37812.fb2 Die Steinflut - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

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»Nein, das sind nicht unsere Hühner«, sagte die Base, die sich mit Katharina zusammen zum Stubenfenster hinaus lehnte und in den Vorgarten hinunterschaute, »unsere sind alle gesprenkelt.« Dann klatschte sie in die Hände, zischte dazu und rief: »Fort mit euch!«, und Katharina klatschte und zischte mit.

Die beiden weißen Hühner drückten sich gackernd an die Rhabarberblätter am Zaun, hielten ihre Köpfe schräg und blickten vorwurfsvoll an der Hauswand hinauf.

Hinter Katharina drängte sich Kaspar und rief: »Will auch schauen!«

Katharina schubste ihn zurück, doch die Base beugte sich zu ihm nieder, griff ihm unter beide Arme und hob ihn vor sich zum Fenstersims, an dem er sich nun festhielt.

»Gsch – gsch!« zischte er und fragte dann: »Wo sind die Hühner?«

»Dort, bei den Rhabarbern!« sagte Katharina, und fügte leise, aber deutlich hinzu: »Du Tötschli.«

»Kein Tötschli«, gab Kaspar zurück und rief dann nochmals, diesmal in die richtige Richtung: »Gsch – gsch! Fort, fort!«

Aber die Hühner blieben stehen, wo sie waren, und gackerten bloß aufgebracht vor sich her.

Die müssen, meinte die Base, von der hinteren »Bleiggen« entlaufen sein, dort seien lauter weiße, und Katharina solle doch schnell zur Barbara hinüber und es ihr sagen.

Katharina war inzwischen angezogen, sie hatte wieder den entliehenen blauen Lavendelrock aus Grosis Schrank an, und ihre eigene braune Schürze darüber.

Das Sonntagskleid, mit dem sie gestern hergekommen war, solle sie morgen anziehen, hatte die Base gesagt, als sie ihr den Dreck aus dem Saum gebürstet hatte, Sonntag sei ja erst morgen. Die Zöpfe waren geflochten, aber nicht aufgesteckt, sie baumelten ihr auf die Schultern. Nur noch die Schuhe mußte sie anziehen, und dann konnte sie gehen.

Der erste Knopf mit den Schnürsenkeln gelang ihr nicht. Hilfesuchend blickte sie sich im Vorraum um, wo sie auf der kleinen Schuhbank saß, aber dann besann sie sich darauf, daß sie allein eine Treppe zum Knarren bringen konnte, also konnte sie auch allein die Schuhe binden, und schon hatte sie einen schönen Knopf zustande gebracht. Erst als sie beide Schuhe an den Füßen hatte, sah sie, daß die zwei Nachttöpfe noch unten an der Treppe standen. Die würde sie später hinauftragen, wenn sie wieder zurück wäre.

Das hintere »Bleiggen«-Haus war gleich das nächste am Weg. Trotzdem ging Katharina nicht gern. Eigentlich hatte sie sich vorgestellt, sie käme ein paar Tage hierher in die Ferien, aber kaum war sie da, mußte sie schon etwas tun, und natürlich brauchte Kaspar nicht mitzukommen, sondern durfte bei der Base in der warmen Stube bleiben. Zu Hause wurde sie manchmal zur alten Elsbeth geschickt, um Eier zu holen, wenn sie in der Gaststube welche brauchten und selbst keine mehr hatten. Doch das war nicht dasselbe, denn die alte Elsbeth kannte sie, die roch immer nach dem Tabak ihres Mannes, und ihr Mann war der obere Jaggli, der dauernd hustete, weil er immer eine Pfeife im Mund hatte, und er hieß der obere Jaggli, weil in Untertal auch noch der untere Jaggli wohnte, auf dem Weg von der »Meur« zur eisernen Brücke, und auch den unteren Jaggli kannte sie, samt seiner Frau, obwohl sie dort nie Eier holen mußte, und sogar die Elsbeth, ihre Tochter, die eine Frau war und keinen Mann hatte und deshalb auch keine Kinder, was vielleicht mit ihrem Kropf zusammenhing, der ihr am Hals klebte wie eine Kröte, würde sie wohl auch einmal daran sterben, wie der Großvater, der Kropftod könnte am ehesten so gehen, daß sich der Kropf einfach immer stärker aufblähte, bis man eines Tages daran erstickte. Erschrocken griff sich Katharina an den Hals und war froh, daß sie dort nichts würgte.

Sie war um eine kleine Wegbiegung gekommen und sah schon das Dach des Hauses, zu dem die Hühner gehörten.

Zu fremden Leuten ging Katharina ungern, und die Barbara kannte sie kaum. Sie wußte nur, daß sie die Mutter von Hans-Kaspar war, der mit Anna hinters Haus ging und der am Vorabend in die Küche gekommen war, und sie war auch die Mutter von Lena, die mit ihr zur Schule ging. Lena hatte keinen Vater mehr, und sie kam immer barfuß. Einmal hatte Katharina gesehen, wie Lena mit einem Suppengeschirr aus der Armenstube kam.

Wenn Lena keinen Vater mehr hatte, dachte Katharina, dann hat ja die Barbara auch keinen Mann mehr. Wer schaut denn wohl nach dem Hof?

Eine Kuh stand am Wegrand und glotzte Katharina an.

Katharina dachte an ihre Kühe Bleß und Stern, die beide noch auf der Falzüber-Alp waren, und an ihre Kälber. Die Milch hatten sie in der »Meur« von der dritten Kuh, der Lobe, die als einzige im Sommer dablieb. Etwa in vierzehn Tagen, hatte der Vater kürzlich gesagt, kämen Bleß und Stern wieder zurück, und Katharina war neugierig, wie groß dann die Kälber sein würden. Auch auf Grosis Hof war nur eine Kuh zurückgeblieben für die Milch, sie hieß Bliiemli, und Katharina hatte Paul gestern abend zugeschaut, wie er sie gemolken hatte. Die andern waren auf der Alp, aber sie wußte nicht, wieviel es waren.

Als sie den Pfad einschlug, der jetzt vom Weg nach unten abbog, kläffte vor dem Haus ein Hund. Katharina blieb stehen.

Eine Frau trat aus der Tenne neben dem Haus und sah sich um. Uber dem Tennstor hing schief der gebleichte Schädel einer Kuh, ein Horn zeigte nach unten. Jetzt hatte die Frau das Mädchen erblickt.

»Was willst du?« rief sie.

Offenbar wußte sie nicht, wer dort stand. Zwei kleine Buben kamen zur Haustür heraus und starrten zum Weg hinauf. Der Hund war inzwischen zur Frau gelaufen und bellte an ihrer Seite ununterbrochen weiter.

Katharina überlegte einen Augenblick, was sie eigentlich wollte, und rief dann: »Ich bin die Katharina!«

Die Frau wußte immer noch nicht Bescheid.

»Was?« schrie sie zurück.

Die hielt sie wohl für ein Bettelkind, daß sie ihren lärmenden Hund nicht am Halsband packte. Es war nicht leicht, ihn zu übertönen.

»Ich komme vom Grosi in der ›Bleiggen‹«! rief Katharina so laut sie konnte, und versuchte sich zu erinnern, wie das Grosi eigentlich mit Vornamen hieß, denn das Grosi war sie ja nur für sie, aber nicht für die Frau dort, welche die Barbara sein mußte. Jetzt hatte diese aber offenbar begriffen, wer sie war. Sie faßte ihren Hund am Hals, ging mit ihm die paar Schritte zur Hundehütte, band ihn dort fest und rief dann: »Kannst kommen!«

Katharina ging den Pfad hinunter zum Haus, wo die Frau sie in einer unglaublich schmutzigen Schürze erwartete, zusammen mit den zwei Buben, die sich links und rechts an einer Rockfalte hielten. Der Rock der Frau war voller Löcher, und an den nackten Füßen trug sie Sandalen, die mit Schnüren zusammengebunden waren. In ihrem Blick war nichts Freundliches, als sie fragte, ob sie die Didi von der »Meur« sei, wo es ein Kindbett gebe.

Katharina nickte und sagte dann möglichst schnell, es seien zwei weiße Hühner in Grosis Garten, und das Bäsi meine, sie kämen von hier.

Als Barbara unnwirsch fragte, wieso von hier, sagte Katharina, beim Grosi hätten sie nur gesprenkelte. Das würde sie wundern, sagte Barbara, wenn ihr zwei Hühner davon wären, sie hätte den Stall nicht aufgemacht.

»Sepp!« rief sie ins Haus hinein, doch als niemand auftauchte, murmelte sie etwas von einem faulen Hund, hieß Katharina mitkommen und schlurfte um das Haus herum, gefolgt von den beiden Buben, deren Beine bis zu den Knien dreckig waren.

Als Katharina den schäbigen Hühnerstall sah, der nicht viel höher war als sie selbst, fielen ihr sofort zwei schlecht geflickte Löcher im Gitter auf. Da konnte jedes Huhn hinaus, und wenn man das Stalltürchen noch so gut schloß.

»Kannst du zählen?« fragte Barbara unvermittelt.

Katharina nickte und zählte die Hühner, die sich bei ihrer Ankunft gluckernd versammelt hatten. »Sechs«, sagte sie.

Barbara hatte mitgezählt. »Also sind es alle. Kannst der Anna ausrichten, die Hühner kämen nicht von mir.«

Eben, Anna hieß das Grosi, jetzt kam es Katharina wieder in den Sinn.

Barbara schlurfte zurück zum Haus, die Buben trotteten wortlos mit. Katharina folgte ihnen und mußte über Rechen und Heugabeln steigen, die am Boden lagen. Hinter Barbara hergehend, glaubte sie den seltsamen Kräuterduft aus der Flasche zu riechen, was sie nicht verstand, Frauen trinken ja keinen Schnaps. Der kleinere der Buben trug ein Hemd, das ihm bis knapp über die Knie reichte; ein Riß ging am Rücken fast von oben bis nach unten, ein Riß, unter dem die Haut des Kleinen zu sehen war. Der hat kein Unterhemd, dachte Katharina.

»Bist nicht in der Schule?« fragte Barbara und schaute über die Schulter zurück.

Katharina war verdutzt. »Nein«, sagte sie leise. Das sah man doch, daß sie hier war und nicht in der Schule.

Sie waren wieder bei der Hundehütte angelangt, aus welcher der Hund mißtrauisch knurrte.

»Ruhig, Sauvieh!« sagte Barbara so böse, daß auch Katharina erschrak. Sofort duckte sich das Tier und verschwand in seinem Häuschen, dem ein Stück des Daches fehlte. Barbara blieb stehen und fragte: »Und ist das Kind schon da?«

Katharina überlegte einen Augenblick, bevor sie zur Antwort gab: »Wir wissen es nicht.« Dann fügte sie hinzu: »Gestern ist die Verena zu ihr gegangen.«

Barbara seufzte und sagte: »Das gibt noch ein Maul zum Stopfen.«

Zum ersten Mal machte einer der Kleinen den Mund auf und verlangte etwas zu essen, doch Barbara herrschte ihn an, es gebe jetzt nichts, er solle warten bis am Mittag. Der Kleine begann zu wimmern, doch Barbara stand ungerührt da und schwieg.

Da sagte Katharina: »Also, ade«, und ging rasch den Pfad hinauf.

Als sie in den Weg einbog, rief ihr Barbara mit scharfer Stimme nach: »Sag dem Anni, wenn die zwei Hühner keinen Meister haben, nehm ich sie schon!«

Katharina drehte sich um und hob die Hand zum Zeichen, daß sie verstanden hatte. Jetzt erst sah sie, daß aus dem Kamin von Barbaras Haus kein Rauch stieg. Ein hagerer Bursche, der langsam hinter der Tenne hervorkam und Katharina nachschaute, bekam von Barbara einen Schwall von Vorwürfen zu hören. Das war wahrscheinlich, dachte Katharina, der faule Hund Sepp, und sie sputete sich, um möglichst bald von diesem Haus wegzukommen, an dem sie alles abgestoßen hatte. Wenn sie das Bäsi nochmals hinschickte, würde sie nicht mehr gehen.

Sie fror ein bißchen und steckte ihre Hände in die Schürzentasche. Dort spürte sie die gedörrten Zwetschgen ihrer Mutter. Sie sah den hungrigen Kleinen wieder vor sich. Warum hatte sie ihm nicht eine davon gegeben?

In ihrem Kopf drängten sich die Antworten. Sie hatte erst jetzt gemerkt, daß sie welche dabei hatte, war eine, und die Barbara wäre wütend geworden, war die andere, und der zweite Bub hätte dann auch eine gewollt, die dritte. Das waren genug Antworten auf eine einzige Frage, und Katharina ging mit schnellen Schritten weiter, auf Grosis Haus zu, das jetzt oben am Weg auftauchte. Es begann zu tröpfeln. Mit Sonnenschein war also wieder nichts.

Schlimm war das, wenn einem der Mann starb, dachte Katharina, dann gibt’s überall Löcher, in den Kleidern, im Hühnerstall und auf der Hundehütte, die Rechen liegen herum, und die Kinder haben keine Strümpfe und Schuhe und müssen für eine Suppe in die Armenstube. Da war es am Ende noch besser, man hatte gar keinen Mann, wie die Elsbeth vom unteren Jaggli, dann konnte einem auch keiner wegsterben. Und Kinder hatte halt dann jemand anders von der Familie. Im Haus des unteren und des oberen Jaggli wohnte noch einmal eine ganze Familie, und die Väter waren die Jaggli-Söhne, die oberen und die unteren, und ein Bub des oberen Jaggli-Sohnes ging mit ihr zur Schule, der hieß auch wieder Jaggli und war ein Erstkläßler, und ein Bub des unteren Jaggli-Sohnes, der schon wieder Jaggli hieß, ging in die dritte Klasse, und alle hatten kleinere und größere Geschwister, und manchmal spielten sie zusammen auf dem Vorplatz der »Meur« Blindekuh, oder Verstecken beim Raminerbach hinten, und sie hatten es viel lustiger als die Kinder der Barbara hier oben.

Nero bellte, als er Katharina kommen hörte. Wieso wollte er sie denn nicht kennen?

»Brav, Nero …« sagte sie beschwichtigend, als sie in seine Nähe kam, doch der bellte weiter. Da dachte Katharina an Barbara und Schrie den Hund an: »Ruhig, Sauvieh!«, und zu ihrem Erstaunen war er sogleich ruhig und legte sich in seine Hütte.

»Die Nachttöpfe hast du vergessen«, sagte das Bäsi zu ihr, als sie gleich danach im Vorraum ihre Schuhe auszog.

»Ich wollte sie jetzt hinauftragen«, sagte Katharina.

»Wer’s glaubt«, sagte die Base etwas spitz.

»Sicher«, sagte Katharina, »ich hatte eben vorher die Schuhe schon an.« Warum glaubten einem die Erwachsenen nicht? Wenn sie groß wäre, würde sie allen Kindern glauben, wenn sie sagten, sie hätten die Nachttöpfe hinauftragen wollen.

»Und? Was ist mit den Hühnern?« fragte die Base.

»Sie gehören nicht der Barbara«, sagte Katharina, »sie hat noch alle. Ich habe sie selbst gezählt.«

»Und wieviel sind es?«

»Sechs«, sagte Katharina stolz.

Mit ihr konnte man rechnen, wenn es nicht um so etwas Einfältiges wie Nachthäfen ging. Man konnte sie allein zu fremden Leuten schicken, und sie konnte sogar ihre Hühner zählen.

Die Base schüttelte den Kopf. »Merkwürdig«, sagte sie.