37812.fb2 Die Steinflut - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 14

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Als Katharina aus dem Bett stieg, um sich auf den Nachttopf zu setzen, trat sie auf etwas Hartes und stieß einen kleinen Schreckensruf aus. Im schwachen Licht, das durch die Ritzen der Fensterläden drang, sah sie ihre Holzpuppe, auf deren Kopf sie mit der Ferse gestanden war. Nachdem sie ihr Wasser ins Nachtgeschirr gelassen hatte, schob sie dieses unter die Bettstatt, packte Lisi und kroch mit ihr zusammen wieder unter die warme Decke. Neben ihr regte sich Kaspar und richtete sich auf.

»Muß brünzeln«, sagte er.

Ungern wand sich Katharina nochmals aus den Leintüchern, ging ums Bett herum und zog Kaspars Nachthafen darunter hervor.

»Komm«, sagte sie, hob die Decke auf und streckte ihm die Hand hin.

Katharina fürchtete, der Nachttopf werde überlaufen, so lange ließ Kaspar sein Wasser fließen.

»Bin fertig«, sagte er schließlich, stand auf und stieg wieder ins Bett.

Katharina stellte den Nachthafen mit leichtem Ekel unters Bett und sagte: »Wir haben ein Schwesterlein.«

»Wo?« fragte Kaspar.

»In der ›Meur‹«, antwortete Katharina, »zu Hause.«

»Kein Brüderlein?« fragte Kaspar.

»Nein«, sagte Katharina, »ein Schwesterlein.«

Es dauerte eine Weile, bis sich Kaspar hören ließ.

»Will trinken«, sagte er.

Katharina seufzte. Gerade hatte sie wieder ins Bett einsteigen wollen.

»Kannst du nicht warten?« fragte sie, »bald ist Morgen.«

»Hab Durst«, sagte Kaspar.

Katharina dachte daran, daß Kaspar gestern erbrochen hatte und vielleicht krank war.

»Wart«, sagte sie, »ich gehe in die Küche.«

Die Tür zum Schlafgaden stand immer noch ein wenig offen, Katharina stieß sie ganz auf und ging die Treppe hinunter, die leise knarrte. Sie betrat die Küche, die im spärlichen Morgendämmerlicht seltsam fremd aussah, so ganz ohne einen Menschen darin. Ein kalter Geruch von Kartoffeln und Kräuterschnaps hing über dem Tisch, das Geschirr von gestern abend stand samt der Pfanne auf dem Brett neben dem Spültrog, offenbar hatte niemand mehr abgewaschen.

Jetzt sah Katharina den großen Teekrug neben dem Wasserschaff. Sie faßte ihn am Henkel, hob ihn herunter und schaute hinein. Er war leer. Sie hielt ihren Finger ins Schaff. Das Wasser war lauwarm. Also mußte sie am Brunnen draußen frisches Wasser holen. Sie nahm sich eine Trinkkachel vom Brett, füllte mit dem Schöpflöffel etwas laues Wasser hinein, ging zum Spültrog und schüttete das Wasser aus.

Dann ging sie in den Vorraum, zog sich die Schuhe an und stopfte die Bändel mit hinein, so daß sie sie an ihren Füßen spürte. Ob die Haustür abgeschlossen war? Nein. Sie drückte die schwere Falle hinunter und traute ihren Augen nicht.

Durch den ersten Spalt, den die Tür freigab, schlüpfte Züsi, ihre Katze aus der ›Meur‹, und strich Katharina miauend um die Beine.

»Züsi, was machst du da?« fragte Katharina leise, kauerte sich nieder, die Kachel in der einen Hand, und streichelte die Katze mit der andern. Keine Verwechslung möglich, es war ihre Katze, das getigerte Muster des Fells, die schwarzen Pfoten und der weiße Fleck hinter dem Ohr. Von oben hörte sie Kaspar jammern. Wie konnte man laut und leise zugleich rufen?

»Ich komme!« zischte Katharina das Treppenhaus hinauf, stand auf und sagte zur Katze: »Wart hier.«

Dann ging sie über den Vorplatz zum Brunnen, am knurrenden Hund vorbei, dem sie ihr »Ruhig, Sauvieh!« zuwarf, mit sofortigem Erfolg, und hielt ihre Kachel unter den Wasserstrahl.

Behutsam lief sie zum Haus zurück, stellte die Kachel auf das Schuhbänklein, zog sich die Schuhe wieder aus und ging dann die Treppe hinauf, dicht gefolgt von ihrer Katze.

Ungeduldig erwartete sie der kleine Bruder, der hoch aufgerichtet im Bett saß. Als ihm Katharina die Kachel geben wollte, sah er die Katze.

»Züsi?« fragte er erstaunt.

»Ja«, sagte Katharina, »sie kommt zu Besuch.«

Und als Kaspar nicht aufhörte, auf die Katze zu starren, sagte sie: »Trink jetzt!« und hielt ihm die Kachel hin. Immerhin war sie seinetwegen bis zum Brunnen draußen in der Kälte gegangen.

Kaspar nahm die Kachel und trank mit heftigen Schlucken, ohne dabei die Katze aus dem Auge zu lassen, welche stets die Nähe von Katharinas Beinen suchte. »Fertig«, sagte er schließlich und gab die leere Kachel seiner Schwester zurück.

Diese stellte sie auf den Boden und überlegte, was sie tun sollte. Da sich im Haus noch nichts regte, kroch sie nochmals ins Bett. Mit einem schnellen Sprung war Züsi auf der Bettdecke und legte sich auf Katharinas Seite ans Fußende, rollte sich zusammen und blieb schnurrend liegen.

Kaspar kicherte. »Züsi kommt ins Bett«, sagte er.

»Sie will auch schlafen«, sagte Katharina, »es ist noch zu früh zum Aufstehen.«

Sie drehte sich von Kaspar weg zur Seite und lutschte am Daumen. Das tat sie zu Hause nur, wenn gar niemand zuschaute, denn sonst kriegte sie sofort eins auf die Hände von den Eltern, oder auch von den älteren Geschwistern, wenn diese sie dabei erwischten. Jetzt aber konnte ihr das niemand verbieten. Neben ihr lag Lisi, und am Bettende lag Züsi, und der Daumen im Mund war wie das Käslein im Märchen, das nie weniger wurde, und er machte ihren Mund saftig. Auf einmal dachte sie, schöner könne es gar nicht werden, und am allerschönsten wäre es, wenn sie ihr ganzes Leben lang so liegen bleiben könnte.

Draußen grollte es in der Ferne.

Im Schlafgaden des unteren Stockes hörte sie die Großmutter laut gähnen, und ihr Bett ächzte.

War das Paul, der im Zimmer nebenan aufstand? Oder ging er nur auf den Nachthafen, wie sie und Kaspar, und legte sich dann nochmals hin? Heute war Sonntag, da mußte man nicht so früh hinaus wie am Werktag. Blüemli wollte zwar trotzdem gemolken werden, die wußte nicht, daß es Sonntag war. Dafür mußte sie auch nicht zur Kirche. Katharina versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn einmal alle Kühe zur Kirche kämen und muhend vor der großen Tür ständen, auf dem Kiesplatz, oder zwischen den Gräbern des Friedhofs herumgingen und dort die Blumen und das Gras fräßen. Vielleicht wollten sie sich einmal versammeln, um Noah zu danken, der ihnen das Leben gerettet hatte vor der großen Flut, und die andern Tiere kämen auch, die Ziegen, die Schafe, die Hühner, und die Steinböcke, die Gemsen, die Murmeltiere und die Füchse, nur die Fische nicht, die waren ja auch ohne Noah am Leben geblieben. Das gäbe ein schönes Gedränge, da wüßten die Kirchgänger nicht mehr, was machen, und der Pfarrer Mohr auch nicht, vielleicht würde er versuchen, mit allen zusammen ein Lied zu singen, »Mein Augen ich gen Berg aufricht«, und die Kühe würden muhen, die Schafe blöken, die Ziegen meckern und die Hühner gackern, die Murmeltiere würden durch die Zähne pfeifen und die Gemsen und Steinböcke durch die Nasenlöcher, die Füchse würden heiser bellend zu den Hühnern schielen, während der Lehrer Wyss die Tasten des Harmoniums schlüge und der Siegrist dazu schwitzend den Blasbalg pumpte, und dann würde sich Noah im Himmel sicher freuen und würde Gott Vater holen und seinen Sohn und würde nach Elm hinunter zeigen, damit die beiden auch einmal etwas zu lachen hätten.

Nun schlugen auch noch die Hunde an, und die Katzen miauten, und Katharina erwachte. Unter der Tür stand die Base mit Anna auf dem Arm und Kaspar an der Hand und blickte verwundert auf Züsi, das sich auf der Bettdecke räkelte und die Gestalten in der Tür betrachtete wie eine Königin ihre Untertanen. Kaspar schaute belustigt von Züsi zu der Base und von der Base zu Züsi.

»Wie kommt die Katze hierher?« fragte die Base.

Katharina erzählte ihr, wie Züsi heute vor der Haustür gewartet hatte, als sie in der Frühe am Brunnen Wasser holen gegangen sei.

Die Base schüttelte den Kopf. So etwas sei noch nie vorgekommen, sagte sie, was denn nur in das Tier gefahren sei, und wie es überhaupt den Weg gefunden habe. In der Küche gebe es Milch und Brot, und Katharina solle nicht vergessen, die Nachttöpfe zu leeren und wieder heraufzubringen.

Dann ging sie mit Kaspar und Anna die Treppe hinunter, und Katharina stand auf, öffnete die Fenster und stieß die Läden auf.

Auch heute keine Sonne, nur graue Wolken ringsum, Gras, Bäume und Blumen glänzten vor Nässe. Über dem Wald jagten drei Krähen mit lautem Krächzen einen Raubvogel. Im Vorgarten gackerten die zwei Hühner und liefen eilig zwischen den Blumen und den Rhabarbern hin und her.

Vom Weg her kam ein Spatzenschwarm geflogen und ließ sich offenbar auf dem Dach der »Bleiggen« nieder, denn gleich daraufschien es Katharina, als zwitschere das ganze Haus.

Als es vom Plattenberg herüber polterte, verstummten die Vögel einen Augenblick, um sofort wieder um so heftiger loszutschilpen.

Diesmal entdeckte Katharina die Stelle, aus der ein Fels herausgebrochen sein mußte. Über den obersten Baumwipfeln am Weg war in der Weite ein Räuchlein zu sehen, das aus einem frechen grauen Fleck mitten im Grün der Tannen aufstieg. Natürlich war nicht mehr zu sehen, wohin er gefallen war, der Fels, aber es gab immer nur eine Richtung, und das war die Tiefe, und in der Tiefe, das wußte Katharina, lagen die Schieferwerke, und gleich dahinter lag die »Meur«.

»Didi!« hörte sie aus der Küche rufen.

»Ich komme!« rief sie zurück.

Sie war noch gar nicht angezogen. Und was war mit den Nachttöpfen? Heute war Sonntag, also sollte sie vielleicht den Sonntagsrock anziehen, und der hing wohl immer noch in der Stube, oder lag in irgendeinem Schrank. Sie zog sich ihr graues Strickjäckchen über das Nachthemd an und ging zur Tür. Dann kehrte sie wieder um und holte vorsichtig die beiden Nachttöpfe unter dem Bett hervor. Die Base sollte nicht wieder schimpfen mit ihr. Langsam ging sie die Treppe hinunter, und dann durch den Gang auf den Abtritt zu. Die Tür war geschlossen, und dahinter hörte sie, wie jemand stöhnend mit der dicken Tante kämpfte. Der Kampf ging mit einem erlösten Aufatmen zu Ende, und Johannes trat heraus, in einem Schwaden von Gestank.

»Schau da, die Didi«, sagte er, und fügte dann hinzu: »Komm, gib mir die Nachthäfen.«

Er nahm sie ihr ab, leerte ihren Inhalt in die Latrine und gab sie ihr wieder zurück. Als er sah, daß sich Katharina die Schuhe anziehen wollte, sagte er, sie brauche die Nachttöpfe nicht spülen zu gehen, die seien sauber genug, und schnell huschte Katharina damit die Treppe hinauf, stellte die Töpfe unter das Bett und lief wieder hinunter, in die Küche, wo alle andern um den Tisch saßen, vor ihren Kacheln mit Kaffee oder Milch, und in der Mitte lag ein großer Laib Brot, von dem einige Stücke abgeschnitten waren.

»Da kommt unsere Schlafmütze«, sagte Paul lachend, und die Großmutter fragte Katharina, ob sie Milch wolle. Katharina errötete und nickte, und als der schöne weiße Strahl aus dem Krug in ihre Tasse floß und ihr Fridolin ein Stück Brot reichte, das nach Sonntag duftete, begann sie langsam daran zu glauben, daß es doch ein schöner Tag werden könnte.