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In der Nacht zum Nikolaustag hatte es geschneit und der Schnee war liegen geblieben. Kurt ebenfalls. Der Schnee würde laut Prognose zu Mittag bereits geschmolzen sein. Kurt nicht.
Max war müde. Er hatte nicht einschlafen können, weil er sich zu sehr bemüht hatte, an nichts zu denken. Dabei war sein Gehirn wachgerüttelt worden. In der Früh, als das Gehirn endlich einsah, dass Schlaf notwendig war, setzten draußen die Schneeschaufeln ein. Und ihnen war völlig egal, ob Max schlief oder nicht. Davor hatte er noch einen Albtraum untergebracht. Er hatte versucht, Katrin, die junge Frau, die ihm den Hund über die Weihnachtsfeiertage vermutlich nicht abnahm, zu küssen. Dabei war ihm schlecht geworden. Er hatte sich mit dem Ausdruck des Bedauerns von ihr abwenden müssen.
Der Traum hatte Geschichte. Er verfolgte ihn seit seiner Kindheit. Max kannte ihn in gut hundert Variationen. Das heißt: Der Traum selbst variierte nicht, nur die weiblichen Darsteller, früher Schulmädchen, dann reifere Teenies, danach erwachsene Frauen, darunter all seine Liebschaften und all seine »Frauen fürs Leben«, die es allesamt nicht geworden waren. Wann immer Max einer Frau begegnete, die ihm gefiel, die er begehrenswert fand oder in die er sich gar zu verlieben drohte, träumte er, dass er versuchte sie zu küssen und dass ihm dabei schlecht wurde. Träumte er es intensiv, musste er sich tatsächlich übergeben. (Bei Katrin wurde der Traum dank der Schneeschaufeln nicht intensiv.)
Was die Handlung betraf, war Max bereits abgebrüht. Der Albtraum selbst konnte ihn nicht mehr erschüttern. Schon viel eher der Umstand, dass Max dabei die Wahrheit träumte. Aber damit lebte er nun auch bereits seit 25 Jahren.
Weil Buben auch immer die wahnwitzigsten Mutproben benötigen, um in den Sommerferien nicht an Langeweile zu sterben! - Max war damals neun. Seine Bande, die »Dreckigen Totenkopfpiraten«, hatte bereits alle Feinde in den umliegenden Gemeindebauten vernichtet. Die Verlierer traten automatisch den »Dreckigen Totenkopfpiraten« bei. Das war für die jeweiligen Besiegten zwar erfreulich demütigend, hatte aber den Nachteil, dass die Feinde langsam ausstarben.
Am Höhepunkt der feindlosen Fadesse beschlossen die »Dreckigen Totenkopfpiraten«, die fette Sissi zu kidnappen. Die fette Sissi war acht Jahre alt und mindestens dreimal dicker als ein Mädchen, von dem man gemeinhin sagen würde, es sei dick. Ihr Gesicht bestand aus fünf übereinander gewölbten Schichten reinem Schweinefetts. Ihre Augen waren im Speck versunken und sahen nur noch das Notwendigste: Essen. Ihr Mund war ein (vermutlich mit Sonnenblumenöl gefülltes) Schlauchboot. An den Mundrändern klebten Reste gut gelagerter Eierspeisen. Aus dem Inneren roch es ungefähr nach einem Gemisch aus Leberwurst mit Zwiebelsenf und Hering mit Knoblauch. Genau konnte es keiner sagen, niemand wagte sich nah genug an die fette Sissi heran.
Der Plan war leichter als die Durchführung. Schließlich überwältigten die fünf tapfersten »Dreckigen Totenkopfpiraten« die fette Sissi, die gerade eine Kümmelbratensemmel in Arbeit hatte, mit drei zusammengebundenen Zeltplanen, packten sie sorgsam ein und schafften sie ins Hauptquartier. Sissi selbst, und das irritierte die Piraten ein bisschen, fand die Aktion aufregend und war schon gespannt, was man sich mit ihr einfallen lassen würde; hoffentlich ließe man sie nicht hungern. Max selbst war es, der auf die Idee mit dem ZK (Zungenkuss) kam. Heute würde er sich dafür am liebsten die Zunge abschneiden.
Die »Dreckigen Totenkopfpiraten« fanden die Idee, Sissi zu küssen, genial und wussten, dass dies der Saisonhöhepunkt sein würde. Max hatte natürlich nicht an sich selbst, sondern an einen besonders üblen Feind gedacht, den man auf diese schreckliche Weise grausam foltern könnte. Aber wie gesagt: Feinde gab es keine mehr. Und plötzlich waren sich alle einig, dass Max die ideale Besetzung für einen Zwangs-ZK mit der fetten Sissi wäre. Denn er war der mit Abstand hübscheste, zarteste und sauberste »Dreckige Totenkopfpirat«. Er war der Ästhet unter ihnen, der Schöngeist, der Intellektuelle, das Toten- kopfpiratenhirn. Bei ihm war der Kontrast zur fetten Sissi und somit auch die Vorfreude der Gruppe auf einen gemeinsam zu erlebenden ZK am größten.
Zwei Stunden weigerte sich Max beharrlich. Dann hatten sie ihn so weit. Sie wollten ihn im Falle der Verweigerung nicht nur für Lebzeiten aus der Bande ausschließen. Sie drohten, in der Schule Plakate mit der Botschaft auszuhängen, dass er, Max, jeden zweiten Tag in die Hose mache und dass er in die Frau Lehrerin Obermaier mit den Spinnenhänden verknallt sei. Also überwand sich Max und schickte sich an, die fette Sissi zu küssen.
Er schloss die Augen ganz fest und zwang sich, an Milchrahmstrudel mit Vanillesauce zu denken. Plötzlich spürte er, wie sich eine gallertige Masse üblen Geschmacks um seine Zunge legte, wie aus Speichelsekreten lauwarme verfaulte LeberwurstHering-Extrakte traten und sich fettfaserartig in seinem Mund verteilten. Da riss er die Augen auf, blickte in süchtige Schweinsaugen und sah das volle Ausmaß der Katastrophe. Die fette Sissi hatte ihr Schlauchboot an seinem Mund festgesaugt und schickte sich an, mit kräftigen Saugbewegungen sein gesamtes schmales Gesicht zu verschlingen. Dabei strich sie mit ihrer Zunge gierig über Nase, Augen und Schläfen, landete dann wieder bei seinem Mund und stieß noch einmal kräftig hinein. Die »Bravo-Max-der-Küsser-König-der-Max-der-kann's-der-Max-der-hat's«-Rufe im Hintergrund wurden immer schriller, ehe sie halluzinatorische Klangfarben entwickelten.
Max verlor das Bewusstsein und kippte auf die fette Sissi, fiel also wenigstens weich. Als er zu sich kam, lag er im Spital der »Barmherzigen Schwester Elisabeth«. Die Ärzte diagnostizierten eine »bösartige Fleisch- oder Fischvergiftung«. Erst nach einer Woche konnte er in häusliche Pflege entlassen werden. Die Darmflora brauchte drei Jahre, um sich wieder aufzubauen. Nach weiteren fünf Jahren konnte Max erstmals Fleisch- und Fischspeisen zu sich nehmen, ohne sie postwendend von sich zu geben. »Milchrahmstrudel mit Vanillesauce« probierte er nie wieder.
Die »Dreckigen Totenkopfpiraten« hatten sich nach diesem Vorfall aufgelöst und gingen in die Kirche, um zu beten und zu beichten. Sissi soll in der Zwischenzeit hundert Kilo abgenommen haben, dürfte also eine mollige Frau geworden sein. Max konnte seit damals an keinen Zungenkuss denken, ohne Übelkeit zu verspüren. Er konnte verliebt sein, sosehr er wollte. Er konnte erregt sein, so stark er wollte. Es konnte die Situation danach schreien, so laut sie wollte. - Max konnte nicht küssen.
Einmal hatte er es probiert. Er war achtzehn und stand knapp vor der Matura. Sie hieß Finni, ging in die Sechste, war sicher das selbstbewussteste und wahrscheinlich das schönste Mädchen der Schule, hatte kurze blonde Haare und trug die engsten T- Shirts, die ein Mädchen damals tragen konnte, ohne gar keine zu tragen. Seit Wochen wurde Max mit dem Gerücht konfrontiert, Finni aus der Sechsten hätte ein Auge auf ihn geworfen. Schon die Formulierung des Gerüchts brachte ihn aus der Fassung und ließ sein Herz heftig klopfen. Denn ein von Finni geworfenes Auge galt in Liebhaberkreisen als unerschwinglich wertvoll. Und Finnis Liebhaberkreise umfassten die gesamte Oberstufe, hundert fiebrig pubertierende Schulbuben, in deren Köpfen sich täglich tausend unerfüllbare Finni-Phantasien regten. Nur ein Bruchteil davon war jugendfrei.
Max hätte nie gewagt, Finni anzusprechen, schon gar nicht in der Hofpause, vor all den hormonschub- trächtigen Mitschülern. Finni war es, die plötzlich neben ihm stand und fragte: »Wie heißt du?« - »Er heißt Max«, sagte Schwätzer Günter, der hervorgeprescht war, um aus Max' Sekundenlähmung Kapital zu schlagen. Aber Finni sah nur ihn. Und wie sie ihn ansah! Ihre Blicke kamen von unten (Finni war fast zwei Köpfe kleiner als er) und wurden aus faszinierend klaren Augen auf die Reise geschickt. Sie spannten einen hohen Bogen, streiften sanft über seinen Nasenrücken, hoben ab, stiegen neuerlich an, streichelten seine Augenbrauen, krümmten sich und legten sich in steilem Winkel von oben in seine Augenbetten, hintergruben diese zart und landeten auf dem Seeweg der Augenflüssigkeit in seinem Kleinhirn, wo sie bald sehr viel Platz einnahmen. In der Literatur nennt man solche Blicke zumeist »verführerisch«, »fesselnd« oder »verzehrend«. Aber das sind plumpe Untertreibungen. Max war sofort verliebt.
»Bist du schüchtern?«, fragte Finni. »Ich weiß nicht«, erwiderte Max. (Wegen dieser Antwort wälzte er sich eine Nacht lang unruhig im Bett.) Die Mitschüler grinsten stupide und boxten einander stumpf auf die Schultern. »Gehst du gern ins Kino?«, fragte Finni. Bei »Kino« ging sie mit ihrer überraschend tiefen, fast heiseren Stimme hoch hinauf und warf ihm drei ihrer Blicke gleichzeitig zu, wobei sie auch noch den Kopf leicht verdrehte, wodurch die Blicke einen zusätzlichen Seitwärtsdrall bekamen. In Finnis Wort »Kino« steckte bereits das volle Programm an sexuellen Wunschvorstellungen eines 18-Jährigen.
»Ja, wenn es einen guten Film spielt«, erwiderte Max, diesmal mit etwas mehr Stimme. Die Antwort fand er den Umständen entsprechend gar nicht so schlecht. Vielleicht klang sie ein bisschen zu vernünftig. »Gehst du mit mir?«, fragte Finni. Der Satz elektrisierte ihn. Hatte sie »ins Kino« absichtlich weggelassen? - »Ja, gern«, erwiderte Max bemüht nebensächlich. Beinahe hätte er »Wenn es einen guten Film spielt« angefügt. Das hätte er sich nachher nie verziehen.
»Morgen Abend?«, fragte Finni. Langsam gewöhnte er sich an die knappen Intervalle der Weltsensationen. »Na sicher«, sagte er und versuchte ihr locker zuzuzwinkern. Zum Glück hatte sie es nicht bemerkt. Man einigte sich auf sieben Uhr vor dem neuen Kinocenter. Zur Verabschiedung nickte sie aufwühlend und peitschte ihm noch eine letzte Blickserie ins Gesicht. Danach wurde er von seinen Mitschülern mit Boxschlägen und animalischem Gegröle als Frauenheld gefeiert.
Beim Treffen trug Finni das engste ihrer zu engen T-Shirts. Sie war leicht geschminkt, roch nach Walderdbeeren und sagte, sie hätte keine Lust auf Kino. Bei ihr daheim gäbe es Bier, ihre Eltern seien aufs Land gefahren, sie hätten die Wohnung also für sich allein, später würden ein paar Freunde und Freundinnen dazukommen. Aber erst sehr viel später.
Max war so verliebt, dass er sich widerstandslos zu ihr heimtreiben ließ. Er hatte keine Zeit zu überlegen, ob er verantworten konnte, dass er machen wollte, was er sogleich machen würde. Er sah das gelbe Sofa, die vorbereitete Kerze, die Decke. Sekunden später saß Finni auf ihm, schlang ihre Arme um seinen Hals und streichelte seinen Nacken. Ihre Augen waren nur noch ein paar Zentimeter von seinen entfernt und schleuderten ihm in Zehntelsekundenabständen erotisierende Blicke entgegen.
Sie legte ihre Handinnenflächen auf seine Wangen und zog sein Gesicht sanft zu ihrem Mund. »Mach die Augen zu, du Süßer«, war das Letzte, was er von ihr hörte. Dann vermischten sich die schrecklichsten Gerüche der Kindheit und bildeten einen Brei, den er aus der Tiefe seines Magens langsam hochsteigen spürte. - Milchrahmstrudel mit Knoblauch, Leberwurst mit Hering, Vanillesauce mit Zwiebelsenf, Küchenmeisterin Sissi wünschte guten Appetit! - Gerade noch rechtzeitig konnte er seine Zunge von jener Finnis lösen, ihren Mund verlassen und seinen Kopf zur Seite drehen.
Nachdem sie das Sofa notdürftig gereinigt hatten, schlug er vor, nach Hause zu gehen. Finni fiel spontan auch nichts Besseres ein. »Was war los?«, fragte sie bei der Wohnungstür rau und brach ihren Blick auf halbem Weg zu ihm ab. »Mir graust vor Küssen«, erwiderte Max mit weinerlicher Stimme. Finni kniff ihre Augen wie eine Wildkatze zusammen und warf die Tür hinter ihm zu. Noch im Stiegenhaus hatte er das Gefühl, den schlimmsten Satz gesagt zu haben, den man einem Mädchen am Höhepunkt des Verliebtseins und am Beginn des so innig ersehnten Austausches von Zärtlichkeiten sagen konnte. Und das Allerschlimmste daran: Es war die Wahrheit und sie würde es immer bleiben.
Heute, mit 34, wusste Max, dass Liebe ohne Küssen nicht funktionierte. Somit wusste er auch, dass Liebe bei ihm niemals funktionieren konnte. Das war insofern bedauerlich, als Max gern und stark liebte. Er verliebte sich rasch, heftig und leidenschaftlich. Er konnte sich in Liebe hineinfallen lassen und darin aufgehen, konnte Gefühle zeigen, konnte darüber sprechen, konnte schmeicheln und schwärmen. Er konnte garantiert auch treu sein, wenn er sollte. (Das musste er noch nie beweisen.) Er war befähigt und bereit, einer Frau, die er liebte, alles zu geben. Nur keinen Kuss.
Natürlich hatte er in den vergangenen sechzehn Jahren alles ausprobiert, um länger als einen Abend lieben zu dürfen, ohne küssen zu müssen. Grob gesprochen gab es für ihn zwei Möglichkeiten, dem Zungenkuss zu entkommen: Entweder er blieb darunter oder er fing gleich darüber an.
Das »Darunter« erwies sich für ihn stets als quälend unbefriedigend. Er brauchte dabei nur an die schrecklichen Nächte mit Pia zu denken, einer Kleopatra-ähnlichen Kunstgeschichtestudentin, die er auf der Uni kennen gelernt hatte. Er probierte damals gerade Jus aus - und arbeitete als Kellner in der Mensa. Schon gegen Ende des ersten gemeinsamen Abends wussten sie, dass der hoch geistige Eröffnungsteil meisterhaft gelungen war, dass sie einander ideologisch blind verstanden, ohne einander genau zugehört zu haben. Dazu waren sie zu betört.
Nun war es also an der Zeit, sich den körperlichen Dingen zuzuwenden. Nur deshalb zwängten sie sich um drei Uhr früh in die dunkelste Nische der Bar und bewegten zu Tom Waits ihre mit Wein befeuchteten Lippen. Näher zusammenrücken konnten sie nicht mehr. Und jeder Satz, den ihm Pia liebestrunken ins Ohr hauchte - egal ob »Die Picasso- Ausstellung soll großartig sein«, »Ich mag dieses Lokal« oder »Am Wochenende muss ich meine Großmutter besuchen« -, hieß bereits: »Küss mich doch endlich!« Aber Max blieb eisern »darunter«. Er hauchte ihr laszive Antworten ins Gesicht. (»Ja, Picasso war schon einer der Größten«, »Ja, dieses Lokal hat einfach Flair« oder: »Ich muss meine Großmutter am Wochenende zum Glück nicht besuchen, sie lebt in Helsinki.«) Dazu setzte er den wehmütigsten aller »Gib-mir-noch-Zeit-ich-muss- erst-zu-mir-finden!«-Blicke auf. Sie erweiterte ihre dunklen Augen auf doppelte Kleopatra-Größe, führte ihre Zungenspitze wie eine Haiflosse über ihrer Oberlippe und meinte damit: »Zehn Sekunden gebe ich dir noch.« Er ging grausam leidend über die volle Distanz, ließ dann seinen Kopf hängen und starrte ihr verstohlen und sehnsüchtig auf den Busen.
Abende, die derart qualvoll unerfüllt endeten, mussten selbstverständlich mehrmals wiederholt werden. Sie wurden von Mal zu Mal unerträglicher. Der Zeitpunkt, zu dem zwingend geküsst werden musste, kam immer früher. In der Verzweiflung, dass nichts geschah, war die Beziehung bald symbi- otisch. Man sprach voll des intimen Weltschmerzes, von der Rodung der Regenwälder, dem Wechsel der Gezeiten und der Bedeutung Giottos für die italienische Malerei des 14. Jahrhunderts. Die letzten Sätze solcher Abende lauteten zumeist: »Was ist eigentlich los mit dir, Max?« (Pia.) »Ich mache gerade eine schwierige Phase durch.« (Max.) Dann gab es noch einen weggeworfenen Abschiedskuss auf eine der vier Wangen. Und am nächsten Abend trafen sie einander wieder und litten weiter unter ihrer unbegründeten Enthaltsamkeit.
Irgendwann im Verlaufe einer wortlos gewordenen Nacht hielt es Max nicht mehr aus und sagte: »Pia, mir reicht es, ich will mit dir schlafen!« Daraufhin sprang sie vom Sitz, beugte sich über den Tisch und drückte mit frei werdenden Kräften 180- stündiger aufgestauter Begierde seinen Kopf an ihre Brust. Dort ließ sie ihn leider nicht verweilen. Sie fasste den Kopf vielmehr an den Schläfen und hob ihn zu ihrem hinauf. Als ihr Mund nur noch ein paar Millimeter von seinem entfernt war, riss sich Max von ihr los und protestierte wie ein trotziges Kind, dem man Reis statt Pommes vorgesetzt hatte: »Ich will dich nicht küssen, ich will mit dir schlafen!« - Das war das Kapitel Pia.
Bei Patrizia ging Max die Sache von vornherein klüger, nämlich »darüber« an. Sie arbeitete als Anzeigenverkäuferin in »Horizonte« und genoss dort den Ruf, den »One-Night-Stand« erfunden beziehungsweise auf »One-Night-Double-Stands« ausbaufähig gemacht zu haben. Sie lernte Männer nicht kennen, indem sie sich bei ihnen vorstellte, sondern indem sie mit ihnen Sex hatte. Reden konnte man nachher immer noch.
Patrizia wählte sich ihre Liebschaften nach strengen Prinzipien körperlicher Hygiene, modischem Bewusstseins, charismatischer Unerschrockenheit und beruflichem Erfolges aus. Sie konnte es sich leisten zu wählen. Es war eine der höchsten Ehren der Männer in »Horizonte«, von Patrizia genommen worden zu sein. Für manche Herren war das, laut eigenen Angaben, der Höhepunkt ihres Sexuallebens überhaupt.
Max verdankte seine Nominierung Kurt, besser gesagt Kurt I, als er noch lebte und turnte. Patrizia liebte »In den Wind gesabbert« und lud Max nach Erscheinen der dritten Kolumne spontan zu sich ein: Danach gebe es noch ein mehrgängiges Menü, versprach sie, um den Anreiz zu verdoppeln und um Max zu zeigen, dass er an diesem Abend der Einzige bleiben sollte.
Die sexuellen Details hatte Max später nicht mehr in Erinnerung. Sie wurden Opfer der Verdrängung auf Grund eines wenig später eintretenden grauenvollen Ereignisses. Jedenfalls ging es zunächst wild und stürmisch her, die nackten Körperteile flogen durcheinander und überschlugen sich. Und Patrizias Zunge war lange Zeit erfreulich weit von seinem Mund entfernt. Aber dann verfing er sich in dieser unsäglichen, weltweit maßlos überschätzten Missionarsstellung und fühlte sich plötzlich wie eine Stabbatterie unter Hochspannung: unten zunehmend positiv geladen. Oben, auf Kopfhöhe, bereits bedrohlich negativ. Denn die heftig rüttelnde, bebende und stöhnende Patrizia presste plötzlich ihre Lippen auf seinen Mund und öffnete diesen mit harter Zunge.
Max' Ausbrüche kamen gleichzeitig. Der gellende »Jaaaaa-Neeeein« Schrei galt beiden seiner entladenen Pole. »Bist du gekommen?«, fragte Patrizia routinemäßig. »Zweimal«, röchelte Max wahrheitsgetreu, wobei ihm ein dritter Schub gerade im Hals steckte. Er musste sofort das Badezimmer aufsuchen und verließ es erst eine Stunde später wieder. Inzwischen überlegte er, wie er die ihm bevorstehende Frage, warum ihm auf einmal schlecht geworden sei, beantworten könnte. »Warum hast du dich gleichzeitig angespieben?«, fragte Patrizia angewidert. »Törnt dich das etwa an?« - »Aber nein, ich muss nur an etwas Schlechtes gedacht haben«, erwiderte Max. - Das war das Kapitel Patrizia.
Max waren noch einige andere zwischenmenschliche Erlebnisse dieser Art vergönnt, ehe er dahinter kam, sie sich künftig allesamt sparen zu können. Denn die Erfahrung lehrte ihn: Gelebte Liebe war ohne beinahe alles möglich - ohne Sex und Leidenschaft, ohne Freundschaft und Interesse, ohne Zweck und Sinn, ohne Geld und Achtung, selbst ohne Zukunft. Nur nicht ohne Zungenkuss.
Somit handelte er seine potenziellen weiteren Kapitel in Albträumen ab - und konzentrierte sich lieber auf das Wesentliche. Im vorliegenden Fall: auf seine organisierte Flucht vor Weihnachten, der schlimmsten Zeit für einen latent Liebenden, der nicht küssen konnte.
Am trüben Tag der Nikoläuse mied er die drei Büros. Er blieb daheim und lud aus dem Computer achtzig Seiten Information über die Malediven herunter. Hin und wieder warf er Kurt, der unter seinem Sessel lag und das Treiben seines Herrls apathisch beobachtete, hochmütige Blicke zu. Hin und wieder untermauerte er diese mit Worten wie: »Ich fliege weg und du bleibst da!« - Kurt strafte ihn mit seiner größten Stärke, der Ignoranz.