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Bei Tageslicht sah North Umbrage anders aus. Die verlassenen Gebäude, an denen sie am Abend zuvor vorbeigefahren waren, hatten sich in Geschäfte verwandelt. Hufschmiede und Tontöpfer, Obststände und Buden mit Taschentüchern. Alle wurden von Frauen betrieben. Es gab eine Bäckerin, bei der Brotlaibe in den Regalen lagen; aus dem Fenster drang der Geruch von aufgehendem Teig. Es gab eine Hufschmiedin mit einem Hufeisen zwischen den Knien, hinter der Kinder den Blasebalg betätigten. Es gab eine Metzgerin mit blutbespritzter Schürze und bis über die Ellbogen aufgekrempelten Ärmeln. Es gab sogar eine Abfallsammlerin, hinter deren Eselskarren voll verfaultem Gemüse, zerrissenen Teppichen und zerbrochenem Geschirr eine kleine Herde Schweine herlief.
Benjamin lenkte den Wagen an der Mausefallenfabrik vorbei. Jetzt, wo es Tag war, sah Ren das aufwendige rote Backsteinmauerwerk und den Rauch, der schwarz in den Himmel quoll. Ihm wurde etwas mulmig, und er war froh, als Benjamin das Pferd zu der Brücke lenkte, die aus der Stadt hinausführte.
Es war eine häufig benutzte, von Sand und Steinen gesäumte Brücke, in die die darüberfahrenden Wagen eines Jahrhunderts zwei Rinnen gekerbt hatten. Zu beiden Seiten standen Grüppchen alter Männer. Einige mit Angelruten, auf dem Weg zum Fischen. Einige, die rauchten. Andere, die sich zurücklehnten, als wollten sie den Wert des Pferdes taxieren.
Sie fuhren noch eine Meile, bis sie den Waldrand erreichten und das Gras und die Büsche zu beiden Seiten allmählich höher wurden. In der Ferne konnte Ren die Ecke eines Gebäudes ausmachen, welches das Krankenhaus sein musste. Es sah zumindest genauso aus, wie Mr. Bowers es beschrieben hatte, mit dicken Steinmauern und einem einsamen Türmchen, wie ein für sich stehendes Schloss. Je näher sie kamen, desto besser gelaunt waren die beiden Männer. Benjamin summte eine Melodie, während der Karren dahinholperte, und Tom kaute auf einem Stück Tabak herum. Ren versuchte sich von der fröhlichen Stimmung anstecken zu lassen, wurde aber zunehmend nervös, als sie sich dem Tor näherten. »Was soll ich tun, wenn wir da sind?«
»Frag nur nach Doktor Milton«, sagte Benjamin. »Angeblich bist du ein Patient.«
»Und warum muss ich gehen?«
»Weil er sich dann sicher fühlt. Er hat schon mal Ärger bekommen.« Benjamin fasste den Jungen an der Schulter. »Das könnte unsere Chance sein. Enttäusch mich jetzt nicht.«
Ren zwang sich, vom Wagen zu klettern. Er wollte es Benjamin gern recht machen, hatte aber noch nie eine Aufgabe allein übernommen. Er blieb neben dem Vorderrad stehen und umfasste eine Speiche, in der Hoffnung, einer der Männer würde es sich anders überlegen und Platz mit ihm tauschen.
»Wir warten ein Stück die Straße runter auf dich«, sagte Tom, und die Räder begannen sich zu drehen, so dass Ren die Speiche loslassen musste. Er sah den Wagen unter den Bäumen hindurchfahren und verschwinden. Dann wandte er sich zum Krankenhaus um.
Die Grundmauern des Bauwerks waren aus Granit. Es gab gleich drei Tore. Eines führte in den Hof, eines in den inneren Hof und eines ins Krankenhaus. Ren wusste nicht, wie er sich bemerkbar machen sollte. Er berührte die Mauer. Sie war kalt. Zweimal ging er vor dem Eingang hin und her, bis er die Glocke fand. Als er daran zog, schallte sie so laut, als sollte ihr Geläut nicht dazu dienen, Besucher anzukündigen, sondern sie abzuschrecken. Wenig später tauchte eine Ordensschwester auf. Ren erblickte sie hinter den ersten beiden Toren und sah, wie sie sich mit einer Bettpfanne den Weg zwischen den Eisengittern hindurch bahnte und mit grimmigem Gesicht ihrer Arbeit nachging.
»Schwester!«, schrie Ren.
Die Nonne stieß mit der Bettpfanne an die Innenseite der Mauer.
»Wer ist da?«
Sie fragte voller Ungeduld, kam dann näher ans Außentor heran und blieb stehen. Sie war mittleren Alters; ihre Nase und ihr Kinn waren spitz und die Augen so tiefdunkel, dass Iris und Pupille eins zu sein schienen.
Ren schob den Ärmel zurück und hielt ihr seinen Stumpf entgegen. »Doktor Milton hat gesagt, er kann mir helfen.«
Die Ordensschwester betrachtete Rens Arm, dann sein Gesicht, dann wieder den Arm. »Gelobt sei Gott«, sagte sie leise. Eine Regung huschte über ihre Züge, dann nahm ihre Miene wieder denselben abweisenden Ausdruck an wie zuvor. Sie klemmte die Bettpfanne unter ihren Arm und sperrte das Tor auf.
»Du bist sehr früh dran«, sagte sie. »Er ist noch im Operationssaal.«
Sie geleitete ihn ins Innere des Gebäudes, vorbei an einer Reihe großer abgeteilter Zimmer. Die hineingeschobenen Betten standen Seite an Seite, und in einigen Fällen lagen Matratzen direkt auf dem Boden und breiteten sich bis in den Flur aus. Ren versuchte die Luft anzuhalten. Hier drinnen roch es nach kaltem Rauch und gekochtem Fleisch. In den Ecken standen überschwappende Bettpfannen.
Die Patienten trugen Nachthemden. Dickes, schweres Wollzeug, ähnlich dem, das Mrs. Sands Ren nach seinem Bad übergezogen hatte. Ein paar blickten auf, als er vorbeiging, aber die meisten schliefen; ihre Arme oder Beine waren mit dicken Verbänden umwickelt. Ein Mann griff nach dem Jungen und bekam ihn an der Hose zu fassen.
»Ich brauche Wasser«, sagte der Mann. Sein Kopf war kahl geschoren, und seine Arme waren voller Schorf.
»Ich kümmere mich darum, dass Ihr welches bekommt«, sagte die Schwester. »Und jetzt lasst ihn los.«
Der Mann gehorchte und ließ sich in die Decken zurücksinken. Die Nonne legte ihre Hand auf Rens Schulter und schob ihn zur Treppe.
Sie war eine Barmherzige Schwester. Das erkannte Ren an ihrer grauen Tracht. Bruder Josephs Cousine, auch eine Barmherzige Schwester, hatte sie einmal in Saint Anthony besucht. Sie hieß Schwester Sarah und war nur fünf Tage dageblieben, doch in dieser Zeit hatte sie den Schlafsaal der kleinen Jungen von seinem fischigen Geruch befreit. Das gesamte Bettzeug der Kinder war nach draußen gebracht und in der Sonne ausgeklopft worden. Die Böden wurden mit Karbolsäure geschrubbt. Sie leitete die Jungen an, sich jeweils eine frische Garnitur Unterwäsche zu nähen, und steuerte selbst das Leinen und die Nadeln bei. Als sie wieder ging, weinten viele Kinder. Es dauerte eine ganze Woche, bis der tranige Geruch zurückkehrte, und Ren erinnerte sich noch, dass er an den Abenden zuvor beim Zubettgehen genussvoll den Geruch seines Kissens eingeatmet hatte.
»Wie ist denn das mit deiner Hand passiert?«, fragte die Nonne.
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Die Nonne runzelte die Stirn, als sei sie mit der Antwort nicht zufrieden, und deutete auf eine Bank in der Ecke. Ren setzte sich hin und sah ihr nach, als sie davoneilte, wobei der Saum ihrer Tracht bei jedem Schritt leicht auf und ab wippte, und am Ende des Flurs hinter einer Tür verschwand.
Ren ließ die Füße baumeln und schaute nach beiden Seiten den Gang hinunter. Die Wände waren mit Porträts von Edelleuten geschmückt, Männern und Frauen, die mit ihren Jagdhunden posierten oder neben einem Fenster mit Blick auf ihren Landsitz standen. Nur ein einziges Bild stach von den anderen ab. Es zeigte einen Mann in einem gut geschnittenen, aber leicht verknitterten Jackett, der an einem Schreibtisch voller Bücher saß. Hinter ihm in einem Regal sah man einen Frosch in einem Glasgefäß, einen ausgestopften Vogel und, unverkennbar in seiner Form, einen menschlichen Schädel. Der Mann auf dem Bild fasste sich ans Kinn, als wäre ihm gerade ein Geistesblitz gekommen.
Ren versuchte sich vorzustellen, um welchen Gedanken es sich handeln mochte. Vermutlich war er wissenschaftlicher Natur, doch je länger Ren das Porträt betrachtete, desto klarer wurde ihm, dass der Mann überhaupt nicht gelehrt aussah, sondern vielmehr hungrig. Wahrscheinlich dachte er an Würste, und Ren war sich dessen schon fast sicher, als am Ende des Flurs ein Schrei ertönte, der ihn zusammenzucken ließ. Noch ein Schrei. Und dann noch einer.
Anfangs hörten sich die Schreie flehentlich an. Ren verstand einzelne Wörter. »Aufhören! Lasst es dran! Bitte!«, flehte die Stimme. Dann beschimpfte sie jemanden als Mörder, gab jedoch bald auf und kreischte nur noch, wieder und immer wieder, bis Ren es nicht mehr ertragen konnte; er hielt sich mit der Hand ein Ohr zu, drückte den Stumpf auf das andere und summte unablässig vor sich hin, bis seine Lippen sich taub anfühlten. Die Stimme wurde heiser, dann stöhnte sie nur noch und verstummte schließlich ganz.
Ren ließ die Arme sinken. Er spielte mit dem Gedanken, sich irgendwie aus dem Gebäude zu stehlen. Doch ehe er einen Entschluss fassen konnte, gingen Türen auf, und ein großer Korb kam durch den Flur. Getragen wurde er von vier Männern, die ihre Jacken ausgezogen und die Ärmel hochgekrempelt hatten. In dem Korb hockte ein bleicher Mann. Seine untere Körperhälfte war in Verbände eingewickelt, durch die Blut in den Korb sickerte und das Rohrgeflecht befleckte. Ren beugte sich ein wenig vor, um das Gesicht des Patienten sehen zu können. Es war eingefallen, als hätte ihm das viele Schreien das Fleisch von den Knochen gezogen.
Hinter dem Korb kam die Ordensschwester mit dem Bein des Mannes. Es war in ein Leintuch gehüllt, und sie wiegte es in ihren Armen wie ein Baby. Während sie vorbeiging, tropfte Blut in einem stetigen Rinnsal aus dem Bündel und hinterließ feine Linien auf ihrer Schürze.
Ren ließ sich wieder auf die Bank sinken. Seine Kehle war trocken. Seine Narbe juckte.
»Ich habe ihm gesagt, dass du da bist.« Das sagte die Nonne, ohne stehen zu bleiben, den Kopf zu drehen oder das Bein loszulassen. Dann folgte sie dem Korb die Treppe hinunter.
Eine Schar junger Ärzte mit Büchern und Aufzeichnungen unter dem Arm strömte in den Korridor. Sie trugen Anzüge mit Westen und dazu passenden Überziehern, Manschettenknöpfe und Taschenuhren und glänzende Schuhe. Einer öffnete eine kleine Silberdose und entnahm ihr mit zwei Fingern eine Prise Schnupftabak. Ein anderer setzte seine goldgeränderte Brille ab und putzte sie mit einem Stück Ziegenleder. Ein paar sahen Ren im Vorbeigehen an, und plötzlich fühlte er sich in den Kleidern des ertrunkenen Jungen unbehaglich. Einige verschwanden am Ende des Ganges, und andere gingen die Treppe hinunter auf die Station. Dann war der Flur leer, und es kehrte wieder Ruhe ein.
»Junge!«, rief eine Stimme aus dem Raum am Ende des Flurs.
Ren stand auf. Er legte die Hand aufs Treppengeländer. Am liebsten wäre er hinuntergelaufen, aber der Gedanke an Benjamins enttäuschte Miene hielt ihn zurück. Er ging ein paar Schritte auf die Stimme zu, dann folgte er der schmalen Blutspur in den Raum, aus dem zuvor alle gekommen waren.
Als er eintrat, war er erstaunt über die Lichtfülle. In die Decke waren Fenster eingelassen; man hatte das Dach abgedeckt und durch dicke Glasscheiben ersetzt. Der Raum war für eine größere Anzahl Menschen gedacht. Bänke umgaben ein großes Podest in der Mitte, und auf diesem Podest stand der Mann von dem Porträt im Flur an einem Tisch und wischte mit einem Wachstuch eine Knochensäge ab.
Er sah etwas anders aus als auf dem Gemälde. Ren stellte fest, dass er älter war. Seine Augenbrauen waren buschig. Sein Haar war dicht und grau. Aber die Stirn von Doktor Milton war unverkennbar – stark gewölbt und eigentümlich geformt –, und sein Gesichtsausdruck verriet denselben Hunger auf Würste wie bei dem Mann auf der Leinwand, als er jetzt auf das Wachstuch spuckte und einen getrockneten Blutfleck weg rieb.
»Von jetzt an kommst du um zehn. Einmal die Woche. Ein regelmäßiger Termin.« Der Anzug des Arztes war makellos sauber. Lediglich an einem Ärmel hatte er einen Fleck in Form eines Schmetterlings. Doktor Milton wischte die Säge ab und legte sie dann behutsam auf den Tisch. »Komm her.«
Ren ging durch die Bankreihen nach unten und stieg auf das Podest. Doktor Milton betrachtete ihn von oben bis unten, dann hob er ihn auf die Kante des Operationstisches. Ren empfand ein seltsames Schwindelgefühl, so als balancierte er auf einer Felskante, und umklammerte den Rand des Tisches. Er war voller Sägemehl, das an seinen Fingern kleben blieb.
Der Arzt beugte sich zu ihm hinunter. Sein Bart roch nach Tabak. »Deine Aufgabe wird darin bestehen, zu tun, was ich dir sage. Und zwar haargenau. Glaubst du, das bringst du fertig?«
Ren nickte.
»Braver Junge.« Doktor Milton ergriff ein Messer. »Siehst du das hakenförmige Ende? Das dient dazu, dass man leichter um die Venen herumschneiden kann.« Er wischte die Klinge mit dem Tuch ab und gab sie dann Ren. »Leg es zurück«, sagte er.
Das Messer hatte ein angenehmes, solides Gewicht. Auf der anderen Seite des Operationstisches stand ein offenes Holzschränkchen mit den unterschiedlichsten silbern glänzenden Instrumenten. Zwei eingebaute Besteckschubladen waren herausgenommen worden und lagen links davon. Jedes Instrument hatte seinen festen Platz. In dem grünen Baumwollsamt waren Mulden, mehrere Dutzend leere Plätze. Ren spürte, wie seine Handfläche feucht wurde und der Handgriff durch seine Finger glitt. Endlich sah er, wo das Messer hingehörte – in eine der Schubladen unter die Knochensäge. Dort war der Samt vom Haken an der Spitze abgewetzt.
Er legte es hinein, und Doktor Milton schien zufrieden. Er ließ seinen Blick über den Jungen wandern, und als er an der Narbe innehielt, stieß er einen erstaunten Seufzer aus. Der Arzt untersuchte den Arm, bewegte ihn hin und her. »Der Schnitt ist plump, aber die Arterien wurden frühzeitig abgeklemmt. Wer immer das gemacht hat, wusste genau, was er tat. Du hast Glück gehabt, mein Junge. Sag es.«
»Ich hatte Glück.«
Doktor Milton klemmte ein Stück Haut zwischen zwei Finger. »Meine Ausbildung hat mit Amputationen begonnen. Ich bin immer neugierig, wie sich die Haut in diesen Fällen regeneriert.« Er nahm ein kleines Skalpell aus dem Instrumentenschrank. »Hast du was dagegen, wenn ich eine Probe nehme?«
Noch ehe Ren antworten konnte, tunkte der Arzt ein Stück Stoff in Wasser und säuberte Rens Armstumpf. »Du wirst nur ein leichtes Ziepen spüren.« Und während er das sagte, schnitt er auch schon. Das Messer fuhr durch die Narbe und hobelte ein hauchdünnes Scheibchen Gewebe ab. Es ging so schnell, dass Ren erst merkte, was geschah, als die Haut bereits weggeschnitten war.
Er legte seine Hand auf den Schnitt. Er war nicht tief, aber er tat weh. Mit einer Pinzette nahm Doktor Milton das Hautfetzchen und legte es in eine kleine Glasschale, dann trug er die Hautprobe hinüber zu einem Mikroskop, wie ein Stückchen Rinde, das er soeben von einem Baum geschält hatte. Er legte ein Auge ans Mikroskop und regulierte die Drehknöpfe.
»Normale Haut sieht aus wie Schuppen«, sagte Doktor Milton. »Regelmäßige, einander überlappende Teilchen. Aber Narbengewebe ist anders. Es enthält keine Haarfollikel und keine Schweißdrüsen.« Er winkte Ren zu sich heran und trat beiseite, damit der Junge es sich ansehen konnte.
Ren, der noch immer seinen Armstumpf hielt, beugte sich vor. Anfangs konnte er gar nichts erkennen. Nur etwas Licht. Von der Vergrößerung wurde ihm schwindelig. Dann rückte das Bild in den Fokus. Das Narbengewebe war auf einer Seite glatt, doch Ren sah, dass es sich darunter in ein Muster aus feinen Linien auffächerte, wie Frost auf einer Fensterscheibe.
»Dieselbe Art von Maserung habe ich an inneren Organen beobachtet. Am Herzen und an der Leber. Und sie zieht sich durch die ganze Muskulatur. Unter den richtigen Voraussetzungen kann sich Narbengewebe ausbreiten.« Wieder ergriff Doktor Milton Rens Arm und tupfte etwas Flüssigkeit aus einer braunen Flasche auf die Stelle, an der er geschnitten hatte. »Hast du schon mal in einen Körper hineingeschaut?«
»Nein.«
»Es sieht wunderschön aus.« Doktor Milton drückte zwei Finger in Rens Arm oberhalb des Ellbogens. »Vor allem die Muskeln direkt am Knochen. Flexor longus pollicis« – er drückte auf der rechten Seite –, »Flexor profundus digitorum« – er fuhr mit den Fingern die Vorderseite des Arms hinunter – »und Pronator quadratus, der normalerweise irgendwo hier wäre«, er klopfte seitlich an Rens Stumpf. »Du hättest bestimmt nicht gedacht, dass so viel in dir drin ist, was, mein Junge?« Doktor Milton nahm das Stück Narbengewebe aus dem Mikroskop und ließ es in ein Glasgefäß fallen, das er mit einem Deckel verschloss. Er fragte Ren nach seinem Namen und schrieb ihn auf ein Etikett auf der Rückseite.
»Wonach hat es für dich ausgesehen, unter dem Mikroskop?«
Ren überlegte kurz. »Nach alten Spinnweben.«
Der Arzt stellte das Gefäß ab. Er betrachtete Ren mit frischem Interesse. Er holte ein Notizbuch hervor und schrieb rasch hinein, was der Junge gesagt hatte. Dann steckte er das Büchlein wieder sorgfältig in die Tasche. »Mein Freund Mister Bowers behauptet, dass man dir und deinen Freunden trauen kann. Meinst du, ich soll ihm glauben?«
Mr. Bowers war dafür bezahlt worden. Dennoch versuchte Ren sein Bestes, um überzeugend zu wirken. »Ja.«
Doktor Milton brummte wieder etwas, und sein Gesichtsausdruck wechselte von Würstchen zu Weihnachtsgans und Sahnetorte. Aus einem Seitenfach seines Instrumentenkastens zog er einen Schlüsselbund und drückte ihn Ren in die Hand. »Kennst du dich mit Zahlen aus?«
Ren nickte.
»Sag deinem Mann, ich brauche vier, möglichst frisch. Sie dürfen nicht länger als einen oder zwei Tage tot sein. Er soll sie nachts bringen, und zwar an die Tür, die in den Keller führt. Niemand darf ihn sehen. Kannst du dir das merken?«
»Ja.«
»Wie viele?«
»Vier.«
»Ich brauche sie bis nächsten Donnerstag.« Er zeigte auf die Schlüssel, und Ren begriff, dass sie für die Tore waren. »Du wirst gut darauf aufpassen. Und du wirst sie mir zurückbringen.« Der Arzt tippte auf die Stelle, wo er das Stückchen Haut abgeschnitten hatte. »Und denk daran, du bist mein Patient. Der Stumpf hat sich entzündet, und ich versuche dich davor zu bewahren, dass du den Arm bis hierher verlierst.« Doktor Milton spreizte zwei Finger wie eine Schere und schnitt damit in Rens Oberarm. »Deshalb kommst du zu mir. Sag das Schwester Agnes, wenn du gehst.«
»Jawohl«, sagte Ren, und das tat er dann auch. Schwester Agnes wartete draußen auf der Bank auf ihn, und während sie ihn durch die Krankenhaustüren begleitete, erklärte er ihr die Situation. Dabei hielt er seinen Arm fest umschlossen. Beim nächsten Besuch wollte er eine Schlinge tragen.
Er war erleichtert, als er wieder draußen im Freien stand. Er holte tief Luft, um den Krankenhausgeruch loszuwerden. Die Schlüssel in seiner Hosentasche fühlten sich gewichtig an. Er hatte seine Aufgabe erfüllt. Und er hatte seine Sache gut gemacht.
Schwester Agnes schloss die Tore auf und ließ ihn hinaus.
»Wo wohnst du?«, fragte sie.
»In North Umbrage.«
»Da hast du weit zu gehen.«
»Ich werde abgeholt.«
Die Ordensschwester schaute die Straße hinunter. Sie wurde von Bäumen überschattet, deren Kronen sich berührten. Unter diesem Baldachin kamen Benjamin und Tom mit dem Pferdewagen daher; ihre Mienen waren erwartungsvoll, aber auch angespannt. Schwester Agnes runzelte die Stirn, als schleppten die Männer einen Berg Bettpfannen an.
»Bist du ein Christ?«, fragte sie Ren.
»Ja.«
»Gelobt sei Gott.« Das sagte sie, als wäre ein Unglück abgewendet worden, und bekreuzigte sich zweimal. »Möchtest du, dass ich für dich bete?«
Unwillkürlich hob Ren die Finger an seine Stirn. Er spürte noch genau, wo Bruder Joseph mit dem Daumen das Kreuzzeichen gemacht hatte, bevor er ihm Das Leben der Heiligen übergeben hatte. Ren ließ die Hand sinken und stülpte sie über seine Narbe. »Ja, bitte«, sagte er zu Schwester Agnes.
Die Nonne legte ihm die flache Hand auf den Scheitel. Sie war warm und weich, aber auch kräftig, und Ren konnte sich vorstellen, wie viele gute Taten sie vollbracht haben musste. Benjamin brachte das Pferd neben ihnen am Straßenrand zum Stehen. Er zog die Bremse an und klopfte mit den Fingern seitlich an den Wagen, als pochte er an eine Tür. Ren hörte die Stute mit den Kiefern mahlen, und Tom hustete, um ihn auf sich aufmerksam zu machen, aber Ren wartete, bis das Gebet zu Ende war. Schwester Agnes stand vor ihm, und er wollte sich nicht von der Stelle rühren, bis sie ihre Hand wegzog.