37802.fb2 Die linke Hand - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 33

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Kapitel 32

Ren wartete in dem Büro, von dem aus man die Mausefallenfabrik überblickte, auf McGinty. Er beobachtete, wie knarrend die Eingangstore aufgingen und die Mädchen der neuen Schicht ihre Arbeitsplätze einnahmen. Sie hatten ihre Schultertücher über die Köpfe gezogen und bewegten sich flink. Sobald sie ihre Plätze erreicht hatten, nahmen sie die Tücher ab und banden sie sich um die Taille. Der Werksleiter schlenderte durch den Mittelgang, stupste ein Mädchen in den Rücken, gab einem anderen einen Klaps aufs Hinterteil. Ren sah die Hasenscharte hinten an ihrer Säge stehen und Holzstücke schneiden und stapeln. Sie schaute nicht zu ihm hinauf, aber er wusste, dass sie ihn hinter der Glasscheibe bemerkt hatte.

Die Maschinen sorgten dafür, dass die ganze Fabrikhalle leicht vibrierte. Ren, der ohne Schuhe dastand, spürte es durch die Socken. Als er die Hand an die Fensterscheibe legte, bebte das Glas unter seinen Fingern. Hinter ihm an der Wand rappelten die Gemälde von der Fuchsjagd.

Die Bürotür ging auf. McGinty kam herein, gefolgt von zwei Hutmännern, die sich rechts und links von der Tür aufpflanzten. Einer davon war die Melone. Seine Nase war gebrochen, der Hals voller Striemen. Der andere trug einen Zylinder, den mit dem dunklen Fleck auf der Krempe. Doch das Gesicht darunter war wieder ein anderes, so als hätte sich der Zylinder direkt aus dem Boden einen neuen Körper wachsen lassen.

McGinty sagte kein Wort. Er schubste Ren nur unsanft ans Fenster, durchwühlte nacheinander alle seine Taschen und warf alles, was er fand – das Kragenstück und die Skalps und den Stein – auf den Boden, ehe er die Uhr entdeckte. Sobald er sie in der Hand hielt, stieß er Ren zur Seite. Er ließ den Deckel aufschnappen, um zu sehen, ob das Porträt noch da war, blickte erleichtert in Margarets Gesicht und säuberte es gründlich mit seinem Taschentuch. Als er damit fertig war, warf er erst einen argwöhnischen Blick auf den Jungen, dann auf das Zifferblatt. Er stellte die Zeiger richtig ein, ließ die Uhr zuschnappen und zog sie auf.

»Du bist ein Dieb«, sagte McGinty.

»Schon möglich«, sagte Ren.

»Aber kein sehr schlauer«, sagte McGinty. »Ich habe dich erwischt. Zweimal.« Er steckte die Uhr in seine Westentasche. Dann setzte er sich hinter den Schreibtisch. Aus der Tasche zog er Pilots Messer, das, mit dem dieser die Hand des Barmanns abgetrennt hatte, und legte es vor den Jungen hin.

»Wie ich höre, war ein Mann bei dir.«

»Geht es ihm gut?«

»Er hat Pilot umgebracht und noch drei andere.«

»Er ist mein Freund.«

»Ein sauberer Freund.« McGinty rieb mit dem Finger über die Spitze der Klinge. »Er ist vor etwa einem Monat hergekommen, um mich umzubringen. Ich habe zwei Männer geschickt, um ihn aus dem Weg zu räumen, aber wie es aussieht, hat er sie aus dem Weg geräumt.« McGinty nahm das Messer in die Hand. »Vielleicht ist er der Mann, den ich seit langem suche. Vielleicht ist er bereit, ein paar Antworten zu geben.«

»Er ist nicht mein Vater.«

»Wer dann? Sag’s mir.«

»Ich habe Euch doch gesagt, ich weiß es nicht.«

Ren wartete darauf, dass McGinty zuschlug, aber stattdessen rammte er das Messer in den Schreibtisch. »Ich werde dafür sorgen, dass es dir wieder einfällt.«

Er zog eine Schublade auf und holte ein seidenes, mit purpurnem Garn besticktes Beutelchen hervor. Die Zugschnur, mit der es zugebunden war, war ebenfalls purpurrot, und McGinty brauchte einen Moment, um sie zu entwirren. Dann war der Beutel offen, und McGinty griff hinein und holte einen kleinen Glaswürfel heraus. Er legte ihn auf den Tisch. Darin war etwas eingeschlossen, das aussah wie etwas Zerbrochenes, etwas, das in fünf Richtungen auseinanderfiel. Es war eine klitzekleine Hand.

McGinty presste die Lippen aufeinander. »Kommt dir das bekannt vor?«

Ren starrte die Hand auf dem Tisch an. Die Fingernägel in der Glashülle waren durchscheinend wie Perlen. Die Haut noch immer rosig. Aber voller Falten. Vieler hundert winziger Falten, mit denen die Hand aussah, als gehörte sie einem uralten Menschen. Einem, der schon tausend Leben gelebt hatte.

»Ich habe sie aufgehoben«, sagte McGinty. »Als Andenken.« Er beugte sich darüber und flüsterte in Rens Ohr: »Sie hätte mir nur den Namen des Vaters zu sagen brauchen. Aber sie hat sich geweigert. Selbst als ich dich vor mir auf dem Tisch liegen hatte. Selbst als das Messer in dich rein schnitt, sagte sie kein Wort.«

Die Narbe juckte so arg, als stünde sie in Flammen. Ren stürzte zur Tür, doch bevor er den Knauf zu fassen bekam, hatten der Zylinder und die Melone ihn gepackt. Auf ein Nicken von McGinty hin hoben sie ihn auf den Schreibtisch. Ren wehrte sich nach Kräften, aber die Männer wurden ihm leicht Herr und sorgten dafür, dass er im Nu wie festgenagelt mit ausgestreckten Armen auf der Holzplatte lag.

»Ich habe versucht, mit dir zu verhandeln. Ich habe versucht, nett zu sein.« McGinty zog Pilots Messer aus der Schreibtischplatte. Er nahm Rens linken Arm und betrachtete die Narbe. Dann sah er ihn kurz an und ging auf die andere Seite des Schreibtischs.

Ren spürte, wie das Blut aus seinem rechten Arm wich und seine Finger taub wurden. McGinty beugte sich so weit vor, dass sein Atem den Jungen streifte. Er fasste das Messer an der Klinge an und führ damit sachte über das Handgelenk des Jungen, direkt an der Daumenwurzel vorbei. Die Haut wurde nur leicht geritzt, gerade so viel, dass sich eine scharfe rote Linie bildete. »Ich habe gern ein Ziel«, sagte McGinty. »Etwas, wo ich drauf zusteuern kann.«

Über Rens Arm rann ein bisschen Blut. McGinty setzte die Klinge an sein Handgelenk, genau auf den Schnitt, den er ihm gerade zugefügt hatte. Ren sah sich gespiegelt im Metall – ohne Hände, nur mit zwei leeren Armstümpfen –, und er brüllte und brüllte und konnte gar nicht mehr aufhören.

»Ich will seinen Namen«, sagte McGinty. »Ich will alles über ihn wissen.«

In Gedanken wartete Ren auf das Krachen des Donners. Er spürte, wie er sich hier im Raum aufbaute, wie sich die Luft mit elektrischer Spannung auflud. Damit sie sich entladen konnte, war nur ein Knall nötig. Eine schimmernde Vene, die sich von der Dunkelheit abhob.

Unter ihm war der Boden. Derselbe Boden, über den seine Mutter gegangen war. Der Stuhl war ein Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, und auf diesen Schreibtisch hatte sie ihre Ellbogen gestützt. Durch das Fenster war das gleiche Summen der Maschinen gedrungen. Das gleiche sanfte Vibrieren hatte ihre Füße gekitzelt. Einst hatte dieser Raum sie umschlossen. Und nun umschloss er Ren. Als sie hier gewesen war, hatte sie ihn geliebt. Und diese Liebe war noch immer da, in den Wänden.

Er konnte sie spüren. Er machte den Mund auf, und die Worte strömten aus ihm heraus.

»Mein Vater kam aus dem Westen«, sagte Ren. »Er jagte Indianer, obwohl er selbst von einem Stamm aufgezogen worden war. Niemand wusste, wer seine Eltern waren. Einige Leute behaupteten, ein paar Zigeuner hätten ihn von einem Wagenzug gestohlen und ihn im Austausch gegen Perlen und ein Gewehr den Indianern überlassen. Aber er war eindeutig ein Weißer, und er lernte sogar Englisch bei einem Schullehrer, der zufällig vorbeikam und der Gefallen an ihm und an dem Leben der Indianer fand und schließlich dablieb und eine Squaw namens Happy Feather heiratete.«

Langsam nahm McGinty das Messer von Rens Handgelenk. Er nickte dem Zylinder und der Melone zu. Die Hutmänner lockerten ihren Griff, und Ren erzählte weiter, den Blick zur Decke gerichtet und mit pochendem Herzen.

»Als mein Vater noch jung war, fing er an, Skalps aufzuspüren. Dafür ließ er sich von den Verwandten der Toten bezahlen. Er sah sich den Körper der Opfer an, und an der Art, wie das Haar entfernt worden war, konnte er erkennen, welcher Stamm da am Werk gewesen und welche Art von Messer benutzt worden war und manchmal sogar, welcher Krieger es getan hatte. Dann stieg er auf sein Pferd und verschwand oft für Wochen und manchmal sogar Monate und ein paar Mal sogar länger als ein Jahr. Doch er kam immer wieder zurück, und in seiner Satteltasche hatte er dann die Skalps mit den Zöpfen oder den Locken, und die Leute machten die Gräber auf und öffneten die Särge und legten die fehlenden Teile hinein, auf dass die Toten in Frieden ruhen konnten.

Nach ein paar Jahren in der Prärie packte meinen Vater die Unruhe, und er zog nach Osten. Er verkaufte sein Pferd und fuhr zur See. Auf einem Handelsschiff segelte er um die Welt, nach Afrika und nach Indien, nach Europa und ins Morgenland. An Orte, wo die Menschen hoch oben auf Berggipfeln leben, zu denen niemand hinaufgelangen kann, oder in Glaskästen, die tief unten in einem See hängen, oder in riesigen Schlössern aus Gold und Elfenbein, mit so vielen tausend Zimmern, dass man jeden Tag eines bewohnen und dann ins nächste weiterziehen könnte.

Danach begab er sich auf ein Walfangschiff und brachte Jahre damit zu, Seeungeheuer zur Strecke zu bringen. Er kämpfte gegen Piraten und entdeckte entlegene Inseln, auf denen es nichts gab außer Vulkanen und Affen. Er wurde ein berühmter Ringer, der fremdartige Lebewesen bezwang, der kopfüber in dunkle Gewässer sprang, um gegen Riesenkraken und Seeschlangen zu kämpfen, während seine Schiffskameraden von der Reling aus zusahen und Wetten abschlossen.

Und dann eines Nachts kam ein schrecklicher Sturm auf. Er zertrümmerte das Schiff und ließ es in Flammen aufgehen, so dass die Männer in alle Richtungen zerstreut wurden. Mein Vater war der einzige Überlebende. Er beschloss, nach Hause zu schwimmen. Und das tat er dann auch. Er schwamm viele tausend Meilen über den Ozean, kämpfte gegen Quallen und Haie und Wasserschildkröten und anderes Meeresgetier, das unterwegs ein Stück von ihm abbeißen wollte. Als er schließlich an Land gespült wurde, war er nur noch Haut und Knochen und halb von Sinnen, weil er so lange im Wasser gewesen war.

Ein Fischer fand ihn und päppelte ihn auf, bis er wieder gesund war, und dann verkaufte er ihn an die Armee, um eine Spielschuld zu begleichen. Der Befehlshaber dort war ein missmutiger Zwerg, der seine Befehle brüllte und so viel aß wie zehn Männer; doch auf seinem kleinen weißen Pony sah er prächtig aus und flößte seinen Soldaten großen Mut ein. Nach fünf Jahren gab der Zwerg meinem Vater Urlaub, damit er seine indianische Familie besuchen konnte. Doch stattdessen begab sich mein Vater in eine ländliche Gegend und entdeckte dort den Eingang zu einem alten Bergwerk, und in diesem Bergwerk begegnete er meiner Mutter.«

McGinty lehnte sich mit erwartungsvoller Miene auf seinem Stuhl zurück. Er hatte den Glaswürfel genommen und ließ ihn in einem fort auf der flachen Hand kreiseln. Ren sah zu, wie dieses Stück seiner selbst sich drehte, wie ein Zahnrad in einem Uhrwerk, und ließ sich davon zum Rest seiner Geschichte anregen.

»Meine Mutter erzählte ihm von den Bergarbeitern, die unter der Erde eingeschlossen waren. Sie führte ihn durch die Stollen, dorthin, wo die Toten lagen, dicht aneinandergedrängt, um sich warm zu halten. Sie trug ein grünes Samtkleid, und als sie ihre Finger in seine Hand drückte, schmolzen all seine Abenteuer und sein hartes Leben dahin. Er wusste, dass er der Frau begegnet war, die er bis an sein Lebensende lieben würde. Als seine Truppe nach Westen zog, schrieb er meiner Mutter jeden Tag und wurde vor lauter Angst und Sorge und Sehnsucht nach ihr fast verrückt.

Endlich kam ein Brief von ihr zurück. Darin schrieb sie, sie werde ein Kind von ihm bekommen. Sie bat ihn, zu ihr zurückzukehren, sie von North Umbrage wegzubringen und ihr und dem Kind seinen Namen zu geben. Noch in derselben Nacht desertierte er. Er verließ seinen Posten bei der Armee, und man fahndete nach ihm. Er war stets nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs und versteckte sich tagsüber im Wald, wandte all die Tricks und Kniffe an, die er sich im Lauf der Jahre angeeignet hatte, um am Leben zu bleiben. Doch obwohl er so viel gelernt hatte, reichte es nicht, und irgendwann bekamen ihn die Soldaten zu fassen. Sie ließen ihn hungern und schlugen ihn, bis er kein Mensch mehr war, sondern nur noch ein lebendes Skelett – die leere Hülle des Mannes, der er einst gewesen war. Monate vergingen, und er vergaß, wer er war und woher er gekommen war, und am Ende konnte er sich nur noch an das Gesicht meiner Mutter erinnern, wusste aber nicht einmal mehr, wem es gehörte.

Eines Tages steckten sie einen Mörder in die Nachbarzelle, einen Mann mit riesengroßen Händen. Und als er mithilfe dieser Riesenhände entfloh, ging mein Vater mit. Doch bis er wieder alle seine Sinne beisammenhatte und endlich nach North Umbrage kam, war es zu spät. Meine Mutter war gestorben, und mein Vater kehrte sich von der Welt ab. Er begann zu trinken. Und dort, in billigen Spelunken und auf dem Boden von Trinkkrügen, stürzte er in das tiefste und schwärzeste Loch seines Lebens.

Viele, viele Jahre vergingen. Er verkehrte mit dem niederträchtigsten Gesindel, hielt sich mit den niedrigsten Vergnügungen am Leben und verrichtete die niedrigsten Arbeiten, nur um die nächste Runde bezahlen zu können. Doch mit der Zeit kamen ihm Gerüchte zu Ohren, dass ich am Leben sei. Und er erinnerte sich daran, dass er früher einmal mit Meeresgetier gerungen, Vulkane erklommen und Ozeane durchschwömmen hatte, und da wusste er auf einmal, dass er diese Kraft wieder aufleben lassen und einsetzen konnte, um seinen einzigen Sohn zu suchen. Er besann sich auf sein großes Jagdgeschick aus längst vergangenen Zeiten, auf das, was er auf See über das Navigieren gelernt hatte, und auf die Disziplin, die man ihm bei der Armee beigebracht hatte. Jede Nacht blickte er hinauf in die unermessliche Dunkelheit des Himmels und sagte mir, dass er kommen würde. Er bat mich, keine Angst zu haben. Er sagte, bald würde ich nicht mehr allein sein, denn schon jetzt suchte er mit dem Herzen nach mir.

Und dann eines Tages fand er mich wirklich. Er ließ seinen Blick über eine Schar von tausend Kindern wandern und hatte mich im Nu entdeckt. Und ich erkannte ihn auch sofort, weil er mich in meinen Träumen aufgesucht hatte. Deshalb hatte ich auch keine Angst. Er war kein Fremder. Wie hielten einander fest und waren beisammen, und wir wussten, dass uns nichts mehr trennen würde.«

McGinty knallte die Faust auf den Schreibtisch. »Das reicht«, sagte er. »Ich will kein Wort mehr hören. Ich will seinen Namen. Ich will seinen richtigen Namen.«

»Sein Name«, sagte Ren, »ist Benjamin Nab.«