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Es gab kein nennenswertes Schild, nur der Name – Dennis O’Sullivan – und ein Datum waren in eine vorspringende Granitplatte über dem Eingang graviert. Hinter der Tür hingen Laternen an Wandhaken und an zwei langen Ketten über dem Tresen. Ein orangeroter Schimmer lag auf den Gesichtern der Männer und warf Schatten, vor allem in den Ecken, wo die Laternen längst ausgebrannt und nicht mehr nachgefüllt worden waren. Die Tische waren aus unbehandeltem Ahornholz, die Platten glatt geschliffen von hundert Jahren Bier und Kartenklopfen. Legte man den Kopf aufs Holz, konnte man das alles in der Maserung riechen – Tausende von schmutzigen, fettigen Händen und den säuerlichen Hopfengeruch. Auf dem unebenen Boden standen Stühle auf wackeligen Beinen. Schwere Bänke, kreuz und quer von Messerkerben durchzogen. Die Sitzflächen hatten sich endgültig erschöpften Männerhinterteilen angepasst.
Die Schenke war voll. Die Gäste sahen kaum auf, als Benjamin und Ren sich durch die Menge schlängelten. Es wurde wenig gesprochen im Raum. Das hier waren ruhige Männer, Männer, die sich schon seit dem Vortag oder vielleicht noch länger bei O’Sullivan aufhielten.
Benjamin und Ren entdeckten Tom im hinteren Teil der Taverne, umgeben von leeren Gläsern; gerade versuchte er sich wieder eines einzuschenken. Er wirkte um Jahre gealtert. Die Tränensäcke unter seinen Augen waren dunkel, und er hatte Falten im Gesicht, Furchen, die seine Wangen durchzogen. Ren zwängte sich ihm gegenüber in die Nische, und Benjamin nahm den Stuhl am Kopfende.
»Wir haben einen neuen Mann.«
Tom setzte sich erschrocken auf. »Den kannst du nicht behalten.«
Benjamin stellte seinen Fuß auf die Bank. »Du hast selber gesagt, dass wir Hilfe brauchen.«
»Jemand hat ihn umgebracht«, sagte Tom. »Glaubst du nicht, die kriegen mit, dass er wieder munter rumläuft?«
»Die Männer, die ihn umgebracht haben, hat er schon erledigt.«
Tom wandte sich Ren zu. »Stimmt das?«
Ren hatte ein schlechtes Gewissen, weil er antwortete. »Er hat mir erzählt, dass er ihre Gesichter platt getreten hat.«
Tom stierte in sein leeres Glas. »Ich mag mich nicht mit einem Mörder einlassen.«
»Mit seiner Hilfe könnten wir doppelt so viele rausholen.« Benjamin gab Ren eine Münze. »Hol mir ein Bier.«
Ren wäre gern dageblieben, doch als Benjamin ihm einen zweiten Blick zuwarf, manövrierte er sich aus der Nische und bahnte sich den Weg zum Tresen. Er wusste, dass es eine Zeit lang dauern würde, bis Tom überredet wäre, und er fragte sich, ob sie Dolly so lang allein lassen konnten.
Der Schankkellner schlief anscheinend. Sein Körper hing zusammengesackt über einem Hocker, sein Kopf lag neben einem Teller Suppe auf der Theke. Der Inhalt des Tellers hatte sich über das Holz und die ohnehin schon fleckige, verdreckte Schürze ergossen, und sein Kopf war umringt von einer Batterie leerer Krüge. Ren schaute sich um, weil er nicht recht wusste, wie er ihn wecken sollte, aber niemand erwiderte seinen Blick.
Ein Mädchen mit einem Tablett voll frisch eingeschenkter Krüge ging an ihm vorbei. Sie war etwa zwölf Jahre alt, und sie bewegte sich vorsichtig und zielstrebig zwischen den Gästen hindurch. In ihren durchstochenen Ohrläppchen hingen kleine Ringe, und ihre Haut war blass und leicht grünlich. Sie brachte das Bier an einen Tisch mit Karten spielenden Männern, kehrte dann wieder an den Tresen zurück, und stellte die leeren Gläser auf ihr Tablett. Ren gab Benjamins Bestellung auf.
Das Mädchen nickte. Ihr Haar fiel in einem kerzengeraden blonden Zopf den Rücken hinunter, und Ren musste an das Mädchen denken, das ihm einen Penny in den Mund gesteckt hatte, an ihre Locken, so schwarz wie Rabenflügel. Dieses Mädchen war nicht annähernd so hübsch, aber ihre Augen waren haselnussbraun, und Ren hatte noch nie ein Mädchen mit nussbraunen Augen gesehen. Er sah ihr nach, als sie durch eine Schwingtür verschwand. Nur wenige Augenblicke später kam sie mit einem vollen Krug zurück.
»Da«, sagte sie, und Ren gab ihr das Geld. Sie stellte das Bier auf den Tresen, hob ihren Rock etwas hoch und zupfte sich Schorf vom Knie.
»Danke«, sagte Ren.
Das Mädchen betrachtete ihn genauer. »Was ist mit deiner Hand passiert?«
Ren versuchte sich etwas Interessantes einfallen zu lassen, aber der Anblick der feinen blonden Härchen am Oberschenkel des Mädchens verscheuchte vorübergehend jeden Gedanken aus seinem Kopf. »Ein Löwe hat sie gefressen«, sagte er schließlich, um eine von Benjamins Geschichten auszuprobieren. »Er ist aus dem Zirkus entflohen. Und er hieß Pierre.« Aus seinem Mund klangen die Worte unglaubwürdig.
Das Mädchen hörte auf, an dem Schorf herumzukratzen. »Du bist kein sehr guter Lügner.«
Die Tür zur Bar wurde aufgestoßen, und Tageslicht strömte herein. Drei schwarz gekleidete Männer traten ein und gingen auf Ren zu. Er war überzeugt, dass sie Dolly draußen entdeckt hatten und gekommen waren, um sie zu verhaften, doch die Männer blieben neben dem Schankkellner stehen. Der kleinste beugte sich über den Tresen, berührte ein Augenlid und schob es hoch. Die Iris darunter sah hart und glänzend aus wie eine Murmel.
»Hier hält keiner lang durch, was?«, sagte der Mann. Er griff in seine Tasche und holte einen kleinen Sack hervor, den er dem Schankkellner rasch über den Kopf stülpte und im Nacken verknotete. »Wo ist der Patron?«, fragte er das Mädchen.
Sie zeigte zum Hinterzimmer, als käme so etwas hier alle Tage vor.
»Den Rest überlasse ich euch«, sagte der kleine Mann zu den beiden anderen, rückte seinen Hut gerade und verschwand durch die Schwingtür.
Die Leichenbestatter versuchten den Körper aufzurichten, doch er war schon zu steif, und so rollten sie den Schankkellner, der noch immer seinen Löffel in der Hand hielt, einfach auf den Boden. Einer der Männer fasste ihn unter den Kniekehlen, und der andere schob von hinten seine Arme unter den Achseln hindurch und verhakte die Hände über der Brust. Die Gäste rückten auf ihren Stühlen beiseite, und die Leichenbestatter bewegten sich unbeholfen und mit kleinen Schritten auf die Tür zu. Dabei schwang der Arm des Schankkellners über die Köpfe der Leute hinweg. Die Stammgäste wandten ihre Gesichter ab, stierten auf ihre Karten oder den zusammenfallenden Schaum in ihren Bierkrügen.
Als die Leichenbestatter um einen Tisch herummanövrierten, stolperte einer der beiden, so dass der Löffel, den der Schankkellner noch immer fest umklammert hielt, einen Hut erwischte.
Er hatte eine breite Krempe wie ein Pastorenhut und eine blutrote Hutschnur. Wie von einem Windstoß erfasst, kreiselte er und landete, ziemlich verformt, neben dem Fußrohr des Tresens im Sägemehl. Der Besitzer des Huts stand von seinem Stuhl auf, und es war, als legte sich ein Schatten über den Raum.
Die Augen des Mannes standen zu weit auseinander. Das fiel Ren als Allererstes auf. Dazwischen war so viel Platz, dass das Gesicht eingedrückt wirkte – eine freie, unausgefüllte Fläche. Seine Haut war blass, das lange Haar klebte seitlich am Kinn. Sein Mantel war aus Leder, und er trug rote Handschuhe, in demselben Rot wie die Hutschnur.
Die Leichenbestatter blieben wie angewurzelt stehen. Als der Mann mit den roten Handschuhen sich näherte, ließen sie den Schankkellner auf den Boden fallen. »Es war keine Absicht«, sagte einer von ihnen. Der andere wich zurück. Die Gäste an den umliegenden Tischen kamen in Bewegung und verdrückten sich auf die andere Seite der Taverne. Der Mann mit den roten Handschuhen sagte kein Wort. Unter den Blicken aller zog er ein langes Messer aus seinem Gürtel, setzte es ans Handgelenk des toten Mannes und schnitt ihm die Hand ab.
Das grünliche Mädchen ergriff Rens Ärmel und drückte ihr Gesicht hinein. Durch den Stoff hindurch spürte er ihren heißen Atem auf seiner Haut. Der Arm des Schankkellners zitterte, als sich die Klinge durch den Knochen fraß. Als der Mann mit den roten Handschuhen sein Werk vollendet hatte, hob er seinen Hut vom Boden auf. Er klopfte ihn ab, brachte ihn mit flinken Fingern wieder in Form und setzte ihn auf. Dann nahm er die Hand des Schankkellners, die noch immer den Löffel hielt, und ging damit an seinen Tisch zurück. Er zeigte auf das grünliche Mädchen. »Bring mir Suppe.«
Das Mädchen eilte in Küche, während die Zecher mit den Füßen Sägemehl über das Blut schoben und wieder auf ihre Stühle zurückkehrten. Die Leichenbestatter wirkten erleichtert. Eilig gingen sie um den Toten herum, hoben ihn wieder hoch und hasteten zur Tür hinaus. Die Klinke schnappte zu, das Tageslicht verkroch sich in die Ecken, die Sturmlampen verbreiteten ihren Schimmer, und alle Männer, alle ohne Ausnahme, fingen auf einmal an zu reden, als hätten sie die Luft angehalten, bis der Tote fort war.
Das grünliche Mädchen kam mit einem Teller Suppe zurück. Ren sah zu, wie sie sich durch das Gewühl schlängelte. Er schloss die Augen, aber das änderte nichts. Noch immer sah er das Messer, das sich vor und zurück bewegte, sah das fleischige Armende des Schankkellners. Seine Narbe juckte so heftig, dass es brannte. Er drückte mit der Hand fest dagegen und grub die Fingernägel ins Fleisch.
Der Schankraum wurde schmaler und entfernte sich, bis es Ren vorkam, als würde er sich über den Brunnen in Saint Anthony beugen und das Echo des Wassers zu sich heraufhallen hören. Irgendwo in diesem Echo lag etwas von jenem Entsetzen, das Ren schon früher erlebt hatte. Jetzt erinnerte er sich wieder, konnte es beinahe greifen, während die Männer in der Schenke ihm ins Ohr murmelten und das grünliche Mädchen ihn schließlich am Ellbogen packte und sagte: »Gleich wirst du alles verschütten.«
Der Bierkrug in seiner Hand stand schräg. Ren konnte sich nicht erinnern, ihn vom Tresen genommen zu haben. Er umfasste ihn fester und hielt ihn wieder gerade. Er bedankte sich bei dem Mädchen, das ihn halbherzig anlächelte und sich wieder ihrer Arbeit zuwandte. Leicht schwankend ging Ren zurück zum Tisch. Benjamin und Tom beobachteten den Mann mit den roten Handschuhen, der jetzt mit der Hand des Schankkellners seine Suppe aß.
»Wir müssen hier weg«, sagte Tom.
»Du bist betrunken«, sagte Benjamin.
»Ja«, sagte Tom. »Aber ich meine es ernst.«
»Wir gehen nirgendwohin«, sagte Benjamin. »Noch nicht.«
Tom schenkte sich noch ein Glas ein. »Ich bin jetzt seit zwei Tagen in dieser Kaschemme, und ich habe mehr mitgekriegt, als mir lieb ist.« Er schaute zu den Nebentischen hinüber, beugte sich dann vor und senkte die Stimme. »Dieser McGinty, der Mausefallenmann, betreibt hier einen Markt für Schmuggelware. Opium, erotische Romane, Postkarten, Goldzähne, Whiskey, Waltran, Pistolen, Armreifen aus Elfenbein und Lippenrouge. Für alles und jedes, was das Herz begehrt. Er kontrolliert das Ganze von seiner Fabrik aus und schneidet sich von jeder Transaktion sein Scheibchen ab. Und wenn er sein Scheibchen nicht bekommt, schneiden sich seine Männer auf eigene Faust was ab.«
Tom deutete mit dem Kopf auf den Mann mit den roten Handschuhen, dann signalisierte er Ren mit einer Geste, dass es ihm leidtat. »Ich hänge an meinen Händen«, sagte Tom. »Ich habe nicht die Absicht, sie loszuwerden.«
Benjamin reagierte nicht darauf. Er war zu sehr damit beschäftigt, den Mann mit den roten Handschuhen dabei zu beobachten, wie er seine Suppe aß, so als würde ihm dieser Vorgang etwas Wichtiges verraten, etwas, das er seit Jahren in Erfahrung zu bringen versuchte. Jedes Mal, wenn der Mann die Hand des Schankkellners hob, veränderte sich Benjamins Miene, bis er so wütend aussah, wie Ren ihn noch nie erlebt hatte. Er stieß sich vom Tisch ab und knöpfte langsam seinen Mantel zu.
»Wohin gehst du?«, fragte Tom.
»Eine Tour machen wir noch«, sagte Benjamin. »Noch eine einzige, und dann verschwinden wir.« Plötzlich schien er es eilig zu haben. Er gab Ren den Schlüssel zu ihrem Zimmer. »Du musst Mrs. Sands anbetteln, dass sie uns wieder reinlässt.« »Und was wird aus Dolly?«
Benjamin blieb kurz stehen und presste die Lippen aufeinander. »Sorg nur dafür, dass er vorerst niemanden umbringt.« Damit schlug er den Mantelkragen hoch und war mit zwei Schritten im Gewühl verschwunden.
Ren betastete den Schlüssel in seiner Hand. Tom goss eine sandfarbene Flüssigkeit in zwei Gläser und schob ihm eines hin. »Da«, sagte er. »Ich habe es satt, allein zu trinken.«
»Ich muss mich um Dolly kümmern.«
»Ein Glas.«
Ren hob das Glas. Er nippte vorsichtig daran und schluckte. Der Alkohol brannte wie Feuer in seiner Kehle.
»Wie hießen deine Kameraden gleich wieder?«, fragte Tom.
»Brom und Ichy«, sagte Ren.
»Meiner hieß Christian.«
»Ich erinnere mich.«
Tom stieß geräuschvoll die Luft aus. »Es ist ein Jammer, wenn man seine Kameraden verliert.«
Wieder tauchte Ren seine Zunge in den Whiskey. Er wartete ab, um festzustellen, wie lang er ihn diesmal im Mund behalten konnte, ehe er schluckte. Ein warmes, angenehmes Glühen stieg hinten in seinem Hals auf. »Ist Benjamin denn nicht dein Kamerad?«
Tom schenkte sich abermals ein. Seine Aussprache wurde allmählich verschwommen, ein Wort floss ins andere. Ren beugte sich vor und musste sich konzentrieren, um ihn zu verstehen.
»Als ich Benji kennengelernt habe, war er auf der Flucht, weil er desertiert ist. Und ich? War ich vielleicht nicht beeindruckt von ihm? Habe ich ihn nicht aufgenommen und ihm jede Freundlichkeit erwiesen, ihm ein Dach über dem Kopf besorgt und was zu essen und ihm gezeigt, wie man sich Ärger einhandelt und auch wieder rauskommt? Ich habe ihm beigebracht, Karten zu spielen und wie er es anstellen muss, damit ihn keine Frau zum Narren hält. Und jetzt sind unsere Wege so miteinander verflochten, dass sie uns am selben Strick aufknüpfen werden.«
»Er war bei der Armee?«
»Man hat ihn verkauft«, sagte Tom. »Sein Onkel hat ihn denen ausgeliefert, um eine Spielschuld zu begleichen. Sie haben ihn in den Westen geschickt, und dort hat er miterlebt, wie Männer von Schüssen zerfetzt wurden und wie sie versucht haben, sich ihre Eingeweide wieder in den Bauch zu stopfen.« Tom ließ den Kopf auf den Tisch sinken und seufzte. »Er war damals noch ein Kind. Höchstens ein paar Jahre älter als du.«
Ren setzte sein Glas ab. Dann nahm er es wieder in die Hand. Der Glasrand hatte auf dem Holztisch einen feuchten Ring hinterlassen. Eine feine durchgehende Linie. Er musste an Sebastian denken, der durch das Tor geflüstert hatte. »Ich hätte den Wunschstein gleich nutzen sollen, als ich ihn in die Finger bekommen habe.«
Die Geschichte, die Tom erzählt hatte, zerbröckelte langsam, und Ren wusste, wenn er nur lang genug wartete, würden die Worte den Raum verlassen, sich zwischen den Tischen hindurch zur Tür hinausschlängeln, und dann wäre es, als hätte er sie nie ausgesprochen. Tom war anscheinend eingeschlafen, sein Kopf lag auf beiden Armen. Ren rutschte vom Stuhl herunter, doch ehe er weggehen konnte, hob der Schullehrer das Gesicht.
»Brom und Ichy.«
»Genau«, sagte Ren.
»Hübsche Namen.« Wieder ließ Tom den Kopf sinken. »Du solltest sie nicht vergessen.«