37812.fb2 Die Steinflut - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 18

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»Wollt ihr wohl?« sagte Katharina zu den Schafen, die auf der Türschwelle zu Grosis Zimmer standen. Sie waren als einzige nicht aus Knöchelchen gemacht, sondern aus kleinen Tannenzapfen, und als Beine hatten sie Streichhölzer. Ein feiner Duft nach Harz ging von ihnen aus.

Die Schafe blökten und wichen nicht von der Stelle. Als ob sie nicht wüßten, daß sie im Schlafgaden der Großmutter nichts zu suchen hatten.

»Dann muß der Sultan her«, sagte Katharina und holte den Hund, der auf einem der Ofentritte stehengeblieben war, als er eine Kuh hinaufgetrieben hatte. Sie stellte ihn hinter die kleine Herde, und nun bequemte sich ein Schaf nach dem andern, den langen Weg auf den Schieferofen unter die Füße zu nehmen, gefolgt vom schwarzen Sennenhund, der ihnen manchmal sogar nach den Hinterbeinen schnappte. Katharina, die auf den Knien rutschte, hob die Tiere auf und setzte sie in kurzen Abständen wieder auf den Boden, und so rückte die Herde langsam an den Fuß des Ofens.

Die kleine Anna war in einen Korb gebettet, der neben dem Ofen stand, und als der Hund wieder einmal ein langsames Schaf anbellte, begann sie zu weinen. Das war ärgerlich, denn die Schafe waren noch nicht an ihrem Ziel, und Katharina wollte sie zuerst zur Bauernfamilie bringen.

»Achtung, der Lämmergeier!« rief sie, packte zwei Schafe auf einmal und trug sie rasch auf den Ofen, wo sie mit tiefer Stimme »Brave Schafe!« sagte. Der Bauer hatte gesprochen. Dann verfuhr sie mit den andern ebenso, und nun war die ganze Familie mit allen Tieren auf dem Ofen versammelt, und Menschen, Schafe, Schweine, Kühe, Pferde, Ziegen und Hühner blickten vom Rand des Ofens in die Stube hinunter.

Jetzt holte Katharina das Kind aus dem Bettchen. Wie schwer so ein Säugling war! Sie ließ sich auf einem Stuhl am Tisch nieder und setzte sich das Kind aufs Knie. Das schien diesem zu gefallen, jedenfalls hörte es auf zu weinen und schaute sich in der Stube um.

»Alle sind dort oben«, sagte Katharina und zeigte zur Puppenfamilie. »Sie haben die Hühner gesucht, und jetzt haben sie sie gefunden. Siehst du die Hühner?«

Aber das kleine Kind schaute nicht zum Ofen hinauf, sondern auf den Boden hinunter.

»Die Hühner hatten Angst vor den Steinen und sind geflüchtet, ganz weit hinauf. Dort hinauf.« Katharina zeigte nochmals auf den Ofenrand knapp unter der Stubendecke, und als das Kind einfach nicht dorthin schauen wollte, nahm Katharina sein Kinn in die Hand, drehte es zum Ofen und drückte es dann nach oben. Das Kind begann zu klagen, wandte sein Köpflein zur Seite und stemmte sich mit den Füssen gegen Katharinas Oberschenkel. Katharina ließ ihre Hand sinken, und sofort schaute die kleine Anna wieder auf den Boden.

»Dann schau halt hin, wo du willst«, sagte Katharina. So ein Kind war wohl wirklich noch zu klein, um ihm etwas beizubringen. Oft konnte sie ja nicht einmal Kaspar dazu bewegen, das zu tun, was sie wollte, und der war immerhin schon vier. Vor zwei Stunden war er an der Hand der Großmutter den Weg ins Dorf hinuntergegangen. Wie ein Zwerglein hatte er ausgesehen in seiner Pelerine. Katharina hatte ihnen aus dem Stubenfenster nachgeblickt, die Großmutter trug am freien Arm den großen Schirm und den Deckelkorb, den sie mit zwei Schnallen verschlossen hatte, denn Züsi hatte sich fast nicht einsperren lassen, und ihr Miauen war noch zu hören, als die beiden im Wäldchen verschwanden. Der Base war es gelungen, Züsi auf der oberen Treppe einzufangen, und sie hatte noch einen Kratzer an der Hand erwischt, den ihr die Großmutter nachher mit Branntwein behandelte. Als Kaspar sah, daß seine Schwester noch dableiben durfte, wollte er zuerst auch nicht gehen.

»Will auch bleiben«, hatte er gesagt und sich in seiner Pelerine wieder auf das Schuhbänklein gesetzt.

»Kannst denken«, hatte die Großmutter gesagt und ihn sogleich wieder an der Hand in die Höhe gezogen, da hatte er sich gefügt. Inzwischen mußten sie in der »Meur« angelangt sein und hatten sicher beide schon das Schwesterlein gesehen. Ob es ihre Eltern wirklich Euphemia nennen würden, wie das die Großmutter wollte? Sie hatte ihren Schmuck so selbstverständlich für die kleine Fämmi bereitgemacht, als ob das Kind schon längst auf diesen Namen getauft sei. Vielleicht, dachte Katharina, hätte sie doch mitgehen sollen, nur um zu sagen, daß sie Vreneli besser fände. Aber auf sie würde man doch nicht hören, also konnte sie gerade so gut noch hierbleiben und ganz allein mit den Puppen spielen und dazu die kleine Anna hüten, die schon wieder auf den Boden schaute statt zum Ofen hinauf.

Als nun Katharina auch auf den Boden schaute, merkte sie erst, was Annas Blick anzog. Da stand immer noch der kleine schwarze Sennenhund und wartete darauf, daß ihn ein Lämmergeier oder eine Hand, die einen Lämmergeier spielte, zu der Bauernfamilie und ihren Haustieren hochtrug.

»Armer Sultan«, sagte Katharina, »bist du ganz allein zurückgeblieben?«

Sie nahm die kleine Anna in beide Arme und wollte aufstehen, um sie wieder in ihren Korb zurückzulegen, aber bevor sie sich erheben konnte, fing Anna wieder an zu weinen, und Katharina behielt sie auf ihren Knien.

»Du mußt warten«, sagte sie zu dem verlassenen Sultan, »ich bring dich dann schon zu den andern.« Und sie ließ Anna auf ihren Knien ganz leicht auf und ab hopsen, was sie wieder beruhigte. Als diese jedoch nicht aufhörte, auf den Boden zu starren, fragte Katharina: »Willst du züm Wauwau?« Ohne abzuwarten, legte sie die Kleine auf dem Bauch direkt vor den Knöchelhund, aber Anna brach sogleich in durchdringendes Geschrei aus. Unwillig packte Katharina sie wieder und versuchte sie mit dem Rücken an die Wand des Schieferofens zu setzen. Anna sank zur Seite und konnte sich nicht wieder aufrichten, und sie begann zu jammern. Da setzte sich Katharina selbst mit dem Rücken an den Schieferofen, spreizte ihre Beine und setzte Anna vor sich hin, indem sie sie mit beiden Armen umfing. In dieser Stellung, die Anna endlich zu behagen schien, wartete sie ein Weilchen. Sie ließ ihre Zöpfe vor der Kleinen hin- und herbaumeln, und Anna schaute zuerst zu, und dann griff sie solange danach, bis sie einen erwischt hatte, um den sie ihre kleine Faust schloß. Als sie daran zog, stieß Katharina einen kleinen Schmerzensruf aus, und das Händchen gab den Zopf wieder frei. Katharina schwang die Zöpfe hinter ihren Kopf, löste dann vorsichtig einen Arm und streckte ihn nach dem Hund aus.

In dem Moment wurde ein Kanonenschuß auf das Haus abgefeuert, der sämtliche Scheiben erzittern ließ. Katharina hörte das Bäsi im oberen Stock aufschreien. Sie ließ die kleine Anna zu Boden sinken und rannte zum Stubenfenster. Uber dem Plattenberg stieg eine böse dicke Rauchwolke auf, nicht von einem Feuer und nicht von einer Kanone. Da mußte etwas Mächtiges abgebrochen sein, mehr als ein Felsblock, ein Stück vom Berg.

Anna weinte, Katharina drehte sich um, hob sie auf und schleppte sie ans Fenster, auf der Treppe waren schnelle Schritte zu hören.

»Was war das?« fragte die Base, als sie gleich darauf in die Stube trat.

»Ein Stück vom Berg ist abgebrochen«, antwortete Katharina und zeigte auf die rauchende Stelle.

»Das kann doch nicht sein«, sagte die Base und trat zu Katharina ans Fenster.

Das Echo des Donners grollte von allen Bergwänden, dazu rumpelte es im Tal unten, als ob ein Riese mit Felsblöcken kegelte.

Langsam wurde es still. Ein leichter Wind trieb feine Regentropfen gegen die Fensterscheiben. Die Spatzen, die den ganzen Nachmittag um das Haus herum gelärmt hatten, waren verstummt. Die Staubwolke an der Abbruchstelle blähte sich immer stärker auf. Dahinter mußte ein großes kahles Stück liegen, sie brauchten nur zu warten, bis sich die Wolke auflöste, dann würden sie das Loch im Wald sehen.

»Hoffentlich kommen sie bald zurück«, murmelte die Base, und fügte dann aufseufzend hinzu: »Zum Glück ist der Paul nach Steinibach.«

Katharina stellte sich vor, wo Steinibach lag, hinter dem Dorf, weit vom Plattenberg weg. Dann sagte sie:

»Aber das Grosi ist im Untertal.«

»Vielleicht ist es schon auf dem Heimweg«, sagte die Base.

»Ja«, sagte Katharina, »und vielleicht bringt es die Mama und den Ätti und alle andern mit.«

»Wo denkst du hin«, sagte die Base schroff, »wer im Kindbett liegt, läuft nicht den Berg hinauf.«

»Und wenn man sie trägt?« fragte Katharina.

»So schlimm wird’s schon nicht sein«, sagte die Base.

Anna, die immer noch von Katharina umklammert wurde, wimmerte.

»Komm«, sagte die Base, öffnete ihre Bluse und hob die Kleine an ihre Brust. Aber Anna stieß sich mit den Fäustchen von ihrer Mutter ab und wollte nicht trinken.

»Dann halt nicht«, sagte die Base, ging zum Korb neben dem Ofen und legte ihr Kind hinein. Aber dieses begann so verzweifelt zu schreien, daß sie es sofort wieder herausnahm und auf den Armen zu wiegen begann.

»Nina, butti, Wiegeli

Uf em Dach het’s Ziegeli«,

sang sie leise und beschwörend, und Katharina, die immer noch am Fenster stand, hoffte inständig, daß die Ziegel noch auf dem Dach der »Meur« lagen und daß nicht einer dieser üblen Brocken auf das Haus gerollt war, in dem jetzt wahrscheinlich alle außer ihr versammelt waren, Mutter, Vater, Anna, Regula, Jakob, Kaspar und das Neugeborene, wie immer es hieß, denn Sonntag war der Tag, an dem man zu Hause blieb, wenigstens wenn man von der Kirche und der Kinderlehre zurück war; dann gab es gewöhnlich ein gutes Mittagessen, manchmal kochte die Mutter einen Braten, und für die Kinder legte sie zusätzlich ein Brot in die Pfanne, das sie dann mit der Bratensauce übergoß, so daß das Brot, das wunderbar mürb und weich war, wie Fleisch schmeckte. Das nannte sie Kinderbraten, und es war so gut, daß auch ihre große Schwester Anna, die doch kein Kind mehr war, fast lieber davon aß als vom wirklichen Braten.

Am Nachmittag mußten die Eltern jeweils die Wirtschaft hüten, und die Kinder durften bei schönem Wetter vor dem Haus spielen, und wenn es regnete, mußten sie im oberen Stock bleiben und ruhig sein. Das war nicht einfach, vor allem wollte Kaspar immer beschäftigt sein. Das einzige Spielzeug, das sie gemeinsam hebten und umkämpften, war das Schaukelpferd, aber sonst waren seine Spiele nicht die von Katharina. Johannes hatte ihnen einmal aus der Schreinerei schöne kleine Holzklötze gebracht. Damit saß Kaspar gern im Gang und schichtete sie aufeinander, doch wenn ihm ein Turm oder ein Haus zusammenbrach, begann er immer zu heulen, und man mußte das eigene Spiel unterbrechen, um ihm beim Wiederaufbau zu helfen.

Katharina durfte, seit sie in der Schule war, mit Jakob und Regula »Ich weiß etwas« spielen, und das gefiel ihr sehr. Sie saßen dann alle drei auf dem Bett, und eines von ihnen dachte an etwas Bestimmtes, vielleicht an die Sonne, und die andern mußten durch Fragen herausfinden, was es war. Ist es etwas Lebendiges, war eine gute Frage, ist es aus Holz, oder ist es aus Stein, war eine andere Frage, kann man es anfassen, sollte man auch irgendeinmal fragen, gerade die Sonne konnte man ja nicht anfassen, oder den Wind oder eine Regenwolke auch nicht. Für jede Frage gab es einen Strich auf der Schiefertafel, und wer sich das Schwierigste ausgedacht hatte, für das man am meisten Strichlein machen mußte, hatte gewonnen. Jakob dachte oft an etwas Blödes, zum Beispiel an seine Unterhosen, und Regula dachte gern an Kinder, die mit ihr in die Schule gingen, und Katharina hatte einmal eine Runde gewonnen, als sie an das Kind dachte, das ihre Mutter im Bauch trug, da waren die andern fast nicht draufgekommen, denn es war etwas Lebendiges, das man trotzdem nicht anfassen konnte, Regula und Jakob überboten sich in den kühnsten Vermutungen von Adler bis Walfisch, die Katharina alle stolz kichernd verneinte und mit einem Kreidestrich erledigte, bis Regula schließlich als fünfundfünfzigste Frage die richtige stellte, und Katharina erinnerte sich gut, wie ihre Schwester dabei rot geworden war.

Plötzlich kam Katharina etwas in den Sinn, das sie vergessen hatte. Während das Bäsi mit der kleinen Anna auf den Armen von der Stube in die Küche ging, kroch sie zum schwarzen Knöchelsennenhund und machte mit ihm den Weg auf den Ofen, indem sie ihn in kurzen Abständen auf den Boden setzte. Kein Lämmergeierflug diesmal, denn Sultan war schließlich ein Wach- und Hirtenhund und mußte überall hinschauen, ob nicht ein Tier unterwegs verlorengegangen war.

Anna war wieder ruhig geworden, und die Base kam mit ihr von der Küche zurück.

»Katharina, wo bist du?« fragte sie erschrocken.

Katharina war soeben bei der Bauernfamilie auf dem Ofen angekommen und setzte den Hund zu den Schafen. »Gerettet«, flüsterte sie ihm ins Ohr.