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Auf der Suche nach den Socken des kleinen Mannes durchwühlten Ren und Dolly Mrs. Sands’ Schubladen und stießen dabei auf Berge von Nachthemden. Ren staunte über die Menge an Unterwäsche, denn er hatte die Hauswirtin nur in zwei Kleidern gesehen: einem purpurroten und einem braunen. In ihrem Schrank entdeckte er noch ein drittes, aus leichter grauer Seide geschneidert, das vermutlich ihr Hochzeitskleid war; es war in Papier eingeschlagen und mit einer Schnur zusammengebunden.
Während sie suchten, überlegte Ren die ganze Zeit, was er Tom und Benjamin sagen sollte. Er hätte ihnen gern von Dollys Mordtaten unter der Straßenlaterne erzählt, hatte aber Angst, sie könnten ihn zum Teufel jagen. Und außerdem fehlte das Geld aus dem Bettpfosten. Irgendeine Begründung würde Benjamin dafür haben wollen, doch je angestrengter Ren versuchte, sich etwas einfallen zu lassen, desto leerer wurde sein Kopf.
Dolly öffnete eine kleine Schachtel mit Bändern; sie waren aufgerollt und jeweils mit einer Nadel zusammengesteckt. Er zog eins nach dem anderen heraus, bis sie sich in Spiralen über die Kommode ringelten. Er schaute in den Spiegel, der über dem Toilettentisch hing. »Ren«, sagte er. »Schau mal!«
Auf dem Querbalken über ihren Köpfen stapelte sich ein Berg verstaubtes Spielzeug, das nur darauf wartete, entdeckt zu werden: eine Marionette in Gestalt eines Affen, eine Flotte Wikingerschiffe, geschnitzte Großbuchstaben, winzige Schweinchen, eine mondförmige Maske, ein Schloss mit einem Drachen und mehrere Fische, die alle ineinander steckten, angefangen beim Hai, der bis hinunter zur Elritze alles verschluckte. Dolly hob Ren auf seine Schultern, und gemeinsam befreiten sie einen Fisch nach dem anderen und breiteten alle Spielsachen auf dem Bett aus.
Ren ging in sein Zimmer, um das hölzerne Pferd zu holen, das er dort versteckt hatte, und legte es neben all die anderen geschnitzten Spielsachen. Ohne Zweifel stammte es von derselben Hand. Von den spitzen Winkeln der Ohren bis hin zu dem abgeflachten Gesicht ähnelte das Pferd allen anderen Tieren. So übel kann der Zwerg nicht sein, dachte Ren, wenn er das alles gemacht hat.
In einer Truhe am Fußende des Bettes entdeckten sie einen Beutel mit einem Strickzeug. Darunter, in ein Stück steifes Leinen eingewickelt, lag ein Paar durchgescheuerte saubere Socken. Fersen und Zehenspitzen waren ausgefranst. Ren konnte am Muster erkennen, wo sie bereits mehrmals gestopft worden waren. Er hielt sie hoch und erkannte die Größe und die besondere Machart wieder. Er war nicht der Einzige, der die Kleider des ertrunkenen Jungen trug.
Dolly durchwühlte den Beutel mit dem Strickzeug. Er förderte ein Knäuel Garn zutage, mehrere Stopfnadeln und eine winzige Schere. »Ich brauche einen abgerundeten Bettpfosten.«
»Wofür?«
»Um die Socken zu stopfen.«
Sie gingen wieder in ihr Zimmer, und Dolly stülpte eine ausgefranste Socke über den Knauf auf dem Bettpfosten. Dann fädelte er Garn in eine Nadel und machte entlang den ausgefransten Rändern lauter kleine senkrechte Vorderstiche. Als er damit fertig war, verband er die Stiche auf beiden Seiten mit einem längeren Stück Garn so, dass ein Gitter entstand. Er verknotete das Garn und fädelte es dann – mal oben, mal unten – waagrecht durch die Gitterstäbe.
»Wo hast du denn das gelernt?«
»Das hat mir meine Mutter beigebracht.« Ren sah zu, wie unter Dollys Händen ein gleichmäßiges Muster entstand. Schwer zu glauben, dass Dolly je eine Mutter gehabt hatte. Er stopfte die Socken ebenso systematisch, wie er die Männer unter der Straßenlaterne umgebracht hatte – gekonnt und ohne jede Gefühlsregung. Er bewegte die Nadel hin und her, bis er über das Loch in der Zehe ein feines Netz gesponnen hatte. Mit der Ferse verfuhr er ebenso und zählte dabei leise die Reihen.
»Warum, glaubst du, kümmert sie sich um ihn?«, fragte Ren.
»Das weiß ich nicht«, sagte Dolly.
»Ich wette, er hat irgendwas Schreckliches angestellt.«
»Er ist doch nur ein Zwerg«, sagte Dolly. »Ich glaube nicht, dass er recht viel angestellt haben kann.« Dolly legte die erste Socke beiseite und stülpte die zweite über den Bettpfosten. Er befeuchtete das Garnende mit den Lippen und fädelte es mit seinen gewaltigen Fingern durchs Nadelöhr. Nun machte er sich an die durchgescheuerte Ferse. Während er Faden an Faden reihte, verschwand der Bettknauf allmählich. Ren dachte an all die schrecklichen Dinge, die Dolly getan hatte. Und an all die schrecklichen Dinge, die er noch tun musste.
»Hast du immer noch vor, ihn umzubringen?«, fragte er.
»Wen?«
»Den Mann, für den sie dich angeheuert haben.«
»Besser wär’s.«
»Und warum?«
»Weil ich das Geld schon gekriegt habe.« Er zog die fertige Socke vom Bettpfosten und gab sie Ren. »Und er weiß, dass ich hinter ihm her bin. Wenn ich ihn nicht kriege, kriegt er mich.«
Dolly kroch an seinen Platz unter dem Bett. »Jetzt bin ich müde. Vielleicht mach ich es morgen.«
Ren beugte sich über den Rand der Matratze. »Und wie?«
Dolly lag so zusammengequetscht unterm Bett, dass seine Stirn beinahe die Holzlatten berührte. »Ich brech ihm das Genick. Das ist das Einfachste.«
»Du nimmst also kein Schießeisen?«
»Macht zu viel Lärm.«
Ren ließ sich auf die Matratze zurücksinken. Er zog sich eine von Mrs. Sands’ Steppdecken bis über beide Schultern und sah zu, wie die Spätnachmittagssonne über die Wände wanderte. »Und wenn ich dich bitten würde, ihn nicht umzubringen?«
Dolly seufzte.
»Wir gehen fort von hier. Du könntest mitkommen.« Ren knetete die Bettdecke mit seiner Hand.
»Ich werd’s mir überlegen«, sagte Dolly. »Aber versprechen tu ich nichts.« Ein paar Minuten später drehte er sich um, verschob dabei die Matratze und hob Ren samt dem Bettgestell hoch. Es landete ein Stück weiter links wieder am Boden, und Ren hörte zu, wie Dollys Atem gleichmäßig wurde und langsam in Schnarchen überging.
Ren schaute zur Decke hinauf und dachte an den Mann mit dem Zylinder, daran, wie schwer sein Körper gewesen war, als sie ihn im Krankenhaus durch die Kellertür geschoben hatten. Er berührte den Schorf auf seiner Wange, wo ihn der Mann mit dem Messer geschnitten hatte. In einer Woche würde die harte Kruste abfallen, und die frische Haut darunter wäre rosa. Ren hatte Dolly bereits dazu gebracht zu beichten, wenn auch beim Falschen. Wenn er ihn davon abhalten konnte, noch einen Menschen umzubringen, und wenn er so inbrünstig betete, wie er nur konnte, wäre es vielleicht so, als wäre das alles nie geschehen.
Als Benjamin bis Mitternacht nicht zurückgekehrt war, ging Ren nach unten, um das Versprechen einzulösen, das er Mrs. Sands gegeben hatte. Er holte das Tablett, das sonst sie hergerichtet hatte, und stellte rasch ein Abendessen aus hart gewordenem Brot und getrockneter Wurst zusammen, legte einen kleinen angeschlagenen Apfel daneben und deckte das Ganze mit einer Serviette zu. Er stellte das Tablett neben die Socken, die Dolly gestopft hatte, auf den Tisch. Dann kroch er in den Kartoffelkorb und wartete.
Fast eine Stunde verging, und Rens Beine kribbelten schon unangenehm. Gerade als er dachte, der Zwerg würde nicht kommen, hörte er etwas im Kamin. Wenige Sekunden später kroch der kleine Mann aus der Feuerstelle. Ren beobachtete von seinem Versteck aus, wie der Zwerg eine Runde durch den Raum drehte, dann die Serviette hochhob und verächtlich schnaubte. Ohne das trockene Brot und die Wurst anzurühren, nahm er den Apfel mit zu einem kleinen Schemel neben dem Kamin, zerschnitt ihn fachmännisch mit seinem Messer und schob sich die Schnitze mit der Klinge in den Mund. Er trug dieselben Sachen, in denen Ren ihn beim letzten Mal gesehen hatte – eine kurze braune Jacke, eine grüne Hose und kleine klobige Stiefel. Als der kleine Mann den Apfel aufgegessen hatte, nagte er das Kernhaus ab und spuckte die Kerne in die Feuerstelle. Dann schleckte er sich die Finger ab, löste die Schnürbänder seiner Stiefel, zog die Socken aus und holte sich die, die Ren ihm hingelegt hatte.
Der Zwerg begutachtete die Zehen. Er betastete die Fersen. Dann sprang er auf, schritt die ganze Küche ab, schaute unter die Anrichte und in jeden Winkel und hob den Deckel der Truhe hoch. Ren versuchte vom Kartoffelkorb aus, ihn im Auge zu behalten, aber der Zwerg entwischte aus seinem Blickfeld in den hinteren Teil der Küche, rückte Stühle beiseite und stieß gegen Pfannen.
Ren hielt die Luft an und horchte. Dann plötzlich wurden ihm fast die Haare vom Kopf gerissen. Er wurde aus dem Korb auf den Boden geschleudert, und das hässliche faltige Gesicht des kleinen Mannes schob sich dicht an seines.
»Wo ist Mary?«, knurrte der Zwerg. Winzige Apfelrestchen spritzten auf Rens Stirn.
»Ich kenne keine Mary.«
»Die Frau, die hier wohnt. Die Frau, der dieses Haus gehört!«
Ren versuchte, die Finger aus seinen Haaren zu lösen. »Sie ist im Krankenhaus.«
Der kleine Mann lockerte seinen Griff. Er schaute bekümmert drein. »Ist sie tot?«
»Sie hat Influenza. Sie hat mich gebeten, mich um dich zu kümmern.«
Der Zwerg ließ den Jungen los. Er hob das Messer auf, mit dem er zuvor den Apfel geschnitten hatte. »Sehe ich aus wie einer, um den man sich kümmern muss?« Die Klinge war fast so lang wie der Griff, die Spitze am Ende gebogen. Der Zwerg zog sich in die Feuerstelle zurück und angelte sich das Seil. »Wann kommt sie zurück?«
»Das weiß ich nicht.«
Der kleine Mann wusste offenbar nicht recht, ob er verschwinden sollte oder nicht. Seine Stimme wurde wehleidig. »Sie ist nie krank.« Er drehte das Seil unschlüssig in seinen Händen, als befürchtete er, Mrs. Sands’ Krankheit könnte ihn durch den Kamin bis aufs Dach verfolgen und ihn dort irgendwie auspusten.
Ren merkte, dass der Mann Angst hatte. Er nahm das Tablett mit der Mahlzeit. »Du solltest was essen.«
Der Zwerg betrachtete das Brot und die Wurst. Dann zeichnete sich ein Gedanke auf seinem Gesicht ab, und er ließ das Seil los und schob das Messer wieder in die Hosentasche. »Ist die Vorratskammer offen?«
Sie machten die Tür zur Speisekammer hinter der Küche auf und stellten fest, dass sie gut gefüllt war. Die Wandregale waren voller Gläser mit Essiggurken und eingekochtem Obst und Gemüse – eigenartige Farben und zweifelhafte Formen, die dicht gepackt in Weckgläsern schwammen. Sie entdeckten ein in Wachstuch eingewickeltes Stück Räucherfleisch, Körbe mit Karotten und Lauchstangen, ein kleines Fass Bier, eine Kette Würste, die an einem Haken hing, Blechdosen mit Mehl und braunem Zucker und eine Büchse, auf deren Etikett Melasse stand.
Der kleine Mann entschied sich für ein Weckglas mit orangegelbem Inhalt. Ren holte es ihm vom Regal herunter und sah zu, wie er den Deckel mit dem Messer aufstemmte. Es enthielt schmelzweiche, rosa glänzende Halbmonde. Der Zwerg spießte einen auf und führte ihn zum Mund. »Pfirsiche«, sagte er und stieß sein Messer in den nächsten. Ren bot er nichts an. Der Junge stand da und fragte sich, welche Gründe Mrs. Sands wohl haben mochte, einen solchen Besucher zu dulden. Der Zwerg aß das Weckglas leer, leckte dann die Ränder ab und fuhr mit der Zunge hinein, um den letzten Rest Saft abzuschlecken.
»Hol mir noch eins runter. Das da drüben.« Der kleine Mann zeigte auf ein grünes Glas in der Ecke. Es war mit in Essigsud eingelegten Zwiebeln gefüllt. Er spießte sie mit seinem Messer auf, hob Schale um Schale ab und schob sich die durchscheinenden Stücke genüsslich in den Mund. Es schien, als wollte er ewig so weiteressen. Ren holte ein Glas nach dem anderen herunter, und der Zwerg machte kurzen Prozess damit; die leeren Weckgläser reihte er an der Wand der Speisekammer auf. Ren überlegte, ob er der Sache ein Ende machen sollte, musste aber immer wieder an Mrs. Sands denken und an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte.
Der Zwerg aß im selben Tempo weiter, bis er zum Hering kam. Nachdem er das letzte Stück Fisch hinuntergeschlungen hatte, hielt er inne, wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und ließ sich gegen die Wand sacken. »Hast du den Schlüssel?«
»Nein«, sagte Ren.
»Wir müssen ihn finden. Sonst essen die Mausefallenmädchen in kürzester Zeit alles ratzeputz auf.« Er lockerte seinen Gürtel und glitt zu Boden. »Herrgott noch mal.«
»Warum wohnst du im Kamin?«, fragte Ren.
»Ich wohne nicht im Kamin. Ich wohne auf dem Dach.«
»Und das erlaubt dir Mrs. Sands?«
»Dieses Haus gehört mir genauso wie ihr. Unsere Mutter hat es uns beiden hinterlassen.«
Erstaunt sah Ren den Zwerg an und begegnete seinem harten Blick. Es war ein Blick, der auf Hohn gefasst war, ja ihn geradezu herausforderte. Ren musste daran denken, dass Mrs. Sands, als Schwester Josephine sie entlauste, nur eines wichtig gewesen war: dass dieser kleine Mann seine Socken bekam.
»Ist sie gestorben?«
Der Zwerg wischte sich die Finger an einer Serviette ab. »Natürlich ist sie gestorben. Das tun Mütter nun mal.«
Ren umklammerte ein leeres Weckglas. Unter einem Finger spürte er einen Riss im Glas.
»Im Winter ist es bestimmt kalt da oben.«
»Schon. Aber es ist sicher.«
»Sicher vor was?«
»Vor Leuten, die jeden hassen, der anders ist als sie. Wie ich. Oder du.« Er deutete mit dem Kinn auf Rens Narbe, und instinktiv zog der Junge seinen Armstumpf in den Ärmel.
»Du kannst es wenigstens verstecken«, sagte der Zwerg.
Ren wippte auf den Fersen vor und zurück, weil er sich ertappt fühlte. Dann schob er den Stumpf wieder aus dem Ärmel. Er war fest und rosa und mit Narben überzogen. Aber ihm wurde klar, dass er im Vergleich zu dem Zwerg gar nicht so schlecht aussah. Wirklich nicht.
Der Mann rülpste leise und rieb sich den winzigen Bauch. »Ich habe da oben ein Haus. Und einen Ofen.« Er stopfte sein Hemd wieder in die Hose und hievte sich auf die Beine. »Möchtest du es sehen?«
»Ja«, sagte Ren und merkte sogleich, dass es stimmte. »Sehr gern.«
Darüber schien sich der Zwerg zu freuen, fast so sehr wie vorhin, als er festgestellt hatte, dass die Speisekammer nicht abgeschlossen war. Er kroch in den Kamin. »Du musst dich hinaufschieben«, sagte er und hielt sich am Seil fest. »Sieh zu, dass du mit den Füßen Halt findest, immer einer unten und der andere schräg gegenüber. Und lass nach Möglichkeit Mund und Augen zu. Sonst kriegst du Ruß rein.« Damit band er sich das Seil um den Bauch, stieg auf den Rost in der Feuerstelle und zog sich hinauf in die Kaminöffnung.
Ren sah ihm von unten zu, horchte, wie der Rücken des Zwergs an den Backsteinen entlangschrappte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er oben angelangt war. Dann war er verschwunden, und man sah wieder den bleichen Himmel, wie ein winziges Fenster in der Dunkelheit.
Das Seilende fiel durch den leeren Rauchfang zu Ren herunter. Es war ziemlich dünn, ausgefranst und spröde. Ren band es sich um den Bauch, so wie er es bei dem kleinen Mann gesehen hatte. Er schaute hinauf in den Schacht. Er erschien ihm höher als zuvor. Er duckte sich und kletterte auf den Eisenrost, stieß mit dem Fuß die wenigen übrig gebliebenen verkohlten Scheite beiseite und tauchte von unten in den Kamin.
Der Schacht war eng, kaum breiter als seine Schultern. Die Seitenwände waren rauchgeschwärzt und mit einer dicken grauen Rußschicht überzogen. Ren berührte sie mit den Fingerspitzen. Die Ziegel waren noch warm. Mit seiner unversehrten Hand ergriff er das Seil, stützte sich mit dem linken Ellbogen hinten am Stein ab, schob eine Ferse in die Ecke und hievte sich hinauf in den Kamin.
Als er etwa zwei Drittel hinter sich gebracht hatte, verengte sich der Schornstein. Rens Schultern drückten gegen die Ecken, und er konnte die Knie nicht mehr hochziehen, um sich nach oben zu stemmen. Er klammerte sich ans Seil und geriet in Panik.
»Ich stecke fest!«, rief er.
Ren wand sich hin und her. Er rutschte ein ganzes Stück ab, ehe es ihm gelang, eine Fußspitze in eine Ritze zu rammen und seinen Fall zu bremsen. Eine Schmutzwolke löste sich von den Kaminwänden, und Ruß gelangte in seine Nase und den Mund, zwischen die Zähne und unter die Zunge. Er hatte sich beide Arme aufgeschürft und einen Fußknöchel verdreht. »Ich falle runter!«
»Herrgott noch mal«, hörte er den Zwerg sagen. Und dann spürte er einen Ruck um die Taille. Langsam zunächst und dann immer schneller wurde er durch den Kamin hinaufgezogen, stieß sich Kopf und Ellbogen dabei an. Zwischendurch verlor er ein paar Mal den Halt unter den Füßen und baumelte am Seilende wie ein Fisch an der Angel. Noch ein paar Minuten, und er hatte das Fenster zum Himmel erreicht, atmete frische Luft, und der kleine Mann packte ihn an der Jacke und zog ihn hinaus aufs Dach.
Er klopfte Ren auf den Rücken. »Runter geht es leichter.«
Ren wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab. Er hustete und spuckte den Ruß aus, den er im Mund hatte. Es war schon bald Tag; im Osten erhellte die Sonne den Horizont. Vom Dach aus konnte Ren die ganze Stadt sehen, die Mausefallenfabrik, die den Stadtkern beherrschte, den Fluss, der alles umschloss wie ein schützender Arm. Im Süden auf dem großen Platz erwachte der Markt zum Leben. Im Westen spannte sich die Brücke über den Fluss und führte zu einer Schneise durch den Wald. Unmittelbar hinter diesem Wald erhoben sich mehrere Hügel. Irgendwo dort lag der Eingang zu dem Bergwerk, das sämtliche Männer von North Umbrage das Leben gekostet hatte, und dahinter die Straße zum Krankenhaus.
Die Luft hier oben war klarer, der Geruch nicht so abgestanden wie auf der Straße. Ren musste daran denken, was er alles erlebt hatte, seit er Saint Anthony verlassen hatte; an jeden Schritt, der ihn hierher geführt hatte. So vor ihm ausgebreitet, wirkten sowohl die Stadt als auch seine eigene Vergangenheit weniger Furcht einflößend. Und da begriff Ren, dass alles besser war, wenn man es von oben betrachtete.
Der Zwerg forderte Ren mit einem Wink auf, ihm in seine Behausung zu folgen, die von außen lediglich wie ein Verschlag wirkte, ein verlassenes, mit Lumpen umhülltes Taubenhaus. Aber innen war der Raum recht behaglich. Die Wände waren mit Tierfellen ausgekleidet; abgewetzte Lederstücke und etwas, was wie eine Schweinehaut aussah, lagen ausgebreitet und straff gezogen zwischen Pelzstücken. Die Felle von Eichhörnchen und Waschbären und Bibern bedeckten den Boden, und in der Ecke lag eine große Hirschhaut, an der noch der Kopf mit zwei eingepassten Glasaugen hing. Hier schlief der Zwerg offenbar, denn dort lag auch ein Kissen, und darüber hingen mehrere Borde mit Büchern.
In der Ecke gegenüber stand ein winziger Kanonenofen, und in seinem Umkreis machte der Zwerg sich jetzt zu schaffen, zog Holzspäne und Papier aus seinen Taschen und legte sie auf den Feuerrost, goss Wasser aus einem kleinen irdenen Krug in ein verbeultes Stielpfännchen und stellte es auf die Ofenplatte, förderte unter einem Dachziegel ein Stück Feuerstein zutage und schlug damit auf einen anderen Stein, so dass Funken hervorsprühten, mit denen er dann ein Feuer in Gang brachte.
Der Zwerg wühlte in einer Holzkiste und holte ein kleines Bündel Wurzeln und Blätter hervor, die er in den Topf mit Wasser warf. Dann holte er von einem Brett an der Wand zwei Becher herunter. Behutsam goss er das Gebräu ein, das er auf dem Ofen zusammengerührt hatte. Ren nahm sich einen Becher. Sein Inhalt schmeckte bitter und verbrannte ihm die Zunge.
»Wurmkraut«, sagte der kleine Mann. »Das hat uns unsere Mutter immer gemacht, wenn wir krank waren. Ich fülle was in einen Krug, dann kannst du es Mary bringen.«
»Warum bringst du es ihr nicht selber?«
»Ich bleibe immer auf dem Dach.«
»Und wieso?«
Der Zwerg stellte seinen Teebecher auf den Boden. »Ich gehe nur in die Küche hinunter. Sonst gehe ich nie runter.«
»Bist du denn nie einsam?«
»Nie«, keuchte der Zwerg.
Ren glaubte ihm nicht.
In der Ecke stapelten sich Bücher, und auch die Borde an der Wand waren vollgestellt. Ren ging hinüber, um die Titel zu entziffern. Mehrere waren auf Griechisch und Latein und in anderen Sprachen, die er nicht kannte. Shakespeares Gesammelte Werke lagen auf dem Boden, außerdem gab es Gedichtbände, ein paar Romane, eine Geschichte des Römischen Reiches und eine dicke, illustrierte Ausgabe des Don Quichotte. Ren zog sie aus dem Regal und schlug das erste Kapitel auf. Das Papier zwischen seinen Fingern fühlte sich dick und weich an.
Das Wasser kochte zum zweiten Mal. Der Zwerg wandte sich wieder dem Ofen zu und füllte die Flasche, die für seine Schwester gedacht war. »Ein paar von denen haben meinem Vater gehört. Aber die meisten stammen von einer Frau, die in North Umbrage gelebt hat. Sie war ein bisschen merkwürdig. Eines Tages habe ich mitbekommen, wie sie am Markt vorbei und geradewegs ins Wasser gegangen ist. Sie ließ ihren Korb los, und er trieb mit der Strömung davon. Sie machte noch einen Schritt und noch einen, bis ihr Kleid die Farbe wechselte, und versank. Ein paar Männer, die beim Angeln waren, zogen sie heraus. Ich habe gesehen, wie sie sie nach Hause getragen haben. Ihr Rock schleifte hinter ihnen her und hinterließ auf dem ganzen Rückweg vom Fluss eine lange nasse Spur.«
»Was ist aus ihr geworden?«, fragte Ren.
»Sie ist verschwunden«, sagte der Zwerg. »Die Leute behaupten, ihr Bruder hat sie in eine Anstalt gesteckt. Später dann wurden ihre Bücher auf dem Markt verkauft, und ich habe Mary gebeten, sie für mich zu kaufen.« Er beugte sich vor und blätterte nach vorn bis zum Titelblatt mit einer Zeichnung von Don Quichotte auf seinem klapprigen Gaul. In die Ecke gegenüber hatte jemand an den Rand einen Namen gekritzelt: Margaret McGinty. Der Zwerg strich mit den Fingern über das Papier. »Ihrem Bruder gehört die Mausefallenfabrik. Er hat eine Menge Geld. Aber er hat alle ihre Sachen auf der Straße verkauft, als wäre sie eine Verbrecherin.«
Ren klappte den Don Quichotte zu und schob ihn wieder ins Regal. Jetzt begriff er, warum der Zwerg Angst gehabt hatte. Ohne Mrs. Sands war er hilflos.
Draußen ertönten laute Glockenschläge. Der Zwerg öffnete die Tür. Rauch stieg aus der Fabrik auf. Die Mausefallenmädchen in ihrer blauen Einheitskleidung liefen auf die Straßen hinaus, einige noch mit einem Bissen Frühstück in der Hand. Sie kamen aus allen Ecken der Stadt und strömten alle in dieselbe Richtung.
»Wir müssen die Vorratskammer absperren«, sagte der kleine Mann. »Wenn wir das nicht tun, essen sie alles auf.«
»Zahlen sie denn nicht für ihr Essen?«
»Sie kriegen zwei Mahlzeiten am Tag. Aber jetzt, wo meine Schwester fort ist, nehmen sie sich bestimmt alles.«
Der Morgen breitete sich über die Häusergiebel, und die Sonne war so rosig, dass die Rinnsteine leuchteten. Langsam wurden die Straßen unter ihnen lebendig, die Läden öffneten, und die Bordelle schlossen. Die Mausfallenmädchen waren in der Fabrik verschwunden, und das Tor hatte sich hinter ihnen geschlossen wie ein riesiger Mund.
Ren schaute hinaus auf den Fluss, der die Stadt umrundete. Er betastete den Saum seiner Jacke. Die Stiche waren gerade und alle gleich lang. Sie zogen sich an den Abschlusskanten entlang, über die Schultern und die Ärmel hinunter. Er sah Mrs. Sands vor sich, wie sie das Wasser aus den Kleidern des ertrunkenen Jungen wrang, wie sie mit Nadel und Faden hantierte, bis sie wie angegossen passten.
Der Zwerg reichte ihm das Fläschchen mit Tee. »Wenn du Mary siehst«, sagte er, »musst du sie daran erinnern, dass sie sich immer um mich kümmern muss. Das hat sie versprochen, nachdem unsere Mutter gestorben ist. Versprochen ist versprochen.«
Einen Augenblick lang wünschte sich Ren, er könnte mit dem Zwerg tauschen. Es würde ihm nichts ausmachen, auf dem Dach zu leben, wenn am anderen Ende des Kamins immer Mrs. Sands wäre. Er legte seine Hand auf die Backsteine und spähte ins Dunkel. Es reichte so tief hinab wie der Brunnen in Saint Anthony. Ren drückte die Flasche mit Wurmkraut an sich. Der Tee für Mrs. Sands wog schwer in seiner Hand. Er knotete sich das Seil um den Bauch, stieg auf den Rand des Schornsteins und hoffte, die Flasche würde nicht brechen.