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9. Dezember

Kurt lag unter seinem Sessel und dachte an nichts. Eines seiner kaffeebraunen Glaswürfel-Augen war offen. Er musste es irgendwann in der Nacht irrtümlich aufgemacht und zu schließen vergessen haben. Max war gut aufgelegt und lehnte am Fenster, um das ungewöhnliche sonntagmorgendliche Naturschauspiel zu beobachten. Er schätzte diese Art von Katastrophen. Die Stadt war zwar hoffnungslos zugeschüttet, aber mit sich vollkommen im Reinen. Es hatte 24 Stunden hindurch geschneit. Nun standen früh entschlossene Führerscheinbesitzer mit langstieligem Werkzeug zur Schnee-Umverteilung am Straßenrand und bauten ihren Restalkohol vom Vorabend ab. Jeder schaufelte sein eigenes Fahrzeug aus und dabei gleichzeitig jenes vom jeweils rechten Nachbarn wieder zu. Am Ende war immerhin eines von sieben Autos - das linksäußerste - halbwegs schneefrei. Zumindest für ein paar Minuten. Dann kam der Schneepflug.

Max hatte am Vormittag daheim zu tun. Und das freute ihn. Er hatte sich die Arbeit extra für die Bewältigung des Sonntags aufgehoben. Ihm war ein viertes journalistisches Aufgabengebiet in die Hände gefallen. Über die Seite fünf der »Rätsel-Insel« erstreckte sich allwöchentlich ein Pin-up-Girl. In den ersten Jahren des Magazins hatte es dort lustige Baby-Fotos gegeben. Als man auf Nacktfotos umsattelte, stieg die Auflage um ein Drittel. Als man von lasziven Weichzeichnungen auf klarere Linienführung überging und schärfere Motive aus den ehemals kommunistischen Staaten Europas verwendete, verdoppelte sich die Auflage. Viele Pensionisten gaben »Schlüsselloch« und »Sexy-Hexy« auf und abonnierten die »Rätsel-Insel«. Denn dieses Magazin war auch daheim herzeigbar, man musste es nicht mühsam vor den Ehefrauen verstecken. Es war nicht einmal verdächtig, dass die Herren die alten Ausgaben der »Rätsel-Insel« plötzlich sammelten und stapelweise aufbewahrten. Sie erklärten ihren Frauen einfach, dass sie noch nicht alle Rätsel gelöst hatten. Selbst wenn sie beim Studium der Seite fünf in flagranti erwischt wurden, konnten sie sich aus der Affäre ziehen. Sie mussten nur den Kopf schütteln und Empörung vortäuschen, etwa mit den Worten: »Frechheit! Man kauft sich eine Rätselzeitung - und dann stößt man auf solche Schweinereien!«

Weil Fleisch nicht ohne Beilage serviert wird, gehörte zu der Nackten auf der Seite fünf unwillkürlich ein Text dazu. Er sollte darüber Auskunft geben, wie das osteuropäische Mädchen hieß oder von Freunden gern genannt wurde, wie alt es war, wovon es träumte, warum es nackt war und was es sonst noch im Leben vorhatte. Diese Texte schrieb Herr Preireif - fünfzehn Jahre lang, jede Woche, jede bis einschließlich der vergangenen. Da starb er. »Herzinfarkt«, hieß es. Man fand ihn über ein Nacktfoto gebeugt. Seine letzten Worte waren schriftlich: »Einmal mit der schönen Priscilla (23) in der Gartenlaube sitzen - davon träumt wohl je...« Es musste Preireif mitten im Satz erwischt haben. »Dabei war er erst 47«, wussten die schockierten Kollegen. »Er hat sich zu viel zugemutet«, hieß es darauf. »Er hat für seinen Job gelebt«, war man sich einig. »Er hat sich in seine Arbeit hineingekniet«, behaupteten scharfe Beobachter.

Max wurde beauftragt, Preireifs Nachfolge anzutreten. Er war der einzige Junggeselle der »RätselInsel«. (Familienväter, die sich um den Job gerissen hätten, schieden aus moralischen Gründen aus.) Außerdem traute ihm der Chef die notwendige Fantasie zu. Man wusste ja, dass Max wöchentlich einen Hund beschrieb, der weder sich noch irgend- wen oder irgendwas bewegte. Da würde er angesichts nackter Schönheiten vor Ideen nur so sprühen.

Pro Bildtext zahlte man ihm 300 Schilling. Wöchentlich wollte ihm die Bildredaktion der »RätselInsel« die Abzüge von fünf bis zehn Nacktfotos nach Hause schicken. Er sollte jeweils eines davon auswählen und dazu einen kurzen Text erfinden. Er musste nur aufpassen, dass er nicht ein und dasselbe Pin-up-Girl mehrmals unter verschiedenen Namen verwendete und mit unterschiedlichen Träumen und Zukunftsplänen ausstattete. Das hieß: Er musste sich die Fotos gut anschauen, bevor er darüber schrieb.

Nun lagen die ersten acht Slowakinnen, Polinnen oder blond gefärbten Aserbaidschanerinnen auf seinem Schreibtisch. Nach halbstündigem Gustieren entschied er sich für Foto Nummer drei. Die blonde junge Dame stand an einem Fotostudio-Sandstrand, der echter wirkte als sie. Ihr Gesichtsausdruck war der einer blonden jungen Dame, zu der der Fotograf soeben gesagt haben könnte: »Mit diesem Foto wirst du wahrscheinlich nicht berühmt werden.« Aber sie verfügte über einen herausragenden Körperteil, eigentlich sogar über zwei. Und dazu fiel Max sofort der geeignete Bildtext ein: »Carla (19) hat zwar eine sehr empfindliche Haut, aber sie kann stundenlang barfuß am Strand laufen, ohne sich von der Sonne die Zehen verbrennen zu lassen. >Ich werfe mir meinen Schatten selbstc, sagt die Schöne selbstbewusst.«

Als er seine Zeilen zum dritten Mal las, fand er sie eigentlich nicht mehr so gut. Außerdem plagte ihn plötzlich das schlechte Gewissen, sein Honorar zu leicht verdient zu haben. Nicht nur, weil er diesbezüglich von Kurt völlig aus der Übung gebracht worden war, sondern vor allem auch im Vergleich zu Carla, die für ihr Foto sicher nicht mehr kassiert hatte als er. Und die hatte sich ausziehen, herumräkeln und weiß Gott was sonst noch alles machen müssen. Und wenn es Gott nicht wusste, so bestimmt der Fotograf.

Weil Max ohnehin nichts Besseres vorhatte, beschloss er, zu jedem Foto mindestens drei Bildunterschriften zu verfassen. Damit hatte er auch einen gewissen Polster für Zeiten, in denen er die Nackten nicht mehr sehen konnte oder beschreiben wollte. Nein, den Polster hatte er nicht. Denn die Texte waren großteils unbrauchbar. Wahrscheinlich setzte er auch seine »Max'sche Kreuzworträtselecke« aufs Spiel, würde er etwa den Text zu Bild Nummer fünf abliefern, einer diabolisch dreinblickenden jungen Frau, der ein Fußmarsch von Krakau nach Kattowitz in den erstaunlich muskulösen Beinen zu stecken schien. »Olgas größter Wunsch wäre es, Männer dabei zu fotografieren, wie sie ihr Nacktfoto anstarren und sich dabei einen runterholen.«

Bei »Als Kind muss Lesley jede Menge Pfirsichkerne verschluckt haben, denn . « musste Max seine Arbeit unterbrechen. Er hatte nur noch zehn Minuten Zeit, Kurt auf die Beine zu stellen und auf einen Winterspaziergang vorzubereiten. Der Deutsch-Drahthaar stand unmittelbar vor seinem ersten Rendezvous mit einem anderen Menschen als Max. Das heißt: Er lag unmittelbar davor.

Der gelbe Fleck am Eingang zum Esterhazypark war Katrin. Kurt dürfte sie trotz Schneegestöbers schon von weitem als eine Person erkannt haben, bei der er unter Leistungsdruck stand, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Er hielt dem Druck nicht stand und zog in die andere Richtung. Er wollte wieder nach Hause. Ihm war kalt. Es war nass. Die Drahthaare heizten nicht ordentlich. Das offenbar zu Dekorati

onszwecken angelegte Gitter auf der Schnauze nervte schwer. Der Schnee zwickte zwischen den Pfoten und juckte auf dem Fell. Er und Max waren bereits länger als fünf Minuten unterwegs. Sein rechtes hinteres Bein hatte kaum noch Kraft. Er hatte es sekundenlang von sich gestreckt. (Er war ein Rüde. Er musste das so machen.)

Die Übergabe erfolgte ohne Komplikationen. Max drückte Katrin, von der man nichts sah, weil sie in einem gelben Watteballon mit Sehschlitzen steckte, bei ruhendem Hund die Leine in die Hand und sagte: »Sie können ihn ruhig auslassen. Er läuft sicher nicht davon.« Sie vereinbarten einen Hundrückgabezeitpunkt am selben Ort. Bis dahin wollte Katrin mit Kurt einen kleinen Gewöhnungsspaziergang wagen und ihm bei Kaffee und Hundekuchen ihre Wohnung zeigen - die lag gleich auf der anderen Seite des Esterhazyparks. Max wünschte ihr viel Glück für die kommenden Stunden und hinterließ ihr zur Sicherheit seine Adresse. »Und wenn er nicht gehen will, dann lassen Sie ihn einfach liegen«, rief er ihr nach.

Katrin und Kurt verstanden einander auf Anhieb. Sie hatte sich nie zuvor mit einem Hund beschäftigt, er sich nie zuvor mit einem Menschen. Sie verabscheute Hundegebell, ihm widerstrebte Menschengeplapper. Beide hassten den Winter. Beide litten unter Kälte und Schnee. Beide sehnten sich nach Frieden und Geborgenheit. Beide waren von an Toleranz grenzender Gleichgültigkeit beseelt. Beide ließen die anderen so sein, wie sie waren, und bestimmt auch dort stehen (beziehungsweise liegen), wo sie sich befanden. Irrtum: Gerade in diesem sensiblen Bereich ging Katrin nach wenigen harmonischen Augenblicken ihren eigenen Weg.

Konkret war es so, dass sie Kurt die Leine abnahm und einige Meter durch den Schnee stapfte. Als sie sich umdrehte, lag der Hund noch immer auf dem Platz, an dem die Übergabe stattgefunden hatte. Auf das Kommando »Hierher!« ereignete sich (aus Kurts Sicht) nichts Dramatisches. Auch nicht auf das zehnmalige Kommando »Hierher!«, auch nicht auf die jeweils mehrmaligen erweiterten Kommandos »Kurt, hierher!« - »Kurt, komm hierher!« Und: »Blöder Hund, komm hierher!« Auch nicht auf erweiterte Ausfälligkeiten und Entgleisungen wie: »Kannst du nicht gehen?« - »Hast du keine Beine?« - »Bist du schwerhörig?« - Oder: »Hast du keine Beine und bist du zusätzlich schwerhörig?« Auch nicht auf mehr oder weniger gefährliche Drohungen wie: »Wenn du keine Beine hast, soll ich dir welche machen?« - »Das sag ich deinem Herrl!« (Der war gut! Kurt hätte gerne gelacht.) - »Ich rufe den Abschleppdienst.« - »Ich rufe den Tierarzt.« - »Ich rufe die Tierkörperverwertung.« - »Ich rufe den ambulanten Seifenverarbeitungsdienst.« Und: »Wenn du nicht gleich gehst, kannst du dir Weihnachten bei mir abschminken.«

»Also gut, du hast gewonnen, komm her und wir gehen heim«, war zwar nur noch resignativ geflüstert. Aber Kurt hatte entweder Mitleid oder ein Einsehen oder einen Energieanfall. Er erhob sich und stand wenige Minuten später neben ihr, wo er einen Kreis drehte, sich dabei einrollte und in den Tiefschnee fallen ließ. Das weckte Katrins Ehrgeiz. Sie ging ein paar Schritte weiter, rief im gleichen tristen Tonfall: »Kurt, du hast gewonnen, komm her und wir gehen heim!« - Kurt trottete nach. Das Spiel ließ sich noch drei weitere Male wiederholen. Sie waren nicht mehr weit von Katrins Wohnung entfernt.

Als sie die Wegstrecke verdoppelte und sich umdrehte, war der Hund verschwunden. Sie suchte ihn eine Stunde lang. Sie durchforstete den gesamten Esterhazypark. Sie ging jeder Spur nach, sogar Vogelspuren. (Vielleicht hatte sich Kurt von Vögeln abschleppen lassen.) Sie rief den Namen »Kurt« öfter, verzweifelter, schriller und hysterischer als sämtliche mit einem Kurt verheirateten Frauen dies im Zeitraum zwischen Hochzeit und goldener Hochzeit zustande bringen konnten. Vergeblich. Kurt war und blieb fort.

Max hatte sich gerade hingesetzt, um Ludmilla (Foto eins) »in der Freizeit für ihr Leben gern Pullover stricken« zu lassen, wobei er schon Angst vor der unausweichlichen Pointe hatte, dass ihr im vorliegenden Fall die Wolle ausgegangen sein dürfte. Da läutete es vehement an der Tür.

Es war Katrin im gelben Raumanzug. Was man von ihr erkannte, sah nach hochgradiger Verzweiflung aus. »Kurt ist verschwunden«, vermeldete sie atemlos. Max war erleichtert, er hatte schon gedacht, es sei etwas passiert. »Ich habe den ganzen Park nach ihm abgesucht, er ist plötzlich nicht mehr da gewesen. Was kostet so ein Hund?«, fragte sie und tapste ihren Raumanzug ab, als würde sie ihre Geldbörse suchen.

»Jetzt beruhigen Sie sich einmal«, sagte Max. Ein schöner Satz, dachte er: Wird im Film zu oft und im Alltag zu selten verwendet. »Wollen Sie einen Kaffee?« - Auch ein schöner Satz, dachte er: Wird im Film zu selten, aber im Alltag leider zu oft verwendet. »Kaffeeeee?«, rief Katrin entsetzt: »Wir müssen sofort zur Polizei gehen und eine Vermisstenanzeige aufgeben. Dann müssen wir den Hund noch einmal suchen. Er erfriert uns noch.« - Aber nein, dachte Max: Erfrieren wäre Kurt erstens zu anstrengend gewesen. Und zweitens hatte er hundertmal eher Frostschutzmittel als Blut in den Adern. Ohne seine Gedanken preiszugeben, klopfte er Katrin auf die rechte gelbe Raumanzugschulter und sagte: »Kein Grund zur Aufregung. Er kann nicht weit sein. Wir holen ihn. Okay?« - »Einverstanden«, sagte Katrin und reichte ihm unabsichtlich die Hand (den gelben Raumhandschuh), als hätten sie sich nach zähen Verhandlungen auf einen guten Kompromiss geeinigt.

Max zog sich im Vorraum die Winterschuhe an. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, stand Katrin bei seinem Schreibtisch und fragte: »Sind Sie ... äh ... Fotograf?« Ihre Stimme war plötzlich rau und uncharmant. Sie hatte die Kapuze ihres Raumanzugs zurückgeschlagen. Sie sah aus wie Winona Ryder, wenn sie gerade keine Männer mochte. Max hatte vergessen, die Pin-ups wegzuräumen. Sie lagen ausgebreitet nebeneinander. »Nein«, erwiderte er halblaut, »ich brauche die Bilder für meine Arbeit.« - »Als Motivation sozusagen«, sagte Katrin. Sie sah aus wie Winona Ryder, wenn sie gerade zelebrierte, keine Männer zu mögen. »Aber Verzeihung, das geht mich eigentlich nichts an«, setzte sie nach und zog die Kapuze über den Kopf. Das hätte Winona Ryder nicht gemacht. Max verzichtete darauf, die Sache mit den Fotos aufzuklären. Er war froh, an die frische Winterluft zu kommen.

Kurt fanden sie relativ rasch. Max fragte Katrin, an welcher Stelle sie den Hund zum letzten Mal gesehen hatte. Dorthin stapften sie. »Hier muss er sein«, sagte Max. »Hier ist niemand«, widersprach Katrin. »Kurrrrrrrrrrt!«, rief Max. Von seinem »r« konnten knurrende Hunde noch etwas lernen. An der Schneeoberfläche bröselte es leicht. Kurt war einige Meter darunter. Der Schrei hatte ihn aufgeweckt. »Er hat sich einen Iglu gebaut«, stellte Katrin fasziniert fest. Unmöglich, dachte Max: Der Iglu muss sich um Kurt herum gebaut haben.

Kurt ging es gut. Er war mit Katrins Schrecken davongekommen. Trotzdem trugen sie ihn zu zweit bis vor die Haustür. Er schlief in ihren vier Armen und machte sich schwer. »Wollen Sie noch auf einen Kaffee zu mir kommen?«, fragte Max. (Der Satz war vorhin unter seinem Wert verkauft worden, dachte er.) »Danke, sehr nett. Vielleicht ein andermal«, erwiderte Katrin. (Ein Satz, der sowohl im Film als auch im Alltag eindeutig zu oft verwendet wird, dachte Max.) »Glauben Sie, dass Sie den Hund zu Weihnachten nehmen werden?«, fragte er. »Ich denke schon«, erwiderte Katrin. »Irgendwie mag ich ihn.«