37812.fb2 Die Steinflut - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

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Katharina saß zuunterst am langen Tisch in der Küche, oder war es zuoberst, neben ihrer Base, und hörte zu, wie die Vettern stritten.

Sie saßen ihr gegenüber, Paul war der älteste, aber auch der kleinste von allen, er war sogar etwas kleiner als seine junge Frau, das war Katharina aufgefallen, als die beiden zusammen zur Küchentür hereinkamen. Er hatte krauses Haar und listige Augen. Er sprach schnell, und Katharina traute ihm nicht ganz, wie allen, die gern Witze machten. Wer einen Witz machte, sagte nicht das, was er meinte, und Katharina fürchtete immer, er sage das, was er meine. Wie sollte sie sofort merken, ob ihr ein Schmied ein Hufeisen an die Ferse nageln wollte oder ob ein Vetter vielleicht einen Sennenhund auf sie losließ?

Johannes hingegen war groß, bedächtig und gutmütig. Er sprach langsamer als Paul, bei ihm war sie sicher, daß er das meinte, was er sagte. Auch er hatte krauses Haar, aber ein breiteres Gesicht und eine große Nase, und seine Lippen standen immer ein bißchen offen, auch wenn er nichts sagte.

Fridolin war der einzige von den dreien, der einen Schnurrbart trug. Seltsam, daß auch er krauses Haar hatte, denn das Haar der Großmutter war ganz glatt, sie hatte es nach hinten gekämmt und dort zu einem Zopf geflochten, der wie eine zusammengerollte Schlange auf ihrem Hinterkopf lag. Katharina wußte nicht, wie alt die Großmutter war, sie wußte nur, daß sie noch viele Söhne und Töchter hatte, viel mehr als ihre Eltern, und eigentlich müßte eine solche Frau schon längst graue Haare haben, wie die alte Elsbeth im Haus neben der »Meur«, aber Grosis Schlangenzopf war braun und kräftig, und ihre Haut war zwar etwas runzlig, aber sie hatte eine Farbe wie frisches Birnenbrot.

Fridolin schaute, wenn er redete, immer ein bißchen nach oben, als blicke er in die Berge. Gerade hatte er erzählt, wie er heute zu einem Taglohn gekommen war, obwohl die Schieferwerke, in denen er arbeitete, gestern wegen der Steinschlaggefahr geschlossen wurden. Er hatte den Leuten von der Wirtschaft »zum Martinsloch«, die genau unter dem Steilhang des Plattenbergs stand, geholfen, ihre Sachen auf ein Fuhrwerk zu tragen und damit nach Matt zu Verwandten zu fahren. Dort hatten sie Kästen, Truhen, Betten, Tische und Stühle in eine Scheune gestellt, bis das Gröbste vorbei sei, wie Fridolin sagte.

Die seien ja nicht bei Trost, fand Paul, das Gröbste sei doch längst vorbei, und wegen der paar Steine mache man wohl nicht einen Gasthof zu, jetzt gehen halt alle, die eins trinken wollen, in die »Meur«, das kommt dann deinem Vater zugut, gell, Didi, der ist nicht so ein Angsthase und fährt Knall auf Fall nach Matt, wenn’s am Berg oben ein bißchen rumpelt.

Katharina nickte nur. Schon wieder tauchte dieses Wort auf, an dem sie keine Freude hatte. War man wirklich ein Angsthase, wenn man nicht von einem Stein getroffen werden wollte? Was mußte man denn sein, wenn man kein Angsthase sein wollte? Ein Muthase? Katharina kam kein passendes Wort in den Sinn für jemanden, der sich unten an eine Wand stellte, aus der Steine herunterfielen.

Nun entgegnete Fridolin seinem Bruder, das Gegenteil sei der Fall, und nicht bei Trost wären die Wirtsleute, wenn sie bleiben würden, denn vorgestern sei es ja vom Gelben Kopf heruntergekommen und hätte die halbe Rütiweid zugedeckt, daß sogar der Gemeinderat hinaufgegangen sei, und gestern um fünf habe es einen solchen Knall gegeben, als schieße General Suworow aus der größten Kanone auf die Franzosen, und was da den Berg herabgekugelt sei, habe die halben Schiefermagazine kaputt gemacht, ein Glück, daß es keinen von ihnen getroffen habe, und beim »Martinsloch« sei ein Felsen direkt hinters Haus gefallen, so daß die Fensterscheiben zersprungen und die Hirschgeweihe von den Wänden gefallen seien, und der nächste Brocken könne mir nichts dir nichts auf das Hausdach fallen, da sei noch genug Ware oben.

Jetzt drehte sich Johannes zu ihm und fragte ihn, warum er denn noch weiter im Schiefer arbeite, wenn es so gefährlich sei.

Wo er denn sonst arbeiten solle, fragte Fridolin und blickte zu seinem und seiner Brüder Schatten, die durch die Talglichter auf dem Tisch wie eine Bergkette an die Wand geworfen wurden. »Viereinhalb Franken am Tag«, sagte er, »wo verdiene ich das. Etwa in deiner Schreinerei?«

Im Moment, sagte Paul, verdiene er offenbar gar nichts am Tag, wenn die von der Gemeinde nichts besseres wüßten, als den Schieferbruch zu schließen.

Die von der Gemeinde wüßten schon, was sie machen, sagte Fridolin, und morgen gehe eine Kommission an den Hang hinauf, um nachzusehen, was los sei.

Wer denn dabeisein werde, bei dieser Kommission, fragte Paul spöttisch.

Er habe gehört, sagte Fridolin, der Bergführer Elmer werde mitgehen.

»Der Peter?« fragte Johannes erstaunt.

Nein, der Heiri, und ein Gemeinderat, und dann sicher noch jemand vom Kanton.

»So, so, vom Kanton«, sagte Paul, »und wer wohl?«

Das wußte Fridolin nicht, und einen Augenblick lang schwiegen sie und schauten auf ihre Tassen, auf ihre Teller mit den Käserinden und die leere Schüssel, in der die Kartoffeln gewesen waren.

»Der Förster Seeli«, sagte Katharina.

Alle Köpfe drehten sich zu ihr, die Bergkette an der Wand schwankte, die Gipfel neigten sich zur Seite, als stürzten sie im nächsten Moment ein.

»Woher willst du das wissen, Kind?« fragte das Grosi.

Diesen Namen hatte ihr Nachbar, der Bannwart, heute mittag dem Vater in der Gaststube genannt, und Katharina hatte so lange gelacht, bis sie der Vater zurechtgewiesen hatte, denn sie begriff nicht, daß jemand so heißen konnte, und erst noch ein Förster, sie stellte sich einen kleinen See vor, der durch den Wald wanderte und zwischen den Bäumen durchflutschte.

Erneut mußte sie ein bißchen lachen und sagte den zugewandten Köpfen, woher sie den Namen hatte.

»Schau, schau, die Didi«, sagte Paul und nickte, und dann sagte er zu seinem jüngsten Bruder, wenn es dem Seeli und seinen Kumpanen einfallen sollte, die Schieferwerke zu schließen, könne er ihm ja beim Emden helfen.

Was er bezahle, gab Fridolin sofort zurück. – Ein Viertel, sagte Paul. – Roten oder Weißen? Das sei wohl nicht sein Ernst – Nein, ein Viertel des Schieferlohnes, mehr könne er nicht geben, und er gehöre schließlich zur Familie und wohne auch hier – dafür gebe er der Mutter ja ein Kostgeld ab – aber davon habe er nichts, und so ging es hin und her, bis Johannes seinem Bruder die Hand auf die Schulter legte und sagte, er könne auch zu ihm in die Schreinerei kommen, sie könnten einen Handlanger brauchen, und er denke, er kriege dort die Hälfte des Schieferlohnes, auf jeden Fall mindestens 2 Franken.

Katharina hatte den Verdacht, das sei nicht ganz die Hälfte, 2 Federn kosten 4 Rappen, was kostet 1 Feder, das war die Art von Rechnungen, und bei viereinhalb müßte man einhalb auch durch zwei teilen, aber das konnte sie noch nicht.

Ob sie dem Zentner sein Haus neu täfern müßten oder wieso sie auf einmal zu wenig Leute hätten, fragte Paul.

Nein, erwiderte Johannes, es gehe um etwas anderes.

»Worum denn?« fragte Fridolin.

»Um das Sarglager«, sagte Johannes. Der Meister habe festgestellt, daß sie fast keine Särge mehr hätten, und sie sollten immer von jeder Größe ein paar auf Vorrat haben, man wisse nie, wann man den nächsten benötige. Letzte Woche hätten sie gleich zwei Säuglingssärge gebraucht, als der Elmer Luise die neugeborenen Zwillinge kurz hintereinander gestorben seien, und jetzt seien die Kindersärge ausgegangen, ganz zu schweigen von denen für Dicksäcke oder Bohnenstangen, fügte er mit schwerem Lachen bei.

Pauls schnelles Lachen kam hinzu, Fridolin lächelte abwesend, die Großmutter schüttelte mißbilligend den Kopf, und die Base sagte: »Aber Johannes.«

Katharina lachte nicht mit. Beim Wort »Kindersärge« war sie zusammengezuckt. Sie sah wieder das Grab von Afra Bäbler vor sich, und dann dachte sie, daß ein Säuglingssarg höchstens halb so groß war wie ein Kindersarg. Der Schreiner kauft für einen Kindersarg Bretter von 5 Fuß Länge. Er halbiert sie für einen Säuglingssarg. Wie lang wird der Säuglingssarg? Rechne Fuß und Zoll in die neuen Maße um. Und auf einmal war sie wieder im Zimmer bei ihrer heftig atmenden Mutter. Was, wenn das Kleine sterben würde, gleich nach der Geburt? Müßte ihm dann Johannes ein Särglein schreinern? Mit Fridolin als Handlanger? Sie nahm sich vor, beim Nachtgebet ganz fest dafür zu beten, daß das Kind gut auf die Welt kam und mit ihnen aufwachsen konnte, damit es auf keinen Fall ein Särglein brauchte und stark genug wurde, um später mit Kaspar auf die »Bleiggen« zu gehen, wenn das nächste auf die Welt käme.

Nero bellte, man hörte die Kette rasseln, und eine Männerstimme sprach ihm ruhig zu, worauf er still wurde. Es klopfte, die Tür in den Vorraum ging auf, und die Stimme rief: »Ich bin’s!«

»Komm herein!« rief die Großmutter, ohne aufzustehen. Sie schien zu wissen, wer hier »Ich« sagte.

Die Küchentür öffnete sich, und ein junger Mann stand da, der sie fast ganz ausfüllte und einen gewaltigen Schatten über die Decke warf. Jetzt erkannte ihn auch Katharina. Es war Hans-Kaspar, der ihre Schwester nachts hinter dem Haus geküßt hatte. Er wohnte im Nachbarhaus in der »Bleiggen«.

»Setz dich«, sagte die Großmutter, und sie und Margret, die nebeneinander saßen, rückten näher zu Katharina.

Hans-Kaspar nahm neben der Großmutter Platz, und diese schenkte ihm eine Tasse Tee ein. »Wer will sonst noch?« fragte sie. Katharina schob ihre Tasse gegen die Tischmitte, und sie wurde ihr noch einmal gefüllt. Zu Hause gab es für die Kinder immer nur eine Tasse. Die Großmutter nahm auch die Tasse der Base und füllte sie nach. »Trink, Margret«, sagte sie und gab sie ihr zurück, »damit das Kind zu trinken hat.«

Paul stand auf, ging zum Schränklein neben dem Herd, nahm eine Flasche und ein paar kleine Gläser heraus, stellte alles auf den Tisch, öffnete die Flasche und schenkte dann vier Gläser ein. Ein scharfer Geruch kitzelte Katharinas Nasenflügel, ein Geruch, den sie gleichermaßen liebte wie verabscheute. Sie liebte ihn, weil er auf eine seltsame Art nach Kräutern roch, und sie verabscheute ihn, weil die Männer meistens zuviel davon tranken und dann laut und bösartig wurden.

Die vier Männer hoben die Gläser und tranken einen Schluck.

Dann fragte die Großmutter den neu Eingetretenen: »Was gibt’s?«

Der sagte, er käme grad von der »Meur«, er solle sie alle grüßen, und die Hebamme sei bei der Kathrin und bleibe über Nacht, sie meine, das Kind könne von einer Stunde auf die andere kommen.

»Gut, daß sie dort ist«, sagte die Großmutter, »gell, Margret?«

Margret nickte. Bei ihr war die Hebamme zu spät gekommen, vor einem halben Jahr, weil alles so schnell ging, und als sie auf der »Bleiggen« eintraf, war die kleine Anna schon da, und die Großmutter hatte ihr geholfen dabei, mit dem Pressen und dem Herausziehen und der Nabelschnur, dem Blut und dem heißen Wasser, als hätte sie das ein Leben lang gemacht.

»Heut nacht wollen wir für sie beten«, sagte die Großmutter und blickte mahnend in die Runde. Einen Moment lang sagte niemand etwas. Katharina erschrak, weil sie merkte, daß sie nur für das Kindlein hatte beten wollen, aber natürlich war die Mutter gerade so wichtig, ja viel wichtiger, es wäre schlimmer, wenn der Mutter etwas passierte als dem Kindlein, denn das kannte sie ja noch gar nicht.

»Und die Anna hat wohl nur dich gegrüßt?« fragte Paul, worauf alle drei Vettern vielsagend lachten. Katharina glaubte Hans-Kaspar erröten zu sehen. Er antwortete jedenfalls nicht auf die Frage, sondern sagte nur, er sei nachher noch im Gasthof Elmer gewesen, und morgen gehe eine Kommission den Plattenberg hinauf, und ob sie schon wüßten, wer dabei sei.

»Der Förster Seeli«, sagten alle wie aus einem Mund.

Hans-Kaspar war erstaunt. Woher sie das wüßten, fragte er.

Paul wies mit dem Kopf auf Katharina und sagte: »Von unserer Ältesten.«

Wieder erfüllte ein mehrstimmiges Lachen den Raum, und die Bergkette an der Wand erzitterte. Endlich ein Witz, den Katharina sofort verstand. Sie war ja gar nicht die Älteste am Tisch, sondern die Jüngste. Hörbar und schnell kicherte sie mit, und die Männer tranken nochmals einen Schluck.

Wer denn sonst noch dabei sei, fragte Paul den etwas enttäuschten Nachbarn.

Heiri Elmer, der Bergführer, Samuel Freitag, der Gemeinderat, und der Kreisförster Marti.

Was, rief Paul, der Marti, der komme doch aus Matt, und den Elmern brauche sicher nicht einer aus Matt zu sagen, was sie zu tun hätten.

»Lauter Förster«, murmelte Fridolin, »hoffentlich verstehen die auch etwas von den Steinen.«

Bäume gäbe es jedenfalls genug dort oben, sagte Johannes, die liegen ja schon kreuz und quer, das sehe man von hier aus, und wenn die nur jemand holen würde, das gäbe Särge für das ganze Dorf.

Er solle aufhören mit seinen Särgen, sagte die Großmutter, sie wollten jetzt an etwas Fröhlicheres denken.

»Also denken wir an den Kantonsförster«, schlug Paul vor, und fuhr weiter, zu Hans-Kaspar gewandt: »Ist er denn schon da?«

Ja, sagte dieser, er sei vor einer Stunde eingetroffen und im Gasthof Elmer abgestiegen.

Nun, sagte Fridolin, dann gelte es wohl ernst, das heiße wohl auch, daß morgen immer noch nicht gearbeitet werde im Schieferwerk, oder?

Ja, bestätigte Hans-Kaspar, und das habe er ihm eben auch noch sagen wollen.

»Also, dann komme ich mal«, sagte Fridolin zu Johannes und kraulte sich in seinem Schnurrbart, »dann komme ich mal zu dir und deinen Särgen.«