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Ein paar Wochen später fegte ein Nordostwind durch Granston. Das Hafenbecken fror so tief zu, dass man es überqueren konnte. Jeden Morgen kamen die Fischer, um mit Spitzhacken ihre Boote frei zu hauen, setzten dann im Schnee Segel, warfen draußen ihre Netze aus und zogen die Hummerreusen aus dem Wasser.
Ren verbrachte die meiste Zeit im Keller und las ein ums andere Mal den Hirschtöter. Tom und Benjamin spielten Karten oder gingen in die örtliche Schenke. Mitte Januar bekam Tom die Windpocken. Ren hatte sich schon vor Jahren in Saint Anthony damit angesteckt, und Benjamin behauptete, sie als Kind gehabt zu haben, und so verbrachte Tom, maulend und sich kratzend, einen Monat allein im Bett. Ren war froh darüber, denn Benjamin nahm stattdessen ihn mit in die Schenke, brachte ihm bei, wie man Pfeife raucht, und gab ihm Bier zu trinken, anschließend aßen sie dann zusammen gemütlich zu Abend, und danach erzählte Benjamin immer Geschichten.
Benjamin erzählte gern von seinem vorgeblichen Leben als Seemann und von all den Orten, die er im Lauf der Jahre bereist hatte. Angeblich hatte er mächtige Flüsse überquert und Wüsten, Vulkane und Berge bezwungen. Und dort hatte er Eidechsen und Affen gesehen, Kühe mit behaarten Eutern und Fische mit drei Augen. Er sprach von den Zeiten, in denen man ihn in Marokko als Sklave verkauft hatte und er um ein Haar von Kannibalen in der Südsee verspeist worden wäre, und davon, dass er einmal einen Besuch im Harem eines türkischen Prinzen gemacht und tausend in pures Gold gekleidete Frauen gesehen hatte.
Ren beobachtete, wie die anderen Männer in der Schenke mit aufgerissenen Mündern ihre Stühle heranrückten, um zuzuhören. Die meisten waren einheimische Fischer, die selbst allerlei Geschichten zu erzählen wussten, von seltsamen Lebewesen, die sie draußen auf dem Wasser gesehen hatten, und von Männern, die von ihrer eigenen Takelage in zwei Hälften zerteilt worden waren. Sie zeigten die Narben von Haken her, die sich in ihre Leiber gebohrt hatten. An diesem Punkt rief Benjamin dann Ren herbei und forderte ihn auf, seinen Armstumpf herzuzeigen.
Manchmal wiederholte Benjamin die Geschichte von ihrer Mutter und dem Indianer. Bei anderen Gelegenheiten war es ein Löwe, der Rens Hand gefressen hatte, oder eine Schildkröte, die danach geschnappt hatte, als er die Finger ins Wasser hatte hängen lassen. Den Fischern war es anscheinend egal, welche Geschichte sie zu hören bekamen. Sie lachten nur und reichten Ren im Schankraum herum, damit alle ihn sehen konnten. Einigen von ihnen fehlten selbst Gliedmaßen – ein Ohr, das abgefroren, ein Bein, das einem Hai zum Opfer gefallen war. Ein alter, wettergegerbter Kapitän hatte eine Holzhand, wie Mr. Bowers sie beschrieben hatte, und Ren durfte sie anprobieren und sich die Riemen über die Schulter schnallen lassen. Natürlich war sie ihm viel zu groß und hing schwer und befremdlich am Ende seines Armes, mit leicht geöffneten, gebogenen Fingern, bereit für einen Händedruck.
Wenn die Geschichten zu Ende erzählt waren, spendierte der Barmann eine Runde. Trinksprüche wurden ausgebracht. Rens Narbe wurde bejubelt. Er hielt sie hoch, und die Fischer klatschten Beifall. Am anderen Ende des Raums hob Benjamin sein Glas und lächelte. Dieses Lächeln war anders als das, welches er Pater John und dem Farmer gezeigt hatte. Sein Mund war entspannter, die Augen hinter dem Grinsen fröhlich. Hätte Ren es nicht besser gewusst, hätte er geglaubt, dass Benjamin es ernst meinte.
Als der Winter endlich um war und der Schnee schmolz, war ganz Granston feucht und aufgeweicht, und die Straßen waren voller Dreck. Die Schneeglöckchen schoben ihre winzigen weißen Blüten aus der Erde, und die Kirschbäume blühten in voller Pracht. Das Geld von dem gestohlenen Schmuck war aufgebraucht, und Benjamin meinte, es sei an der Zeit weiterzuziehen.
Am nächsten Tag fuhren sie am Fluss entlang aus der Stadt hinaus. Es war ein hartes Stück Arbeit für die Stute. Sie hatten in der Nähe einen Stall gefunden, in dem sie den Winter über untergekommen war, aber viel Bewegung hatte sie nicht bekommen. Ren hatte sie jede Woche besucht und sich vergewissert, dass sie ordentlich gefüttert wurde, und wenn er den Mut aufbrachte, legte er seinen Kopf an ihre Flanke und lauschte dem Pochen ihres riesengroßen Herzens. Jetzt rackerte sie sich an diesem warmen Frühlingstag vor dem Wagen ab, um ihn samt den drei Insassen einen Hügel hinaufzuziehen. Sie fuhren den ganzen Nachmittag, hielten an einem Feld an, um etwas zu essen, und machten dann im Schatten der Bäume ein Nickerchen. Noch ein Tag, dann wären sie in North Umbrage.
Es hatte einige Zeit gedauert, bis Benjamin seine Meinung über Bowers’ Angebot geändert hatte. Ren hatte die beiden Männer nachts miteinander flüstern hören. Tom drängte darauf, dass sie den Auftrag annahmen, aber Benjamin sagte nur, nach North Umbrage würde er nie mehr zurückkehren. Und dann eines Nachmittags, als Tom die Windpocken beinahe überstanden hatte und sich die letzten Schorfplättchen von der Haut schälten, hatte der Schullehrer im Keller eine Flasche Whiskey aufgemacht und Ren gefragt, was er einmal werden wolle, wenn er erwachsen sei.
»Ich weiß es nicht«, sagte Ren und blickte von seinem Buch auf.
»Hast du nie darüber nachgedacht? Nicht ein einziges Mal?«, fragte Tom. »Wie wär’s mit Fischer, wie die Burschen, die du in der Schenke kennengelernt hast.«
Benjamin putzte am Tisch seine Stiefel. Er schmierte einen Streifen schwarze Wichse auf die Schuhkappe und verrieb sie. »Lass ihn in Frieden.«
»Findest du nicht, dass das kleine Ungeheuer einen Beruf braucht?« Tom trank noch einen Schluck Whiskey. »Vielleicht will er den Rest seines Lebens ja nicht in einem Keller zubringen.«
»Wir werden diese Art von Arbeit nicht ewig machen.«
»Das sagst du jedes Mal«, sagte Tom und schnippte ein Stückchen Schorf weg. »Aber wir brauchen etwas, womit wir uns ein paar Jahre lang über Wasser halten können und nicht nur ein paar Monate.«
Dieses Gespräch führten sie nicht zum ersten Mal. Doch diesmal unterbrach Benjamin seine Tätigkeit und starrte auf seine teilweise polierten Stiefel. Sie waren alt, mit rissigen Absätzen, die gerichtet werden mussten. Er schaute Ren an. Dann wieder seine Stiefel. Dann durchquerte er auf Strumpfsocken den Raum und verbrachte den Nachmittag damit, gemeinsam mit Tom den Whiskey auszutrinken. Hin und wieder wandte er sich Ren zu, der in der Ecke saß und seinen Blick erwiderte, und mit jedem Mal wurde Benjamins Miene bekümmerter.
Als Ren am nächsten Morgen aufwachte, war Benjamin verschwunden. Er kam erst am Abend zurück, roch nach Tabak und sagte, er habe sich das mit North Umbrage anders überlegt.
Die Männer fingen an, Pläne zu schmieden, und Benjamin ging nicht mehr in die Schenke. Stattdessen brachte er die meiste Zeit damit zu, Zahlen zu addieren und Friedhöfe aufzusuchen und sich Notizen in einem schwarzen Büchlein zu machen, das er stets mit sich herumtrug. Er verschwand oft tagelang aus dem Keller, und fragte man ihn nach seinem Verbleib, antwortete er schlicht: »Ich stelle Nachforschungen an.« Einmal war Ren ihm gefolgt, hatte Straße um Straße überquert, bis hin zum Markplatz, wo er ihn dann in der Kanzlei eines Advokaten verschwinden sah. Als Benjamin wieder herauskam, kaute er an seinen Nägeln herum, und dann blieb er mitten auf dem Gehsteig stehen und lachte laut auf, als hätte ihm jemand gerade etwas Unglaubliches erzählt.
Ren beobachtete ihn jetzt, wie er die Zügel straff hielt und den Karren seitlich an den Spurrillen vorbeilenkte. Sein Blick war nach vorn gerichtet, die Pfeife steckte fest zwischen seinen Lippen, und hinter ihnen schwebten Rauchwölkchen über die Straße.
Bald kamen sie in ein Tal zwischen zwei Hügeln, mit Weiden voller Schafe ringsum. Weiße und braune und schwarzgesichtige Tiere bevölkerten die Landschaft. Der Wagen fuhr an ein paar Farmern vorbei, die ihre Herden im Fluss wuschen, um sie für die Schur vorzubereiten. Die Männer beschrieben ihnen den Weg in die nächste Stadt. Dort stiegen sie in einem Gasthof ab, wo sie ihr letztes Geld für ein Zimmer ausgaben. Die Böden waren staubbedeckt, die Betten voller Tabakflecken und Brandlöcher. Tom setzte sich an den Tisch, und Benjamin packte gemächlich den Koffer aus.
Ren saß still in einer Ecke und las die letzten Seiten seines Buches. Der Hirschtöter lehnte Judith Hutters Heiratsantrag ab. Sie hatte alles versucht, um ihn dazu zu bringen, sie zu lieben, aber es reichte einfach nicht. Ren hatte den Schluss viele Male gelesen und fand ihn immer noch schrecklich. Adlerauge hatte den ganzen Roman hindurch gegen Indianer gekämpft und Unrecht wiedergutgemacht, doch als er Judith ihrem einsamen Schicksal überließ, kam er Ren mit jedem Mal weniger heldenhaft vor.
»Morgen zum Scheren kommen bestimmt viele Leute.« Benjamin klappte den Lederkoffer auf und holte eines der braunen Fläschchen heraus, die mit Doktor Fausts medizinisches Salz für angenehme Träume beschriftet waren.
»Jemand könnte uns erkennen«, meinte Tom.
»Mich erkennen, meinst du.«
»Als würde das eine Rolle spielen.« Tom zog seinen Mantel aus und warf ihn aufs Bett.
»Ich habe eine Idee, wie wir den Jungen einsetzen können.«
»Den solltest du lieber aus dem Spiel lassen.«
»Aber er möchte gern. Nicht wahr, Ren?«
Ren blickte von seinem Buch auf. Er merkte Benjamin an, dass er ganz begierig darauf war, etwas Neues auszuprobieren. Im Lauf des Winters hatte er Ren ausführlich erzählt, was für Gaunereien er begangen hatte: Er hatte sich als Kapitän, als Arzt und als Geistlicher ausgegeben, aus einem Katalog Sachen verkauft, die nie zugestellt wurden, Testamente gefälscht und falsche Urkunden ausgestellt. Alles verlief nach einem ähnlichen Muster: überhöhten Gewinn erzielen, für raschen Besitzwechsel sorgen, und dann so schnell wie möglich fort aus der Stadt. Wenn Benjamin und Tom eine Zeit lang irgendwo bleiben mussten, wandten sie sich den Friedhöfen zu, wo die Opfer umgänglicher waren und sich nicht die Mühe machten, sie zu verfolgen.
Ren klappte sein Buch zu. »Ich möchte es machen.«
Tom schaute besorgt drein. »Ich glaube nicht, dass er bereit dafür ist.«
»Unsinn«, sagte Benjamin.
»Er ist doch noch ein Kind. Er schafft es höchstens, dass sie uns erwischen.«
Benjamin setzte sich auf die Matratze, lehnte sich zurück und zog sich die Decken bis ans Kinn. Er schloss die Augen und stieß einen Schwall Luft aus. »Noch nicht.«
An diesem Nachmittag ging Benjamin los, um etwas zum Abendessen aufzutreiben, und Tom und Ren machten sich daran, die Etiketten Doktor Fausts medizinisches Salz für angenehme Träume durch andere mit der Aufschrift Mutter Jones’ Elixier für unartige Kinder zu ersetzen. Ren weichte die alten Fläschchen ein und kratzte mit einem Messer das Papier ab, während Tom sich mit Federhalter und Tinte an den Tisch setzte und neue Etiketten schrieb; sobald eines fertig war, trank er einen Schluck Whiskey.
Bevor sie Granston verlassen hatten, hatte Tom seinen Bart getrimmt und sich ein neues Hemd gekauft. Jetzt stopfte er eine Serviette in den Kragen, damit es keine Flecken abbekam, und krempelte sorgfältig die Ärmel hoch. Der Lichtschimmer der Kerze flackerte auf seinem Gesicht. Er wirkte ruhig und nahezu nüchtern.
Ren stellte fest, dass Tom bemerkenswert schön schreiben konnte. Die Enden seiner Buchstaben verschlangen sich zu Ornamenten; die Querstriche und Bindestriche verliefen in Wellen von unterschiedlicher Breite. Wenn die Etiketten aufgeklebt waren, sahen sie ziemlich fachmännisch aus. Tom schenkte sich noch ein Glas ein und spreizte seine tintengefleckten Finger.
Ren beugte sich über den Tisch und bewunderte die kunstvolle Schrift. »Warum hast du aufgehört zu unterrichten?«
Tom runzelte die Stirn. Er strich sich mit der Hand übers Gesicht und hinterließ dabei schwarze Tintenstreifen auf seiner Stirn. »Hast du Kameraden?«
»Ich hatte welche«, sagte Ren. »Es waren Zwillinge. Brom und Ichy.«
»Und, fehlen sie dir?«
»Ja«, sagte Ren. Sobald er es aussprach, wusste er, dass es stimmte. Die Zwillinge fehlten ihm in jeder Hinsicht, angefangen damit, dass sie ihn in der Kapelle immer zum Lachen gebracht hatten, bis hin zu ihrer geheimen Zeichensprache beim Abendessen. Sogar das, was ihn sonst furchtbar geärgert hatte, fehlte ihm, etwa dass Brom ihn auch dann noch boxte, wenn er schon aufgegeben hatte, oder dass Ichy sich gern zu etwas bekannte, was er gar nicht getan hatte.
»Ist verdammt schade, wenn man seine Kameraden verliert.« Wieder trank Tom einen Schluck. Auf einem Arm hatte er winzige rote Narben, Überbleibsel von den Windpocken. Er krempelte den Ärmel herunter und wischte sich die Nase an der Manschette ab. »Ich hatte früher mal einen Kameraden. Wir sind zusammen aufgewachsen. Und es war genauso, wie Aristoteles gesagt hat: ›Eine Seele, zwei Körper.‹ Eine echte Freundschaft. Davon erlebt man nicht viele im Leben, das kann ich dir sagen.
Wir haben dasselbe Mädchen geliebt und von ihr verlangt, dass sie sich zwischen uns entscheidet. Ich war Lehrer und hatte nicht viel Geld; Christian hatte ein Stück Land und ein Erbe. Also hat sie sich mit ihm verlobt. Aber nachts hat sie sich weiterhin mit mir im Wald getroffen. Und Gott steh mir bei, ich hätte alles getan, was sie von mir verlangte.«
Tom hob den Whiskey an seine Lippen und trank ihn aus; danach ließ er das Glas noch einen Moment lang am Mund und biss auf den Rand.
»In der Kirche hat er mir die Hand geschüttelt und mich angelächelt, während sie an seinem Arm hing. Alles geschah direkt vor seiner Nase, und sie roch noch kräftig danach, wie ein gebuttertes Rosinenbrötchen. Eines Abends hatte ich zu viel getrunken und hab ihm alles erzählt. Ich sagte: ›Weißt du, wie ihre Haut schmeckt?‹ Ich sagte: ›Kannst du mich an ihren Fingern riechen?‹ Er nahm eine Pistole aus der Schublade und sagte, ich soll den Mund halten. Und ich sagte: ›Wir haben ganz schön über dich gelacht.‹ Da richtete er die Pistole auf seinen Kopf und schrie mich an, ich soll aufhören, und ich sagte: ›Na los, schieß doch‹, und er hat es getan.«
Ren ergriff ein leeres Fläschchen Doktor Fausts medizinisches Salz für angenehme Träume. Er schaute angestrengt auf das Etikett, um Tom nicht ansehen zu müssen. Von Bruder Joseph wusste er, dass Selbstmörder nicht auf dem Kirchhof zur letzten Ruhe gebettet wurden. Sie wurden am Scheideweg begraben, in ungeweihter Erde, wie die Mutter von Brom und Ichy. Ihre Seelen kamen in die Hölle, und ihr Geist verwandelte sich in ein weißes Kaninchen, das das unbezeichnete Grab heimsuchte, Pferde scheu machte und Reisende zum Narren hielt, so dass sie den falschen Weg einschlugen.
Tom hatte die Augen zugekniffen. Wieder und wieder fuhr er sich mit der flachen Hand über die Stirn und rieb sich die Tinte noch tiefer in die Haut.
»Danach habe ich den Lehrerberuf an den Nagel gehängt.«
Eine Weile saßen sie schweigend da. Ren versuchte zu erahnen, was Tom als Nächstes tun würde, ob fluchen oder schluchzen, aber der Schullehrer rieb nur die Fingerspitzen aneinander und fing dann an, Flecken auf den Tisch zu machen – eine Serie von Daumenabdrücken, alle in einer Reihe.
Ren fuhr fort, die Etiketten abzukratzen, und Tom seufzte und ging daran, Mutter Jones’ Elixier für unartige Kinder zusammenzumischen. Mit Hilfe eines Trichters befüllte er die Fläschchen mit Ahornsirup, verdünntem Opium, Rizinusöl und ein wenig Sauermilch, bis die Flüssigkeit hell und klebrig war und einen leichten Stich ins Braune hatte. Er goss einen winzigen Schluck in ein Glas und reichte es Ren.
»Trink aus!«
Ren roch an der Flüssigkeit, streckte dann die Zunge hinein. Sie schmeckte süß und zugleich bitter.
»Ein bisschen überzeugender musst du schon sein.«
Ren hob das Glas. Die Arznei ließ sich Zeit, glitt zäh wie Melasse am Rand des Glases entlang. Nur ein Tropfen fiel in seinen Mund. Er schmeckte abscheulich, aber Ren schluckte ihn hinunter. »Und jetzt?«
»Jetzt«, sagte Tom, »musst du artig sein.«
Als Tom und Ren am nächsten Morgen eintrafen, war das Scheren bereits in vollem Gang, obwohl die Felder noch feucht vom Tau waren. An die hundert Männer, Frauen und Kinder liefen durcheinander und schwatzten und begutachteten die verschiedenen Herden. Im Gras standen Tische mit Essen und Trinken bereit. Von den Bäumen und den aufgestellten Gattern wehten bunte Bänder.
Ren ließ den Blick über die versammelte Menge wandern und hielt Ausschau nach Benjamin. Dieser war vor der Morgendämmerung aufgebrochen und hatte den Lederkoffer mitgenommen.
»Denk dran«, hatte er gesagt, unmittelbar bevor er die Tür zumachte, »du hast keine Ahnung, wer ich bin.«
Rens Stiefel waren vom Weg über das Feld durchgeweicht. Das Leder scheuerte an seinen nackten Knöcheln. Tom blieb knapp außerhalb der Menge stehen und nahm Ren bei der Hand. Es war merkwürdig, so zu tun, als seien sie Vater und Sohn. Beide eigneten sich nur schlecht für diese Rollen. Rens Haare standen nach allen Seiten ab, und der Schullehrer stank nach Whiskey. Tom verstärkte seinen Griff, und Ren schaute zu ihm auf.
»Spiel ja nicht den Helden«, sagte Tom. »Wenn was schiefläuft, rennst du weg. Ist das klar?«
Ren nickte, und sie begaben sich ins Gewühl. Sie kamen an Tischen vorbei, auf denen sich Scones und Muffins türmten, dazwischen ein ganzer Schinken, ein Fass Apfelwein und der ein oder andere Kuchen mit Zuckerglasur. Als sie sich den Schafscherern näherten, wich der Essensduft dem Gestank von frischem Schafsmist und dem kräftigen Geruch nach Wolle.
Die Farmer holten sich ein Schaf nach dem anderen, warfen es auf den Rücken und machten sich dann mit der Handschere ans Werk; dabei fingen sie am Kopf an und arbeiteten sich über die Seiten vor und den Bauch entlang, bis sich das Fell des Tiers in einem einzigen verfilzten Stück löste. Dann wurde das Fell gewogen und geprüft, bis der Preis dafür festgelegt wurde.
Winzige weiße Flusen schwebten durch die Luft. Die Finger der Schafscherer glänzten vom Wollfett, das auf ihren Lederschürzen Flecken hinterließ. Als die Sonne im Verlauf des Tages immer höher kletterte, zogen ein paar ihre Hemden aus und arbeiteten mit bloßem Oberkörper weiter; um den Hals hatten sie ein Tuch geknotet, ihre Hosenträger baumelten um den Bauch.
Die Schafe warteten hinter einem Gatter, sahen blökend zu, wie ihre Artgenossen geschoren wurden. Eins nach dem anderen wurden sie geholt, auf die Seite geworfen und fachmännisch geschoren. Danach sahen sie nackt aus und wirkten benommen. Wenn die Tiere wieder losgelassen wurden, schüttelten sie den Kopf und stießen taumelnd aneinander, torkelten unsicher durchs Gras wie neugeborene Lämmer.
Nun begann ein Wettbewerb. Ein Mann mit Weste und hohen Stiefeln und einer mit einer langen Narbe auf der Wange traten gegeneinander an, ihre Scheren flogen nur so, die Schafe wehrten sich, die Menge feuerte die Männer an. Am Ende waren sie schweißbedeckt und voller Wollfusseln. Die Schiedsrichter begutachteten die Vliese und erklärten den Mann mit der Narbe zum Sieger. Die Menge johlte, und die nächsten zwei Konkurrenten traten vor. Ein paar Kinder kletterten auf einen Baum in der Nähe, um besser sehen zu können.
»Los jetzt«, sagte Tom.
Widerstrebend entfernte sich Ren von seiner Seite. Die anderen Kinder turnten im Geäst und jagten einander um den Baumstamm herum. Ein paar beäugten Ren neugierig, als er näher kam und sich neben den Baum stellte. Tom stand am anderen Ende des Feldes, deutete auf ihn und schlug mit der Hand in die Luft. Ren fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er ballte seine Hand zur Faust. Dann hielt er die Luft an, ging auf einen flachshaarigen Jungen zu und boxte ihn seitlich in den Hals, so fest er konnte.
Der Junge sackte zu Boden und blieb keuchend und nach Luft japsend liegen. Die anderen Kinder ließen sich vom Baum plumpsen und umringten ihn. Rens Hand pochte. Er fühlte sich erstaunlich wohl.
Ein Junge in einer Latzhose trat vor. »Wieso hast du das getan?«
»Weiß ich nicht«, sagte Ren. »Weil ich Lust drauf hatte.«
Alle betrachteten den Jungen, der nach Luft schnappte. Ein paar Kinder wichen zurück, andere kamen näher.
»Muss er jetzt sterben?«, fragte ein Mädchen.
»Nein«, sagte ein anderes. »Aber wenn er stirbt, dann wissen wir, wer schuld dran ist.«
Der Junge mit der Latzhose stieß Ren zu Boden. »Na, wie ist das?«, fragte er und begann ihn zu treten. Ren versuchte sich zu wehren, aber jetzt traten auch die anderen Kinder nach ihm, sogar die Mädchen, so dass er schließlich einfach aufgab und darauf wartete, dass sie aufhörten; während der ganzen Zeit fühlte er sich ungerecht behandelt. Nur wenige Meter entfernt im Gras sah er den Jungen, den er geboxt hatte. Er hatte sich wieder erholt, kroch jetzt auf allen vieren auf ihn zu und spuckte ihn an.
»Weg da!«, sagte einer der Farmer. »Ich meine es ernst, Charlie.«
»Aber er hat angefangen«, sagte der Junge in der Latzhose.
»Das interessiert mich einen Dreck.« Die Kinder wichen zurück, und der Mann packte Ren am Kragen und hievte ihn auf die Beine. Er wischte ihm Schmutz von der Jacke, dann zögerte er. »Du meine Güte!«
Ren zog sein vernarbtes Handgelenk in den Ärmel zurück. Die anderen Kinder verstummten. Mit hochrotem Kopf starrte er zurück.
»Er hat seine Hand in einer Dreschmaschine verloren«, sagte Tom, der jetzt vortrat. »Seitdem fängt er immer Streit an.«
»Für heute ist jedenfalls Schluss damit«, sagte der Farmer.
»Tut mir leid, das Ganze.« Tom packte Ren grob am Arm. »Ich kriege ihn einfach nicht dazu, dass er sich anständig benimmt.«
»Alles, was der Junge braucht, ist ein bisschen Tonikum.« Lächelnd und seinen Lederkoffer schwenkend, löste sich Benjamin aus der Menge und trat vor. Er setzte den Koffer ab, schnallte die Riemen auf und holte ein Fläschchen hervor. »Und zufällig habe ich heute etwas dabei. Es nennt sich ›Mutter Jones’ Elixier für unartige Kinder‹.«
»Wenn es dazu führt, dass mein Junge sich nicht mehr in Schwierigkeiten bringt, gebe ich Euch fünf Dollar dafür«, sagte Tom.
»Das ist sehr freundlich von Euch, mein Freund«, sagte Benjamin. »Aber das Fläschchen kostet nur einen Dollar.«
»Einen Dollar?«, sagte Tom. »Wirklich ein gutes Angebot.«
»In der Tat«, sagte Benjamin.
Tom gab ihm eine zerknitterte Dollarnote und bekam dafür das Mittelchen.
Rens Lippe war aufgeplatzt, seine Rippen taten weh. »Ich will das nicht trinken.«
»Wenn du es nicht trinkst, gerb ich dir das Fell.«
Tom entkorkte das Fläschchen und schob es Ren in den Mund, und der trank es auf einen Zug leer. Das zähflüssige Zeug, süß und bitter zugleich, brachte ihn fast zum Würgen. Als er es hinuntergeschluckt hatte, wischte er sich mit der Rückseite des Ärmels den Mund ab, ging zu dem Jungen hin, den er geboxt hatte, fiel auf die Knie und bat ihn um Verzeihung.
»Ein Wunder!«, rief Tom.
Die Farmer waren nicht überzeugt. Erst als Ren mit einer Miene aufrichtiger Dankbarkeit zu beten begann, weil das Opium die Schmerzen in seinem Brustkorb gelindert hatte, traten ein paar Farmersfrauen näher.
»Zufriedenheit garantiert«, sagte Benjamin. Das war anscheinend die Zauberformel, denn sobald sie ihm über die Lippen kam, wurde die erste Flasche verkauft – an die Mutter des flachshaarigen Jungen.
Kaum hatte man den Kindern die Arznei verabreicht, hörten sie auf, zu raufen und einander zu jagen und auf die Bäume zu klettern. Sie hörten auf, herumzutoben und zu spucken und Essen von den Tischen zu klauen. Tatsächlich hörten sie auf, überhaupt etwas zu tun. Sie hockten sich ins Gras, starrten in die Luft und waren ruhig.
»Das ist erstaunlich«, sagte eine Mutter. Sie roch an der Flasche.
»Lauter natürliche Ingredienzien«, erläuterte Benjamin. Er hatte fast den gesamten Kofferinhalt verkauft. Die Menge hatte sich von den Schafscherern abgewandt und umringte nun ihn.
Ren merkte, wie seine Augen gegen seinen Willen auf und zu gingen. Sein Mund war voller Speichel, der ihm aus den Mundwinkeln rann. Ein Stück zur Seite, schon fast am Feldrand, stand ein Mann. Einen Augenblick lang glaubte Ren, es sei Pater John, dann war er fest davon überzeugt, und dann wiederum dachte er, er müsse wohl träumen, denn der Mann rauchte, und Pater John hatte nie geraucht. Der Mann beobachtete Benjamin sehr genau, und noch ehe er seine Zigarre zu Ende geraucht hatte, drückte er sie an der Stiefelsohle aus und ging zielstrebig durch die Menge.
»Wie nennt man Euch?«
»Johnson«, sagte Benjamin. Er streckte ihm die Hand hin, aber der Mann ergriff sie nicht.
»Ich habe Euch schon mal gesehen, aber da war der Name anders.«
»Das muss jemand anders gewesen sein.«
Der Mann spuckte auf den Boden. »Wollt Ihr behaupten, ich lüge?«
»Durchaus nicht.« Benjamin wandte sich an die versammelte Menge, um seine freundliche Absicht zu bekunden, aber ganz offensichtlich kannten alle diesen Burschen, Benjamin hingegen nicht.
»Und wo hast du ihn gesehen, Jasper?«, fragte einer.
»Auf einem Aushang in Galesburg«, sagte der Mann. »Er wird wegen bewaffnetem Raub gesucht. Da bin ich sicher.«
Eine Mutter begann zu kreischen. Die Frauen drängten sich an den anderen Zuschauern vorbei und eilten zu ihren Kindern, rüttelten und schüttelten die Jungen und Mädchen und riefen sie bei ihren Namen. Mehrere Männer stürmten herbei. Benjamin schwang den Lederkoffer im Kreis und schlug sie damit zu Boden, dann sprang er über den Zaun, landete auf allen vieren und verschwand in der Schafherde. Die Farmer riefen die restlichen Männer vom Scheren weg, und sie schwärmten mit ihren Schrotflinten in alle Richtungen aus, mitten durch die ängstlich blökenden Schafe.
Tom ergriff Rens Hand und führte ihn in strammem Tempo weg, zurück zum Wagen. »Nicht stehen bleiben«, sagte er. »Geh weiter.«
Ren hielt sich den Bauch. Er tat, als wäre ihm von dem Tonikum übel. Doch in Wirklichkeit fühlte er sich großartig. So gut wie noch nie. Das Gras unter seinen Füßen war so grün, dass er das Gefühl hatte, er könnte sich hineinfallen lassen und endlos weiterfallen.
»Ich hab’s ihm gesagt«, sagte Tom. »Hab ich’s ihm nicht gesagt?«
Ren nickte, obwohl er keine Ahnung hatte, was Tom meinte. Der Wagen stand genau dort, wo sie ihn stehen gelassen hatten, zwischen zwei Bäumen. Als die Stute zu grasen aufhörte und den Kopf hob, war Ren überzeugt, Enttäuschung in ihrem Blick zu lesen.
Es tat ihm leid, dass sie sie dem Farmer weggenommen hatten, der sie so sehr geliebt und ihr einen Kuss auf die Nase gegeben hatte. Und plötzlich dachte Ren, ich werde sie auf die Nase küssen, und er versuchte nach dem Zaumzeug zu greifen. Tom verfluchte ihn und befahl ihm, auf den Wagen zu klettern. Aber Ren war ebenso entschlossen, der Stute einen Kuss zu geben, wie sie entschlossen war, sich nicht von ihm küssen zu lassen. Sie warf den Kopf hin und her und hob die Nase außer Reichweite. Ren bekam das Pferdegeschirr zu fassen und zog kräftig daran, hängte sich mit seinem ganzen Gewicht daran, um den Kopf des Tieres zu sich herunterzuziehen. Tom sprang wieder vom Wagen und ließ die Peitsche um die Beine des Jungen knallen, aber der wollte einfach nicht loslassen, und das Pferd bäumte sich auf und schlug mit den Hufen gegen das Holz, bis sich im Wagen eine Gestalt erhob.
»Willst du uns alle umbringen?«, flüsterte Benjamin. Er hatte sich hinter den Kutschersitz gekauert und sich ein Schaffell über Kopf und Schultern gezogen. Damit sah er so sonderbar aus, dass Ren das Pferd losließ. Tom schleifte den Jungen durchs Gras und warf ihn hinten auf den Wagen.
»Ich muss ihr einen Kuss geben«, erklärte Ren.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Benjamin. »Du kannst stattdessen mich küssen.«
Tom lenkte den Wagen auf die Straße. Er ließ das Pferd langsam dahintrotten. Die Stimmen der Mütter blieben immer weiter zurück. Hin und wieder knallte ein Schuss über die Felder. Als sie eine halbe Meile zurückgelegt hatten, ließ Tom das Pferd schneller laufen. Ren betrachtete die Wolken, die über ihren Köpfen dahinzogen, die Formen, die sich bildeten und wieder zerflossen. Sobald er eine erkannt zu haben meinte, veränderte sie sich.
»Das hätten wir geschafft, wie es aussieht«, sagte Tom.
Benjamin kroch unter den Decken hervor. »Gott sei Dank haben wir’s hinter uns.«
»Gott sei Dank haben sie uns nicht erwischt«, sagte Tom.
Benjamin zog das Schaffell von seinen Schultern und warf es beiseite. Besorgt betrachtete er Ren, der flach auf dem Rücken lag und am Himmel alle möglichen Dinge sah.
Tom schüttelte den Kopf. »Der ist völlig zugedröhnt.«
Benjamin wühlte in den Taschen seines Kutschermantels. Er kramte das Geld hervor und hielt es Tom triumphierend unter die Nase. Dann brachte er drei Orangen zum Vorschein. Sie hatten eine dicke, feste Schale und waren leicht angeschlagen, aber ihre Farbe war vollkommen – fröhlich und leuchtend wie die Sonne. Benjamin gab Tom eine davon. »Du hattest recht. Aber es hat sich gelohnt.«
»Ich habe immer recht«, sagte Tom.
»Da.« Benjamin warf eine Orange nach hinten. Sie traf den Jungen am Kopf.
»Autsch«, sagte Ren. Aber er bewegte sich nicht.
»Komm schon«, sagte Benjamin. »Mach die Augen auf.«
Ren dachte, sie seien offen. Er fuhr sich mit den Fingern über die Lider.
»Mach den Mund auf.«
Er gehorchte, und Benjamin steckte ihm eine Orangenspalte in den Mund. Der Zitrusduft entfaltete sich wie eine Blüte, und Ren sog ihn ein. Seine Zunge wölbte sich, als er die Zähne zusammenklappte und der Saft durch seine Kehle rann. Er spürte etwas Hartes und biss darauf. Ein Kern, dachte Ren. Bestimmt war es ein Kern. Benjamin fütterte ihn weiter, trennte Spalte von Spalte, bis der Himmel die herrliche Farbe dieser köstlichen Frucht annahm und Rens Kiefer vor Wonne schmerzten.