37762.fb2
»Warum scheiden Tierheime eigentlich aus?«, fragte sich Max am Samstag Vormittag, als es schneite, ohne dass er davon erfuhr. Er hatte die Jalousien heruntergelassen, um nicht an Weihnachtseinkäufe denken zu müssen. Es war der »zweite lange Einkaufssamstag«. Wer klug war, kaufte jetzt. Da alle klug waren, kauften alle jetzt. Max hatte die Jalousien heruntergelassen, um ungestört nicht so klug zu sein wie alle anderen.
Warum schieden Tierheime also eigentlich aus? »Tierheim?«, fragte er Kurt, der unter seinem Sessel lag und schlief. Da Kurt nicht reagierte, war es ihm offensichtlich egal ob Tierheim oder nicht. Und langsam war es Max ebenfalls egal, es hatte sogar seine Vorteile. Für »Treue Augenblicke« würde dies eine dramatische Serie unter dem Motto »Wie Kurt im Halbschlaf zwei Wochen Tierheim überlebte« abwerfen. Und vielleicht wäre Kurt danach abgehärtet genug, wenigstens einmal täglich freiwillig Gassi mitzugehen.
Was Max und Weihnachten und die Malediven betraf, war die Entscheidung gefallen. Er hatte eine ideale Insel gefunden (und per Internet gebucht). Es war die einzige Insel, die seine finanziellen Grenzen zwar aufzeigte und aufweichte, aber nicht sprengte. Und dort war noch Platz für ihn frei. Das heißt: Dort war Platz ausschließlich für ihn frei. Es gab exakt eine Not-Unterkunft mit einem Not-Bett. (Alle redeten vom Single-Urlaub, Max würde ihn machen.) Einsam? Aber nein! Tagsüber würde er ohnehin von Tauchern umgeben sein und er selbst würde ebenfalls einen Tauchkurs absolvieren. (Die Rechnung würde er seinen Großeltern nach Helsinki schicken.)
Vielleicht würde er unterhalb des Meeresspiegels eine Frau kennen lernen - nichts Ernstes natürlich, einfach nur eine Urlaubsbekanntschaft. Sie könnten sich unter Wasser umarmen und einige Dinge mehr tun. (Sauerstoff würden sie ja wohl genug dabei haben.) Max hätte diesbezüglich keine Hemmungen. Es hätte jeder sein eigenes Mundstück, die Tauchgefährtin wäre oral ausgelastet und käme gar nicht auf dumme Gedanken. So könnte also nichts passieren, man könnte der gemeinsamen Fantasie freien Lauf lassen und man müsste sich danach nicht einmal duschen. Und wenn sich die Taucherin unter Wasser einmal in ihn verliebt hatte, dann könnte er sie ja bitten, ob sie so nett wäre, den Schnorchel auch an Land im Munde zu behalten. Dann würde er ihr sein Zimmer zeigen, sie könnten die Nacht miteinander verbringen, die Insel gehörte praktisch ihnen beiden. Sie würden dann gleich dort bleiben und eine eigene Tauchbasis errichten - mit Schnorcheltragepflicht auch an Land. Kurzum: Max freute sich auf den Urlaub.
Aber zunächst musste er einmal Kurt anbringen. »Tierheim« war nicht nur seine einzige, sondern eigentlich auch eine verdammt gute Idee, dachte er. Vielleicht würde er nach dem Urlaub auch vergessen haben, dass er einen Hund gehabt hatte - und ihn unabsichtlich einfach nicht mehr abholen. Kurt würde sich sowieso nicht mehr an sein Herrl erinnern, er wüsste gar nicht, in welchem Zusammenhang er sich an ihn erinnern sollte. Und beide könnten ein neues Leben beginnen. Er, Max, würde sich einen Goldfisch zulegen. Er würde eine eigene Goldfisch-Kolumne in einer renommierten Zeitung bekommen. »Verschwommene Augenblicke« würde sie heißen. »Einzigartig«, würden die internationalen Kritiker jubeln, »dieser Mann versteht es, einen scheinbar beschäftigungslosen Zierfisch lebendig, lebenslustig, frisch von der Fischleber weg zu beschreiben, minutiös genau in all seinen Tagesabläufen, als tickte unter seinen Kiemen ein Schweizer Präzisionsuhrwerk, und zugleich einfühlsam, mit noch nie gelesener Süßwasserpsychologie. Wer von Trixi, dem Goldfisch, erfährt, wird sich in ihn verlieben. Und Millionen Leser wissen plötzlich, dass auch in einem noch so kleinen Lebewesen eine Seele baumelt ...«
Und Kurt würden sie im Tierheim zum Hundevertreter wählen und er würde eine eigene politische Partei anführen, die Schlafpartei. Forderungen: weniger Essen, weniger Gassi, weniger Menschen, mehr Fernsehen, mehr Frieden, mehr Ruhe. Und irgendwann würden sie einander auf der Straße begegnen, Kurt und er. Sie würden einander wieder erkennen und liebevoll zuzwinkern, denn sie wollten die Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten, plötzlich nicht mehr missen. Sie würden denken, dass sie damals eben noch zu jung füreinander gewesen seien und dass sie ihren Weg alleine hatten gehen müssen. »Du bist ein aufgewecktes Bürschchen geworden«, würde Max Kurt anerkennend zurufen. Und Kurt würde freudig bellen. - Nein, das würde er nicht tun; übertreiben würde er es nicht. Aber »Tierheim« war eigentlich eine sensationell gute Idee, dachte Max, als das Telefon läutete. Es war Katrin, die junge Augenärztin, die Frau, die er unlängst im Traum küssen musste, die Frau, die Kurt nicht nehmen würde, weil man Kurt nicht nehmen konnte, weil Kurt unannehmlich und unannehmbar war. »Ich nehme ihn«, sagte sie. »Wann kann ich ihn ausprobieren? Vielleicht gleich morgen?« - »Ja, das könnten wir uns einrichten«, erwiderte Max. Besser als Tierheim, dachte er.
Katrins Plan war einfach. Was heißt überhaupt Plan? Sie brauchte einen Grund, warum sie den Weihnachtsabend nicht bei ihren Eltern verbringen konnte. Und ihr fiel kein besserer Grund als ein Hund ein. Also musste sie ihn haben - diesen Kurt. Natürlich könnte sie auch nur so tun, als hätte sie ihn. (Wie sollten es die Eltern überprüfen?) - Aber das war nicht die Lösung. Katrin brauchte den Hund, den Grund, den Heiligen Abend nicht bei ihren Eltern zu verbringen, vor allem für sich selbst. Denn hund- und grundlos würde sie wahrscheinlich doch wieder zu ihren Eltern gehen. Wohin sonst? Es gab doch an diesem beschissenen 24. Dezember, ihrem beschissenen Geburtstag, keine andere Möglichkeit, als »daheim« zu feiern. Und es gab für Katrin beschissenerweise nur ein einziges »Daheim«, und das war bei ihren Eltern. Bei sich selbst daheim, in ihrer Wohnung, war sie eben nicht daheim. Das heißt: 364 Tage im Jahr war sie es und sie fand, sie war auch glücklich dabei. Aber an diesem einen Abend, dem beschissenen 24. Dezember, dem beschissenen Geburtstag, ging es nicht. Dreimal hatte sie es versucht.
Anlässlich ihres 23. Weihnachts-/Geburtstages legte sie sich um sechs nieder, wachte um neun auf und vernichtete eine Flasche Wein, die auf ihrem Nachtkasten stand. Es war ihr Weihnachts- /Geburtstagsgeschenk von Augenarzt Dr. Harrlich. Eigentlich wollte sie die Flasche nur vom Geschenkpapier befreien, um wieder einschlafen zu können. Wein musste ja bekanntlich atmen. Und Katrin ebenfalls. - In Weihnachtspapier gehüllte Flaschen schnürten ihr die Atemwege zu. Es gab für sie kein schärferes Sinnbild der Einsamkeit, als am Heiligen Abend, dem Geburtstag, um neun Uhr aufzuwachen und die Umrisse einer in Weihnachtspapier gehüllten Weinflasche zu erkennen.
Um diese schon wieder skurril erbärmliche Einsamkeit wenigstens mit sich selbst teilen zu können, steckte sich Katrin die geöffnete Bouteille in den Mund, kippte ihren Kopf zurück und stellte ihn erst wieder gerade, als die Flasche halb leer war. Danach gelüstete ihr nach weiteren sozialen Kontakten. Deshalb rief sie bei Familie Weiss an und wünschte ihr ein schönes Fest. Diplomingenieur Herbert Weiss war damals ihr Geliebter. Nein, umgekehrt: Katrin war seine Geliebte. Er war zwar sechzehn Jahre älter als sie, aber er meinte, das tue nichts zur Sache. Und die Sache sei: Katrin war die Frau seines Lebens. Noch nie hatte er mit einem Menschen so gut reden können wie mit Katrin. Noch nie hatte ihn eine Frau so gut verstanden (obwohl sie noch so jung war). Und auch im Bett harmonierten sie großartig, fand er. So großartig, dass er sogar in den Mittagspausen zu ihr kam, um zu harmonieren. Dabei verzichtete er sogar auf das gute Reden.
Diplomingenieur Weiss war fest entschlossen, seine längst gescheiterte Ehe - seine praktisch schon gescheitert begonnene Ehe - zu beenden, um mit Katrin, der Frau seines Lebens, ein neues Leben zu beginnen (das Leben seines Lebens) beziehungsweise das gleiche Leben mit viel mehr Katrin und ganz ohne Ehefrau fortzusetzen. Problematisch war dies eigentlich nur wegen der Kinder. Denn Diplomingenieur Weiss hing sehr an ihnen. Fünf und sieben Jahre waren sie alt und sie hatten große, nach ihrem Papa schreiende Kinderaugen, wusste Katrin aus Erzählungen.
Deshalb wollte er zur Trennung nur noch das Weihnachtsfest abwarten, denn zu Weihnachten waren die nach dem Papa schreienden Kinderaugen erfahrungsgemäß besonders groß. - Es handelte sich übrigens um das Weihnachtsfest vom Vorjahr. Katrin war mittlerweile des Diplomingenieurs Geliebte im zweiten Weihnachtsjahr. Warum er sich nach dem ersten Fest nicht hatte scheiden lassen? - Nun, die nach ihrem Papa schreienden Kinderaugen waren überraschenderweise über Weihnachten hinaus groß geblieben. Dann kam Ostern, dann der Urlaub, dann ging der Kleine erstmals zur Schule. Und dann stand ohnehin schon wieder Weihnachten vor der Tür. Das wollte Diplomingenieur Weiss noch ein allerletztes Mal familiär hinter sich bringen, wegen der Kinderaugen. Danach würde das Leben mit Katrin beginnen.
Sie stand also unmittelbar vor der Beendigung einer einjährigen Wartezeit. Sie wartete dabei eigentlich nicht auf den Diplomingenieur selbst, nur auf das Ende, auf ihn zu warten, denn dieser Zustand war konsequent unerträglich. Ob sie ihn liebte? - Das konnte sie nicht sagen. So gut kannte sie ihn nicht. Warum sie ihn nicht stehen ließ? - Er war noch nicht reif zum Stehengelassenwerden, er stand ja noch gar nicht richtig da. Er stopfte ihr eigentlich nur die Mittagspausen mit seiner horizontalen Art von Harmonie zu.
Nun, sie rief also an und wünschte der Familie ein schönes Weihnachtsfest. Die gescheiterte Frau zur Ehe war am Apparat, im Hintergrund hörte Katrin erstmals jene Kinderstimmen, die zu den großen, nach dem Papa schreienden Kinderaugen gehörten. »Wer sind Sie?«, fragte die gescheiterte Ehefrau überraschend interessiert. »Die Geliebte von ihrem Ex-Mann«, erwiderte Katrin. Das »Geliebte« kam vielleicht etwas vulgär, das »Ex« war inhaltlich ein bisschen übertrieben, aber in ihrem Kopf entfaltete der Flascheninhalt bereits sein volles Bouquet. Die gescheiterte Ehefrau sagte dann nichts mehr. Dafür war Diplomingenieur Weiss plötzlich am Apparat und meinte fünfmal fragend »Hallo?«, ehe er: »Sie müssen sich verwählt haben« von sich gab. Das klang zwar ziemlich distanziert für einen Mann, der gerade mit der Frau seines Lebens sprach. Aber im Grunde hatte er Recht. Katrin legte auf, duschte sich eine Stunde kalt, machte sich einen Kaffee, zog sich an und fuhr zu ihren Eltern. Die wollten sich gerade gemeinsam das Leben nehmen, weil ihr Kind Anstalten gezeigt hatte, am 24. nicht nach Hause zu kommen. Daheim bei den mit dem Schrecken davongekommenen Eltern übernahm Katrin noch rasch ihre Geschenke und schlief sich dann sogleich ihren Weinrausch und ihren einjährigen Weiss-Kater aus. Der Diplomingenieur meldete sich nie wieder.
Zwei Jahre später war es wieder so weit. Katrin war unzweifelhaft in der idealen Verfassung, Weihnachten (und ihren 25. Geburtstag) nicht bei ihren Eltern zu verbringen. Am Telefon erzählte sie ihnen, sie hätte am Vorabend einen Mann kennen gelernt. Heute wollten sie gemeinsam Geburtstag und Weihnachten feiern und übermorgen wollten sie heiraten. (Sie selbst sagte weder »übermorgen« noch »heiraten«, aber die Eltern dachten es bestimmt.) Mama fragte: »Ist es etwas Ernstes, Goldschatz?« Katrins normale Antwort wäre gewesen: »Mama, wir haben uns gestern kennen gelernt«. Aber sie wollte ihrer Mutter keinen zweiten weihnachtlichen Tiefschlag versetzen und meinte: »Es schaut nach etwas Ernstem aus. Deshalb wollen wir heute zu zweit feiern.« Die Mutter weinte am Telefon - aus Trauer, weil Katrin am 24. nicht heimkommen würde, aber auch aus Freude über die bevorstehende Hochzeit, auf die die Schulmeister-Hofmeisters nicht mehr zu hoffen gewagt hatten.
Katrin hatte niemanden kennen gelernt. Und zwar absichtlich. Sie war in einer Phase, in der sie ihr Single-Dasein zelebrierte, als wäre es ein Tage und Wochen füllendes vegetarisches Degustationsmenü. Dabei fühlte sie sich ausgezeichnet. Die Namen ihrer letzten drei männlichen Versuche (um nicht Versuchungen zu sagen) hatte sie vergessen. (Wer konnte ihr das Gegenteil beweisen?) An den Abenden blieb sie daheim und las esoterische Bücher, die sie jede Minute ein Stückchen näher zu sich selbst brachten. Wenn sie sich erreicht hatte, sah sie fern und ging dann früh schlafen, um am nächsten Tag fit für den nächsten Abend zu sein, an dem sie esoterische Bücher lesen, fernsehen und früh schlafen gehen wollte. Ab und zu telefonierte sie mit bemit- leidenswürdig in zwischenmenschliche Beziehungen verstrickten Freundinnen und riet ihnen, einmal in sich selbst hineinzuhören. Die Freundinnen hörten aber in der Regel nichts. Die Telefonate wurden immer seltener.
Als erster Höhepunkt dieser erfüllenden Epoche bot sich der Heilige Abend an. Katrin hatte erstmals in ihrem Leben einen Christbaum gekauft und ihn mit roten Holzäpfeln und roten Kerzen geschmückt. Sie hatte Kekse gebacken, Fisch gebraten und Mayonnaise-Salat zubereitet. Sie befand sich in einem derartigen Ausnahmezustand des inneren Glücks und des Eins-Seins mit sich, dass sie sogar mit Erzfeind Bing Crosby Frieden schloss und ihn in den CD-Player schob. (Kein Mann hatte ihr Schlimmeres angetan als er - bestechend pünktlich, alle Jahre wieder, zumeist im Chor mit dem festlichen Geheule ihrer Mutter aus Liebe zur Tochter und Mangel an Schwiegersohn.)
Das Essen schmeckte ihr richtig gut. Es war wunderschön, zu »White Christmas« die brennenden Kerzen der Tanne zu beobachten. Schließlich öffnete sie sich zur Feier des Lebens eine Pikkoloflasche Sekt und stieß mit sich auf Weihnachten mit sich, auf Geburtstag mit sich und auf sich im Allgemeinen an. Dabei hätte sie sich gerne fotografiert, aber das wäre technisch zu kompliziert gewesen. Nach dem ersten Schluck Sekt sah sie sich in den Spiegel und bemerkte, dass ihre Mundwinkel erfreulich weit nach oben gezogen waren. Es ging ihr tatsächlich verdammt gut. Es waren ihre schönsten Weihnachten. Sie genügte sich nicht nur, sie war sich mehr als genug. Sie brauchte niemanden. Sie war stolz auf sich.
Nach dem zweiten Schluck fand sie sich neuerlich vor dem Spiegel. An ihren Mundwinkeln hatte sich nichts verändert. Das irritierte sie ein bisschen. Nach dem dritten Schluck blieb sie länger vor dem Spiegel stehen und versuchte, ihre Mundwinkel wenigstens einen Millimeter nach unten zu korrigieren. Es ging nicht. Hoffnungslos. Katrin war einfach zu glücklich.
Einen Schluck trank sie noch. Dann holte sie Bing Crosby aus dem CD-Player und brach ihn in vier Stücke. In zehn Sekunden räumte sie den Baum ab. Dann rannte sie in ihr Schlafzimmer, warf sich auf ihr Bett und verließ es erst eine Stunde später wieder, als es auf dem Kopfpolster keine trockene Stelle mehr gab. Danach schaute sie sich noch einmal in den Spiegel. Endlich: Die Mundwinkel waren herunten. Katrin ging es beschissen wie noch nie.
Sie musste sofort ihre Wohnung verlassen. Jeder Gegenstand darin kam ihr falsch und verlogen vor, das gesamte Weihnachtsszenario war geheuchelt. Auf der Suche nach der geeigneten Ersatzdroge für ihre plötzliche Verzweiflungssucht rief sie bei den Eltern an und teilte ihnen so sachlich wie möglich mit, dass sie nun doch einen Sprung vorbeikommen würde. »Kommt ihr zu zweit, Goldschatz?«, fragte die Mutter aufgeregt. »Nein, er muss schon schlafen gehen«, erwiderte Katrin genervt. »Ist er schon volljährig?«, fragte die Mutter. Es war neun Uhr.
Bei den Eltern gab es eine Geburtstagstorte mit 25 Kerzen und Geschenke: einen Walkman für Mini- Discs, drei Esoterik-Bücher, die sie sich in ihrer abgelaufenen Ära gewünscht hatte, und violettweiße Sportschuhe, Marke: sofort umtauschen. Die Eltern waren glücklich, Katrin doch noch daheim zu haben, wo sie zu Weihnachten nun einmal hingehörte. Fünfmal ging sie aufs Klo, um zu heulen. Sonst blieb sie trocken. Am Ende der Feier glaubten die Schulmeister-Hofmeisters nicht mehr, dass aus der baldigen Hochzeit etwas werden könnte.
Drei Jahre später war Katrin noch immer nicht verheiratet. Sie hatte zwei unter diesem Gesichtspunkt eher mühsame Weihnachts-/Geburtstagsfeste bei ihren Eltern hinter sich und beschloss, noch einmal zu probieren, am Heiligen Abend auf eigene Faust ein Jahr älter zu werden. Den Eltern täuschte sie dringenden Verdacht auf Windpocken vor. Der Arzt hätte ihr strikt verboten, das Bett zu verlassen oder Besuche zu empfangen.
Katrin hatte sich virtuell verliebt. Er hieß Clemens. Einige Wochen zuvor war er aus dem Cha- troom in ihre Mailbox getreten. Was ihn von Katrins bisherigen Männern unterschied: Er wollte nichts von ihr und sie musste ihm nichts geben. Jeweils nichts außer E-Mails. Clemens war absolut unaufdringlich. Er trat nicht in Erscheinung. Er schrieb nur.
Seine Texte waren nicht von großer literarischer Originalität. Er erzählte meistens, was er gerade machte. Da er immer gerade schrieb, schrieb er, was er sich dabei dachte. Das klang dann so: »Ich sitze vor dem Computer und überlege, was ich dir schreibe.« - Das fand Katrin nett. Sie selbst erzählte nie, was sie gerade tat. Oh doch, eigentlich schon. Im konkreten Fall antwortete sie: »Was überlegst du dir dabei?« - Und genau das hatte sie sich tatsächlich gerade gefragt.
Der Dialog mit Clemens war ein Ratespiel. Er musste erraten, wer sie war. Er war rührend bemüht, sich ein Bild von ihr zu machen. Sie streute höchstens ein paar versteckte Hinweise ein. Sie konnte ihm nicht alles über sich erzählen. Erstens wäre dann das Spiel beendet gewesen und man hätte miteinander aufhören oder mit dem Ernst beginnen müssen, man hätte also wahrscheinlich ein Treffen vereinbaren müssen. Zweitens war Katrin damals weit davon entfernt, alles über sich selbst zu wissen. Hätte sie es gewusst, wäre sie nicht dagesessen und hätte mit einem fremden Typen, von dem sie lediglich das Alter kannte (35), wochenlang »stille Post« gespielt. Sie wollte auch gar nicht alles über sich wissen. Es war viel spannender zu lesen, was ein Mann von ihr hielt, der sie nicht kannte. Auch Katrin war an jener Katrin interessiert, die sie noch nicht kannte. So lernten sie sie beide neu kennen, und dies auf absolut unverfängliche Weise. So schien es zumindest am Anfang.
Knapp vor Weihnachten hatte sie sich dann plötzlich in ihn verliebt. Er schrieb: »Soll ich dir was sagen?« Sie antwortete: »Ja, warum nicht?« Darauf er: »Du bedeutest mir viel.« Sie: »Ehrlich?« Er: »Ja, ich träume von dir.« Sie: »Hoffentlich gut.« Er: »Wie siehst du eigentlich aus?« Sie: »Ich bin leider potthässlich. Details erspare ich dir.« Er: »Das macht nichts. Egal wie du aussiehst, für mich bist du schön.« Natürlich spürte Katrin, dass das im Grunde ein schlimmer Satz war. Clemens dürfte ihn auch nicht erfunden, sondern schon einmal wo gehört haben. Wäre jemand anderer damit gemeint gewesen, hätte sie die Ansage mit der spontanen Anhebung ihres rechten Nasenflügels quittiert und rasch aus ihrem Gedächtnis nach Hollywood verbannt. Aber die Worte galten diesmal ihr. Sie war gerührt und hatte Herzklopfen. Sie schrieb: »Danke. Das war lieb.« Er antwortete: »Ich habe mich in dich verliebt.« Sie erwiderte: »Das ist schön.« Das »Ebenfalls« behielt sie einstweilen für sich.
Am Vormittag ihres 28. Geburtstages war es dann so weit. Sie schrieb an Clemens: »Ich habe ein kleines Weihnachtsgeschenk für dich. Nichts Besonderes. Ich würde es dir gerne geben. Hast du heute irgendwann zwischendurch kurz Zeit? Es ginge auch spät am Abend. Ich habe nichts vor.« - Als sie ihm diese EMail sendete, war ihr, als wäre ihr Magen eine Baustelle und die Arbeiter hätten gerade die Presslufthämmer angeworfen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so viel aufs Spiel gesetzt zu haben, um einem irrationalen Gefühl von Zuneigung nachzugehen.
Das Geschenk war übrigens ein Büchlein mit EMail-Dialogen, eine Art »Best of Katrin and Clemens«. Sie hatte die Mitteilungen von Beginn an aufgehoben und daraus nun in schöner Handschrift eine geraffte Chronologie des Abtasten und Kennenlernens gebastelt. Beim Abschreiben der Sätze, die Clemens an sie gerichtet hatte, verliebte sie sich endgültig besinnungslos in ihn und musste dringend eine Aktion der Annäherung setzen. Am liebsten hätte sie ihn sofort geküsst - am liebsten mit geschlossenen Augen. Sie brauchte nicht zu wissen, wie er aussah, er musste nur physisch anwesend sein. Küssen per E-Mail ging noch nicht.
Die Antwort kam erst am späten Nachmittag. (Bis dahin glaubte sich Katrin auf dem Weg zu einer neuen persönlichen Bestleistung im Verbringen von letztklassigen Weihnachts-/Geburtstagen.) Er schrieb: »Habe jetzt erst deine Mitteilung gelesen und bin halb in Ohnmacht gefallen vor Überraschung und Freude. Natürlich können wir uns treffen. Bin am Abend bei meiner Großmutter. Komme aber gegen neun nach Hause. Maile dir gleich, wenn ich daheim bin.«
Als zehn vor neun seine Nachricht auf Katrins Bildschirm angezeigt wurde, setzten die Arbeiter in ihrem Magen die Bautätigkeit mit schweren Kranwägen fort. Clemens schrieb: »Ich bin schon daheim. Ich könnte in einer halben Stunde bei dir sein.« Darauf sie: »Willst du nicht wissen, wo ich wohne?« Darauf er: »Ich weiß es.« - Schwerer Ausrutscher eines Kranwagenfahrers, beträchtlicher Sachschaden. Katrin schrieb: »WOHER?????« Clemens antwortete: »Wir kennen uns.« - Kranwagenzusammenstoß, wenig Chancen auf Überlebende. Katrin begann Clemens zu hassen und schrieb: »WOHER????????????« - Er erwiderte: »Ich bin aus deiner Filiale. Wenn du reinkommst, sitze ich links am zweiten Schalter. Wir lächeln uns immer an. Am 4. November hast du bei mir 8500 Schilling abgehoben.« - Magendurchbruch, Schaden irreparabel, keine Überlebenden, sofortige Einstellung sämtlicher Bauarbeiten. Sie schrieb: »WIESO WEISST DU DAS?????« - Er antwortete: »Ich bin ein Computerfreak und habe den Code für den anonymen Chatroom geknackt. Dabei hab ich dich entdeckt.«
Katrins letzte E-Mail an Clemens: »Ich will nicht wissen, welches der Bank-Gesichter dort dir gehört. Richte deinem Chef aus, dass ich die Filiale wechseln werde. Dann noch frohe Weihnachten. Und tschüss!«
Eine Stunde später rief die Mutter bei ihr an und wünschte ihr alles Gute zum Geburtstag, alles Gute zu Weihnachten, alles Gute für die Windpocken, alles Gute im Allgemeinen, alles Gute im Speziellen vom Papa, und die Geschenke warteten schon auf sie. Katrin hatte sich gerade eine dicke Schicht Nivea-Creme auf die geschwollenen Augen aufgetragen und sagte, dass es ihr plötzlich so gut gehe, dass der Arzt erlaubt hätte, dass sie das Bett ausnahmsweise verlassen dürfe. Kurzum: Sie würde nach Hause kommen. Und zwar gleich. »Aber Goldschatz, wir wollten gerade schlafen gehen«, sagte die Mutter. Noch besser, dachte Katrin und machte sich fertig.