37802.fb2 Die linke Hand - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 17

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Kapitel 16

Tom und Benjamin hatten alle Mühe, den Mann die Treppe hinaufzutragen. Ren ging voraus und hielt die Laterne, sperrte Schlösser auf und öffnete Türen, ermahnte sie, einen Augenblick still zu sein, bis er sich vergewissert hatte, dass sich Mrs. Sands nicht in der Küche aufhielt. Es war kurz vor vier, die letzten eisigen Atemzüge der Nacht vor dem Morgen. Der tote Mann schnarchte noch immer leise vor sich hin, als sie ihn auf das Bett wuchteten.

»Was sollen wir mit ihm machen?«, fragte Tom. »Hierlassen können wir ihn nicht.«

»Vorerst schon«, sagte Benjamin. »Wir haben keine andere Wahl.« Er griff hinten in den Hosenbund, zog den Revolver heraus und gab ihn Ren.

»Pass auf ihn auf«, sagte er. Dann blies er das Licht aus.

Es dauerte ein paar Minuten, bis Rens Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er lauschte den Schritten der Männer, als sie die Treppe hinuntergingen, dann schob er den Vorhang beiseite, um sie wegfahren zu sehen. Hinten im Wagen konnte er Tom erkennen. Nun hielt Benjamin die Zügel, und an der Art, wie er dasaß und sich vorbeugte, erkannte Ren, dass er sich Sorgen machte. Wenn es ihnen nicht gelang, die toten Leiber vor Tagesanbruch ins Krankenhaus zu schaffen, stünden sie mit einem Wagen voller Leichen da.

Ren stand allein im Dunkeln und dachte an die Hinterbliebenen, die kommen würden, um an den leeren Särgen zu beten, die sie hinterlassen hatten. Der violette Anzug hinter ihm schnarchte. Es war ein sattes, feuchtes Geräusch, das mit jedem Einatmen anschwoll, bis der tote Mann nicht nur das ganze Bett einzunehmen schien, sondern den halben Raum bis hinauf zur Decke. Ren hockte sich auf Toms Matratze und legte den Revolver auf sein Knie. Er fuhr mit dem Finger über den Schlagbolzen. Das Metall war kalt. Wenn er den Abzug drückte, würde die Patrone direkt in das Herz des Mannes gehen. Das wäre dann garantiert sein Ende. Aber Ren hoffte, es möge nicht dazu kommen. Was sollte er Mrs. Sands sagen, wenn sie hereinkam und sah, dass er jemanden getötet hatte? Sie hielt ihn für einen guten Jungen, und er wollte nicht, dass sie die Wahrheit erfuhr.

Ren ging an die Tür und horchte. Im Haus war es still. Mrs. Sands schlief noch, ohne etwas von dem Fremden zu ahnen, den sie unter ihrem Dach beherbergte. Erleichtert kehrte Ren wieder auf seinen Platz zurück. Eine kleine Spinne kroch über den Bauch des toten Mannes, blieb kurz stehen und hastete dann weiter. Wahrscheinlich hatte der tote Mann eine Menge Ungeziefer, und jetzt waren die Tierchen bestimmt alle in seinem Bett.

Der Mund des Mannes stand offen, seine Zähne schimmerten im Mondlicht. Ren fragte sich, wie es dazu gekommen war, dass er lebendig begraben wurde – ob einem Arzt sein Pulsschlag entgangen war oder ob er selbst einen Weg gefunden hatte, seine Seele aus dem Himmel zurückzuholen. Es war nicht so wie im Leben der Heiligen, wo der heilige Antonius ein Kind auferweckt hatte, um den Namen seines Vaters reinzuwaschen. Das hier war ganz und gar nicht heilig. Ren beugte sich über die Decke und schnippte die Spinne mit Daumen und Zeigefinger weg. Sie landete auf dem Boden, und Ren trat rasch darauf und zerquetschte sie auf den Holzdielen. Als er aufblickte, sah er, dass der tote Mann wach war.

Ren hob den Revolver. Wenn er ihn frei in der Luft hielt, war er so schwer, dass seine Hand ein wenig zitterte.

Der Mann blinzelte. Sein Bauch hing über den Bettrand. Die Hände hatte er seitlich unter den Kopf geschoben, so als sei er es gewohnt, ohne Kissen auszukommen. Jetzt wirkte er sogar noch größer, und Ren kam es vor, als könnte der Mann ihn ebenso mühelos zertreten wie eine Spinne. Rens rechter Arm wurde bereits müde, und so stützte er ihn mit dem linken, mit dem Knubbel unterhalb des Handgelenks, ab.

»Sieht aus, als würdest du tanzen«, sagte der Mann. Er hob beide Hände und wischte sich etwas vom Gesicht. Ren sah ein kleines Insekt auf den Boden fallen. Es hatte viele Beinchen, mit denen es jetzt auf den Fuß des Jungen zukrabbelte. Ren hob den Fuß, ließ ihn wieder sinken und drehte dabei die Schuhspitze hin und her.

»Du machst es schon wieder«, sagte der Mann. »Aber wo ist die Musik?« Seine Stimme war tief und kratzig, als hätte er seit Jahren nicht mehr gesprochen. Ein Kribbeln kroch hinten an Rens Beinen hoch. Es kam ihm vor, als wäre der Mann nicht nur einen Tag begraben gewesen, sondern ein ganzes Jahrhundert. Im Zimmer war es dunkel, aber aus seinem Körper schien noch mehr Dunkelheit zu sickern, wie ein dichter, bösartiger Nebel. Er schloss einen Moment lang die Augen. »Mich friert.«

Ren klemmte den Revolver unter den Arm und warf mit zitternden Händen eine von Mrs. Sands’ Steppdecken über das Bett.

»Was für eine Wohltat«, sagte der Mann. Dann schwieg er eine Weile, und Ren dachte schon, er sei vielleicht wieder eingeschlafen. Er ließ den Revolver sinken und hielt nach Ungeziefer Ausschau. Da merkte er, dass der Mann weinte.

Ren hatte immer gedacht, dass Menschen, wenn sie älter werden, nicht mehr weinen. Als er den Mann jetzt schluchzen hörte, hatte er das Gefühl, dass man wohl nie damit aufhörte. Das ganze Bett bebte. Der violette Anzug wogte auf und ab. Aus der Brust des Mannes drang ein tiefer Seufzer, ein so abgrundtiefes Stöhnen, dass er sich unwillkürlich zusammenkrümmte. Ren kannte dieses Schluchzen aus dem Schlafsaal der kleinen Jungen. Man hörte es in den schlimmen Nächten, wenn die Kinder an ihre Mütter dachten.

Ren setzte sich auf die Bettkante. Jetzt roch er den Nebel, so dicht und widerlich, dass er beinahe zu schmecken war. Durch die Decke hindurch berührte er den Fußknöchel des Mannes und spürte, wie er sich unter seiner Hand wölbte. Ren tätschelte den Fuß. Er saß da und tätschelte hebevoll den Fuß, bis sich der Mann schließlich beruhigte.

Die Stille, die daraufhin eintrat, war nervenzerreißend. Der Mann wischte sich weder Augen noch Nase ab. Er ließ es laufen, bis die feuchten Bächlein auf seinem Gesicht trockneten. Es war, als hätte er noch nie im Leben geweint. Er holte tief Luft, und als er ausatmete, fiepten seine Nasenlöcher leise. Dann hustete er.

»Ich hab Durst.«

Draußen im Flur entdeckte Ren eine Schüssel und füllte sie am Waschtisch mit Wasser. Dann steckte er den Revolver in die Tasche und trug die Schüssel ins Zimmer. Als er die Tür aufmachte, saß der Mann aufrecht im Bett. Er hatte sich offenbar mühelos von seinen Fesseln befreit und das Jackett ausgezogen. Er hatte klobige Schultern und einen massigen Körper, und der Bauch unter seiner breiten, behaarten Brust hing herunter. Seine Stirn lag in Falten, als versuchte er angestrengt, sich an etwas zu erinnern.

»Was ist mit den anderen?«

»Die sind bald wieder da«, sagte Ren. Er hielt ihm die Schüssel mit Wasser hin, und der Mann griff danach.

Seine Hände waren riesig, dreimal so groß wie die von Ren, die Handflächen schwielig und muskulös, die Finger kurz und dick. Er trank in großen Schlucken, wobei sein blau verfärbter Hals lautlos pulsierte. Als er die Schüssel ausgetrunken hatte, setzte er sie am Boden ab. »Wer bist du?«, fragte er.

»Ich bin Ren.«

»Ich bin Dolly.« Er beäugte den Revolver, und Ren sah ihm an, dass er überlegte, ob er ihn an sich bringen sollte oder nicht. »Wirst du mich erschießen?«

»Ich glaube nicht«, gestand Ren.

»Gut«, sagte Dolly. »Denn ich glaube, ich kann nicht länger sitzen.«

Ren half ihm, sich hinzulegen. Als er die Steppdecke hochhob, sah er ein Dutzend Krabbeldinger auf der Matratze.

Dolly seufzte. »Danke«, sagte er. Er drehte sein Gesicht zur Zimmerdecke und kratzte sich die Haare auf der Brust. Anscheinend machte er sich weder Gedanken über seine Situation noch über die Tatsache, dass man ihn begraben hatte. Mitten auf der Brust hatte er eine Tätowierung – einen Anker, dessen Kette sich zweimal um seinen dicken Bauch schlang. Die einzelnen Glieder waren etwa so lang wie Rens Zeigefinger und schwarz unterlegt. Fast rechnete Ren damit, dass sie im Rhythmus von Dollys Atemzügen rasselten, aber sie dehnten sich nur lautlos mit der Haut und zogen sich wieder zusammen.

»Wo hast du dir das machen lassen?«

»In New York.« Dolly strich sich mit seiner gewaltigen Pranke über die Brust, dann zeichnete er die beiden Kreise am Ende der Kette nach. »Philadelphia. Boston.« Er schaute zu Ren auf, und sein Gesicht verhärtete sich. »Auf diese Weise behalte ich den Überblick.«

Etwas an der Art, wie er es sagte, bewog Ren, den Revolver fester zu umklammern. Jetzt durchquerte der Nebel das Zimmer, und Ren wünschte sich verzweifelt, Benjamin möge zurückkehren. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass ihm die Frage entschlüpfte: »Und was tust du hier?«

»Ich bin hergekommen, um jemand umzubringen.«

Ren hatte es kommen sehen, und nun brachte er kaum mehr ein Flüstern zustande. »Und, hast du es getan?«

»Nein. Ich hatte keine Gelegenheit.« Dolly klopfte leicht auf seinen Bauch, als könnte er die Kette, die dort endete, von seiner Haut wegziehen. »In Neuengland gibt’s eine Menge Leute, die umgebracht werden sollen, weil ihnen andere was nicht gönnen. Und es gibt Leute, die jemand suchen, der sie umbringt. Das hab ich jahrelang getan. Dafür war ich wie geschaffen.« Dolly zeigte auf die aneinandergereihten Kettenglieder. »Da ist eins für jeden Mann, den ich umgebracht habe.«

Jetzt prahlte er. Noch während der Gestank des Grabes an ihm haftete; noch während er sich Ungeziefer vom Gesicht wischte. Ren war klar, dass er kein Mitgefühl für seine Opfer empfand, keine Reue angesichts dessen, was er in seinem Leben getan hatte. Etwas an diesem Mann war abartig; als wäre er nicht von dieser Welt. Es war schaurig, so nahe bei einem Mörder zu stehen, aber gleichzeitig überlegte Ren kurz, wie es wohl sein mochte, keine Gefühle zu haben, keine Gewissensbisse. Nie mehr Buße zu tun. »Kommt daher die Verletzung an deinem Hals?«, fragte er.

»Nein«, sagte Dolly. »Ich wurde erdrosselt.«

Rens Blick wanderte wieder zu Dollys Hals; die violetten Flecken sahen aus wie Fingerabdrücke. »Und wieso?«

»Das weiß ich nicht genau.«

»Man wird doch nicht wegen nichts erdrosselt.«

»Na ja«, sagte Dolly, »wegen irgendwas wird’s schon gewesen sein.«

»Hat es wehgetan?«

Dolly machte ein nachdenkliches Gesicht. »Sie sind mir mit einem Strick gefolgt«, sagte er. »Zwei Männer mit alten Hüten. Haben mich im Treppenhaus einer Taverne überrumpelt. Haben mir den Strick um den Hals geworfen und fest dran gezogen. Ich habe ein Stück vom Geländer abgebrochen und es einem von ihnen auf die Nase gehauen, bis er losließ. Den anderen hab ich die Treppe hinuntergestoßen, aber zuvor hat er mich noch gebissen.« Er hob seinen Arm hoch und zeigte Ren ein Muster aus Halbmonden. Die ganze Haut war mit Bissnarben übersät.

»Und was ist dann passiert?«

»Ich habe ihre Gesichter platt getreten. Die zwei kommen bestimmt nicht mehr zurück.«

»Aber du schon.«

»Ja«, sagte Dolly. Und er verzog das Gesicht zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte. »Als ich aufgewacht bin, war es Morgen, und ich lag unten an der Treppe. Ich hab die ganze Zeit überlegt, warum niemand gekommen ist. Und dann kam die Wirtin herein, und erst hat sie geschrien und dann ein bisschen geheult, und dann hat sie mir mit den Fingern die Augenlider zugedrückt. Sie dachte, ich hätte verhindert, dass sie ausgeraubt wird. Sie ließ den Totengräber kommen, damit er die anderen Leichen wegschafft, und für mich hat sie einen Sarg bezahlt.

Die Leichenbestatter haben mein Gesicht mit einem Tuch zugedeckt. Schuhe und Hemd haben sie mir weggenommen, aber den Anzug haben sie mir gelassen. Sie sagten, so ramponiert, wie der ist, kann man ihn nicht mehr verkaufen. Ich hab gehört, wie sie sich beschwert haben, weil ich so schwer bin. Ich wollte sie aufhalten, aber ich konnte die Arme nicht bewegen. Und dann lag ich im Sarg. Und dann kam der Deckel drauf. Und dann wurde er zugenagelt. Ein Nagel ging mitten durchs Ohr.« Dolly deutete auf die Stelle. Am Ohrläppchen sah man einen roten Schorf. Dahinter, knapp oberhalb der blau verfärbten Linie, hatte sich der Nagel in den Hals gebohrt.

»Ich hatte das Gefühl, es zerreißt mich. Ich wurde hochgehoben, dann heruntergelassen. Als sie das Loch zuschaufelten, konnte ich das Gewicht der Erde spüren. Es war, als ob mir jemand eine Decke über den Kopf ziehen würde«, sagte Dolly. »Stell ich mir zumindest vor.« Während Dolly sprach, rann ihm Speichel aus dem Mund; auf dem Kissen bildeten sich zwei kleine Flecken, in den Mundwinkeln weiße Schaumbläschen.

Ren wischte ihm mit einem Deckenzipfel den Schaum weg. Dann klappte er die feuchte Stelle um und stopfte sie unter die Matratze. Lang konnte Dolly nicht unter der Erde gewesen sein, das stand für Ren fest. Vielleicht ein paar Stunden, vielleicht einen Tag, aber es war ein Wunder, dass er überhaupt lebte.

»Bin ich wach?«, ächzte Dolly.

»Ich glaube schon«, sagte Ren.

Irgendwo im Haus hörte man es leise scheppern; offenbar räumte Mrs. Sands die Asche aus der Feuerstelle in der Küche. Dolly fing wieder an zu weinen, und Ren tätschelte abermals seinen Fuß. Jetzt waren Dollys Schluchzer weniger heftig. Er legte eine hohle Hand auf seinen Mund, als wollte er die Worte, die er sagte, einfangen.

»Tut mir leid.«

Ren wusste nicht, was Dolly leidtat, aber er wusste genau, wie es sich anfühlte, wenn man etwas ungeschehen machen wollte.

»Ich weiß«, sagte er.

Dolly rieb sich die Augen. Die Tränen hatten Streifen auf Wangen und Kinn hinterlassen, und er sah so jämmerlich aus, als hätte ihm gerade jemand Schmutz ins Gesicht geklatscht. Seine Kiefer waren zusammengepresst, und plötzlich griffen seine gewaltigen Arme nach Ren. Der geriet in Panik, weil er glaubte, Dolly habe es auf den Revolver abgesehen, doch stattdessen packte er Rens Armstumpf und drückte ihn so fest wie eine richtige Hand.

Ren war überzeugt, Benjamin auf der Treppe zu hören. Er versuchte, Dolly seinen Arm zu entwinden, aber der hielt ihn fest.

»Jetzt sind wir Freunde.«

Es war keine Frage. Trotzdem antwortete Ren: »Ja.«