37812.fb2 Die Steinflut - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

Die Steinflut - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

10

»Und dann ist er ausgestiegen, der Noah, aus der Arche, mit seiner ganzen Sippschaft, als die Taube nicht mehr zurückkam und er sah, daß er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, auf dem Berg Ararat, und der liebe Gott hat einen großen Regenbogen scheinen lassen zum Zeichen, daß er wieder Frieden haben wollte mit den Menschen.«

»Und die Tiere?«

»Die sind alle herausspaziert aus der Arche und haben sich auf der Erde verbreitet.«

Katharina saß in der Stube am Tisch, mit dem Rücken zum Fenster, und hörte ihrer Großmutter zu, die auf dem Sofa neben dem Ofen lag.

Diese war gegen Mittag wieder aufgestanden und hatte eine Suppe gekocht, mit Rüben und Graupen drin. Die Base hatte am Vormittag Windeln und auch das Leintuch am Brunnen gewaschen, und Katharina hatte mit ihr zusammen alles in der Tenne aufgehängt. Den Tropfen, die sie beim Heimweg vom hinteren »Bleiggen«-Haus gespürt hatte, war ein richtiger Regen gefolgt.

Paul war mißmutig nach Hause gekommen. Er hatte am Morgen mit Emden angefangen und dann mitten drin wieder aufgehört, als der Regen kam. Der Herrgott, sagte er am Mittagstisch, wolle offenbar mit den Elmern ein Hühnchen rupfen, vielleicht sei er doch nicht zufrieden, daß sie das alte Gesangbuch abgeschafft hätten. Die Großmutter tadelte ihn deswegen, doch Paul meinte, der Herrgott werde wohl noch einen Spaß verstehen, oder was meinst du, Didi? Nun tadelte ihn seine Frau, er solle dem Kind nicht solche Fragen stellen, und Katharina war froh, denn sie wußte keine Antwort.

Nach dem Mittagessen nahm die Großmutter ein Stück Zucker, auf das sie Baldriantropfen träufelte, und beide Kinder durften sich aus der Blechdose mit den verschnörkelten Blumen darauf auch eines heraus holen. Danach mußte Kaspar ins Bett für einen Mittagsschlaf. Er wollte die Holzpuppe Lisi mitnehmen, aber Katharina wehrte sich dagegen und setzte sie auf die Bank hinter dem Ofen in der Stube, und die Großmutter legte sich auf das Sofa, um sich auszuruhen. Sie wisse nicht, was sie habe, sagte sie, es sei ihr einfach nicht gut, aber das werde schon vorbeigehen. Dann hatte Katharina gefragt, wie die Sintflut zu Ende gegangen sei, und die Großmutter hatte ihr nochmals die ganze Geschichte erzählt.

Katharina liebte es, ihrer Großmutter zuzuhören, wenn sie erzählte. Ihre Eltern nahmen sich dazu kaum je Zeit. Wenn sie eine Frage hatte, versuchten sie meistens, so kurz wie möglich darauf zu antworten, weil sie gerade etwas anderes zu tun hatten. Die Geschichte, wie General Suworow über den Panixerpaß gezogen war, hatte Katharina vor allem von ihrer Großmutter gehört. Sie hatte ihr erzählt, wie damals Tausende von zerlumpten und abgemagerten Soldaten vom Tal her ins Dorf gekommen seien und wie sie dem Rhyner im Meißenboden alle fünf Kühe aus dem Stall geholt hatten und sie auf dem Vorplatz schlachteten und sich sofort über das rohe Fleisch hermachten, weil sie es nicht mehr ertrugen, solange zu warten, bis sie es gebraten hätten, und wie die Gedärme der Tiere dampften in der Kälte, und wie die Soldaten blutrote Gesichter hatten von ihrer schrecklichen Mahlzeit, und wie andere später sogar getrocknete Ziegenfelle ins heiße Wasser warfen, weil sie hofften, es gäbe eine Suppe daraus, und wie sie den Leuten die Kleider vom Leib rissen und die Schuhe von den Füssen, und wie dauernd die Franzosen geschossen hatten, die hinter den Russen her waren, und wie der General Suworow im Haus des Landvogts übernachtet hatte, und wie Grosis Vater, der damals ein junger Bursche war, am nächsten Morgen in der Frühe mitgehen mußte, mit einer Laterne, um den Russen den Weg auf den Panixerpaß zu zeigen, und wie es die ganze Zeit schneite, und nichts als Wolken und Wind und Nebel im ganzen Hintertal, daß einer kaum seinen Vordermann sah, und wie schon im Jetzloch soviel Schnee gelegen sei, daß selbst der Bäbler Johann, der Vater vom blinden Meinrad, der jeden Sommer als Senn im Oberstafel war, Mühe hatte, den Pfad zu finden, und wie es dann, als es auf die Paßhöhe zuging, immer eisiger wurde und die Soldaten, die oft nur Tuchfetzen an den Füssen hatten, zu Dutzenden ausglitten und mit ihren Maultieren und ihren Kanonen, die sie mitschleppten, brüllend in die Tiefe stürzten, und wie die Pferde verzweifelt gewiehert hatten, wenn sie ausrutschten und zu Tode kamen, und wie die schweren Geschütze gepoltert hatten, wenn sie sich an den Abhängen überschlugen, und wie Schneerutsche und Lawinen ganze Menschenkolonnen unter sich begruben, und wie viele Soldaten einfach hinfielen und nicht mehr aufstehen konnten vor Erschöpfung, und wie es oben auf der Paßhöhe Nacht wurde und die Reiter mit den Krummsäbeln und den langen dunklen Bärten ihre Lanzen verbrannten, damit sich der General wärmen konnte, in seinem grauen Rock und dem schwarzen Dreispitz, und wie dann der Vater und der alte Bäbler ihre Laternen gelöscht und sich im Dunkel der Nacht davongeschlichen hatten, ins Tal hinunter, zwischen erfrierenden Kriegern durch, und der blinde Meinrad trägt noch heute die dicke Mütze, mit der sein Vater auf dem Panixer war, und wer weiß, wenn ihr Vater damals nicht umgekehrt wäre, wäre er vielleicht auch irgendwo im Schnee oben ums Leben gekommen, und sie wäre heute nicht auf der Welt, und wenn sie nicht auf der Welt wäre, wäre auch ihr Schaaggli nicht auf der Welt, und dann wäre auch sie, Katharina, nicht auf der Welt.

Bei diesem Gedanken hatte es Katharina gefröstelt, und es fröstelte sie wieder, als sie jetzt daran dachte. Wenn also der Vater der Großmutter nicht umgekehrt wäre, wäre sie nicht auf der Welt.

»Du, Grosi«, fragte Katharina unvermittelt, »gell, dein Vater war kein Angsthase?«

Die Großmutter war erstaunt. »Wie kommst du darauf?«

»Weil er umgekehrt ist, statt mit dem General Suworow über den Paß zu gehen.«

Nein, sagte die Großmutter, ihr Vater sei ein mutiger Mann gewesen, aber wieso hätte er für die Russen sein Leben aufs Spiel setzen sollen. Die hatten ja das ganze Dorf ausgeplündert, und gefährlich sei es so oder so gewesen, denn die Russen hätten einen, der davonlief, auch einfach erschießen können.

»Und Noah?« fragte Katharina, »war Noah kein Angsthase?«

Die Großmutter hörte nicht auf, sich zu wundern. »Wieso meinst du?«

Die andern Menschen, sagte Katharina, hätten ihn doch ausgelacht wegen seiner Arche, mitten im Trockenen.

»Ja«, sagte die Großmutter, denn so hatte sie es ihrer Enkelin soeben erzählt, »aber Noah wußte ja, daß er diese Arche bauen mußte, das hatte ihm der liebe Gott selbst gesagt.«

Also kein Angsthase weit und breit, weder Noah noch Grosis Vater. Beide hatten irgendwie mehr gewußt als die andern, der eine wußte, daß es oben immer gefährlicher wurde, und der andere wußte vom lieben Gott, daß etwas auf die Menschen zukam. Das war natürlich das beste, wenn es einem Gott Vater direkt sagte, von seinem Himmelsthron herab.

»Grosi«, sagte Katharina, »ist der liebe Gott selber auf die Erde gekommen, oder wie hat er es Noah gesagt?«

Die Großmutter seufzte. »Ich glaube«, sagte sie, »Noah hat so fest zum Herrgott gebetet, daß er ihn gesehen hat, und dann konnte er es ihm sagen.«

Jetzt seufzte Katharina. Vielleicht hätte sie gestern auch so fest beten sollen, bis sie den lieben Gott gesehen hätte, dann hätte sie es ihm auch gleich sagen können, oder er hätte ihr sagen können, daß alles gutgehen werde mit der Mutter und dem neuen Kind, oder daß er vielleicht seinen Sohn vorbeischicke.

»Grosi«, sagte Katharina. Aber als vom Sofa ein tiefes und regelmäßiges Atmen kam, merkte sie, daß ihre Großmutter eingeschlafen war. Katharina hatte sie fragen wollen, ob wohl jetzt das Kind zur Welt gekommen sei in der »Meur«, aber woher hätte sie das wissen können, wenn niemand kam und es ihnen sagte. Oder sollte sie selbst ins Untertal hinunterlaufen und schauen, ob es soweit war? Sobald die Großmutter wach wäre, würde sie sie fragen. Katharina drehte sich um und schaute zum Fenster hinaus. Ihr Blick reichte gerade zum Plattenberg hinüber, über dem sich dicke Wolken zusammenzogen. Ein Windstoß trieb einen Schwall Regentropfen an die Fensterscheiben. Oben hörte sie den Säugling wimmern, und dann sprach die Stimme der Base besänftigend auf ihn ein, bis er verstummte. Paul war nicht im Haus, er war nochmals zu den oberen Matten gegangen, um ein Loch am Heuschober zu flicken. Fridolin war mit Johannes in der Schreinerei im Dorf. Die beiden hatten versprochen, nach der Arbeit in der »Meur« vorbeizugehen, damit sie Bescheid geben konnten. Von Kaspar war nichts zu vernehmen, er schien zu schlafen.

Auf den Zehenspitzen ging Katharina zum Puppenhaus hinüber, das neben der Tür zu Großmutters Schlafgaden am Boden stand. Es war das Puppenhaus, mit dem schon ihr Vater und alle seine Geschwister gespielt hatten, als sie noch Kinder waren, und das Grosi hatte es extra für sie und Kaspar hervorgeholt.

Wenn man das Dach anhob, sah man in die Zimmer hinein, es gab eine Stube, zwei Schlafzimmer, eine Küche und dahinter einen Vorratsraum, in dem auf Regalen kleine Säcklein lagen, und an der Wand waren Wachsmöcklein aufgehängt, das waren die Schinken, und dann gab es aneinandergebundene Holzstückchen, das waren Würste. Bewohnt wurde das Puppenhaus von kleinen bleichen Tierknochen, die alle in winzigen Kleidern steckten, das waren die Menschen. Das kleinste Knöchlein lag in einer Wiege neben dem Bett in einem der Schlafzimmer. Die Wiege war aus Holz geschnitzt, und man konnte sie sogar schaukeln. Katharina stieß sie mit dem Zeigefinger ein bißchen an und sang ganz leise:

»Chindli my, schlof jetz y,

d Stärnli tüend scho schyne.«

Aber das Knöchelchen war nicht zufrieden und schniefte fast unhörbar unter seiner wollenen Bettdecke. Da gab’s nur eins, die Mutter mußte her. Sie saß gerade am Küchentisch mit einem Pfännchen neben sich, in das sie für eine Bohnensuppe Tannennadeln rüstete. Katharina brachte sie zu ihrem Säugling hinüber und öffnete ihr die blaue Bluse, die mit einem einzigen Knopf versehen war. Dann drückte sie den Kopf des Säuglings dorthin, wo die Brust der Mutter sein mußte, und ein feines Schmatzen war zu hören.

Katharina dachte an die Frauenbrüste, die sie gestern gesehen hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ihr auch einmal etwas Derartiges wachsen würde und daß sich darin Milch für ein Bébé ansammelte. Aber offenbar war es unvermeidlich, denn die Brust ihrer Schwester Regula begann sich schon deutlich zu wölben, und Annas Brüste waren mindestens so groß wie die ihrer Mutter. Also würde es früher oder später auch Katharina treffen.

Als es draußen krachte, ließ sie Mutter und Kind fallen und rannte zum Fenster. Sie suchte mit den Augen den ganzen Plattenberg ab, doch es sah nirgends so aus, als wäre soeben etwas abgebrochen. Das war das Ärgerliche an den Felsstürzen: Wenn es krachte, waren die Steine immer schon unten, nie sah man einen im Augenblick, wo er sich löste.

Allerdings schien es Katharina, als sähe sie dort, wo die Tannen schief standen, ein graues Räuchlein aufsteigen. Vielleicht waren ein paar davon in den großen Chlagg gestürzt? In die Spalte, die so tief war, daß die Wildheuer die Steine nicht aufschlagen hörten, die sie hinunterwarfen?

»Was war das, Kind?« fragte die Großmutter vom Sofa her.

»Der Berg hat ein paar Tannen gefressen«, sagte Katharina.

Im Schlafgaden oben begann Kaspar zu weinen.