37806.fb2 Die Perle (German Edition) - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

Die Perle (German Edition) - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

»Im Haus von Captain Lynch, sie trinken Absinth. Er ist schon eine Stunde drin.«

Und während Levy und Toriki Absinth tranken und um die Perle feilschten, lauschte Huru-Huru und vernahm, wie sie sich auf den horrenden Preis von fünfundzwanzigtausend Franc einigten.

Zu diesem Zeitpunkt liefen sowohl die OROHENA als auch die Hira nahe ans Ufer auf und begannen, Schüsse abzufeuern und wild zu signalisieren. Die drei Männer traten gerade rechtzeitig nach draußen, um zu sehen, wie die beiden Schoner hastig wendeten und Kurs auf die offene See nahmen. Auf der Flucht vor der Sturmbö, die ihre Klauen in sie schlug und die Masten tief auf das schäumende Wasser herunterdrückte ließen sie Hauptsegel und Klüver fallen. Dann waren sie hinter einem Regenvorhang verschwunden.

»Sie kommen zurück, wenn es vorüber ist,« sagte Toriki. »Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkommen.«

»Vermute, das Glas ist noch weiter gefallen,« sagte Captain Lynch.

Er war ein weißbärtiger Seemann, zu alt, um noch auf der Brücke zu stehen, und er hatte die Erfahrung gemacht, dass er nur auf Hikueru einigermaßen angenehm mit seinem Asthma leben konnte. Er ging hinein, um nach dem Barometer zu sehen.

»Großer Gott!« hörten sie ihn ausrufen und eilten ihm nach, um ebenfalls die Skala anzustarren, die auf Neunundzwanzig-Zwanzig stand.

Wieder gingen sie hinaus, diesmal um Meer und Himmel mit besorgten Blicken zu mustern. Die Sturmbö war vorübergezogen, aber der Himmel blieb bedeckt. Sie konnten die beiden Schoner sehen, zu denen sich ein dritter gesellt hatte, wie sie sich unter vollen Segeln zurückkämpften. Ein Umschlagen des Windes zwang sie, die Segel aufzufieren, und als er fünf Minuten später plötzlich erneut umsprang, erwischte er alle drei Schoner von achtern und die am Strand Zurückgebliebenen sahen, wie sie die Großschoten schleunigst nachließen oder loswarfen. Das Donnern der Brandung klang hohl und bedrohlich und eine schwere Dünung setzte ein. Ein furchterregendes Wetterleuchten brach vor ihren Augen los und erhellte den düsteren Tag, während wildes Donnergrollen aus allen Richtungen heranrollte.

Toriki und Levy machten sich im Laufschritt auf den Weg zu ihren Booten, wobei letzterer schaukelte und stampfte wie ein in Panik geratenes Nilpferd. Als ihre beiden Boote zur Durchfahrt hinausgespült wurden, begegnete ihnen das Boot der Aorai, das gerade hereinkam. Auf dem Achterdeck stand Raoul und feuerte die Ruderer an. Er konnte das Bild der Perle nicht aus seinem Kopf kriegen, deshalb kam er zurück, um Mapuhis Preis eines Hauses zu akzeptieren.

Er landete am Strand inmitten eines peitschenden Gewitterschauers, der so dicht war, dass er mit Huru-Huru zusammenstieß, bevor er ihn sehen konnte.

»Zu spät,« brüllte Huru-Huru. »Mapuhi hat sie für vierzehnhundert Chile-Dollar an Toriki verkauft, und Toriki hat sie Levy für fünfundzwanzigtausend Francs verkauft. Und Levy wird sie in Frankreich für hunderttausend Francs verkaufen. Hast du ein bisschen Tabak übrig?«

Raoul fühlte sich erleichtert. Seine Sorgen wegen der Perle waren vorüber. Er musste sich keine Gedanken mehr machen, selbst wenn er die Perle nicht hatte. Aber er glaubte Huru-Huru nicht. Mapuhi mochte sie wohl für vierzehnhundert Chile-Dollar verkauft haben, doch dass Levy, der etwas von Perlen verstand, fünfundzwanzigtausend bezahlt haben sollte, schien eine zu große Spanne. Raoul beschloss, Captain Lynch zu dem Thema zu befragen, aber als er beim Haus des alten Seebären anlangte, fand er ihn vor, wie er mit weit aufgerissenen Augen das Barometer anstarrte.

»Was sehen Sie da?« fragte Captain Lynch besorgt, putzte seine Brille und starrte wieder das Instrument an.

»Neunundzwanzig-Zehn,« sagte Raoul. »Ich habe es noch nie so niedrig erlebt.«

»Das glaube ich gerne!« schnaubte der Kapitän. »Fünfzig Jahre auf allen sieben Meeren, von Kindesbeinen an, und so tief habe ich es noch nie fallen sehen. Hören Sie!«

Sie lauschten eine Weile, während die Brandung donnerte und das Haus erzittern ließ. Dann gingen sie nach draußen. Der Schauer war vorübergezogen. Sie konnten die Aorai eine Meile entfernt in einer Flaute liegen und wie ein Korken in den gewaltigen Wellenzügen stampfen und schlingern sehen, die in majestätischer Prozession von Nordosten heranrollten und sich wütend gegen den Korallenstrand warfen. Einer der Seeleute aus dem Boot deutete auf die Mündung der Durchfahrt und schüttelte den Kopf. Raouls folgte mit dem Blick seiner Geste und sah ein weißes Chaos aus Schaum und Sturzseen.

»Ich glaube, ich muss heute Nacht bei Ihnen bleiben, Captain,« sagte er. Dann wies er den Seemann an, das Boot an Land zu ziehen und für sich und seine Kameraden Schutz zu suchen.

»Glatte Neunundzwanzig,« berichtete Captain Lynch, als er von einem weiteren Blick aufs Barometer herauskam, einen Stuhl in der Hand.

Er setzte sich und betrachtete unverwandt das Schauspiel, das die See ihnen bot. Die Sonne kam heraus und verstärkte die Schwüle noch, während die plötzliche, absolute Windstille andauerte. Die Wogen schienen immer höher anzuschwellen.

»Ich begreife nicht, was diesen Seegang verursacht,« murmelte Raoul gereizt. »Es ist völlig windstill, aber sehen Sie nur, schauen Sie sich den Burschen da an!«

Meilenlang, zehntausende von Tonnen Gewicht mit sich führend, erschütterte der Aufprall des Brechers das filigrane Atoll wie ein Erdbeben. Captain Lynch war bestürzt.

»Meine Güte!« schrie er, halb aus seinem Stuhl hochfahrend, bevor er sich wieder zurücksinken ließ.

»Aber es gibt keinen Wind.« Raoul war hartnäckig. »Ich könnte es verstehen, wenn gleichzeitig ein Wind blasen würde.«

»Keine Sorge, Ihren Wind bekommen Sie noch früh genug,« lautete die grimmige Antwort.

Die beiden Männer saßen schweigend da. Der Schweiß trat ihnen in Myriaden winziger Tröpfchen auf die Haut und lief zu feuchten Flecken zusammen, welche ihrerseits zu Rinnsalen anwuchsen und auf den Boden tropften. Sie rangen nach Luft, und vor allem der alte Mann keuchte unter der Anstrengung. Eine See ergoss sich über den Strand, beleckte die Stämme der Kokospalmen und verlief sich erst dicht vor ihren Füßen.

»Weit über der Hochwasserlinie,« bemerkte Captain Lynch. »Dabei lebe ich jetzt schon elf Jahre hier.« Er sah auf die Uhr. »Es ist Drei.«

Ein Mann und eine Frau mit einem bunten Gefolge von Bälgern und Kötern zogen mit besorgten Mienen vorbei. Sie hielten jenseits des Hauses an, und nach langer Unschlüssigkeit setzten sie sich in den Sand. Ein paar Minuten später tauchte eine weitere Familie aus der entgegengesetzten Richtung auf. Die Männer und Frauen schleppten die verschiedenartigsten Besitztümer mit sich. Und bald hatten sich mehrere hundert Personen jeden Alters und Geschlechts um die Behausung des Kapitäns versammelt. Er sprach eine der Neuankömmlinge an, eine Frau mit einem Baby auf dem Arm, und erhielt die Auskunft, dass ihr Haus soeben in die Lagune gespült worden sei.

Dieses war meilenweit der höchstgelegene Flecken Erde, und beiderseits hatten die großen Wogen an vielen Stellen schon deutliche Breschen in den schmalen Ring des Atolls geschlagen und ergossen sich in die Lagune. Über dreißig Kilometer maß der Umfang des Atolls, aber an keiner Stelle war es mehr als neunzig Meter breit. Es war der Höhepunkt der Tauchsaison und von allen umliegenden Inseln, sogar vom weit entfernten Tahiti, hatten sich die Eingeborenen versammelt.

»Hier leben zwölfhundert Männer, Frauen und Kinder,« sagte Captain Lynch. »Ich frage mich, wie viele es morgen früh noch sein werden.«

»Aber warum geht kein Wind? Das ist es, was ich wissen möchte.« Raoul ließ sich nicht abbringen.

»Keine Sorge, junger Mann, das Verhängnis kommt noch früh genug.«

Captain Lynch hatte noch nicht ausgesprochen, als eine gewaltige Wassermasse das Atoll erzittern ließ.

Das Meerwasser schäumte acht Zentimeter hoch unter ihren Stühlen. Ein dumpfes Angstgeheul stieg von den vielen Frauen auf. Die Kinder starrten mit ineinander gekrampften Händen in die gewaltigen Brecher und weinten mitleiderregend. Hühner und Katzen wateten verstört durchs Wasser und dann, als hätten sie sich abgesprochen, flüchteten sie in wilder Jagd zum Haus des Kapitäns und suchten Zuflucht auf dem Dach. Ein Mann aus Paumotu kletterte mit einem Wurf neugeborener Welpen in einem Korb auf eine Kokospalme und befestigte den Korb gut sechs Meter über dem Boden. Die Hündin tobte jaulend und bellend im Wasser darunter.

Und immer noch herrschte strahlender Sonnenschein und die vollkommene Windstille dauerte an. Sie saßen da und beobachteten die Wellen und das irrwitzige Schlingern der Aorai. Captain Lynch starrte in die heranrollenden Wasserberge, bis er es nicht länger ertragen konnte. Er barg das Gesicht in den Händen, um den Anblick auszusperren; dann ging er ins Haus.

»Achtundzwanzig-Sechzig,« sagte er ruhig, als er zurückkehrte.

Im Arm hielt er eine Rolle dünnen Seils. Er schnitt es in vier Meter lange Stücke, gab eines Raoul, behielt eines für sich und verteilte den Rest unter den Frauen mit dem Ratschlag, sich einen Baum auszusuchen und hinauf zu klettern.

Eine leichte Brise begann von Nordwesten zu wehen und ihre Kühle auf seiner Wange schien Raoul aufzumuntern. Er konnte sehen wie die Aorai die Segel trimmte und in See stach, und er bedauerte, dass er nicht an Bord war. Sie würde auf jeden Fall davonkommen, aber was das Atoll betraf ... Eine Woge brach sich Bahn, riss ihn beinahe von den Füßen und er suchte sich einen Baum aus. Dann fiel ihm wieder das Barometer ein und er rannte zum Haus zurück. Er stieß auf Captain Lynch, der dasselbe Ziel hatte, und sie gingen zusammen hinein.

»Achtundzwanzig-Zwanzig,« sagte der alte Seebär. »Das wird die reinste Hölle, wenn – was ist das?«

Die Luft schien sich plötzlich mit einer Art Brausen zu erfüllen. Das Haus erbebte und rüttelte und sie hörten einen Ton wie von einer gewaltigen vibrierenden Saite. Die Fenster klapperten. Zwei Scheiben zersplitterten, und ein Windstoß fuhr herein, der sie ins Taumeln brachte. Die Tür gegenüber knallte zu und zerschmetterte den Riegel. Der weiße Türknauf bröckelte in kleinen Stücken zu Boden. Die Wände des Raums beulten sich wie die Hülle eines Gasballons, der plötzlich aufgeblasen wird. Dann ertönte ein neuer Laut wie das Knattern von Musketenschüssen, als die Gischt einer Welle gegen die Hauswände prasselte. Captain Lynch sah auf die Uhr. Es war Vier. Er zog sich einen Lotsenmantel über, hängte das Barometer ab und verstaute es in einer geräumigen Tasche. Wieder traf eine See mit dumpfem Schlag das Haus und das leichte Gebäude neigte sich, drehte sich um neunzig Grad auf seinem Fundament und kam mit dem Boden in einer Schräglage von zehn Grad zur Ruhe.

Raoul ging als erster hinaus. Der Wind packte ihn und wirbelte ihn herum. Er stellte fest, dass er nach Osten gedreht hatte. Mit großer Anstrengung warf er sich in den Sand, machte sich klein und klammerte sich fest. Captain Lynch wurde wie ein Strohhalm dahingetrieben, stolperte über ihn und streckte alle Viere von sich. Zwei Seeleute von der Aorai verließen die Kokospalme, an der sie sich festgeklammert hatten, um ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie mussten sich in unmöglichem Winkel gegen den Wind lehnen und sich, die Zehen in den Sand gekrallt, Zentimeter für Zentimeter vorwärts kämpfen.

Die Gelenke des alten Mannes waren zu steif zum Klettern, deshalb hievten ihn die Seeleute mittels kurzer, zusammengeknoteter Seilstücke den Stamm hinauf, bis sie ihn im Wipfel des Baumes festbinden konnten, fünfzehn Meter über der Erde. Raoul schlang sein Seilende um den Fuß eines benachbarten Baumes und sah sich um. Der Wind war furchteinflößend. Er hätte sich nie träumen lassen, dass es so stark wehen konnte. Eine See schlug über dem Atoll zusammen und durchnässte ihn bis zu den Knien, bevor sie in die Lagune abfloss. Die Sonne war verschwunden und ein bleiernes Zwielicht hatte eingesetzt. Ein paar waagrecht heranjagende Regentropfen trafen ihn. Sie prallten auf wie Bleikugeln. Ein Spritzer Salzwasser traf sein Gesicht. Es war wie die Ohrfeige eines Mannes. Seine Wangen taten weh und unwillkürlich traten ihm Tränen des Schmerzes in die brennenden Augen. Mehrere hundert Eingeborene hatten sich in die Bäume geflüchtet und er hätte lachen mögen über die Trauben menschlicher Früchte, die in den Wipfeln hingen. Dann, ganz der gebürtige Tahitianer, knickte er in der Hüfte ab, klammerte die Hände hinter dem Stamm des Baumes zusammen, stemmte die Fußsohlen gegen die Rinde und begann, so den Baum hinaufzulaufen. In der Krone fand er zwei Frauen, zwei Kinder und einen Mann vor. Ein kleines Mädchen hielt eine Hauskatze fest in den Armen.

Aus einem Adlerhorst winkte er Captain Lynch zu und der tapfere Patriarch winkte zurück. Raoul erschrak über den Anblick des Himmels. Er war viel näher gerückt – tatsächlich meinte er ihn berühren zu können, wenn er die Hand ausstreckte; und er hatte sich von bleigrau zu schwarz verfärbt. Viele Menschen waren noch auf dem Boden, in Gruppen am Fuß der Bäume, an denen sie sich festhielten. Mehrere dieser Gruppen beteten, und in einer davon predigte der mormonische Missionar. Ein seltsamer Ton drang an sein Ohr, rhythmisch, so leise wie das kaum hörbare Zirpen einer fernen Grille. Nach einem Augenblick war er wieder verstummt, aber während er andauerte hatte Raoul unbestimmt an himmlische Sphärenklänge denken müssen. Er blickte um sich und sah am Fuße eines weiteren Baums eine große Gruppe von Menschen, die sich an Seilen und aneinander festklammerten. Er konnte erkennen, dass es in ihren Gesichtern arbeitete und ihre Lippen sich im Gleichklang bewegten. Obwohl ihn kein Ton mehr erreichte, wusste er, dass sie Choräle sangen.

Und immer noch wurde der Wind stärker. Er hatte kein Maß mehr dafür, denn dieser Wind übertraf alles, was er bisher erlebt hatte; aber trotzdem wusste er, irgendwie, dass es noch stärker brauste. Nicht weit entfernt wurde ein Baum entwurzelt und schleuderte seine menschliche Last zu Boden. Eine See flutete über den Sandstreifen, und dann waren sie verschwunden. Alles geschah sehr schnell. Er sah eine braune Schulter und einen schwarzen Schädel sich gegen die weißschäumende Lagune abzeichnen. Im nächsten Augenblick waren auch die verschluckt. Weitere Bäume knickten ab und fielen kreuz und quer wie Streichhölzer. Die Gewalt des Sturmes bestürzte ihn. Sein eigener Baum schwankte bedenklich. Die eine Frau schrie klagend auf und umklammerte das kleine Mädchen, das seinerseits die Katze festhielt. Der Mann, der das andere Kind hielt, berührte Raoul am Arm und deutete. Er folgte seinem Blick und sah, wie die mormonische Kirche sich dreißig Meter weiter wie betrunken zur Seite neigte. Sie war aus ihrem Fundament gerissen worden und Wind und Meer hoben und schoben sie auf die Lagune zu. Eine furchterregende Welle packte sie, kippte sie um und warf sie gegen ein halbes Dutzend Kokospalmen. Die Trauben menschlicher Früchte fielen wie reife Kokosnüsse. Als die Welle sich wieder zurückzog, legte sie sie wie Treibgut auf dem Sand ab, einige reglos, andere sich windend und zappelnd. Auf seltsame Weise erinnerten sie ihn an Ameisen. Er war jenseits des Entsetzens angelangt. Mit ziemlicher Selbstverständlichkeit nahm er zur Kenntnis, wie die folgende Welle den Sand vom menschlichen Strandgut frei schwemmte. Eine dritte Welle, noch ungeheurer als alle, die er zuvor gesehen hatte, riss die Kirche in die Lagune, wo sie halb untergetaucht mit dem Wind ins Nichts davon trieb wie eine Arche Noah.

Er sah nach Captain Lynchs Haus und stellte überrascht fest, dass es verschwunden war. Die Ereignisse überschlugen sich. Er bemerkte, dass viele Leute aus den Bäumen, die noch standen, hinuntergeklettert waren. Der Sturm hatte noch weiter zugenommen. Er fühlte es an dem Baum, auf dem er saß. Er schwankte nicht mehr oder neigte sich von einer Seite zur anderen. Stattdessen blieb er praktisch unbeweglich in einem festen Winkel vom Wind weggeneigt und vibrierte lediglich. Aber diese Vibrationen waren übelkeitserregend. Sie fühlten sich an wie von einer gewaltigen Stimmgabel oder der Zunge einer Maultrommel. Das Schlimmste daran war die Schnelligkeit der Vibrationen. Selbst wenn die Wurzeln hielten, konnte der Baum der Belastung nicht mehr lange standhalten. Irgendetwas musste brechen.

Ah, da hatte einer nachgegeben. Er hatte ihn nicht abbrechen sehen, aber da stand er, nur noch ein Strunk, auf halber Höhe des Stammes abgetrennt. Man bekam nicht mit, was geschah, außer man sah gerade zufällig hin. Das Umstürzen der Bäume und die jammervollen Schreie der Verzweiflung gingen völlig unter in der ungeheuren Lautstärke des Sturms. Er blickte zufällig in Captain Lynchs Richtung, als es passierte. Er sah den Stamm des Baums auf halber Höhe lautlos splittern und abbrechen. Der Wipfel der Palme mit drei Seeleuten von der Aorai und dem alten Kapitän segelte über die Lagune davon. Er fiel nicht herunter, sondern trieb durch die Luft wie eine Handvoll Spreu. Dreißig Meter weit folgte er seinem Flug mit den Augen, bis er ins Wasser stürzte. Er kniff die Augen zusammen und war sicher, dass er Captain Lynch Lebewohl winken sah.

Raoul wartete nicht länger. Er stieß den Eingeborenen an und bedeutete ihm, hinunterzuklettern. Der Mann schien willens dazu, aber seine Frauen waren vor Entsetzen wie gelähmt und er entschloss sich, bei ihnen zu bleiben. Raoul zog sein Seil hinter dem Stamm hindurch und ließ sich zu Boden rutschen. Ein Schwall von Meerwasser ergoss über ihn und tauchte ihn vollständig unter. Er hielt die Luft an und klammerte sich verzweifelt an das Seil. Das Wasser verlief sich und im Schutz des Stammes konnte er wieder atmen. Er knotete das Seil fester und schon begrub ihn eine weitere See unter sich. Eine der Frauen glitt herunter und gesellte sich zu ihm, während der Eingeborene bei der anderen Frau, den beiden Kindern und der Katze blieb.

Der Frachtmeister hatte bemerkt, wie die Gruppen, die sich am Fuß der Bäume festhielten, sich mehr und mehr lichteten. Jetzt konnte er aus erster Hand beurteilen, warum das geschah. Es erforderte all seine Kraft, sich festzuhalten. Die Frau, die zu ihm gekommen war, wurde schwächer. Immer, wenn er wieder aus einer See auftauchte, war er überrascht, dass er noch da war, und noch überraschter, dass die Frau noch da war. Als er wieder einmal hochkam, merkte er, dass er allein war. Er sah nach oben. Die Krone der Palme war ebenfalls verschwunden. In der Hälfte der ursprünglichen Höhe vibrierte ihr zersplittertes Ende. Er war in Sicherheit. Die Wurzeln hielten noch, und der Teil des Baumes, der dem Wind eine Angriffsfläche bot, war abgeschert. Er begann hinaufzuklettern. Er war so schwach, dass er nur langsam vorankam, und Woge über Woge ging über ihn hinweg, bevor er endlich hoch genug oben war. Dann band er sich am Stamm fest und wappnete sich für die Nacht und was ihm sonst noch bevorstehen mochte.

Er fühlte sich sehr einsam in der Dunkelheit. Zeitweise kam es ihm so vor, als wäre das Ende der Welt gekommen und er der letzte Überlebende. Immer noch nahm der Wind zu. Stunde für Stunde nahm er zu. Als es seiner Schätzung nach elf Uhr war, hatte der Sturm unglaubliche Stärke angenommen. Er war ein schreckliches, monströses Etwas, ein kreischender Wahnsinn, eine massive Wand, die immer und immer wieder auf ihn einstürzte, um dann in der Dunkelheit zu verschwinden – eine Wand ohne Ende. Es kam ihm vor, als wäre er leicht und ätherisch geworden. Als wäre er es, der in Bewegung war. Dass er mit unfasslicher Geschwindigkeit durch eine massive Endlosigkeit getrieben wurde. Der Wind war nicht mehr einfach bewegte Luft. Er war so stofflich geworden wie Wasser oder Quecksilber. Er hatte das Gefühl, hineingreifen und Stücke davon herausreißen zu können wie Fleisch aus dem Kadaver eines Ochsen. Dass er den Wind packen und sich daran festhalten konnte wie ein Mann, der sich an die Kante einer Klippe klammert.

Der Wind schnitt ihm die Luft ab. Er konnte ihm nicht die Stirn bieten und gleichzeitig atmen, denn er brauste ihm durch Mund und Nase und blähte seine Lunge auf wie einen Ballon. In solchen Momenten fühlte er sich, als wäre sein Körper angeschwollen und vollgestopft mit fester Erde. Nur wenn er seine Lippen gegen den Stamm des Baumes presste, konnte er atmen. Und der unaufhörliche Ansturm des Windes erschöpfte ihn. Körper und Geist wurden müde. Er beobachtete nicht länger, dachte nicht länger und war nur mehr halb bei Bewusstsein. Sein Bewusstsein bestand aus einem einzigen Gedanken: DAS ALSO IST EIN HURRIKAN. Dieser eine Gedanke kam und ging in unregelmäßigen Abständen. Er war wie eine schwache Flamme, die von Zeit zu Zeit aufflackerte. Aus dem Zustand der Betäubung kehrte er zu ihm zurück – DAS ALSO IST EIN HURRIKAN. Dann verfiel er wieder in den Dämmerszustand.

Der Höhepunkt des Hurrikans dauerte von elf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, und es war gerade Elf, als der Baum, in dem sich Mapuhi und seine Frauen festklammerten abbrach. Als Mapuhi an der Oberfläche der Lagune auftauchte, hielt er immer noch seine Tochter Ngakura umklammert. Nur ein Südseeinsulaner konnte in einer derartigen peitschenden Gischt überleben. Der Pandanusbaum, an dem er sich festhielt, drehte sich ständig in der schäumenden See um die eigene Achse; nur, indem er sich manchmal festhielt und abwartete, und ein anderes Mal sich hastig herumhangelte schaffte er es, seinen und Ngakuras Kopf in genügend kurzen Abständen über die Oberfläche zu bringen, so dass sie nicht ertranken. Aber die Luft bestand hauptsächlich aus Wasser, aus fliegender Gischt und undurchdringlichem Regen, der parallel zur Oberfläche der Lagune heranschoss.