37812.fb2 Die Steinflut - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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Katharina kannte den Weg, und eigentlich war er auch gar nicht zu verfehlen. Die einzige Abzweigung unterwegs kam kurz vor der »Bleiggen«, und die führte wieder zu Kirche und Schulhaus hinunter, da könnten alle Nebel der Welt kommen, und sie würde nicht den Weg ins Dorf nehmen.

Kaspar hatte seinen Widerstand aufgegeben und ging mit kleinen Schritten brav neben ihr her, immer ihre Hand haltend.

Es gab ein großes Geräusch, das war der Regen, der auf die Blätter des Waldes fiel, an dessen Rand sie emporstiegen, und es gab ein kleines Geräusch, das aber viel näher bei den Ohren war, das waren die Regentropfen, die auf ihre Kapuzen und Pelerinen fielen. Zum großen Geräusch gehörte auch das Rauschen des Sernf, welches das ganze Tal erfüllte, und zum kleinen Geräusch gehörte das Aufsetzen ihrer Schuhe auf dem Weg, der mit Steinchen bedeckt war.

Im Gehen überlegte sich Katharina, was ihre Schwester Regula genau gemeint haben mochte, als sie von Verena sagte, die ziehe die Kinder sogar mit den Füßen voran aus dem Bauch. Wieder merkte Katharina, daß sie etwas nicht wirklich wußte, aber wenn sie sich auszumalen versuchte, wie ein Kind aus dem Bauch einer Mutter hervorkam, stellte sie sich am liebsten vor, wie es zuerst ein Ärmchen herausstreckte, mit dem es den Menschen zuwinkte, die es erwarteten, und dann vielleicht das zweite, und daran konnte man es herausziehen. Ihr Vater hob sie manchmal mit einer Hand an beiden Handgelenken hoch, das schien Katharina eine gute Haltung für eine Geburt, pfeilförmig schützten die beiden Hände den Kopf, auf den man besonders aufpassen mußte.

Natürlich könnte ein Kind auch zuerst den Kopf herausstrecken, oder den Hintern, aber beides war für die Mutter sicher schmerzhafter, als wenn es sich mit den Armen einen Weg bahnte. Und wo tat sich überhaupt der Bauch auf? Die Löcher, die Katharina kannte, waren alle viel zu klein für ein ganzes Kind. Am ehesten vermutete sie einen Zusammenhang mit dem Bauchnabel. Sie mußte dringend mit ihrer großen Schwester darüber sprechen, wenn sie wieder zu Hause war.

Wie immer – fest stand, daß Kinder gewöhnlich nicht mit den Beinen voran zur Welt kamen, aber fest stand auch, daß Verena sogar damit fertig würde. Ihrer Mutter würde also nichts passieren, und dem neuen Kind auch nichts, und ab morgen wären sie dreimal zwei Geschwister, gibt sechs.

Kurz vor einem Heustadel blieb Kaspar stehen. »Muß brünzeln«, sagte er.

Katharina seufzte. »Warum nicht schon zu Hause?« fragte sie, aber ihr kleiner Bruder schüttelte in höchster Not den Kopf, und so half sie ihm, die Pelerine hochzuziehen und den Hosenschlitz aufzuknöpfen, und sie hatte ihre Hände noch nicht zurückgezogen, da schoß schon ein gelber Strahl aus Kaspars Schwänzchen und traf ihre Fingerspitzen.

»Sauniggel!« rief sie und wischte sich empört ihre Hände im nassen Gras ab, »gib doch acht!«

Wie lästig so ein Brüderchen sein konnte. Und nun sollte noch eins dazukommen, oder ein Schwesterchen. Hoffentlich mußte sie mit dem nicht auch in die »Bleiggen«, in vier Jahren, wenn das nächste käme. Dann würde sie Kaspar schicken, dachte Katharina grimmig, der wäre dann vier und vier gibt acht, das wäre ein Jahr älter als sie jetzt. Der Gedanke, daß der Kleine einmal älter werden könnte als sie selbst, ärgerte sie, auch als sie sich sagte, dann bin ich sieben und vier gibt elf. Was brauchte der älter zu werden als sie.

»Fertig?« fragte sie ihn, als er immer noch dastand, sein Schwänzchen in beiden Händen, ohne daß etwas herauskam.

Kaspar nickte und packte es wieder in seine Hosen, Katharina machte ihm die Knöpfe zu und wischte sich dann die Hände nochmals im Gras ab.

»Das nächstemal sagst du’s früher«, tadelte sie ihn, und Kaspar nickte, als wäre er ganz woanders. Erst als Katharina ihrer Ermahnung noch ein unüberhörbares »Sauniggel!« folgen ließ, murmelte er: »Bin kein Sauniggel.«

»Doch«, gab Katharina zurück, »du hast mir über die Hände gebrünzelt.«

»Nein«, sagte Kaspar.

Das war der Gipfel. Der stritt einfach ab, was soeben passiert war. Katharina nahm seine rechte Hand, drehte sie um und schlug ihm eins drauf. So machte es Lehrer Wyss, aber mit einem Haselstecken oder einem Lineal.

Kaspar heulte auf. »Nicht hauen!« rief er.

»Nicht lügen«, sagte sie, »wenn du lügst, hau ich dich halt.«

Kaspar blieb steckköpfig. »Hab nur ins Gras gebrünzelt«, behauptete er.

Erbarmungslos nahm Katharina auch seine linke Hand und schlug ihm eins drauf, heftiger als das erstemal.

Da drehte sich Kaspar einfach um und begann den Weg hinunterzurennen, den sie soeben heraufgekommen waren.

Aufgebracht lief ihm Katharina hinterher. Zwischen zwei Mäuerchen holte sie ihn ein, packte ihn an der Kapuze, er warf den Kopf zur Seite, sie ließ nicht los, stolperte, stürzte zu Boden, und Kaspar mit ihr.

Beide waren so erschrocken, daß keines weinte.

Stumm rappelten sie sich hoch, und erst als Kaspar seine Schwester anschaute, begann er zu schreien.

»Blödian«, zischte sie, »dummer Blödian, du!«

Aber Kaspar zeigte auf ihr Gesicht und stammelte: »Kommt Blut!«

Katharina griff sich an die Stirne, wo sie ein Brennen spürte, und als sie die Hand zurücknahm, war Blut an ihren Fingern. Sie hatte beim Sturz mit dem Kopf eines der Mäuerchen gestreift.

Wieder mußte sie sich die Finger im Gras abwischen. »Das ist nur wegen dir«, sagte sie böse zu ihrem kleinen Bruder. Sie griff sich nochmals an die Stirn, und nochmals wurden ihre Finger blutig.

»Nicht wegen mir!« schluchzte er.

»Bleib stehen, wo du bist!« herrschte ihn Katharina an, »ich hole Schafgarbe.« Und sie ging ein paar Schritte dem Mäuerchen entlang, wo sie ein Büschel Schafgarben stehen sah. Sie riß ein paar Stengel aus und preßte sich die Blätter auf die Wunde.

»So«, sagte sie, als sie wieder bei ihrem Bruder war, »und jetzt gehen wir zum Grosi.«

Mit der linken Hand drückte sie die kühlenden Pflanzen auf die Stirne, mit der rechten packte sie die Hand ihres Bruders, der sich leise wimmernd in sein Schicksal ergab, und dieses Schicksal war es offenbar, daß er von seiner älteren Schwester durch einen furchtbaren Regen zu seiner Großmutter geschleppt wurde, die unendlich weit weg wohnte von dort, wo er zu Hause war. Dort, wo er zu Hause war, wollte ein Schwesterchen auf die Welt kommen. Und dort, wo er zu Hause war, fielen Felsblöcke herunter. Kaspar hoffte von ganzem Herzen, daß sie das neue Schwesterchen erschlagen würden, dann wäre alles wie immer.

Als sie am Heustadel vorbei waren, ertönte von weither ein Jodelruf.

Katharina blieb stehen. »Hörst du?« sagte sie zu Kaspar, »das Grosi. Es ruft uns. Komm, wir rufen zurück.«

Sie holte tief Atem und stieß einen langen Schrei aus, der hinten abfiel, wie wenn die Mutter jeweils zum Fenster hinausrief: »Heicho!« Kaum war er verklungen, antwortete die Stimme ihrer Großmutter mit einem ähnlichen Ruf.

Katharina lächelte. »Siehst du? Es hat uns gehört«, sagte sie zu Kaspar, der verständnislos in den nassen Nebel starrte. »Warum hast du nicht auch gerufen?«

»Wo ist das Grosi?« fragte Kaspar.

»Dort oben, in der ›Bleiggen‹«, sagte Katharina.

Kaspar sah keine »Bleiggen«, er sah nur einen viel zu steilen Weg, der durch eine Wiese ging und zwischen dunklen Bäumen verschwand, die so hoch waren, daß ihre Spitzen in den Wolken blieben.

»Komm«, sagte seine Schwester, »bald sind wir dort.«

Kaspar blieb nichts anderes übrig, als es zu glauben, und er faßte die Hand seiner Schwester neu, sie fühlte sich an wie ein Kieselstein aus dem Bach, durch und durch naß, und durch und durch kühl.

Kurz bevor sie bei den Bäumen waren, erleuchtete ein Blitz den düsteren Nachmittag. Er war so hell, daß beide Kinder die Augen zukniffen, und fast im gleichen Moment erzitterte die Luft von einem Donner, als ob eine Lawine von der »Bleiggen« herunterrollte.

Katharina beschleunigte ihre Schritte und zog Kaspar, der wieder zu weinen begann, hinter sich her. »Mußt keine Angst haben«, sagte Katharina zu ihm, »das ist nur ein Gewitter.«

Sie selbst zitterte vor Angst. Letztes Jahr war Afra Bäbler aus der vierten Klasse vom Blitz getötet worden, als sie auf der Falzuber-Alp ihre Ziege suchte. Die Männer, die sie auf einem Holzschlitten ins Tal hinunterbrachten, hatten in der »Meur« Halt gemacht und etwas getrunken, und draußen war Afra auf dem Schlitten gelegen, mit Seilen festgebunden und ganz in eine Wolldecke gehüllt, daß man ihr Gesicht nicht sehen konnte. Bei der Beerdigung hatte die ganze Klasse am Grab »Rosine goht in Garte und bricht drü Blüemli ab« gesungen, das Lied, wo ihr in der dritten Strophe Jesus begegnet und sie mit in den Himmel nimmt, und den Eltern nur ein Brieflein schreibt, Rosine sei im Himmel wohl amene schönen Ort. Aber Katharina konnte nicht singen damals, weil sie weinen mußte, sie begriff nicht, wie man noch singen konnte, wenn jemand gestorben war, und Kinder durften sowieso nicht sterben.

Jetzt hatten sie die ersten Bäume erreicht und blieben keuchend stehen. Eine Kuhglocke bimmelte, aber wo war die Kuh?

»Hier warten wir«, sagte Katharina.

»Will heim«, sagte Kaspar.

»Kannst denken«, entgegnete Katharina.

»Hab Angst.«

»Dummer Bub«, sagte Katharina, »es ist nicht mehr weit.«

Wie froh war sie, daß sie jemanden beschützen mußte. Allein wäre sie vor Furcht verzweifelt.

Ein zweiter Blitz riß die Wolken auf und blieb die längste Zeit am Himmel stehen. Er spaltete das Tal in zwei Hälften und endete im Sernf. Der Donner war so gewaltig, als käme er gleichzeitig von beiden Abhängen des Tales.

Kaspar hörte nicht auf zu weinen.

Katharina wollte ihn ausschimpfen und musterte in Gedanken ihre übelsten Wörter für einen solchen Fall, Angsthase, Hosenscheißer, Brüelibueb, Grännitante, Chuefüdli, aber auf einmal besann sie sich anders, setzte sich mit ihm zusammen auf einen Baumstrunk und sagte: »Komm, ich erzähl dir eine Geschichte.«

Und während am Himmel Blitze wie böse Spinnennetze erschienen und sich ein Donner nach dem andern durch das Tal wälzte, erzählte sie ihrem kleinen Bruder die Geschichte von der Sintflut, die sie am letzten Sonntag in der Kinderlehre gehört hatte, wie Gott keine Freude mehr hatte an den Menschen, weil sie so böse waren, und wie er beschloß, es regnen zu lassen über der Erde, damit alles ertrank, wie es ihn aber doch ein bißchen reute und er Noah warnte und ihm befahl, er solle eine Arche bauen, ein großes Schiff, und von allen Tieren ein Pärchen mit hineinnehmen, und seine Frau und seine drei Söhne mit ihren Frauen solle er auch hineinnehmen, und wie sich dann die Fenster des Himmels öffneten und es vierzig Tage lang regnete, vierzig Tage, so lang, und wie alle untergingen, alle, Menschen und Tiere, nur Noah blieb übrig, mit seiner Familie und allen Tieren, in seiner Arche, die auf dem Wasser schwamm.

Und Kaspar weinte nicht mehr und hörte seiner Schwester zu, die in ihren Schilderungen immer ausführlicher wurde, je länger das Gewitter dauerte, und ihm erzählte, wie auch von Glarus her ein See das Tal heraufgekommen sei und alles zu überschwemmen begann, zuerst Engi und Matt und dann Elm, und wie die Murmeltiere aus ihren Löchern krochen und mit den Gemsen und Steinböcken die Berge hinaufflohen, gegen das Martinsloch, und wie sie am Schluß alle noch auf den Gräten standen und die Murmeltiere laut und heftig pfiffen, bevor sie der große See überspülte und verschlang.

Als sie erzählte, wie alle Tiere ertranken, fragte Kaspar: »Und die Fische?«

Diese Frage verwirrte Katharina. Darüber hatte Pfarrer Mohr nichts berichtet.

»Die Fische«, sagte sie, »die Fische hatte der liebe Gott eben gern, darum sind sie nicht ertrunken. Und außerdem konnten sie ja schwimmen.«

Mit dieser Erklärung war sie nicht zufrieden. Wieso sollte der liebe Gott die Fische lieber haben als die Murmeltiere? Eigentlich müßte sie dies den Pfarrer fragen, aber die andern würden sie bestimmt auslachen.

Als sie bei der Stelle war, wo die Arche auf dem großen Wasser schwamm, mit Noah und allen Tieren, die gerettet waren, hörte sie auf zu sprechen.

»Und dann?« fragte Kaspar.

»Ich weiß nicht«, sagte Katharina, »der Pfarrer hat uns nur bis hierher erzählt, am Sonntag erzählt er, wies weitergegangen ist.«

Auf einmal stand die Großmutter vor ihnen, unter einem schwarzen Schirm.

»Kind, ist etwas passiert?« fragte sie, als sie Katharinas Wunde erblickte.

Nein, sagte Katharina, sie sei nur umgefallen auf dem nassen Weg. Als sie nach oben schaute, sah sie am Hang eine Kuh, und zuoberst das Haus in der »Bleiggen«.

Dann nahm die Großmutter sie bei der Hand, und Katharina nahm Kaspar bei der Hand, und unter dem mächtigen Schirm stiegen sie die steile Wiese hinan, während sich das Gewitter grollend talabwärts verzog.