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Katharina stand mit ihrem Bruder hinter dem Stall der »Bleiggen«. Der Stall stand neben dem Haus, das Haus stand am Hang, und weiter oben am Hang waren in den Wiesen Scheunen, Hecken und kleine Waldstücke zu sehen. Es hatte zu regnen aufgehört, und Kaspar hatte gesagt, er wolle zu den Säuen. Hinter dem Kuhstall befand sich ein kleiner Schweinestall mit einem eingezäunten Auslauf, der ein Stück weit den Hang hinauf reichte. Der Boden dieses Auslaufs war arg zertrampelt, vor allem im unteren Teil, wo sich eine Anzahl junger Schweine quiekend im Morast vergnügte, von dem ein stechender Geruch ausging. Die große Muttersau hielt sich ganz am oberen Ende des Pferchs auf, doch als sie die beiden Kinder zum Zaun treten sah, rannte sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Hang hinunter auf sie zu und kam erst im letzten Augenblick zum Stillstand. Katharina schrie auf und sprang zur Seite, während Kaspar vor Freude auf und ab hüpfte.
»Du große Sau!« rief er lachend, und als das Tier neugierig seine feuchte Schnauze zwischen den Brettern des Zauns herausschob, kauerte er sich nieder, riß einen Sauerampfer aus und hielt dem Schwein den Stengel an die Nasenlöcher. Dieses zuckte zusammen und trottete dann grunzend zu seinen Jungen, die es sogleich von allen Seiten bedrängten.
Katharina ärgerte sich. Wieso war sie derart erschrocken und der Kleine nicht? So wie die Sau auf sie zugerast war, hätte sie sie alle zwei überrennen können, wer weiß, ob der Hag gehalten hätte.
Jetzt kletterte Kaspar auf das unterste Brett des Zaunes und schwenkte seinen Sauerampfer.
»Komm, Sau!« krähte er, und als diese seiner Einladung nicht folgen wollte, warf er ihr die Pflanze hinein.
Die Muttersau hatte sich inzwischen seitlich in den Schlamm gelegt, und die Jungen kämpften mit schrillen Lauten um eine Zitze. Als sie nach einer Weile alle zufrieden nuckelnd eine Reihe bildeten, sagte Kaspar: »Will essen«, stieg vom Zaun hinunter und ging um den Stall herum auf den Vorplatz mit dem Brunnen.
»Grosi!« rief er laut.
Katharina, die ihm gefolgt war, ermahnte ihn, leise zu sein, vielleicht schlafe das Grosi, es sei ihm nicht so gut heute.
Kaspar blieb stehen, dann rief er ebenso laut: »Bäsi!« und ging entschlossen auf die Haustür zu. Katharina fuhr ihn an, er solle aufhören zu rufen und betrat dann mit ihm zusammen den Hausflur, wo sie ihm und sich die Schuhe auszog.
Die Großmutter stand schon unter der Küchentür und fragte die beiden, ob sie die Säue gesehen hätten.
»Es sind fünf Junge«, sagte Katharina schnell, und Kaspar sagte fast gleichzeitig: »Sie trinken!« Dann fügte er hinzu: »Will essen.«
»So, so«, sagte die Großmutter und lächelte, »dann wollen wir einmal sehen.« Sie ging den Kindern voran in die Küche. Suppe sei noch da vom Mittag, ob sie sie nochmals aufs Feuer stellen solle? Kaspar war enttäuscht. Er hatte Hunger, weil er am Mittag fast keine Suppe gegessen hatte, und er hatte fast keine Suppe gegessen, weil er Suppe nicht gern hatte.
Also dann, sagte die Großmutter, dann gebe es halt ein paar Schnitze für das kleine Leckermaul, ging zum Regal mit den Gewürzen und nahm aus einem Säcklein eine Handvoll Birnenschnitze, die sie dann auf den Tisch legte. Kaspar griff sofort mit beiden Händen danach, doch die Großmutter, als sie Katharinas entsetztes Gesicht sah, sagte, die seien auch für die Schwester, und nun griff Katharina mit beiden Händen danach.
»Nicht streiten, Kinder«, mahnte die Grosmutter, »es hat genug.«
Katharina fragte, ob sie zählen dürfe, und als die Großmutter nickte, zählte sie, indem sie jedes zweite Stück ihrem Bruder zuschob, bis elf, und dann war sie fertig. Kaspar bemerkte gleich, daß das elfte Stück bei seiner Schwester blieb, und langte danach, aber Katharina hielt ihre Hand davor und fragte die Großmutter: »Wie teilt man elf durch zwei?«
»So«, sagte die Großmutter, nahm den Birnenschnitz und aß ihn selbst.
Während die Kinder nun ihre Schnitze zu kauen begannen, setzte sie sich wieder an den Tisch, auf dem ein Haufen Kartoffeln lag und fuhr fort, diese mit einem Rüstmesser zu schälen. Die Schalen ließ sie auf den Tisch fallen, die geschälten Kartoffeln legte sie in eine Schüssel.
»Das ist für das Abendessen«, sagte sie, »am Samstag gibt es bei uns immer Kartoffelfenz.«
Katharina war nicht begeistert. Eigentlich hatte sie gehofft, es gebe einmal einen heißen Schinken oder sonst ein Stück Fleisch, wie an Neujahr, wenn sie jeweils die Großmutter besuchten. Trotzdem nickte sie, als die Großmutter sie fragte, ob sie das gerne habe. Immerhin hatte sie den Fenz mit Kartoffeln lieber als den, der nur mit Käse und Ziger gemacht wurde, vor allem den Zigergeruch fand sie widerlich.
Die Großmutter rülpste.
»Ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie, »mir ist die ganze Zeit ein wenig übel.«
»Magenwunder«, sagte Katharina.
»Was?« fragte die Großmutter.
Magenwunder, wiederholte Katharina, Magenwunder-Tropfen müsse sie schlucken.
Sie habe nur Baldrian-Tropfen, antwortete die Großmutter, und die habe sie schon genommen, und was das überhaupt für Tropfen seien.
Die bringe der Appenzeller, der im Sali der »Meur« den Leuten Pillen und Tropfen verkaufe, sagte Katharina. Das war immer ein besonderer Tag, wenn der kleine Mann mit dem großen Räf am Rücken kam, dann war das Wirtshaus voll von Menschen, die alle warteten, bis sie einzeln zum Appenzeller ins Sali durften, und an diesen Tagen waren oft mehr Frauen als Männer in der Wirtsstube, das gefiel Katharina besonders.
Ach was, sagte die Großmutter, sie brauche keine Quacksalbertropfen, und Baldrian hätte schon ihrer Mutter und ihrer Großmutter geholfen, und wie zur Bekräftigung holte sie sich noch einmal das Fläschchen aus dem Küchenschrank. Als sie die Zuckerdose öffnete, stand auf einmal Kaspar neben ihr und sagte: »Will auch eins.« Die Großmutter steckte ihm ein Stücklein zu, legte sich selbst eins auf einen Löffel, träufelte dann die Tropfen darauf und wartete, bis der Zucker in braune Klümpchen zerfiel.
»Und ich?« fragte Katharina.
»Du bist doch schon ein Schulkind«, sagte die Großmutter, »du solltest mehr Vernunft haben.«
Dann steckte sie sich den Löffel in den Mund und schluckte die Medizin mit unbewegtem Gesicht hinunter.
Katharina war empört. Nur weil sie schon allein zur Barbara gehen konnte und auch wußte, wie man Hühner und Schweine und Schnitze zählt, sollte sie keinen Zucker bekommen, und der Kleine, der nichts konnte außer ins Bett machen und einer Sau mit einem Sauerampferstengel in der Nase herumkitzeln, daß sie davonlief, der hatte dafür einen Zucker zugut. Manchmal verstand sie die Erwachsenen nicht.
»Also gut«, sagte die Großmutter, die ihre Verstimmung bemerkt hatte, »nimm dir eins«, und hielt ihr die Dose hin.
Errötend griff Katharina hinein, nahm sich ein Stück heraus und murmelte einen Dank. Es gefiel ihr nicht, daß die Großmutter erriet, was sie dachte, und der Zucker, den sie nun im Mund zergehen ließ, schien ihr weniger süß als der nach dem Mittagessen.
»Noch eins«, bettelte Kaspar, doch die Großmutter stand schon am Küchenschrank und versorgte die Dose wieder.
»Iß deine Schnitze, Chäppli«, sagte sie und rülpste dann nochmals. Deutlich war zu hören, wie ihr Magen rumpelte.
Kopfschüttelnd hielt sie die Hand an die Schürze und setzte sich wieder hin.
Die Base trat in die Küche, mit der kleinen Anna auf dem Arm.
»Wie geht’s euch, Mutter?« fragte sie.
»Bei mir rumort’s heute«, sagte die Großmutter.
Sie setze ihr einen Kräutertee auf, sagte Margret, das werde ihr guttun, und sie nehme dann auch einen, und die Kinder sicher auch, oder, Didi?
Katharina nickte, aber Kaspar stand auf und ging zur Stubentür. »Will spielen«, sagte er, »mit dem Puppenhaus.«
Mißtrauisch verfolgte ihn Katharina mit ihren Blicken.
Konnte man ihn wohl mit dem Puppenhaus allein lassen? Der war imstande und zerbrach eine Puppe oder ließ sie fallen und trat dann mit dem Fuß darauf. Prüfend schaute sie zur Großmutter, aber die hatte offenbar nichts dagegen und ordnete Katharina auch nicht zur Bewachung ab, also blieb sie bei den Frauen sitzen.
»Kannst du mir die Anna halten?« fragte die Base und reichte Katharina das Kind, ohne eine Antwort abzuwarten. Vorsichtig umfaßte Katharina das Kleine, das sich zuerst mit den Beinen gegen sie sperrte und ihrer Mutter nachblickte, die sich zur Herdtür bückte und zwei Holzstücke nachschob. Die Base sagte ihrem Kind, es müsse keine Angst haben, sie sei ja da, und das sei jetzt eben die Didi, die passe schon auf sie auf. Dann schöpfte sie mit der Kelle Wasser aus dem Schaff in eine Pfanne, holte vom Gewürzregal eine Dose mit getrockneten Kräutern herunter und streute eine Handvoll ins Wasser. Als sie die Pfanne auf den Herd stellte, zischte dieser, als sei er entrüstet über diese Zumutung, und sandte ein weißes Räuchlein nach oben.
Es rumpelte. Margret schaute zu ihrer Schwiegermutter.
Die lachte. »Das war nicht ich«, sagte sie, »das war der Plattenberg.«
Margret nahm ein Schälmesser aus der Schublade des Küchenschranks und setzte sich an den Tisch, um beim Kartoffelrüsten zu helfen. »Hoffentlich hat sie’s jetzt hinter sich«, sagte sie.
»Ja«, sagte die Großmutter, »sie ist schließlich nicht mehr die Jüngste.«
Katharina horchte auf. Was sollte das heißen, nicht mehr die Jüngste? War ihre Mutter etwa nicht jung? Jung und stark und gesund?
»Wie lang kann man Kinder haben?« fragte sie und erschrak gleichzeitig über ihre Frage. Das war wohl fast so schlimm, wie zu fragen, wie man an einem Kropf stirbt. Aber zu ihrem Erstaunen bekam sie eine richtige Antwort.
»Als der Fridolin zur Welt kam«, sagte die Großmutter, »da war ich sechsundvierzig.«
»Und dann?« fragte Katharina.
»Dann kam keins mehr«, sagte die Großmutter.
Als sie schwieg, überlegte sich Katharina, ob sie die entscheidende Frage stellen sollte, warum dann keins mehr kam, aber sie wagte es nicht. Eigentlich war es ja auch klar; wenn man einmal sechsundvierzig war, war man einfach zu alt, um noch Kinder zu bekommen, und fertig. Wahrscheinlich würde man die Anstrengung gar nicht mehr ertragen, die ganzen Schmerzen und all das Schnaufen, Schwitzen und Keuchen. Oder sollte sie doch weiterfragen? Katharina holte tief Atem und fragte dann:
»Wann kommen Johannes und Fridolin?«
»Wahrscheinlich bald«, sagte die Großmutter, »am Samstagnachmittag hören sie früher auf.«
Die kleine Anna war unzufrieden und stemmte ihre Füsse gegen Katharinas Oberschenkel. Katharina drehte sie von sich weg, so daß sie ihre Mutter sehen konnte, die ihr gegenüber neben der Großmutter und dem Kartoffelhaufen saß.
Margret winkte Anna zu, und Anna lächelte und war für ein Weilchen beruhigt. Als sie kurz darauf zu jammern begann und mit den Füßen zappelte, nahm Margret eine Kartoffel und ließ sie über den Tisch rollen. Katharina fing sie auf und rollte sie zu Margret zurück, und diese schickte sie mit den Worten »Was kommt denn da?« wieder auf denselben Weg. Anna wurde sofort still und verfolgte den Vorgang mit großen Augen.
Als die Kartoffel wieder von Katharina auf Margret zu kugelte, griff die Großmutter danach und legte sie auf den Haufen. »Mit dem Essen spielt man nicht«, sagte sie.
Margret errötete, atmete heftig auf und setzte sich ganz gerade hin. Anna fuchtelte mit den Händchen, schaute auf den Kartoffelhaufen und fing wieder zu quengeln an.
»Jetzt war sie gerade so schön ruhig«, sagte Margret.
»Kannst sie ja hinlegen«, sagte die Großmutter und rüstete ungerührt weiter. Der Haufen mit den Schalen wuchs, der Haufen mit den Kartoffeln wurde kleiner.
Von weither erklang ein Jodelruf, zweistimmig.
»Da kommen sie«, sagte die Großmutter, wollte sich erheben und fand keine Kraft dazu.
»Laß es sein«, sagte Margret, stand auf, öffnete das Fenster und rief zurück. Anna war ganz still geworden und schaute von der Mutter zur Großmutter und von der Großmutter wieder zur Mutter.
Katharina sagte, sie wolle in die Stube ans Fenster, stand auf und reichte Anna sorgfältig der Base. Diese kam ebenfalls mit, und beide öffneten ein Fenster und schauten auf den Weg hinunter. Kaspar drängte sich auch hinzu, aber als niemand zu sehen war, ging er wieder zur Puppenstube zurück.
»Die Hühner sind immer noch da«, sagte die Base, und Katharina sah, wie sie zwischen den roten und gelben Blumen herumspazierten. Dann blickte sie wieder zum Weg hinunter, auf die Stelle, wo er zum Waldstück herauskam.
»Dort sind sie!« rief sie, als sie die zwei Brüder auftauchen sah, und dann schrie Margret: »Ist das Kindlein auf der Welt?«
»Nein!« rief Johannes zurück, »aber die Kathrin hat die Wehen, und die Hebamme ist bei ihr!«
Anna, erschrocken über die laute Stimme ihrer Mutter, begann zu weinen. Katharina hörte hinter sich ein übles Geräusch und drehte sich um. Kaspar hatte ins Puppenhaus erbrochen.