abend hatte er ihr noch einmal aufs Band gesprochen. »Kurt muss jetzt schon dringend. Lange können wir nicht mehr auf dich warten.« Katrin hatte seinen Spruch gespeichert und dreimal hintereinander gehört. Und vor dem Schlafengehen hatte sie ihn noch einmal gehört. Es war ein schöner Spruch, Max hatte eine angenehme Stimme. Als Kind hatte sie sich immer Spieluhren ans Ohr gelegt. So ähnlich klang der Spruch für sie. Seine Stimme hatte Melodie. Oh doch, er war - nett. Und er hatte einen netten, ruhigen Hund.

Im Wartezimmer - und das passte zu dem Tag - saß Aurelius. Katrin erkannte ihn schon an der Art, wie er Zeitung las. Wenn einem Bildhauer die ruhmreichen Posen ausgegangen waren, dann musste er nur Aurelius sehen, wie er Zeitung las, und schon hatte er die ideale Vorlage für ein monströses Denkmal eines Vertreters der obersten Bildungselite.

Der lesende Aurelius hielt die Linke heldenepisch vor die Brust, bildete aus den Fingern eine Trinkschüssel und legte den Ellbogen des rechten Armes so hinein, dass der Unterarm senkrecht in die Höhe ragte und der Zeigefinger nur wenige Zentimeter vor der rechten Schläfe des seitlich gebeugten Kopfes endete, während der Daumen in der Kinngrube einrastete. Das Gesicht des lesenden Aurelius wirkte in seiner vollen Konzentration geradezu schmerzverzerrt. Man sah einen Mann, der las, um zu denken, und dem dieses Denken unweigerlich weh tun musste, weil sein Gehirn mit Wissensinhalten und Lebensweisheiten bereits prall gefüllt war.

Las er nun Zeitung - und es war stets das größte Format einer Zeitung, das da vor ihm lag -, so drängten pausenlos neue Ansichten und Gesichtspunkte in die mit Erkenntnisreichtum bereits voll besetzten Ganglienzellen. - Diesen Druck sah man Aurelius an, deshalb das schmerzverzerrte Gesicht. Linderung wäre erst eingetreten, hätte Aurelius die Möglichkeit gehabt, überschüssige Erkenntnisse an Zuhörer abzuladen, ihnen ein bisschen etwas von der Welt zu erklären. Aber zum Weitblick-Schärfen der geistig unterprivilegierten Menschheit war der Warteraum einer Augenarztpraxis nicht der richtige Ort. So las er für sich, litt dabei vor stiller Weisheit und wartete auf seinen Termin.

Katrin wusste natürlich, dass er wegen ihr gekommen war. Seit es aus war zwischen ihnen, das heißt: seit Katrin klar war, dass es nicht anfangen würde, kam er alle paar Wochen. Zunächst schob er Gebüschzeilen von dunkelroten Rosen via Boten vor, um am nächsten Tag als zweite, noch originellere Überraschung persönlich vor der Tür zu stehen. Als Katrin zweimal hintereinander »leider nicht alleine« war und ihn mittels Sprechanlage abfertigte, disponierte er um und besuchte sie in der Praxis von Dr. Harrlich. Es hatte für ihn den zweifelhaften Vorteil, dass sie ihm dort in die Augen schauen musste, wenn sie sagte: »Aurelius, du weißt, ich mag dich, aber das wird nichts aus uns beiden.« Er bezahlte dafür per Krankenschein.

Die schöne Zeit mit Aurelius lag genau ein Jahr zurück (und hatte elf Tage gedauert). Sie lernten einander im Einkaufszentrum Süd kennen. Dort war ein Weihnachtsmann beim Verteilen von Werbegutscheinen umgekippt. Die Kinder lachten und auch die älteren Passanten fanden die Showeinlage gut. Katrin beugte sich über den Liegenden und befreite ihn von seiner Vermummung. Eine hochprozentige Rum-Wolke entwich. Der Weihnachtsmann war betrunken und bewusstlos. »Ist ein Arzt hier?«, rief Katrin in die geschockte Menge. - Nein, es war keiner da. Nur ein wunderschöner Mann mit goldbrauner Gesichtsfarbe im dunkelgrauen Sakko über einem hellgrauen Gilet über einem weißgrau ge streiften Hemd unter einem schwarzgrauen Wintermantel, alles mindestens Versace (außer der Gesichtsfarbe, die stammte aus dem Solarium). Es war Aurelius.

Er hob den Nacken des Weihnachtsmannes, Katrin tätschelte sein Gesicht. Aurelius pumpte an der Brust des Scheinheiligen, Katrin untersuchte dessen Augen. In zehn Minuten hatten sie ihn wieder bei Bewusstsein, eine halbe Stunde brauchten sie, um ihn an eine Wand zu lehnen, an der er Halt finden konnte. Danach lud der Helfer die Helferin auf ein Glas Sekt ein.

Für den nächsten Abend hatte er Konzertkarten. Am dritten Abend führte er sie ins Theater. Anschließend zeigte er ihr bei einem so genannten Jahrgangs-Champagner (hatte nicht jeder Champagner einen Jahrgang, fragte sich Katrin) einige Räumlichkeiten seiner zweihundert Quadratmeter großen Dachetagenwohnung. Ihr blieb der Mund offen und sie war beschwipst. Er nützte die Situation nicht aus, obwohl es sie nicht gestört hätte. Er brachte sie nach Hause und lieferte sie vor dem Haustor ab, obwohl er gern hätte mitgehen können. Er verabschiedete sich mit Handkuss, obwohl sich Katrin schon in unangebrachteren Momenten zu einem Kuss hatte hinreißen lassen. Das konnte Liebe werden, dachte Katrin.

Die Schulmeister-Hofmeisters trauten ihren Ohren nicht, als sie von Aurelius erfuhren. Das war am vierten Abend. »Es ist noch zu früh, etwas zu sagen«, verriet sie sich am Telefon. »Goldschatz, was ist er?«, fragte die Mutter, dem Herzinfarkt nahe. »Mama, er ist nicht, er hat«, erwiderte Katrin und zählte auf. Ihr selbst war sein Besitztum egal bis höchstens angenehm. Aber sie wusste, wie sehr die Eltern den Wert ihrer Tochter (und somit den Wert ihrer Erziehung) an der materiellen Ausstattung des potenziellen Schwiegersohnes maßen. Nach fünf Minuten musste der Vater den Hörer übernehmen. Die Mutter brauchte beide Hände für ein Dankesgebet an den Schöpfer.

Am fünften Abend erklärte er Katrin im teuersten Haubenlokal der Stadt, zu Rehmedaillons, dem vierten Gang des Degustationsmenüs, die Liebe. Erstens erklärte er, was Liebe war. (Es fielen Ausdrücke wie »Nestwärme«, »schützende Hand«, »Seite an Seite kämpfen«, »Treue bis in den Tod«, »Altersvorsorge«, »Stammbaum« und »gemeinsames Erbe«. Sex war nicht dabei.) Zweitens erklärte er, dass er sie liebte.

»Ist das nicht ein bisschen früh, so etwas zu sagen?«, fragte Katrin und freute sich schon auf den noch ausständigen gemischten Dessertteller. »Liebe ist nicht früh oder spät«, erwiderte Aurelius und putzte mit der Stoffserviette etwa zehn Sekunden an jeder Mundecke. »Liebe ist, oder sie ist nicht.« Er hob sein Kinn, bis der Nasenrücken parallel zur Tischplatte stand, fasste Katrin an beiden Händen und hauchte vervollständigend: »Und sie ist!«

An diesem Abend saßen sie noch lange an einem seiner beiden offenen Kamine und starrten gemeinsam ins Feuer. Dabei erklärte er ihr Teile der Welt. Sie hörte interessiert zu und redete nur in unbedingten Notfällen dagegen, zum Beispiel beim Thema »Arm und reich«. Dazu wusste er, dass in dieser Welt kein fleißiger Mensch arm sein musste. Katrin wollte die harmonische Stimmung nicht gefährden, sie zählte nur fünf Gegenbeispiele auf und erwähnte einige afrikanische Länder. Man einigte sich darauf, dass kein fleißiger Sohn eines Millionärs arm sein musste.

Unterschiedlicher Ansicht waren sie auch, was den außerehelichen Beischlaf anlangte. Darum ging es am sechsten gemeinsamen Abend. Da machte ihr Aurelius einen Heiratsantrag. Sie lachte halbsüß (es war eine Mischung aus geschmeichelt und bedrängt) und fragte liebevoll: »Bist du verrückt?« Und fügte hinzu: »Wir haben ja noch nicht einmal miteinander geschlafen.« - Eben, darum freue er sich ja auch schon so sehr auf die Hochzeitsnacht, stellte sich sogleich heraus. »Ich kann es gar nicht erwarten«, gestand er ihr mit einem unbeabsichtigten Ausdruck von Schalk in den Augen.

»Ich heirate sicher nicht in den nächsten zwei Jahren«, sagte Katrin, so zärtlich der Inhalt der Worte es zuließ. Aurelius räusperte sich und griff an die Innenseite seines Sakkos, als wollte er einen Kalender zücken. »Ich glaube, wir sollten die Sache einmal überschlafen«, erwiderte er nobel brüskiert und zwang sich zu einem tapferen Lächeln. Als sie gerade ausreichend Luft geholt hatte, um ihn zu fragen, ob sie bei ihm nächtigen dürfe, fragte er: »Darf ich dich nach Hause bringen?« - »Ja, das wäre nett«, antwortete sie. Bei der Verabschiedung gab es überraschenderweise einen Kuss auf den Mund. Das heißt: Ein Kuss war es zwar nicht, aber die Richtung stimmte.

Katrin musste sich eingestehen, dass sie die Situation als aufregend empfand und dass sich Aurelius mit seiner »Hochzeitsnacht« interessanter gemacht hatte als durch seine angeborene Weltweisheit und den zugeerbten Komfort. Es reizte sie, ihn zu verführen. Nein: Es reizte sie, ihn zu reizen, sie zu verführen. Das war ihr Programm der Abende sechs bis zehn; nichts Anspruchsvolles, eher ein Unterhaltungsprogramm. Bei der Auswahl der dazu passenden Garderobe fiel ihr erst auf, wie viel Gewand sie nicht für sich selbst gekauft hatte.

Um es zu verkürzen: Aurelius wusste bald nicht mehr, wo er seine Blicke ruhen lassen und seine Finger verstecken konnte. Er war verwirrt. Er erzählte nur noch Halbweisheiten; er war von Katrins körperlichen Provokationen so betört, dass er seine Ausführungen mitten in Schlüsselsätzen beendete. Er legte die größten aller großformatigen Zeitungen zur Seite, um sie anzustarren. Er abonnierte ihre Hände für Streichelorgien. Er schickte ihr Kussmünder in Sekundenintervallen. Er himmelte sie an.

Er lud sie von nun an täglich ein, bei ihm zu übernachten. (Sie sagte täglich zu.) Wenn sie sich auszog, drehte er sich um. Es gab heftige Umarmungen im Bett. Er schnaufte zwar und seufzte und stöhnte, aber er berührte sie nie so, dass ihm dabei die Bremswirkung seiner Prinzipien versagte. Und sie blieb zu stolz, seine Bremsen händisch zu lösen. (Ein Griff wäre es gewesen, ein einziger.) So ließ sie ihn unter seiner auferlegten Askese leiden und genoss es, ihn dabei zu beobachten. Auch das war Erotik. Auch das war Sex. Auch das konnte Liebe sein oder werden, dachte sie.

Der elfte Abend mit Aurelius war der Heilige - und zugleich Katrins 29. Geburtstag. Er fiel insofern aus dem Rahmen, als sie ihn im Hause SchulmeisterHofmeister verbrachten, um nicht zu sagen »feierten«. Katrin hätte Aurelius nie mitgenommen, hätte er nicht darauf bestanden. Und sie hätte ihren Eltern nie einen Mann im Stadium des »Verehrens« zum »Stille-Nacht-Gesang« vor den Christbaum gestellt, hätten sie nicht förmlich darum gebettelt.

Gleich bei der Begrüßung war Katrin klar, wie sich der Abend entwickeln würde. Die Mutter fiel der Tochter weinend um den Hals und sagte: »Goldschatz, du weißt gar nicht, wie glücklich du uns machst.« Der Vater legte Aurelius den Arm um die Schulter und setzte einen vermutlich stundenlang vor dem Spiegel trainierten »Gratuliere-sie-gehört- jetzt-dir-sei-gut-zu-ihr«-Blick auf.

Anschließend wurde Aurelius durch die Räume der Altbauwohnung geführt, als stünde er unmittelbar vor der Übernahme derselben. Die Mutter startete eine erstaunlich lange Serie von Sätzen, die mit »Und da hat unsere Kleine immer« begannen. (Dann kam je nach Örtlichkeit: Barbie gespielt, Keksi genascht, Lulu gemacht und so weiter.)

Der Tisch war wahrscheinlich seit einer Woche für diesen Anlass geschmückt worden. Die Gedecke von Katrin und Aurelius waren etwa drei Millimeter voneinander getrennt. Aus den roten Servietten hatte Frau Schulmeister-Hofmeister Herzen geschnitten, die einander berührten.

Während des Essens erzählte die Mutter, wie man gute Weihnachtsgänse von schlechten Karpfen unterscheiden konnte, oder so ähnlich, und warum Katrin als Kind weder Gans noch Fisch gegessen hatte. (Weil sie sich von Schokobananen ernährt hatte.) Es waren Erzählungen, bei denen sich Zuhörer Gesichtsmuskelzerrungen einfingen, weil sie ein einmal aufgesetztes Lächeln nie mehr abbrechen durften, weil eine darauf gerichtete »lustige Geschichte« die nächste jagte. Mutter Schulmeister war eine begnadete Erzählerin solcher Geschichten.

»Und warum isst du heute nichts, Goldschatz?«, fragte sie in einer Pause. »Mir ist nicht besonders gut«, erwiderte Katrin. »Ja, die Liebe!«, sagte der Vater, zwinkerte der Mutter diabolisch zu, boxte Aurelius auf den Oberarm. Und alle drei lachten.

Sonst konzentrierte sich das Geschehen ganz auf den neuen Mann. Als er eine dritte Portion Rotkraut ablehnte, war die Mutter drauf und dran, sich aus dem Fenster zu stürzen. Nach dem Essen stimmte der Vater, bereits mit schwerem Zungenschlag vom Campari (bei dem er hängen geblieben war, weil niemand Wein trinken wollte), eine feierliche Tischrede an. Dazu verwendete er die Hand des jungen Mannes und schüttelte sie durchgehend: »Lieber Aurelius, wir freuen uns, dich hier und heute in unsere Familie aufnehmen zu dürfen. Nicht weil du eine Notariatskanzlei hast. Erfolg ist nicht alles. Geld ebenfalls nicht. Viel mehr zählt die Liebe. Glaub mir, du hast die beste Wahl getroffen, die du nur treffen konntest. Eine schönere und klügere Frau als meine Tochter wirst du nicht finden. Reden wir nicht lange herum, machen wir Nägel mit Köpfen ...« Die Mutter weinte. Aurelius tröstete sie. Katrin nützte die allgemeine Aufregung, um das Zimmer zu verlassen. Erst nach einer halben Stunde kam jemand nachsehen, wo sie geblieben war: auf der Toilette. Ihr war wirklich nicht gut.

Der Abend erfuhr noch eine Steigerung. Katrin kämpfte ihre Übelkeit mit Kognak nieder und verweigerte den Gesang von »O du Fröhliche«. Aurelius las zur Wiedergutmachung eine Weihnachtsgeschichte von Erich Kästner vor. Unter dem Christbaum lagen achtzehn Geschenke. Es lohnt sich nicht, ins Detail zu gehen: Katrin bekam von der Mutter die gesammelten Strickwerke des vergangenen Jahres und vom Vater einen himmelblauen Mikrowellenherd - mit dem Hinweis an Aurelius, er möge sich in Geduld üben; auch seine Frau Ernestine hätte das Kochen erst nach zehn Ehejahren erlernt. Die Männer lachten.

Die letzte Szene, die Katrin noch in Erinnerung hatte - sie hielt unbemerkt bei einer halben Flasche Kognak -, war die Übergabe eines goldenen Kolliers. Aurelius hängte es ihr plötzlich ansatzlos um den Hals. Es war so schwer, dass sie ihren Kopf kaum noch aufrecht halten konnte. Als die Mutter das Schmuckstück sah und die Anzahl der Karat erfuhr, traten ihr die Augen heraus. Katrin blickte apathisch in die Runde der Bestauner. »Das Kind ist sprachlos«, tröstete der Vater den Spender. »Jetzt gib ihm aber einen ganz, ganz dicken Kuss, Goldschatz!«, forderte Mutter die Beschenkte auf. Einen Tag später erfuhr Katrin, dass sie als Antwort »Nur über meine Leiche« gelallt haben soll, ehe sich ihr Kopf auf den Tisch gesenkt hatte.

Der zwölfte Tag war schon einer zu viel. Sie wachte im Bett neben Aurelius auf und musste sofort weg. Sie hatte das Gefühl, drei Köpfe zu spüren, die unter jeweils starken Schmerzen das Gleiche dachten: Verrat, Betrug, Verkauf, Schande. »Was machst du?«, fragte Aurelius schlaftrunken. »Ich gehe«, erwiderte Katrin. »Wohin?«, fragte er. »Nach Hause«, antwortete sie. »Du bist hier zu Hause, mein Schatz«, meinte er. »Das ist ein Irrtum«, murmelte sie. »Ich liebe dich nicht.« Das Kollier ließ sie zurück. Es wäre das Halsband gewesen, an dem ihr Aurelius die Leine anlegen wollte. Und die Eltern hätten sich mit der artgerechten Haltung ihrer Tochter im Goldkäfig einen Lebenswunsch erfüllt. Das war für Katrin noch bitterer als die neuerliche Desillusion von Liebe.

»Besser oder schlechter?«, fragte Katrin. »Schlechter«, sagte Aurelius. »Und jetzt?«, fragte Katrin. »Schlechter«, erwiderte Aurelius. »Okay, alles in Ordnung, du brauchst nach wie vor keine Brillen, wie schon vor drei Wochen«, sagte Katrin gelangweilt und hielt ihre rechte Hand im Anschlag, wie das Ärzte tun, für die Patienten da sind, um verabschiedet zu werden.

»Ich war bei deinen Eltern«, sagte Aurelius. Diese gefährliche Drohung verlor innerhalb des Jahres durch stete Wiederholung ihre Wirkung. »Sie meinen, es geht dir nicht besonders gut«, sagte Aurelius mitleidig. - »Meinen sie das?«, fragte Katrin. »Sie sagen, du bist sehr einsam«, verriet Aurelius. »Sie müssen es ja wissen«, antwortete Katrin mit zugekniffenen Augen.

»Denkst du gar nicht an unsere Zeit vor genau einem Jahr?«, fragte Aurelius und berührte ihre Schulter. »Nicht jede Minute«, erwiderte Katrin. »Ich fühle mich so ...« Katrin wusste, wie er sich fühlte, auch wenn er nicht dazu kam, es zu sagen. Das Telefon läutete. Und Katrin empfand die Situation als gegenteilig zu einer, in der man ein Telefon nicht läuten hörte oder es läuten ließ.

Es war Max. Wieso wusste er, dass er es sein musste, dass dies gerade ihr größter Wunsch war? Ihr wurde von innen nach außen heiß. Vermutlich hatte sie rote Wangen. Aurelius durfte sie strafweise so sehen. Hatte er sie überhaupt schon einmal so strahlend gesehen?

Sie sagte: »Wirklich?« Das war schon eine Art Jubelschrei. »Ja, gern, sehr gern sogar«, hörte er sie sagen. Ihre Telefonstimme war zittrig. Sie hatte Mühe, ihre plötzliche Aufregung zu verbergen. »Es kann ruhig später sein, ich hab morgen keine Ordination«, sagte sie. - »Ja gut, um neun.« - »Also dann, bis morgen.« - »Nein, ich sag nicht ab.« - »Nein, sicher nicht.« - »Ich freu mich.« - »Ja, wirklich.« - »Sehr sogar.« - »Also dann.« - »Dir auch.«

»Wer war das?«, fragte Aurelius in gespielter Ruhe, die weltmännische Toleranz signalisieren sollte. »Ach, nur ein Freund«, sagte Katrin und freute sich über die offensichtliche Schamlosigkeit ihrer Untertreibung. »Du bist wunderschön, wenn du glücklich bist«, sagte Aurelius. Jetzt tat er ihr leid. »Wollen wir nicht diese Woche einmal ins Kino gehen?«, fragte sie. Sie war selbst verblüfft über ihre Verwandlung. Plötzlich mochte sie ihn und wollte ihm Gutes tun.

»Telefonieren wir morgen«, schlug sie vor und drängte zur Ausgangstür. (Der Wartesaal war voll mit Patienten.) »Ich ruf dich an«, sagte er, ging ein paar Schritte auf die Tür zu, drehte sich um und fragte untrainiert beiläufig: »Und morgen hast du ein Rendezvous?« - »Aber nein«, sagte sie und lachte laut auf. »Ich bin nur bei einem Freund zum Frühstück eingeladen.« Aurelius lächelte verunsichert. »Er will, dass ich seinen Stachelbeerkuchen koste«, rief ihm Katrin nach.