37812.fb2 Die Steinflut - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

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Schaudernd lief Katharina in ihrem Nachthemd vom Abort, der sich am hinteren Ende des Vorraums befand, zur Treppe, schaudernd vor Kälte und schaudernd vor Angst. Sie haßte dieses Loch, auf das man sich setzen mußte, um das Wasser abzulassen; sobald man den schweren Deckel davon abgehoben hatte, stiegen ekle Gerüche wie böse Geister aus einem finstern Verlies herauf, und ein kalter Windhauch leckte einem den Hintern. Meistens war der Rand des Lochs noch feucht oder sogar unrein, vom letzten, der darauf gesessen hatte, und man mußte sich mit einem Tüchlein abputzen, das neben dem Loch lag und das meistens auch nicht sauber war. Zu Hause war es noch schlimmer als hier, denn dort benutzten die Wirtshausgäste denselben Abort wie sie und Rhyners, und Katharina wußte noch gut, wie sie einmal in die Hosen gemacht hatte, weil einer zu lange draufsaß. Sie sollten, hatte ihnen Lehrer Wyss eingeschärft, nachher immer die Hände am Brunnen waschen. Das galt jedoch nur bei einer der beiden Verrichtungen, bei derjenigen, die sie zu Hause die dicke Tante nannten. Jetzt war Katharina bei der dünnen Tante, aber sie hatte eine solche Angst, daß sie zu früh wieder aufstand und noch auf den Rand des Lochs pißte. Im Dunkeln fand sie kein Tüchlein, um das Holz zu säubern, legte den Deckel rasch wieder auf die Öffnung, um die Stinkgeister zu bannen, und huschte in den Vorraum.

Die Tür zur Küche, hinter der sich die Stimmen der Männer balgten, stand noch offen, davor lag ein Lichtstreifen wie ein durchsichtiger Teppich auf den Dielenbrettern und erhellte den steilen Weg zum Schlafgaden.

Als sie die Treppe hinaufging, hörte sie unter sich ganz leise die Stufen knarren und war stolz darauf. Sie mußte eben allein darauf treten, dann merkte die Treppe schon, wer sie war. Aber ein bißchen gruselte es sie auch. Nachts war es nicht dasselbe wie am Tag, und wer konnte schon wissen, ob die Abortgeister nicht Verwandte im Treppenhaus hatten, Basen vielleicht, die leise seufzten, wenn man ihnen weh tat. Auf einmal wäre sie froh gewesen, sie hätte die Schuhe noch an. Zwar war das Nachthemd, das sie in der Stube übergestreift hatte, vom großen Schieferofen angenehm durchwärmt, aber um so hinterlistiger schlich sich die Kälte über Katharinas nackte Fußsohlen ein, um sich wie ein ungebetener Gast unter ihrem Hemd einzunisten. Vor dem Ofen hatte ihr die Großmutter die beiden Zöpfe geöffnet, obwohl Katharina das schon längst selbst konnte, die dachte wohl, sie sei noch ein kleines Kind und hatte keine Ahnung, daß sie bereits eine Treppe zum Knarren brachte.

Oben sah sie gerade noch genug, um die Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen, und erschrak, wie laut diese ächzte. Neue Geister meldeten sich, das mußten Vettern der Treppen- und Stinkgeister sein, die in den Türangeln hausten. Hastig tastete sie sich am großen Bett entlang, schlug das Leintuch zurück und schlüpfte hinein. Sie hatte sich auf kalte Laken gefaßt gemacht und freute sich, als sie mit ihren Zehen ein Säcklein mit heißen Kirschensteinen spürte, und als sie das Leintuch zwischen sich und dem schlafenden Bruder etwas anhob, strömte eine Wärme herüber, als sei dort ein kleiner Kachelofen in Betrieb. Sie zappelte einen Augenblick mit den Beinen, um die Kälte vollends zu vertreiben, und zog sich dann das Bettlaken so weit über den Kopf, daß nur noch ihre Haare herausschauten. Beim Gedanken an die unbekannten und unsichtbaren Wesen, die man im ganzen Haus vermuten mußte, verkroch sie sich so tief, daß auch ihre Haare im Bett verschwanden. Bald hatte sie aber zu wenig Luft und streckte die Nase behutsam unter dem Leintuch hervor, richtete sich auf und klopfte sich eine Delle ins Kissen, in die sie nachher ihren Kopf legte.

Wie recht sie mit ihrer Vorsicht hatte, zeigte sich, als wenig später die Treppengeister stöhnten und ein unerlöster Lichtschimmer vor dem Türspalt auf und ab tanzte. Katharina tauchte wieder unter die Decke und rückte so nahe zu Kaspar, daß sich ihre Beine berührten. »Schläfst du schon, Kind?«

Katharina zog den Rand des Leintuchs mit beiden Händen bis knapp unter die Augen. Das Grosi stand mit einer Kerze im Türrahmen, die im Luftzug unruhig flackerte.

»Nur fast«, antwortete Katharina leise. Im Kerzenlicht sah die alte Frau riesenhaft aus, ihre Nase, so schien es Katharina, hatte die Größe einer Kartoffel, und als sie jetzt langsam auf das Bett zukam, wankte an der Zimmerdecke eine gewaltige Schattengroßmutter mit.

»Wir wollen noch beten«, sagte die Großmutter. Da sie das Licht nirgends abstellen konnte, faltete sie die Hände so, daß sie gleichzeitig den Kerzenhalter umfaßten, und sagte dann halblaut:

»Gott Vater auf dem Himmelsthron,

und Jesus Christus, Gottes Sohn!

Beschützet uns jahrein, jahraus,

behütet Acker, Rind und Haus

und alle, die darinnen sind,

auch Katharina, Euer Kind.«

»Amen«, wisperte Katharina. Sie hatte ihre Hände über der Bettdecke gefaltet und schaute nach oben. Über ihr war der Dachgaden, darüber das Dach, darüber die Regenwolken, darüber der Himmel, und im Himmel war der Thron, auf dem Gott Vater saß und der merkwürdigerweise nicht hinunterfiel, obwohl er doch sehr schwer sein mußte, mit kostbaren Verzierungen aus Gold, Silber und Edelsteinen. Vielleicht wurde der Thron die ganze Zeit von Engeln getragen, die auf der Stelle flatterten wie die Hühnerweihe, bevor sie sich auf ihre Opfer stürzten, und wenn Afra Bäbler jetzt ein Engel war, kam sie wohl auch einmal dran. Ob es nicht sehr kalt war dort oben? Je höher man stieg, desto kälter wurde es, und oben am Hausstock war der Meergletscher, der auch im heißesten Sommer nicht schmolz.

»Und an die Mutter wollen wir jetzt auch noch denken«, fügte die Großmutter hinzu, »damit sie das Kindlein gut zur Welt bringt.«

Katharina sauste mit ihren Gedanken aus dem himmlischen Thronsaal in die »Meur« und war froh, daß dort schon die Hebamme mit ihrem roten Haarbändel saß und auf die Mutter aufpaßte. Wieviele Kindlein wurden wohl im ganzen Land in dieser Nacht geboren? Oder auf der ganzen Welt? Wie es Gott Vater und sein Sohn Jesus wohl machten, daß sie allen helfen konnten, die zu ihnen beteten? Gut, nach China mußten sie nicht, dort waren die Heiden, aber es blieben noch genug Christen, und nicht nur im Kanton Glarus, sogar in Amerika, ein Bruder der Mutter, Nikiaus, war dorthin ausgewandert, letzte Woche war ein Brief von ihm gekommen, der war tagelang auf der Wirtshaustheke gelegen, neben oder auf oder unter dem Buch mit den unbezahlten Rechnungen, und Vater hatte ihn allen gezeigt, die ihn sehen wollten, und gesagt, Nikiaus heiße jetzt Nick. Hoffentlich, und dieser Gedanke durchzuckte Katharina wie ein böser Gewitterblitz, hoffentlich war Gott Vater nicht gerade in Amerika, wenn das Kindlein zur Welt käme, und was wäre, wenn auch Jesus keine Zeit hätte, um in Elm vorbeizuschauen? Für diesen Fall war es umso besser, daß die Verena Elmer da war. Sollte Katharina nicht auch zu ihr beten? Oder für sie mindestens, damit ihr Gott Kraft gab, wenn er schon selbst nicht kommen konnte. Aber vielleicht kam er ja auch selbst, oder Jesus, oder beide, der Pfarrer Mohr hatte gesagt, Gott sei eben überall, das war das Besondere an ihm, also gerade das, was sie sich so schwer vorstellen konnte.

»Schau, wie der Kaspar schläft«, sagte die Großmutter. »Wenn er erwacht und einen Brunnen machen muß, oder auch du, dann hat es unter dem Bett auf jeder Seite einen Nachthafen.«

Katharina nickte und dachte mit Ekel daran, wie sie ihrem kleinen Bruder heute schon einmal geholfen hatte, bei der dünnen Tante, und was die Folgen gewesen waren. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, er schlafe bis am Morgen.

»Also dann«, sagte das Grosi und wendete sich gegen die Tür. Eigentlich hatte Katharina gehofft, die Großmutter streiche ihr noch übers Haar, wie die Mutter es immer tat.

»Grosi«, sagte Katharina, »gell, bei dir ist es immer gut gegangen, wenn ein Kindlein auf die Welt kam?«

»Ja ja«, sagte die Großmutter, »bei der Geburt schon.«

»Und wieviele Kindlein hast du zur Welt gebracht?«

»Dreizehn.«

»Soviel?« Katharina konnte es kaum glauben, obwohl sie sich jetzt erinnerte, diese Zahl auch schon gehört zu haben, dreizehn, oder eher zwölf. Dann bekämen sie ja, wenn es bei ihnen auch soviel würden, noch einmal soviele Geschwister, wie sie bereits hatte, oder sogar noch mehr. Wo sollten die alle Platz haben, wenn sie jetzt schon zu viert in einem Bett schliefen? Im Stall, wie das Jesuskindlein? Im Sommer waren zwei Kühe mit ihren Kälbern auf der Alp, da ginge es, aber jetzt dann, wenn sie wieder herunterkämen, würde es schwierig. Oder man müßte einmal bei Rhyners fragen nebenan.

»Und ist nie eines gestorben?«

»Doch«, sagte die Großmutter, »eines, ein einjähriges. An der Rotsucht. Die andern zwölf sind alle groß geworden.«

»Und wie hieß das Gestorbene?«

Die Großmutter seufzte. »Kaspar«, sagte sie.

»Kaspar?« Katharina stutzte. »Aber ein Vetter heißt doch Kaspar?«

»Der kam zur Welt, als der erste schon gestorben war. Da haben wir’s halt noch einmal probiert.«

Das war schön, daß man es noch ein zweitesmal probieren konnte. Wenn also das neue Kindlein sterben sollte, würden es wahrscheinlich auch ihre Eltern noch einmal probieren. Aber wie genau? Da war wieder diese Frage, die sich Katharina nicht zu stellen getraute – sie war mindestens so gefährlich wie die Frage nach dem Tod des Großvaters – und solange Großmutter ihr die Zöpfe löste, bekäme sie von ihr auch keine Antwort darauf, da konnte sie durch alle Gewitter der Welt zu ihr gehen, mit dem kleinen Kaspar an der Hand.

»Also dann«, sagte die Großmutter und wandte sich erneut zum Gehen.

»Grosi«, sagte Katharina schnell, »wieso geht der Weg zur ›Bleiggen‹ durch ein Haus?«

Die Großmutter lachte. »Was du alles wissen willst«, sagte sie, »weil der Weg schon immer dort durchging, bis einer ein Haus darüber baute, und als man merkte, daß es genau auf dem Kirchweg stand, hat man ihm befohlen, alle dort durchzulassen, die von der ›Bleiggen‹ ins Dorf gingen oder vom Dorf in die ›Bleiggen‹. Und das ist heute noch so.«

Katharina dachte an das Husten hinter der Türe und die Stimme, die von der Sintflut gesprochen hatte. Sie war froh, daß durch ihr Haus in der »Meur« kein Kirchweg führte, so daß jeder, der wollte, ihre Treppe hinaufsteigen dürfte. Es genügte, daß so viele fremde Leute in die Gaststube kamen.

Tief aufatmend setzte sich Kaspar neben ihr auf, blinzelte von der Großmutter zu seiner Schwester und von der Schwester wieder zur Großmutter. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem Weinen.

»Schlaf weiter«, sagte Katharina und klopfte ihm das Kopfkissen zurecht, »wir sind beim Grosi.«

Der Kleine blieb aufgerichtet, als überlege er sich, ob es sich zu weinen lohne. Als Katharina sagte: »Muesch kei Angscht ha«, und ihm dabei über die Haare strich, war sein Entscheid gefallen. Der Entscheid war: Nicht weinen, den Kopf in das schöne, weiche Kissen legen, zur Schwester schauen, die Augen zufallen lassen und sofort wieder einschlafen.

»Braves Kind«, sagte die Großmutter, »gute Nacht.«

»Grosi«, sagte Katharina, »wie ist – «

»Pssst, Didi!« sagte die Großmutter und hielt einen Finger an die Lippen, »gute Nacht jetzt!«

»Gute Nacht«, flüsterte Katharina und sah zu, wie das Flämmchen zur Tür hinausschwebte, gefolgt von der Schattenriesin, die auf einmal von der Dunkelheit verschluckt wurde. Die Tür war zu. Diesmal schien es Katharina, als hätten die Geister gequietscht vor Freude, weil sie jetzt zwei Kinder gefangen hatten. Es wäre ihr lieber gewesen, das Grosi hätte die Tür einen Spalt offen gelassen, dann hätte sie vielleicht noch einen kleinen Schimmer des Lichts aus der Küche gesehen.

Katharina wagte jedoch nicht mehr, das Bett zu verlassen und die Tür zu öffnen. Sie war ja ein braves Kind, hatte die Großmutter gerade gesagt. Oder hatte sie Kaspar gemeint?

Katharina horchte.

Aus der Küche war ein Lachen zu vernehmen, aber es kam von weit her, wie aus einem andern Land.

Die Treppengeister beklagten sich über die Schritte der Großmutter.

Die Tür zur Küche wurde geschlossen, das Gelächter verstummte.

Jetzt war es ganz still. Katharina hörte nichts als das Atmen ihres Bruders und das Pochen ihres Herzens.

»Ich bin das brave Kind«, dachte Katharina, »und ich muß keine Angst haben.«

Nach einer Weile klopfte ihr Herz weniger stark, und draußen begann es zu regnen. Ein Windstoß trieb die Regentropfen gegen die Fensterläden. Katharina dachte an die Sintflut, sie hatte die Großmutter noch nach dem Ausgang der Geschichte fragen wollen, das wußte sie sicher, es stand ja in der Bibel und hatte mit Kröpfen und Kindermachen nichts zu tun. Bestimmt waren nicht alle ertrunken, sonst gäbe es heute keine Menschen mehr.

Irgendwo in der Ferne krachte es. Hoffentlich kein Felsbrocken, dachte Katharina. Aber was sollte es sonst sein?

Sie dachte an die »Meur«, und wie jetzt wohl alle auf die Geburt warteten, der Atti mit Anna und Jakob und Regula unten in der Gaststube, die Mutter mit der Hebamme in ihrem Zimmer oben, keuchend und schwitzend, und Züsi in ihrem Nestlein unter der Treppe. Schnell faltete sie die Hände und betete lautlos: »Lieber Gott, mach, daß der Felsbrocken nicht auf die ›Meur‹ stürzt.«

Sie hatte die Hände noch nicht voneinander gelöst, als es ein zweitesmal krachte, und sogleich betete sie weiter: »Lieber Herr Jesus, wirf diesen Brocken in den Raminerbach!«

Jesus war doch der Sohn des lieben Gottes, also staute er sicher gern Bäche wie ihr Bruder Jakob und seine Freunde, oder er warf gern Steine in einen Bach, und weil er alles konnte, konnte er auch einen ganzen Felsen in den Bach werfen, daß es hoch aufspritzte ringsum, so hoch, daß davon ein Regen über das ganze Tal niederging, ein Regen, der unaufhörlich lange an die Fenster trommelte.