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»Und, wie heißt er?« fragte Paul. Er saß mit Johannes und Fridolin, der Großmutter, Margret und Katharina am Küchentisch um eine große Pfanne, aus der sie gemeinsam den Kartoffelfenz aßen. Hans-Kaspar war gerade hereingekommen und stand, die Jacke über der Schulter, unter der Küchentür.

»Er?« sagte er und lachte, »es ist ein Mädchen. Vor einer Stunde zur Welt gekommen.«

Ein Ausruf der Freude ging durch die Küche, und alle sprachen durcheinander.

Katharina hörte die Großmutter »Endlich!« sagen, »Geht’s ihr gut?« die Base, und Fridolin »Dem Schaaggli wär ein Bub sicher lieber gewesen.«

»Wieso denn?« Das war Pauls Stimme. »Serviertöchter kann er doch immer brauchen, besonders wenn ihm eine weggeschnappt wird!«

Großes Gelächter, Hans-Kaspar wurde rot, man lud ihn ein, sich zu setzen, Paul stand auf und holte die Flasche und die kleinen Gläser aus dem Küchenschrank, schenkte ein, und dann erhoben sie sich und stießen miteinander auf das Neugeborene an.

Katharina blieb sitzen. Als es einen Augenblick still war, weil sich alle aufatmend vom scharfen Getränk erholen mußten, fragte sie:

»Und wie heißt es?«

Hans-Kaspar stutzte. Davon habe gar niemand gesprochen, sagte er, die seien froh gewesen, daß es überhaupt kam, es müsse schwer gewesen sei, aber der Kathrin gehe es gut, die Anna habe ihr schon einen großen Krug Tee gebracht.

»Haben die Eltern nie davon geredet, wie das Kind heißen soll?« fragte die Großmutter. Katharina merkte, daß die Frage an sie ging, denn alle Köpfe drehten sich zu ihr. Sie versuchte sich zu erinnern. Einmal, kam ihr in den Sinn, hatte der Vater gesagt, wenn es ein Bub werde, solle er Samuel heißen. Aber ein Mädchenname war nie genannt worden.

Sie schüttelte den Kopf. Das mit Samuel ging niemand etwas an, es war ja jetzt ein Mädchen, und heimlich freute sich Katharina darüber.

Nun wurde aufgezählt, welche Namen schon vergeben waren. Anna hieß nach der Mutter des Vaters, Regula nach der Mutter der Mutter, Katharina nach der Mutter selbst, und nun wäre eigentlich die Großmutter des Vaters drangewesen, die auch die Großmutter von Fridolin, Johannes und Paul war, oder eine der beiden Großmütter, und die eine hatte Euphemia geheißen, die andere Verena. Man einigte sich rasch auf Euphemia, das sei ein ganz besonderer Name, und das sei auch eine ganz Besondere gewesen, ihre Mutter, sagte die Großmutter, eine starke Frau, die am Morgen früh ihren jüngeren Bruder Melchior zur Welt gebracht hatte und am selben Abend schon wieder im Stall war, um die Kühe zu melken, weil ihr Mann vom Viehmarkt in Glarus noch nicht zurück war. Sogleich stießen die Erwachsenen nochmals an, auf Euphemia, die »Fämmi«, wie Paul sagte.

Katharina kam dieser Name für ein neugeborenes Kindlein höchst unpassend vor. Wer erst eine Stunde auf der Welt war, konnte doch auf keinen Fall schon Euphemia heißen. Verena schon eher, Vreneli, das ging für ein Bébé. Abgesehen davon entschieden wohl immer noch ihre Eltern, wie das Schwesterchen heißen sollte, und nicht die Verwandten auf der »Bleiggen« oben.

»Eßt, bevor’s kalt wird!« sagte die Großmutter, und alle stießen ihre Gabeln in die halbharte Kartoffelmasse, auch Hans-Kaspar, der eingeladen wurde, mitzuessen.

Katharina hatte keinen Hunger mehr, sie trank nur noch ihre Milch aus der Kachel. Ob sie morgen zurück in die »Meur« mußte? Solange niemand etwas sagte, würde sie auch nicht danach fragen.

»Dann soll ich vom Schaaggli noch ausrichten, daß die Didi und der Chäpp morgen wieder nach Hause kommen können«, sagte Hans-Kaspar mit vollem Mund.

»Wir werden ja sehen«, sagte die Großmutter, »Kaspar hat heute nachmittag erbrochen.«

»Mitten ins Puppenhaus«, sagte Katharina.

»Nicht ratschen«, sagte die Base, »es ist ihm halt passiert.«

Katharina senkte den Kopf. Was hatte das mit ratschen zu tun, wenn man die Wahrheit sagte? Das Erbrochene hatte sie schließlich aufgeputzt, und der bloße Gedanke daran ekelte sie so, daß ihr der Kartoffelfenz wieder aufstieß. Wie sehr hoffte sie, daß Kaspar krank war und sie dann vielleicht so lange bleiben mußten, bis er wieder gesund war. Jetzt schlief er vorerst mal. Wenn er nur heute nacht nicht auch noch das Bett vollkotzte. Oder ob sie die Großmutter bitten sollte, daß sie woanders schlafen durfte? In der Stube vielleicht, auf dem Sofa, oder im kleinen Lager auf dem Schieferofen? Dort wäre es sicher wunderbar warm, und Lisi würde sie auch mitnehmen. Diese Nacht wollte sie ihre Puppe ohnehin nicht vergessen, wie gestern, sie hatte gut noch Platz im großen Bett im Schlafgaden oben.

Was, der Förster Seeli habe wohl den Verstand verloren, hörte Katharina plötzlich den Paul sagen, der habe also tatsächlich verlangt, man solle die Schieferwerke schließen bis zum Frühling?

Katharina wunderte sich. So etwas wollte ihr kleiner See?

Hans-Kaspar beeilte sich zu berichten, daß der Gemeindepräsident diesen Vorschlag sofort abgelehnt habe. Wo die hundert Leute sonst ihre Arbeit hernehmen sollten, habe er gesagt. So habe er es vom jungen Elmer gehört, der sei dabeigestanden im Gasthof.

Hundert Leute, soviel? Katharina sah sie in Gedanken an der »Meur« vorbeigehen, am Morgen und am Abend, ihre Stiefel und ihre Jacken waren oft grau wie der Schiefer selbst, vor allem wenn sie am Abend zurückkehrten. Oft kamen sie in Gruppen daher, und wenn ein paar Männer zusammen von der eisernen Brücke zum Untertal heraufmarschierten, sahen sie mit ihren breiten Hüten von weitem aus wie wandelnde Pilze. Nach der Arbeit und vor allem nach dem Zahltag kehrten manche von ihnen in der »Meur« ein und erzählten vom Schieferbruch, vom Dynamit, das sie gezündet hatten, von besonders gutem Schiefer, auf den sie gestoßen waren, von steckengebliebenen Meißeln und verlorengegangenen Bohrhämmern, oder sie machten den Werkführer Müller nach, der ein Deutscher war, wie er sie zur Arbeit antrieb oder wie er sie abputzte, wenn sie etwas nicht so machten, wie er es haben wollte. Ein Lieblingssatz von ihm, den die Arbeiter immer wieder unter dem Gelächter der ganzen Wirtsstube wiederholten, mußte sein: »Stützen? Wo seht ihr Stützen? Ich sehe nur erstklassigen Schiefer.« Diesen Satz konnte Katharina schon lange auswendig, ohne daß sie wußte, was er bedeutete. Was sie auch nicht begriff, war, warum alle so stolz waren, wenn ihnen etwas Gefährliches zugestoßen war. Wenn sie den Gesprächen zuhörte, hatte sie den Eindruck, als ob jeden Tag einer eine Geröllhalde hinuntergestürzt oder von einem Stein getroffen worden sei, oder daß man nach einer Sprengung reihenweise halbtote Arbeiter unter dem Schutt hervorziehen mußte. Aber die Männer übertrieben eben gern, so waren sie nun einmal. Trotzdem hörte sie lieber zu, wenn Geschichten aus dem Schiefer erzählt wurden, als wenn es um das Abschießen von Gemsen und Rehböcken ging, die Schiefergeschichten schienen ihr wahrer zu sein.

Ein paar von den jungen Arbeitern hatte sie letztes Jahr noch in der Schule gesehen. Die waren kaum älter als ihr Bruder Jakob und mußten schon in den Bruch, manche gingen bereits während der Schulzeit als Zeichnerbuben in die Hütten und mußten die Schiefertafeln vorzeichnen, die nachher aus dem Stein ausgeschnitten wurden. Katharina erinnerte sich an ein Gespräch in der Wirtsstube, während dem ihr Nachbar Beat Rhyner vor Wut auf den Tisch gehauen hatte, weil man schon Kinder zur Arbeit schicke. Ein Schieferarbeiter hatte ihm dann entgegnet, wer genug verdiene wie ein Bannleiter, könne gut das Maul aufreißen, aber wem die Kartoffeln schon im Januar ausgingen, für den sehe es vielleicht etwas anders aus.

Ja was denn nun sei, schließen oder weitermachen, fragte Paul, und Hans-Kaspar sagte, das würden sie wohl morgen erfahren, wenn sie ihren Wochenlohn abholten.

Als sich Johannes nach den Bäumen am Plattenberg erkundigte, erzählte Hans-Kaspar, wie der eine Förster vom andern Förster verlangt habe, also der Seeli vom Marti, er müsse das Holz da oben fortschaffen, damit der Druck weggehe vom Hang, und wie der Marti gesagt habe, dort hinauf gehe er nicht mehr und werde auch keinen schicken, und wenn er zu befehlen hätte, ließe er sofort alle Häuser im Untertal räumen und die Bewohner müßten fliehen. Darauf hätten ihn die andern ausgelacht, und der Elmer Heiri habe zu ihm gesagt, da hätten sie ja Glück, daß ihnen einer aus Matt nicht befehlen könne, wann sie in Elm in die Hosen machen müßten.

Dieser Satz löste in der Küche große Heiterkeit aus, und Paul erhob nochmals sein Glas und ließ den Bergführer hochleben, der nicht aufs Maul gefallen sei, und als er sah, daß Fridolin sein Glas stehen ließ, fragte er ihn, ob er nicht einen Schluck auf den Heiri trinken wolle.

Auf gar niemanden wolle er trinken, sagte Fridolin, denn er halte den Marti nicht für einen Dummkopf, ob er jetzt von Matt komme oder nicht. Er selbst jedenfalls, fuhr er fort, er selbst würde auf gar keinen Fall da hinaufgehen, um Bäume zu fällen, nicht einmal für zehn Franken im Tag, und seinetwegen solle der Elmer selbst gehen, mit dem Gemeindepräsidenten zusammen, wenn sie so sicher seien.

Katharina spürte ihr Herz pochen. Das Schweigen, das jetzt eintrat, glich dem Schweigen in der Wirtsstube kurz vor einer Schlägerei.

»Du hältst dich für gescheiter als ein Kreisförster und ein Gemeindepräsident zusammen«, sagte Paul, langsamer als sonst, und blickte seinen jüngsten Bruder an, als wolle er ihn mit seinen Blicken an die Wand nageln.

»So, Buben, nicht streiten!« sagte die Großmutter und schlug mit dem Gabelstiel auf den Tisch.

Das wirkte. Die drei Brüder stachen gleichzeitig mit ihren Gabeln in die Pfanne. Nach ihnen taten Hans-Kaspar, die Großmutter und die Base dasselbe, und man hörte eine Weile nichts als Kauen und Schlucken.

Katharinas Herz gab keine Ruhe. Das Untertal müsse geräumt werden, meinte also einer von denen, die oben gewesen waren. Aber das Untertal, das war ja nicht irgendwo, sondern das war dort, wo sie wohnte, und die Bewohner, das war nicht irgendwer, sondern das war sie selbst und die Mutter und der Vater und die Anna und die Regula und der Jakob und der Kaspar und die Rhyners, und der obere Jaggli und der untere Jaggli, und die alte Elsbeth, und die junge Elsbeth mit dem Kropf, und die ganze Kinderschar, die dazugehörte, und sogar das neugeborene Schwesterlein war ein Bewohner, ob es Euphemia hieß oder Vreneli, und sie alle müßten fliehen, und zwar sofort, und sie sah vor sich den schwankenden Fuhrwagen auf der Straße nach Matt, der das ganze Hab und Gut aus der Wirtschaft »Zum Martinsloch« aufgeladen hatte, wie er langsam talauswärts verschwand, begleitet von Fridolin, der ihr jetzt so nachdenklich gegenüber saß, und auf einmal hatte sie das Gefühl, das sei der einzige, dem sie trauen könne, und die andern verstünden nichts, vor allem Paul mit seinen Sprüchen und Späßen.

Das Schweigen in der Küche zeigte Katharina an, daß die Gefahr eines größeren Streits noch nicht gebannt war.

»Und, konntest du den Fridolin brauchen in der Schreinerei?« fragte die Großmutter, zu Johannes gewandt.

Johannes nickte. »Sicher«, sagte er, und als er sah, daß Paul den Mund aufmachen wollte, fügte er hinzu, »wir sind vorwärts gekommen mit dem Sarglager.«

Ob er etwas gelernt habe, fragte die Großmutter Fridolin.

Dieser lachte und sagte, ja, vor allem habe er nicht gewußt, wie Johannes die fertigen Särge prüfe.

»Wie denn?« fragte die Großmutter.

»Er legt sich selbst hinein«, sagte Fridolin.