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»Guete Tag, guete Tag!
Jublet’s Spätzli ufem Hag.«
Irgendwo im Haus sang eine Frauenstimme diesen Kinderreim.
Katharina erwachte und merkte als erstes, daß sie ihre Puppe in der Wohnung unten vergessen hatte. Sonst nahm sie sie immer mit ins Bett, aber gestern war eben alles anders gewesen; vom Abort war sie nicht mehr zurück in die Stube gegangen, und so saß wohl Lisi immer noch auf dem Sofa und wartete auf sie.
Durch die Spalte der Fensterläden sickerte das Tageslicht. Katharina war erleichtert, daß die Nacht vorbei war, und sie genoß es, im Bett soviel Platz zu haben. Neben ihr schlief Kaspar immer noch. Sie streckte sich und stieß mit den Zehenspitzen auf das erkaltete Säcklein mit den Kirschensteinen. Als sie mit dem Fuß etwas auswich, spürte sie, daß das Unterleintuch feucht war. Sie hob die Decke etwas an, schaute darunter und sah einen großen, nassen Fleck, von dem ein warmer Pißgeruch ausging. Ihr kleiner Bruder hatte also ins Bett gemacht.
Katharina überlegte sich sofort, ob sie etwas dafür konnte. Nein, sie konnte nichts dafür, gar nichts. Sie erinnerte sich, wie er gestern kurz aufgewacht war, als sie noch mit der Großmutter plauderte, und die hätte ihn ja auch auf den Nachttopf setzen können. Von dann an hatte sie geschlafen bis jetzt.
Beim Gedanken an den Nachttopf fühlte sie plötzlich ein mächtiges Ziehen im Bauch. Solange niemand sie holte, wollte sie noch nicht hinuntergehen, deshalb stieg sie aus dem Bett, bückte sich, zog den Nachthafen hervor und setzte sich darauf. Mit einem hellen Geräusch prallte ihr Wasserstrahl auf den Boden des Gefäßes, danach klang es eher wie das Plätschern eines Brunnens, und dann war sie fertig. Rasch schob sie den Topf wieder unters Bett und ging zum Fenster.
Sie öffnete einen Flügel, klinkte den Haken, an dem der Laden eingehängt war, aus und stieß beide Fensterläden auf. Einen Moment lang mußte sie die Augen zukneifen.
Draußen lag die Landschaft da wie frisch gewaschen, alles war naß und glänzte, die Wiesen, die Bäume, die Felswände gegenüber, die Wälder und die Gräte. Viele kleine Wolken hingen an den Abhängen wie vergessene Putzlumpen. Der Himmel ließ sich nur stückchenweise blicken, die meisten Gipfel versteckten sich unter Nebeln, die ständig in Bewegung waren.
Im Berggrat gegenüber erkannte sie das Martinsloch, durch das zweimal im Jahr die Sonne auf Elm herunterschien, bevor sie aufging. Das letzte Mal, im Frühling, waren sie mit der ganzen Schulklasse auf die Wiese hinter der Kirche gegangen und hatten zugeschaut, wie die Sonnenstrahlen zuerst auf den Kirchturm trafen, wie sie dann die Dächer des Dorfes streiften samt ihnen allen, die da standen, und wie sie dann wieder verschwanden und erst ein bißchen später wiederkamen, als die Sonne über dem Grat richtig aufging.
Das hatte Katharina gefallen, und der Lehrer sagte damals auch, wie selten so etwas sei, das gebe es in der ganzen Schweiz nicht mehr, und deshalb seien auch extra Leute aus Zürich und St. Gallen gekommen und hätten im Gasthaus Elmer übernachtet, nur um diesen kurzen Gruß der Sonne durch das Martinsloch zu sehen. Am nächsten Tag passierte nochmals dasselbe, und dann mußte man ein halbes Jahr warten, bis es wieder soweit war. Eigentlich, dachte Katharina, kann es nicht mehr lang dauern, und hoffentlich regnet es dann nicht.
Der Lehrer hatte ihnen auch erklärt, warum die Sonne nicht immer am gleichen Ort aufging, es hing damit zusammen, daß die Tage länger und kürzer wurden, und auch, daß sich alle Sterne bewegten, sogar die Erde, obwohl man nichts davon merkte, wenn man am Morgen die Fensterläden aufmachte.
Jetzt mußte die Sonne schon aufgegangen sein, aber sie war irgendwo hinter dem Nebel weit oben verborgen.
Katharina blickte zum Steilhang des Plattenbergs hinüber. In der Mitte quollen einige graue Wölklein auf, die fast aussahen wie diejenigen nach den Sprengungen. Ob man von hier aus erkennen konnte, wo es gestern so gepoltert hatte? Alles, was ihr auffiel, war weit oben im Tschingelwald eine Reihe von Tannenbäumen, die so schief standen, als wären sie mitten im Fällen erstarrt. Vielleicht waren das die neben dem »großen Chlagg«, der Spalte, von der die zwei Wildheuer in der Gaststube erzählt hatten. Die sei so tief, hatten sie gesagt, daß man einen Stein, den man hineinwerfe, nicht aufschlagen höre.
Das glaubten sie ja selber nicht, schrie daraufhin einer mit geröteter Nase hinter einem Schnapsglas hervor, und als einer der Wildheuer zurückgab, er könne ja selber hochgehen, rief der Schnapstrinker, er sei nicht verrückt, und Peter Elmer sagte laut, wenn der hinaufginge, würde er wohl im Suff in den »Chlagg« stürzen, und dann würde man schon hören, wo er aufschlage. Daraufhin erhob sich der Rotnasige so schnell, daß der Tisch, an dem er saß, umkippte und sein Glas am Boden zersplitterte, und sofort standen alle andern auch auf und schauten sich lauernd an, und hätte sich nicht in dem Moment der Ätti dazwischengestellt und drohend gesagt, wenn sie sich prügeln wollten, dann draußen, hätte es bestimmt eine Schlägerei gegeben.
Es wäre für Katharina nicht die erste gewesen, und sie war denn auch sofort aufgestanden und zur Treppenhaustür getreten, damit sie wenn nötig fliehen konnte. War das aber nicht nötig, schaute sie jeweils mit Angst und Neugier zu, wie die Männer einander packten. Erst wenn Flaschen durch den Raum flogen, rannte sie schnell nach oben.
Ab und zu kam es auch vor, daß sich ein paar Burschen nachts vor dem Gasthaus in die Haare gerieten, wenn der Vater die Wirtschaft schon geschlossen hatte. Das letzte Mal hatten Jakob und Regula Katharina geweckt, und sie hatten alle drei kichernd zum Fenster hinaus zugeschaut, wie sich zwei Männer mit den Fäusten in Gesicht und Magen schlugen, angefeuert von einem kleinen Kreis von Zuschauern, der sich um sie herum gebildet hatte und der sich mit den beiden über den ganzen Vorplatz bewegte, wenn einer den andern zurücktrieb. Als der Vater schließlich herauskam, um die Streithähne fortzujagen, blutete der eine schon aus dem Mund. Jeder wurde von seinen Freunden in die Mitte genommen, und im Mondschein entfernten sich beide Gruppen gegen die eiserne Brücke und wurden immer kleiner, aber ihre gegenseitigen Beschimpfungen waren noch lange zu hören, es war, als werfe der Mond das Echo zurück.
Die »Meur« und das Untertal konnte man von hier aus nicht sehen, sie wurden durch einen Waldstreifen unterhalb des Hauses verdeckt. Über den Weg, der vor dem Haus durch zum Dorf führte, ging niemand. Katharina blickte an der Hauswand hinunter und betrachtete den kleinen Garten, in dem neben Salatbeeten gelbe und rote Blumen blühten. Zwischen den Beeten suchten zwei Hühner leise gackernd nach Körnern. In einer Ecke wuchsen riesige Rhabarberblätter fast über den Zaun hinüber.
Katharina fröstelte, es war kühl draußen. Vielleicht scheint heute wieder einmal die Sonne, dachte sie und schaute noch einmal zu den Gipfeln und Gräten. Durch das Martinsloch drang eine kleine Wolke, als schnaubte ein Drache aus seinen Nüstern, und dann verschwand es ganz. Uberall wälzten sich Wolken und Nebel von oben herab, und bald war am Himmel kein einziges Flecklein Blau mehr übrig. Eine Rauchfahne schlich sich vom Haus zum Weg hinunter. Es roch nach Feuer.
Katharina schloß das Fenster und schlüpfte wieder ins Bett zurück. Sie kuschelte sich ganz an den Rand, so daß sie mit der genäßten Stelle nicht in Berührung kam. Aber der üble Geruch drang durch die Decke und ging nicht weg.
Katharina horchte. Wer war wohl schon auf?
In der Küche unten schepperte etwas, ein Schürhaken vielleicht, oder eine Ofenklappe, oder ein Wasserschaff.
Jetzt wurde die Küchentüre geöffnet, und Katharina hörte, wie das Grosi sagte: »Ade, Paul.« Kurz danach knarrte die Haustür, und draußen bellte Nero, der aber bald durch die Stimme des Vetters beruhigt wurde. Von der kleinen Anna kein Laut, obwohl man ihr schon ein Morgenliedchen gesungen hatte. Und wo war die Base?
Nun knarrte der Boden vor der Tür. Katharina erinnerte sich plötzlich an ihre Furcht gestern nacht, und sie begriff gar nicht, warum sie sich so geängstigt hatte. Waren die Geräusche nicht dieselben? Nein, sie waren nicht dieselben. Ein Geräusch, das von Dunkelheit umgeben war, war etwas ganz anderes als ein Geräusch in der Helligkeit. Die Türangeln ächzten geradezu fröhlich, als jetzt die Base hereinschaute und fragte: »So, was machen unsere zwei Schlafmützen?«
»Ich bin schon wach«, sagte Katharina rasch.
Sie war etwas enttäuscht, daß es nicht die Großmutter war, die sie wecken kam. Die Base war schon angezogen. Sie trug einen blauen Rock mit einer braun und weiß gestreiften Schürze darüber. Die Haare hatte sie aufgesteckt, aber nicht so wie die Großmutter, eher wie ein Vogelnest, dachte Katharina.
»Und der da?« fragte die Base und wies mit dem Kopf auf Kaspar.
»Der hat ins Bett gemacht«, sagte Katharina.
Die Base lachte. »Oh je«, sagte sie, »dann müssen wir das Leintuch wechseln.« Sie werde, fuhr sie fort, heute sowieso Windeln waschen, das gehe dann im gleichen zu.
Kaspar wand sich aus dem Bett, stand auf, blickte verdutzt von der Base zur Schwester und sagte dann: »Muß brünzeln.«
»Da«, sagte die Base, bückte sich und zog Kaspars Nachttopf unter dem Bett hervor.
Kaspar streifte seine Unterhosen hinunter, setzte sich auf den Hafen und ließ sein Wasser fahren. Dann furzte er, und klatschend fiel ein Häufchen in den Topf. Sofort stank es im ganzen Zimmer; Katharina verzog das Gesicht.
»Bin naß«, sagte Kaspar, als er aufstand.
»Ja«, sagte Katharina, »du hast ins Bett gemacht.«
Kaspar schüttelte den Kopf, aber Katharina schlug die Bettdecke so weit zurück, daß der Fleck zu sehen war. »Dafür haben wir doch den Nachthafen«, sagte sie streng.
Kaspar starrte fassungslos auf das nasse Bettuch. Er konnte keinen Zusammenhang zwischen diesem feuchten Klacks und sich selbst herstellen.
»Komm, Kaspar«, sagte die Base und nahm ihn an der Hand, »wir gehen hinunter und ziehen uns an. Und du«, sagte sie zu Katharina, »leerst die beiden Nachttöpfe und kommst dann auch in die Stube.«
Als die Base mit Kaspar den Schlafgaden verlassen hatte, überlegte sich Katharina einen Augenblick, ob sie die Nachthäfen einfach aus dem Fenster in den Garten schütten sollte, aber sie wagte es nicht. Es mißfiel ihr, daß diese eklige Aufgabe an ihr hängen blieb, aber schließlich mußte sie das zu Hause auch tun, wieso sollte es hier besser sein.
Mit zusammengebissenen Lippen ergriff sie zuerst ihren eigenen Topf, dann den ihres Bruders, ging damit vorsichtig die Treppe hinunter und weiter zum Abort, stellte die Töpfe auf den Boden, hob den Deckel zur Seite und leerte einen der Töpfe nach dem andern ins stinkende Loch. Nun sollten sie noch ausgewaschen werden, und Katharina wußte, daß auch das von ihr besorgt werden mußte.
Sie schlüpfte in ihre Schuhe, ohne sie zu binden, und stopfte die Bändel nur lose hinein. Als sie die Tür zum Vorplatz öffnete, knurrte es aus dem Hundehäuschen.
»Schön brav, Nero«, sagte sie ängstlich und trippelte am Hund vorbei, der sie, den Kopf auf die Pfoten gelegt, nicht aus den Augen ließ. Sie hielt die beiden Nachttöpfe unter den Brunnenstrahl, streckte nachher auch ihre Hände darunter und wusch sich damit das Gesicht. Die Kälte fuhr ihr durch Finger und Wangen in den Körper, und schnell packte sie die Nachtgeschirre wieder, rannte ins Haus, ließ sie samt den Schuhen unten an der Treppe stehen und ging dann durch die Küche in die Stube, wo sie sich sofort auf das Sofa kniete und an den warmen Schieferofen schmiegte. Ihre Holzpuppe saß immer noch da.
»Armes Lisi«, sagte Katharina, »bist die ganze Nacht auf dem Sofa gesessen. Hast du keine Angst gehabt?«
»Nein«, piepste sie selbst mit einem Puppenstimmchen, »ich bin kein Angsthase.«
»Ja ja«, sagte Katharina, »ganz tapfer bist du, ich weiß. Willst du heute nacht bei Nero draußen schlafen?«
»Nein, bei dir«, piepste die Holzpuppe.
Kaspar bekam von der Base soeben das Hemd von gestern übergezogen und hörte dem Gespräch belustigt zu. »Und bei mir«, sagte er und hüpfte auf und ab.
»Aber nur wenn du nicht ins Bett machst«, sagte die Puppe. »Hast du gehört?«
Aus Kaspars Gesicht verschwand die Freude.
»Mach nicht ins Bett«, brummte er.
»Sicher?« fragte die Puppe nach.
Kaspar nickte.
»Das ist gut«, sagte Lisi, »sonst beiß ich dich nämlich ins Schwänzchen.«
»Nicht«, sagte Kaspar erschrocken.
»Doch«, hauchte Lisi unerbittlich.
»Nein, nicht«, sagte Kaspar.
»So, Schluß jetzt, Kinder«, sagte die Base. Sie wandte sich zu Katharina mit der Aufforderung, ihre Kleider anzuziehen, die am Ofen hingen, und dann in die Küche zu kommen. »Und die Zöpfe?« fragte sie, als sie schon mit Kaspar auf der Schwelle stand.
»Wo ist das Grosi?« fragte Katharina.
»Das Grosi ist wieder ins Bett. Es ist ihm nicht so gut«, sagte die Base, »aber ich helfe dir dann nach dem Frühstück.«
Katharina zog zuerst die Unterhose an und dann das Nachthemd aus; danach streifte sie sich das Unterhemd über. Wunderbar warm waren die Kleidungsstücke nach einer Nacht am Kachelofen. Als sie sich überlegte, ob die Großmutter wohl krank sei, interessierte es sie vor allem, ob diese ihren Zopf schon gemacht und aufgesteckt hatte, oder ob sie mit offenen Haaren im Bett lag, und ob sie dann auch so anders aussähe, wie gestern ihre Mutter. Auf einmal kam ihr in den Sinn, weshalb sie in der »Bleiggen« war. In den Unterkleidern ging sie in die Küche hinüber und fragte das Bäsi: »Ist das Kind schon auf der Welt?«
»Wir wissen noch nichts«, sagte die Base und hieß Katharina, nicht herumzulaufen wie ein gerupftes Huhn, sondern sich fertig anzuziehen und sich dann neben Kaspar zu setzen, der schon vor einem Stück Brot und einer Kachel heißer Milch saß, die ein kleines bißchen mit Kaffee gefärbt war.