37812.fb2 Die Steinflut - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 19

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Katharina saß im Schneidersitz auf dem Stubentisch und hielt die kleine Anna in den Armen.

Aus der Küche war das Knistern des Feuers zu hören, das die Base im Herd angemacht hatte, und der Duft von Tannenholz verbreitete sich sachte im ganzen Raum. Katharina hatte das kleine Kind auf ihren rechten Oberschenkel gesetzt, hielt es mit dem einen Arm umfangen, und mit der Hand des andern Arms stützte sie es vorn. Sie zeigte ihm, was sie sah.

»Siehst du, dort, wo’s grau ist, mitten im grünen Wald, dort ist alles heruntergefallen.«

Die Wolke, mit welcher die Abbruchstelle vor einer Viertelstunde bedeckt war, hatte sich langsam aufgelöst. Ein großer Riß ging quer über den Abhang. Katharina sah ihn sehr gut dort, wo der Fels abgebrochen war, und sie ahnte ihn dort, wo er im Tannenwald verschwand. Das mußte der Erdspalt sein, von dem die Wildheuer erzählt hatten.

»Siehst du den dunklen Strich? Das ist der große Chlagg.«

Anna versuchte wieder nach einem von Katharinas Zöpfen zu greifen.

Katharina wiegte ihren Kopf hin und her und sang:

»Der große Chlagg, der große Chlagg.«

»Was sagst du da?« fragte die Base, die in der Stubentür erschien.

»Man sieht den großen Chlagg«, sagte Katharina.

»Wo?« fragte die Base.

»Au!« rief Katharina. Die kleine Anna hatte einen Zopf erwischt und zog daran. Als Katharina die winzigen Fingerchen von ihrem Haar gelöst hatte, warf sie ihren Kopf nach hinten, daß ihr die Zöpfe über die Schultern hingen, und zeigte dem Bäsi den Chlagg.

»Du meinst, das sei er?« fragte das Bäsi.

Katharina nickte. Wieso meinen? Natürlich war er das. Sie wunderte sich über die Base. Sie habe immer gemeint, der sei weiter oben, sagte diese. Schon wieder meinen. Katharina nahm sich vor, wenn sie einmal erwachsen wäre, so wenig wie möglich zu meinen.

»Nein«, sagte sie mit großer Bestimmtheit, »das ist er. Und er hält nicht mehr lang.«

Sie erschrak. Den letzten Satz hatte sie nicht selbst gesagt, das mußte die zweite Katharina gewesen sein.

»Woher willst du das wissen«, sagte die Base, »der hält, solang er will. Ich mach uns jetzt einen frischen Tee.« Und sie ging zurück in die Küche, von wo bald Geräusche von Pfannen, Tassen, Krügen und Wasserschöpfen und Holznachlegen kamen.

Katharina dachte über das nach, was sie soeben gesagt hatte.

Wenn das wahr war, und daran zweifelte sie nicht, wenn das wahr war, dann sollten jetzt alle Menschen aus dem Untertal wegrennen, so schnell sie konnten. Hoffentlich tun sie das, dachte sie, hoffentlich tun sie das, hoffentlich rennen sie jetzt weg, lieber Gott, mach, daß sie endlich wegrennen, wenigstens unsere Familie. Der obere Jaggli und der untere Jaggli, die würden sicher hocken bleiben und nach oben schauen und sich freuen an den rumpelnden Steinen, oder wenn sie sich entschließen würden wegzugehen, würden sie vorher noch ihre Bündel schnüren mit den Kleidern drin und dem Sparstrumpf und würden die Fensterläden schließen, damit die Scheiben nicht kaputtgingen wie in der Wirtschaft »Zum Martinsloch«, und das Haus würden sie wahrscheinlich noch abschließen und noch einmal hineingehen, wenn sie den Schlüssel nicht fänden, aber der Ätti hätte sich in der Zwischenzeit sicher mit dem Beat Rhyner besprochen, der traute doch dem Abhang auch nicht, der hatte ja den großen Chlagg sogar selbst gesehen, und jetzt merkten sie bestimmt, daß sie davonrennen mußten, und die Mutter konnten sie ja auch hinuntertragen und auf den Holzschlitten laden, der Vater zog ihn wahrscheinlich schon aus dem Geräteschuppen, und Anna soll das Neugeborene tragen, und Jakob und Regula sollen schon rennen, und sie sollen den Kaspar in die Mitte nehmen, aber nicht zur eisernen Brücke, sondern in die andere Richtung, zur Gehren, wie die Lobe, die jetzt mit hoch erhobenem Schwanz brüllend wegspringt, und da kommt der Hans-Kaspar vom Dorf hergerannt, über die eiserne Brücke, weil er den Kanonenschuß gehört hat und weil sicher schon Häuser verschüttet worden sind und weil er helfen will, weil er vor allem seiner Anna helfen will, und der Johannes ist auch dabei, und während ein paar Kinder vom Untertal wegrennen, eilen ganze Gruppen von Männern und Frauen dem Untertal zu, hoffentlich reicht es ihnen noch, die Menschen zu warnen und wegzuholen, denn jetzt sieht Katharina schon, wie die obersten Tannen, die neben der frischen Abbruchstelle noch stehen, rücklings in den Chlagg stürzen und von ihm einfach verschluckt werden wie von einem gefräßigen Bergungeheuer, und wie der ganze Tannenwald unterhalb der Spalte zu Tale fährt, wie sich die Bäume überschlagen und von Steinen überrollt werden, und Katharina versteht nicht, wieso das alles vollkommen lautlos vor sich geht, als geschähe es gar nicht wirklich, und jetzt erst erinnert sich der Berg, daß er ja donnern muß, wenn es wahr sein soll, und er donnert und rumpelt und poltert und tost, und der schwarze Sennenhund heult auf, oder ist es Nero draußen in seiner Hütte, und »Bäsi!« ruft Katharina, aber Bäsi ist in den Stall gegangen oder auf den Abort, vorhin hatte die Küchentür geknarrt, doch Bäsi kann den Leuten im Untertal auch nicht helfen, sie müssen selber fliehen, es ist höchste Zeit, aber vielleicht reicht es noch, denn neben dem neuen Abbruch, der jetzt in einem Rauchwirbel verschwindet, ist deutlich zu sehen, daß der Chlagg noch da ist, also bleibt vielleicht noch genügend Zeit, wenn die Anna dem Hans-Kaspar das Neugeborene reicht, damit er schneller rennen kann und damit sie sich um die Geschwister kümmern kann, und der Schlitten mit der Mutter wird schon angezogen, vorn zieht der Ätti, hinten stößt das Grosi, und ringsum schreien die Menschen vor Entsetzen, denn jetzt endlich merken sie, daß es sie angeht, jetzt hasten die Menschen in alle Richtungen davon, gegen die eiserne Brücke, wo der Schmied mit einem Fuhrwerk bereitsteht, gegen den Düniberg hinauf, und die jüngeren überholen die älteren und treiben sie zur Eile an, aber sie bleiben hustend und keuchend stehen, denn der Abbruch hat einen dichten Staub vor sich hergetrieben, der allen in Nase, Mund und Augen dringt, aber sie sollten nicht stehenbleiben, keinen Augenblick, und jetzt sieht Katharina das, was die zweite Katharina schon gewußt hat, sie ruft laut zur Base, die nun wieder in die Stube tritt: »Jeh, Bäsi, dort chunnt öppis ufs Untertal abe!«, denn der große Chlagg, der große Chlagg hält nicht mehr länger, und er läßt den ganzen Abhang fallen, Katharina würde sich gern die Ohren zudrücken, wenn sie nicht das kleine Kind halten müßte, denn gleich muß ein Getöse vom Plattenberg herüberhallen, das man lieber nicht hören möchte, und da kommt es, ein Windstoß geht ihm voran, der das Wäldchen unterhalb der »Bleiggen« fast bis auf den Boden niederdrückt und am Haus rüttelt, daß die Scheiben klirren und irgendwo Ziegel vom Dach fallen, und dann erfüllt ein Krachen das Tal, als gingen hundert Gewitter gleichzeitig nieder, und durch die riesige Staubwolke, die nun den ganzen Plattenberg verhüllt, sieht Katharina einen gewaltigen, pechschwarzen Felsblock durch die Luft niedersausen, als wäre er ein Stück morsches Holz, er fliegt weit über das Untertal hinaus, und da weiß sie, daß alles verloren ist, und daß sie von ihrer Familie niemanden wiedersehen wird, den Vater nicht und die Mutter nicht, weder das Neugeborene noch Kaspar, Regula und Jakob, und daß die Anna nie mehr ihren Hans-Kaspar küssen wird hinter dem Haus, und daß sie ihr das Geheimnis von Mann und Frau nicht mehr erklären wird, und daß das Grosi zwar den Weg hinuntergegangen ist, aber nicht mehr den Weg hinaufkommen wird, und daß es auch Züsi und den Hühnern nichts genützt hatte, daß sie in die »Bleiggen« gekommen waren, und daß sie nie mehr im großen Weinfaß stehen und nie mehr im Saal der »Meur« Girlanden aufhängen könnte für Musik und Tanz, denn die »Meur« ertrank in diesem Augenblick in einer Steinflut, die nie mehr zurückweichen würde, und auch für die Rhyners gäbe es kein Entrinnen, und weder vom Haus des oberen noch von dem des unteren Jaggli würde auch nur ein Fensterladen übrigbleiben, und bei der alten Elsbeth würde es keine Eier mehr zu holen geben, und die junge Elsbeth wäre von ihrem Kropf erlöst, und der obere Jaggli würde nie mehr eine Pfeife anzünden, und Johannes würde kein Schüsselchen mehr leimen und keinen Sarg mehr zimmern und würde nicht einmal selbst einen brauchen, denn vom Grunde der Flut würde man niemanden mehr heraufholen können, und die Flut würde bis über den Sernf hinausschwappen, sie würde die eiserne Brücke verschlingen, den Schmied mit dem Hufeisen, das er ihr annageln wollte, würde sie ebenso begraben wie alle Kinder, mit denen Katharina Blindekuh gespielt hatte, und der dummen Anna Elmer würde sie nie mehr sagen können, wieviel sechs weniger fünf gab, nur der freche Oswald, der so oft die Schule schwänzte, wäre mit ein paar Buben nach Matt gelaufen und hätte so auch den Bergsturz geschwänzt, und die Taufgesellschaft der Kläfi würde auch überrascht, die Mutter hülfe noch einigen Kindern zum Fenster hinaus und würde mit ihrem weiß geschmückten Kleinen in der Schürze weggerissen, und die Hebamme mit dem roten Haarbändel, die doch eben erst ihr Schwesterlein aus der Mutter herausgezogen hatte, würde den kleinen Fridolin noch ihrem Mann reichen und würde fast gleichzeitig vom äußersten Stein der Flut erschlagen, und würde sich wenigstens der blinde Meinrad mit der dicken Suworow-Mütze retten können, der sicher alle schlimmen Geräusche rechtzeitig gehört hatte, nein, auch er würde sich nicht retten können und an seinem Fenster sitzend untergehen, denn wer sollte ihm schon helfen, den Weg zu finden, und das alles sah die zweite Katharina, während die erste Katharina mit der Base hinter sich, welche ihr stumm die Hand auf die Schulter legte, und der geretteten Puppenfamilie auf dem Ofen, die fassungslos ins Tal hinunter starrte, auf dem Stubentisch der »Bleiggen« saß und sich von der laut krähenden kleinen Anna, die nun in jeder Hand einen Zopf hatte, so heftig an den Haaren reißen ließ, daß es ihr den Kopf hin- und herschüttelte und ihr die ganze Welt vor den Augen zu einer grollenden schwarzen Wolke verschwamm, und sie wußte nur, daß irgendwo dahinter die zweite Katharina auf einer goldenen Kugel saß, und sie wußte, daß sie von jetzt an all ihre Kraft brauchen würde, um sie nicht zu verlieren.