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Da saßen sie am Küchentisch in der »Bleiggen«, die Großmutter, Katharina und Kaspar. Beide Kinder hatten eine Kachel mit dampfendem Kräutertee und ein Stück Birnenbrot vor sich. Katharina hatte das ihre schon fast gegessen, während Kaspar nur einen einzigen Bissen genommen hatte, an dem er immer noch kaute.
Die zwei waren so naß geworden, daß ihnen die Großmutter alle Kleider ausgewechselt hatte. In ihren Schränken lagen noch einige Kinderkleider, als hätten sie all die Jahre auf nichts anderes als auf durchnäßte Enkel gewartet. Die Großmutter freute sich, als sie sah, daß sie paßten. Katharina hatte einen blauen Rock bekommen, der nach Lavendel roch, und darüber ein graues Strickjäckchen. Das Hemd für Kaspar war zwar ein bißchen zu groß, es war eins, das sein Vater getragen hatte, bis er in die Schule kam.
Die Pelerinen hingen im Eingangsraum neben der Türe zum Abtropfen, und die andern Kleider hatte das Grosi neben den großen Schieferofen in der Stube gehängt, von dem eine sanfte Wärme ausging.
»Fast wie der Schaaggli sitzest du da«, sagte die Großmutter, nachdem sie Kaspar die Ärmel etwas nach hinten gerollt hatte.
Der Vater von Katharina und Kaspar hieß Jakob. Warum, dachte Katharina, hörte sie diesen Namen nie? Ihre Mutter sagte »Ätti« zu ihm, genau wie Katharina und ihre Geschwister, die Männer im Dorf nannten ihn Joggli oder Meurjoggli, und die Großmutter sprach vom Schaaggli. Einmal hatte sie gehört, wie die Mutter »mis Böckli« zu ihm sagte, murmelte eher, als die beiden nachts aus der Gaststube die Treppe heraufkamen und Katharina schlaflos unter der Türe stand. Aber wenn man nicht gewußt hätte, daß er Jakob hieß, man hätte es nicht gemerkt. Auch zu ihr sagte niemand »Katharina«. Kathrine oder Kathrinli riefen die andern, und vor allem das zweite hatte sie je länger, je weniger gern. Warum -li? War sie nicht eine Zweitkläßlerin? Und verlangte man nicht Dinge von ihr, die man sonst von den Großen verlangte? Oder wann war wohl ihre Schwester Anna zum letztenmal in einem Gewitter zur »Bleiggen« hinaufmarschiert und hatte wie eine Kindsmagd einen ihrer kleinen Brüder mitgeschleppt? Da war es ihr immer noch lieber, wenn ihre Mutter oder das Grosi sie »Didi« nannten, das war schon fast wie ein anderer Name, und sie wußte auch nicht, woher er kam.
Aber eigentlich hieß sie Katharina, und sie war stolz auf diesen langen und schönen Namen, den sie auch auf ihre Schiefertafel geschrieben hatte, mit der sie zur Schule ging. Wenn sie einmal eine Frau war, würde sie verlangen, daß man sie mit »Katharina« ansprach, und wenn einer käme und sie küssen wollte, hinter dem Haus, wie der Hans-Kaspar die Anna, dann würde sie sagen, nur wenn du »Katharina« zu mir sagst.
»Und die Kathrin, wie geht’s ihr?« fragte die Großmutter.
Katharina erschrak und überlegte einen Moment. Mit Kathrin war ihre Mutter gemeint.
»Sie läßt dich grüßen«, antwortete sie, »und Anna auch.«
»Und wie geht’s ihr?« fragte die Großmutter nochmals.
»Nicht so gut«, sagte Katharina zögernd, »sie ist im Bett und muß schnaufen.«
»Und wer schaut nach ihr?«
Katharina erzählte ihr, daß Regula die Hebamme gerufen hatte und daß diese am Abend in die »Meur« gehen wolle.
»Gottlob«, sagte die Großmutter, »hoffentlich ist’s bald soweit, dann kann sie wieder auf und an die Arbeit«, und dann wandte sie sich unvermutet Kaspar zu mit der Frage: »Freust du dich auf das Geschwisterchen?«
Kaspar nickte vorsichtig. Er hatte gemerkt, daß sich hinter dieser Frage eine Gefahr versteckte.
»Kaspar will ein Brüderchen«, sagte Katharina.
»Und du?« fragte die Großmutter.
»Ich lieber ein Schwesterchen.«
Die Großmutter stand auf und ging zur Küchentür. »Hast du gehört?« rief sie ins Treppenhaus, »die Hebamme geht heut schon zur Kathrin!«
Als Antwort kam von oben das Jammern eines Säuglings, und gleich darauf die beschwichtigende Stimme einer Frau, worauf der Säugling verstummte. »Die säuft wie ein Kälblein!« rief die Stimme, und dann war es wieder still. Die Großmutter schloß die Tür. Im Ofen knisterte das Holz. Irgendwo in der Ferne krachte es.
Kaspar hörte auf zu kauen. Tränen liefen über sein Gesicht.
»Mußt keine Angst haben, Bub«, sagte die Großmutter und strich ihm mit der Hand über den Kopf, »das Gewitter ist vorbei.«
Kaspar weinte fast unbewegt vor sich hin.
»Bist ja beim Grosi«, fuhr die Großmutter fort, »iß dein Birnenbrot und trink deinen Tee.«
Aber der Vierjährige hatte eine ganz andere Sorge, die stieg in ihm hoch wie die Sintflut das Tal herauf, und Tee und Birnenbrot ertranken darin.
»Was hast du nur?« fragte die Großmutter, »sag’s doch dem Grosi.«
Kaspar schüttelte den Kopf. Nichts wollte er sagen, nichts.
Die Großmutter wandte sich zu Katharina: »Weißt du, was er hat?« fragte sie.
Katharina zuckte die Achseln. »Der hört dann schon wieder auf«, sagte sie.
Aber Kaspar weinte weiter. In seinem Ohr ertönten die Stimmen seiner Großmutter und seiner Schwester, und er verstand, was sie sagten, doch es war, als stünden sie vor der Haustüre, und drinnen, wo er saß, hatte er noch ein zweites Ohr, und in diesem Ohr hörte er seine Schwester sagen: »Schon wieder ein Felsbrocken, der auf unser Haus fällt.« Und vor seinen Augen verloren die Teetasse und das Birnenbrot und der Tisch ihre festen Umrisse, aber er hatte noch ein zweites Augenpaar, und diese zweiten Augen hatte er schon lange geöffnet, und sie zeigten ihm einen schweren Felsen, der auf das Haus niederfuhr, in dem er wohnte, und der alles kaputt machte, was er gerne hatte, und es war nicht nur das Bett, in dem er mit Katharina und Jakob schlief, und das Schaukelpferd, um das er sich mit Katharina stritt, sondern es war auch Züsi, die Katze, und es war, und hier machte Kaspar seine zweiten Augen zu, aber er sah es trotzdem – der Felsblock war groß genug, um auch den Ätti und die Mama und Jakob und Regula und Anna zu zerdrücken, er sah nur noch einen Schuh vom Ätti und den Arm von Anna aus dem zerquetschten Haus herausschauen. Und da sollte er Tee trinken und Birnenbrot essen?
»Er ist eingeschlafen«, sagte die Großmutter.
Katharina warf einen Blick auf ihren Bruder. Sein Kopf war auf das Birnenbrot gesunken wie auf ein Kopfkissen, und die braune süße Birnenmasse begann langsam hervorzuquellen und von der Wange gegen die Haare zu kriechen.
Katharina wollte ihm den Kopf an den Haaren hochheben, um das Birnenbrot darunter hervorzuziehen, aber die Großmutter griff nach der Hand des Mädchens und legte sie auf den Tisch zurück.
»Laß ihn«, sagte sie leise, »es war eben weit für ihn.«
Dann stand sie auf und sagte: »Komm mit, du kannst mir helfen, ihn ins Bett zu tun, ich trage ihn nach oben in den Schlafgaden.«
Sie bückte sich, schob ihren rechten Arm unter den Beinen des kleinen Schläfers durch, führte den linken unter seine Achsel und hob ihn sorgfältig von der Küchenbank.
Katharina war schon aufgestanden und hatte die Tür zum Vorraum geöffnet, dessen Kälte sie erschauern ließ.
Die Großmutter trat vorsichtig über die Schwelle, und Katharina schloß die Küchentür hinter ihr. Als sie ihrer Großmutter zur Treppe folgte, streifte sie mit der Schulter eine der beiden nassen Pelerinen und erschrak, es war ihr, als griffe jemand nach ihr oder als hätte ein unbekanntes Tier sie berührt.
Sie hielt sich dicht an die Großmutter, unter deren Tritt jede Treppenstufe knarrte. Wenn Katharina auf dieselbe Stufe trat, hörte sie kein Knarren. Sie war zu klein, um die Treppen zum Knarren zu bringen. Irgendeinmal würde sich das ändern. Irgendeinmal, dachte Katharina, wird jede Treppe knarren, über die ich steige, und jedes Haus wird laut knarren, das ich betrete, ja die Häuser werden schon knarren, wenn ich nur auf sie zugehe. Keine nasse Pelerine wird es wagen, mich anzulangen. Dann heiße ich Katharina und bin jemand.
»Schläft die Didi?« fragte die Frauenstimme zur halb offenen Türe heraus.
Sie waren im oberen Stock angekommen.
»Nein, der Kaspar«, gab die Großmutter zur Antwort, »machst du mir die Tür auf, Kathrin? Die da«, fügte sie mit einer Kopfbewegung hinzu und zeigte auf die Türe neben derjenigen, hinter welcher die Frauenstimme saß.
Katharina drückte sich an der Großmutter vorbei und stieß die Tür zu ihrem Schlafgaden auf. Drinnen war es fast noch kälter als im Treppenhaus. Neben einem Schrank stand ein großes Bett mit einer breiten Bettdecke und zwei Kopfkissen.
»Schlag mir die Decke auf«, sagte das Grosi, immer im selben leisen Ton, als hätten sie ein Geheimnis zusammen.
Katharina gehorchte, die Großmutter legte Kaspar auf das Barchentleintuch und zog ihm die Hosen aus.
»Unsere Schlafgewänder sind noch unten«, sagte Katharina.
»Das macht nichts«, sagte die Großmutter, »er kann im Hemd schlafen.«
Sie deckte Kaspar zu, und als ihn Katharina schlafen sah, freute sie sich plötzlich auf das Bett. Es war größer als ihres zu Hause – oder schien es nur so, weil sie das ihre nicht nur mit dem kleinen Bruder, sondern auch noch mit Regula und Jakob teilen mußte? Sie trat zum Fenster und blickte hinaus, aber draußen war es so verhangen, daß man nur die Bäume sah, die am nächsten beim Haus standen, und dahinter ballte sich das graue Nichts.
Katharina war ein bißchen stolz, daß sie ihren Bruder allein hier heraufgebracht hatte, wie der Bergführer Elmer seine Engländer auf den Hausstock. Kürzlich hatte er in der Wirtsstube damit geprahlt, daß er mit zwei Engländern bei schlechtem Wetter den Hausstock bestiegen habe, er hätte ihnen zugeredet, sie sollten auf besseres Wetter warten, sonst sähen sie gar nichts, aber die zwei wollten unbedingt hinauf, und dann seien sie eben gegangen und hätten gar nichts gesehen, es sei sogar ein solcher Nebel gewesen, daß er sich um ein Haar selbst verirrt hätte auf dem Meergletscher.
»Komm, Kathrinli«, sagte die Großmutter halblaut. Sie stand schon unter der Tür, mit der Klinke in der Hand.
Katharina ging an ihr vorbei und blieb dann vor der Tür zum offenen Zimmer stehen.
»Grüß dich, Didi«, sagte die Frau, die auf der Bettkante saß und ihrem Säugling die Brust gab.
»Grüß dich, Bäsi«, murmelte Katharina und schaute auf die Brust der Frau, an welcher das Kind mit weit aufgerissenen Augen saugte. Es war deutlich größer als Kleopheas Kleines, das sie vorhin gesehen hatte, und Bäsis Brust war noch größer als die Brust Kleopheas, und die war schon groß gewesen.
Die Base wohnte hier, bei der Großmutter, und ihr Mann war der Vetter. Er war aber nur der Vetter für Katharina, sonst hieß er Paul. Neben ihm wohnten noch zwei Vettern hier, Johannes und Fridolin. Vetter und Base hieß man, wenn man der Bruder oder die Schwester vom Vater oder der Mutter war, oder auch die Frau des Bruders vom Vater oder der Mutter. Katharina war nicht sicher, welcher Fall genau auf das Bäsi zutraf, das vor ihr saß und nun zu ihr sagte: »Bist eine Tapfere, hast den ganzen Weg durch den Regen gemacht.«
Auf Katharinas Gesicht erschien ein Lächeln.
»Das war ja ein Donnerwetter wie schon lang nicht mehr«, fuhr das Bäsi weiter, indem es mit Daumen und Zeigefinger seine Brust quetschte, worauf der Säugling laut aufschmatzte. »Hast du keine Angst gehabt?«
Diese Frage gefiel Katharina nicht.
Natürlich hatte sie Angst gehabt, und ohne den kleinen Kaspar, den sie beschützen mußte und der sich noch viel mehr fürchtete, wäre sie gestorben vor Angst.
Aber wer zugab, daß er Angst hatte, wurde gewöhnlich ausgelacht. Angsthase war eines der bösesten Schimpfwörter unter den Kindern, und eigentlich auch unter den Erwachsenen. Hatte nicht gestern abend derselbe Bergführer Elmer, der Mann der Hebamme also, in der Gaststube zu Beat Rhyner gesagt, er sei ein Schißhase? Und der war aufgestanden und hatte dem andern zurückgegeben, die Gemsen, die er schieße, hätten mehr Verstand als er, denn sie seien so weit oben wie seit Jahren nicht mehr um die Zeit, und er solle die mal fragen gehen, ob sie Schißhasen seien oder was.
Die Männer hatten sich über die Felsblöcke gestritten, die den Hang herunterkamen, ob das etwas zu bedeuten habe oder nicht.
Katharina kannte Beat Rhyner gut, er wohnte auch in der »Meur«, im hinteren Teil, er war Bannwart und einen Kopf größer als ihr Vater, und er war sicher kein Angsthase. Aber Beat Rhyner hatte auch nicht gesagt, er habe Angst, sondern hatte alles auf die Gemsen geschoben. Seine Frau war die Barbara, und sie hatten fünf Kinder, gleich viel wie sie, aber jetzt wären es dann bald nicht mehr gleich viel, wenn die Mutter das sechste zur Welt bringen würde. Vielleicht kam ja bei Rhyners auch noch mal eins auf die Welt, das konnte man nie im voraus wissen, dann hätten beide Familien wieder gleich viel Kinder. Hoffentlich war die Hebamme inzwischen bei der Mutter.
»Hast du keine Angst gehabt?« fragte Bäsi nochmals. Ihr Kind hatte aufgehört zu saugen und lag mit geschlossenen Augen in ihrem Arm.
Katharina hob den Kopf, schaute die Frau mit dem schlafenden Säugling an und sagte: »Doch.«