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Carmen spielte beim Turnier kein Doppel. Sie und Harriet packten, um nach Amelia Island zu fahren. Sie würden dort einen Tag eher als alle anderen ankommen, und das würde ihnen etwas Zeit geben. Sie packte schweigend, und Harriet ebenfalls. Es gab nicht viel zu sagen. Harriet wußte, daß Carmen sich miserabel fühlte. Und sie wußte auch, daß Carmen Angst hatte. An der Oberfläche lebte Carmen für die Liebe, aber darunter lag der Wunsch, die Schlagerverträge, die Modeverträge, die vielen lukrativen Nebeneinnahmen ihres Berufs nicht zu verlieren, die mehr einbrachten als die Turniere selbst. Carmen lebte auf großem Fuß und wollte nicht kürzer treten müssen.
Seth rief an, um sie fairerweise zu warnen. Schieb Harriet ab oder versteck sie auf dem Speicher. Warum diese Probe aufs Exempel machen? Das Gewitter würde rasch vorbei sein.
Carmen schämte sich. Sie hatte das Gefühl, Harriet zu verraten, wenngleich sie diesen Gedanken so weit wie möglich verdrängte. Harriet würde für Lesben zum lebenden Denkmal werden, wie die Überlebenden von Konzentrationslagern. Carmen hatte ein schlechtes Gewissen, ohne daß Harriet ein Wort sagte. Ach, scheiß auf Harriets Stolz. Es gab ein paar wichtigere Dinge.
«Du mußt Miguel anrufen.»
«Soll ich ihm nicht vorschlagen, daß er heute hierbleibt und morgen runterkommt? Wir haben keine Zeit für uns allein gehabt.»
«Wir werden jetzt eine Menge Zeit für uns allein haben.» Harriet hängte ein Kleid auf. Sieben Jahre alt und viel getragen, aber es hielt noch immer.
Carmen wählte. Das Gespräch war kurz. Sie legte auf. «Er kommt morgen.»
Harriet wollte Carmen umarmen, aber Carmen hatte sich von allen und jedem abgewendet. Pack die Koffer. Fahr zum nächsten Turnier. Gewinn das nächste Turnier. Die Dinge werden sich selbst erledigen. Miguels Vorschlag hatte sie verletzt. Je näher ihr der Schmerz rückte, desto schneller rannte Carmen.
Amelia Island ist ein weiterer synthetischer Erholungsort. Es gibt schlimmere Orte als Jacksonville, aber wenn man da ist, fallen einem keine ein. Die Insel ist mit den immer gleichen Apartmentanlagen gesprenkelt, die aus Gipsplatten, Glasplatten und Plastik zusammengehauen sind. Jede Apartmentanlage hat einen Swimmingpool, und außerdem gibt es immer das Meer. Auf den Atlantik ist Verlaß. Er ist nie auf Tour, obwohl es die Hälfte der Bevölkerung Amerikas anscheinend ist. Den Mücken gefällt die Atmosphäre und den Leuten aus Michigan, Wisconsin und anderen kalten Gegenden ebenfalls.
Das Innere ihres Apartments war eine Erleichterung, nach dem Avokadogrün und Gold des letzten. Diesmal war es in Dunkelblau und Seegrün gehalten. Die Innendekorateure stellten sich auf die friedlichen Fünfziger ein. Harriet ging zum Klo und fragte sich, was sie als erstes umbringen würde - die Lesbensache oder schlechter Geschmack. Sie kam zu dem Schluß, daß ihr schlechter Geschmack mehr auf den Geist ging.
Carmen fuhr zum Supermarkt und sorgte für Vorräte. Sie kaufte gern Lebensmittel ein. Als sie die Tüten hereintrug, war Harriet am Telefon.
«Hallo», rief Carmen, nachdem Harriet aufgelegt hatte. «Ich mache heute abend Spareribs. Wie hungrig bist du?»
«Nicht sehr.» Harriet hielt den Kopf hoch, sah aber angespannt aus.
«Was ist los?»
«Ich habe mit Dr. Speicher gesprochen, erinnerst du dich an ihn?»
«Der Leiter des religionswissenschaftlichen Instituts. Warum hast du mit ihm geredet?»
«Ich wollte herausfinden, wie schlimm es wirklich ist.»
«Ja?»
«Er kann mich nicht wieder einstellen. Schlagen Sie es sich aus dem Kopf, daß Sie noch einmal irgendwo Dozentin werden.»
«Hör auf, dir darüber Sorgen zu machen! Ich verdiene genug Geld, um das ganze verdammte Institut zu kaufen. Und ich kapiere das nicht. Sie wußten, daß du lesbisch bist, als du dort gearbeitet hast.»
«Na ja, ich lebte in einem Versteck mit offener Tür. Ich habe nie gesagt, daß ich lesbisch bin, aber ich habe auch nie gesagt, daß ich es nicht bin. Jetzt habe ich es gesagt.»
«Vergiß es.»
«Freiwillig nicht zu arbeiten, um mit dir herumzuziehen, ist eine Sache. Nicht arbeiten zu können ist eine andere.»
«Ich sagte doch, vergiß es. Ich zahle die Rechnungen ohnehin. Es hat sich nichts geändert.»
Harriet war verletzt. «Du hast mich gebeten, mit dir zu reisen, Carmen. Ich habe dich nie darum gebeten, meine Rechnungen zu bezahlen, aber wer um Himmels willen kann es sich schon leisten, dir um die Welt zu folgen? Es bedrückt mich, daß ich jetzt keine Arbeit mehr bekommen kann.»
«Wenn ich den Grand Slam gewinne, wird sich keine von uns je mehr über Geld Sorgen zu machen brauchen.»
«Das ist dein Leben, nicht meins.» Harriet lächelte traurig.
Dieser Gedanke störte Carmen. Ihr Leben war das Leben ihrer Geliebten. Ihre Geliebten hatten sie immer begleitet, jede hatte sich den besonderen Anforderungen von Carmens Beruf gefügt. Dafür bestritt sie die Kosten. Eine von ihrem Leben getrennte Existenz erschien ihr unmöglich... und irgendwie als Verrat. «Wenn ich unterwegs bin, kannst du ja was Neues lernen. Etwas, wobei das Lesbischsein keine Rolle spielt. Mach dir darüber keine Sorgen.»
Harriet sagte mit aufgesetzter Fröhlichkeit: «Ich denke, ich könnte für die Telefonstimme vorsprechen, die sagt: <Beim nächsten Ton ist es vierzehn Uhr.>»
Carmen schleppte ihren Körper über die ersten Runden des Amelia Island-Turniers. Reporter schwirrten herum; einige fielen ihr lästig. Ricky verscheuchte sie, so gut er konnte. Carmen und Harriet verließen mitten in der Nacht ihr Apartment und zogen zu Ricky und Jane. Niemand würde es wagen, sich dort mit ihnen anzulegen.
Carmen spielte jeden Tag Golf. Sie spielte Boggle, Scrabble, Karten und Dart, wenn sie nicht Golf spielte. Sie absolvierte ihr Tennistraining, spielte ihr Match und malträtierte anschließend den Rasen. Ricky begleitete sie oft. Er spielte gern eine Runde Golf.
Jane und Harriet verbrachten die ganze Zeit miteinander, die Jane nicht arbeitete. Die einzigen Spielerinnen, die Harriet noch grüßend zunickten, waren die beiden verheirateten und Schmettie Kittredge. Die anderen, lesbisch und voller Angst oder hetero und konfus oder tragisch asexuell, legten den Rückwärtsgang ein, sobald Harriet in Sicht kam. Harriet bedauerte sie wegen ihrer Feigheit; noch mehr allerdings bedauerte sie Carmen. Carmen rannte vornehmlich vor sich selbst davon. Es gab Augenblicke, da konnte sie Harriet nicht ins Gesicht sehen. Harriet verstand Carmens Dilemma. Carmen hoffte, alles werde vorbeigehen.
Harriet fühlte sich hilflos und war hilflos. Sie wußte, ihr stand die unerquickliche Erfahrung bevor, mitanzusehen, wie ihre Geliebte mit achtzig Sachen gegen eine Wand raste. Die Frage war nur, wo und wie? Manche Menschen können rennen, bis sie vierzig sind. Manche schütten sich mit Whisky voll. Manche geben auf und sterben. Dann schon besser ein Aufprall und ein so verdammt harter Aufprall, daß du dich änderst, und zwar zum Besseren, dachte Harriet, aber das mitanzusehen war hart. Außerdem bestand noch die beängstigende Möglichkeit, daß Carmen eines Tages ganz schlicht aufprallte und sonst gar nichts geschah.
«Nochmals danke, daß ihr uns bei euch unterkriechen laßt», sagte Harriet, als sie und Jane sich unter einem Sonnenschirm am Strand niederließen.
«Noch ist die Woche nicht vorbei. Ihr kriegt am Ende die Rechnung, oder wir machen einen Kuhhandel.» Jane legte sich die Finger an die Schläfen.
«Na, das wäre eine Idee.» Harriet sah sie an. «Wieder Kopfschmerzen?»
Jane ignorierte die Frage, starrte in den Himmel und sagte: «Rawls, was wirst du tun?»
«Leben.»
«Das steht nicht zur Debatte. Wahrscheinlich bist du unsterblich.»
«Nektar und Ambrosia.»
«Das meine ich. Carmen trudelt über die Lesbensache hinweg. Sicher, die Tenniswelt hat sich schützend um sie geschart. Hast du Susan Reillys Presseerklärung gelesen?»
«Nein.» Harriet drehte sich um, so daß sie Jane im Liegen ansehen konnte.
«Sie hat gegen die Presse gewettert, die sich wie Bluthunde aufführe. Sie sagte, Carmen sei nicht homosexuell.» Harriet gab einen Brechlaut von sich. Jane zwickte sie mit Daumen und Zeigefinger in die Nase und fuhr fort: «Und sie sagte, daß man Leute nicht nach ihrem Umgang beurteilen solle. Schließlich sei sie, Susan Reilly, mit schwulen Männern befreundet.»
«Hat sie die Erklärung mit <Eure verlogene, beschissene Freundin> unterschrieben?»
«Kann sein, daß es Carmen hilft.»
«Ha! Es hält allen die Sache weiter vor Augen, und es hält allen Susan vor Augen, wo sie sowieso am liebsten ist, und noch dazu duftend wie eine Rose.»
«Da hast du allerdings recht, daran habe ich nicht gedacht.»
«Ich vermisse Baby Jesus unsäglich.»
«Sie ist in Cazenovia besser aufgehoben als unterwegs.»
«Ja. Was sickert denn so durch, Jane?» Sie schrieb Buchstaben in den Sand.
«Die amerikanischen Verleumdungsgesetze sind eine Sache. Britische Gesetze sind eine andere. Euch beiden wird man in England die Hölle heißmachen. Das sickert durch.»
Harriet seufzte. «Ich habe Carmen gesagt, daß ich deswegen nicht zum French Open und nach Wimbledon mitkomme, sondern zu Hause bleiben möchte. In unserer ersten Nacht hier packte sie das heulende Elend. Und wie. Ich kann sie nicht allein lassen.»
«Geh mit ihr, und sie wird genauso weinen.»
«Ich weiß, aber ich kann sie nicht im Stich lassen. Ich bin verdammt, wenn ich's tue, und verdammt, wenn ich's nicht tue.»
«Möglich.» Jane lächelte. «Harriet, ich kenne Carmen schon länger als du. Du kennst sie vielleicht intim, aber ich kenne ihre Lebensmuster. Sie braucht immer jemanden. Damit meine ich nicht, daß sie dich nicht liebt oder dich nicht braucht. Ich meine nur, daß sie einen Horror vor dem Alleinsein hat. Sie sollte mal ein Jahr allein leben, um zu beweisen, daß sie es kann. Vielleicht hilfst du ihr gar nicht damit, daß du gerannt kommst, wann immer sie ruft. Du kannst sie nicht jede Sekunde am Tag glücklich machen.»
Harriet blieb einige Minuten schweigend liegen. «Ja.»
«Ich sage dir nur, was ich sehe.»
«Wie kann ich sie bei den ersten beiden Turnieren des Grand Slam allein lassen? Sie werden sich auf sie stürzen, ob ich bei ihr bin oder nicht. Lieber stehe ich ihr bei und biege ab, was ich kann.»
«Abbiegen oder schlucken?»
«Das ist doch egal.»
«Harriet, ich bin deine Freundin, und ich sage dir, du bist ein Arschloch.»
«Weil ich gesagt habe, daß ich lesbisch bin?»
«Depp!» Jane rang die Hände. «Nein! Wenn du mitfährst, tust du ihr weh und dir auch, und wenn du hierbleibst, ist es dasselbe. Du kannst nicht gewinnen.»
«Zum Teufel, ich begreife mein Leben nicht.»
Jane stützte das Kinn in die Handflächen. «Ehrlich gesagt, ich glaube, ich begreife meins auch nicht. Ich will mal ganz offen sein. Carmen ist flatterhaft, vergnügungssüchtig, manchmal launisch. Sie langweilt sich sehr leicht und bekommt sehr leicht Angst. Sie reagiert auf diese Angst, indem sie wegläuft oder sie durch Hyperaktivität verdrängt. Sie rennt vor dem Lesbenproblem davon - bestärkt von 99 Prozent der Liga, ganz richtig -, und sie könnte dir davonlaufen. Laß dich durch diese zwei Tage der Ruhe nicht täuschen.»
«Mir! Ich bin die einzige Person, auf die sie sich verlassen kann.»
Jane zuckte mit erhobenen Handflächen die Achseln.
«Sie liebt mich.»
«Ich weiß, daß sie dich liebt, so sehr sie dazu in Anbetracht ihres Berufs und ihres Alters imstande ist.»
«Jane, was willst du von mir? Bisher ging es uns ziemlich gut, Carmen und mir. Das einzige Problem, das wir hatten, war meine Arbeit.»
«Gelöst zu ihren Gunsten. Angenommen, etwas geht nicht zu ihren Gunsten aus?»
«Ich habe Vertrauen zu Carmen. Ich liebe sie.»
Bei Amalgamated Banks las Dennis Parry den Kuzirian-Artikel mit mehr als nur Neugier. Schließlich hatten sie Carmen Semana 600000 Dollar geliehen. Wenn die Gewinne ihrer Firma von ihrer Popularität abhingen, konnte der Kredit von Amalgamated gefährdet sein. Wer würde schon ihre Modekollektion tragen wollen?
Der Anruf eines ängstlichen Dennis Parry zog Miguel den Magen zusammen.
«Dennis, machen Sie sich keine Sorgen. Die nächste Rate ist in zwei Monaten fällig. Sie bekommen Ihre 75000 Dollar pünktlich.»
Dennis war etwas beschwichtigt, als er auflegte.
Miguel zitterte. Würde sich der Skandal auf den nächsten Quartalsumsatz auswirken? Miguels Bank war nicht Amalgamated. Miguels Bank war seine Schwester.
In einem Golfwagen betrachtete Carmen den Sonnenuntergang, drehte sich zu Harriet um und sagte:
«Warum passiert das gerade mir?»
«Ich weiß es nicht.»
«Es ist nicht fair.»
«Nein.» Harriet sog die salzige Luft ein. «Die Sonnenuntergänge in Florida sind dramatisch. Sieh dir dieses Orange, Rosa und Violett an.»
«Ja.» Carmen berührte Harriets Arm. «Glaubst du, daß wir je wieder Spaß haben werden?»
«Ich glaube, daß alle Dinge vorübergehen. Auch das wird vorübergehen.»
«Hört sich an, als würde eine Nonne das sagen.»
«Ich bin keine Nonne.»
«Manchmal sehe ich dich an und frage mich, was du bist.»
Harriet wollte die Stimmung heben und sagte: «Stell dir vor, ich bin ein Engel mit Läusen auf den Flügeln.» Aber Carmen lachte nicht.
Zum Glück hatten Carmen und Harriet nach Amelia Island eine freie Woche, und sie fuhren nach Hause. Der Frühling flirtete mit Cazenovia. Da es so weit nördlich lag, blühten dort gerade erst die Krokusse. Überall in den Blumenbeeten um das hübsche Haus reckten Narzissen die Köpfe empor. Selbst Miguel war von der unter ihrer Schneedecke aufgetauchten Stadt bezaubert.
Carmen gab sich dem Fernsehen hin. Stundenlanges Fernsehen half ihr, sich zu entspannen und den drängenden Gedanken zu entfliehen. Bei ihrem Frühjahrsputz stürzte sich Harriet mit Leidenschaft auf den Mansardenschrank. Ohne es zu merken, begann auch sie, ihre Träume zu verdrängen.
In der Mansarde, wo es kühl und frisch war, stand ein riesiger Zedernholzschrank. Baby Jesus machte es sich auf einem Bord bequem, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß sie auf Harriets geliebten Kaschmirpullovern lag.
Harriet liebte die Mansarde mit ihren Giebeln. Die sechs Kilometer lange Fläche des Cazenovia-Sees lag spiegelglatt da. Vom Fenster aus konnte sie die Lichter in den Häusern am anderen Ufer sehen. Es ging die Legende, Hiawatha habe in diesem See gefischt. Eine von wütenden Einheimischen verfenkte Dampffähre ruhte am einen Ende des Sees.
Baby Jesus warf einen Pullover zu Boden. Harriet hob ihn auf, faltete ihn zusammen und merkte zu ihrem Erstaunen, daß sie weinte. Die Katze sprang ihr auf die Schulter und versuchte, ihr das Gesicht zu lecken. Harriet wischte sich über die Augen und trat ans Giebelfenster.
Muß wohl von dieser Spannung kommen, dachte Harriet.
Ein gigantischer Nachtfalter saß reglos innen am Fenster. Seine Flügelspannweite betrug mindestens achtzehn Zentimeter. Flügel und Körper schimmerten in blassem Minzgrün, seine Schultern und sein Schwanz waren kastanienbraun umrandet. Auf jeder Seite pulsierte ein kastanienbrauner Tupfen, der wie das Yin-Yang-Symbol aussah. Die dicken Falterbeine waren tiefbraun, während seine Fühler wie gelbe Farne leuchteten. Seine irisierenden Augen glühten. Der Nachtfalter war fast sechs Wochen verfrüht, aber er war da.
Von der Kreatur fasziniert, bewegten sich Harriet und Baby Jesus nicht. Schließlich öffnete Harriet das kleine Fenster, und der Riesenfalter flatterte in die Dämmerung, auf der Suche nach Freiheit oder Vergessen.
Als die beiden die Treppe hinunterstapften, sah Carmen vom Fernseher auf.
«Ihr wart ja reichlich lange da oben.»
«Wenn Baby hilft, dauert die Arbeit doppelt so lange.»
«Ich habe gehört, daß sie an einem neuen Roman schreibt.» Baby hörte unbeeindruckt zu, als Carmen fortfuhr:«Katapult, ein Roman über Katzenkriege!»
«Baby, du hast mich an der Nase rumgeführt», sagte Harriet zu dem alten Tier, das blinzelte. «Du hast gesagt, du schreibst an Katatonie.»
Inzwischen von der Glotze abgelenkt, fragte Carmen: «Oh, worum geht es denn da?»
«Katatonie handelt davon, wie man Cocktails für Parties und gepflegte Zusammenkünfte mixt.»
Aufgekratzt schlug Carmen ihr auf den Rücken und forderte sie zu einer Partie Romme heraus. Genau in diesem Augenblick wurde Harriet etwas an ihrer Einstellung gegenüber Carmen bewußt. Sie sah in Carmen mit ihren schimmernden Muskeln und hervortretenden Venen nie eine Frau. Carmen enttäuschte sie nicht. Sie verhielt sich selten wie eine Frau. Sie war weder einfühlsam noch fürsorglich. All ihre Energie war auf ein Ziel außerhalb ihrer selbst gerichtet. Wenn es nach Carmen ging, trug sie Trainingsanzüge oder Jeans. Jetzt, da Lavinia auf einer feminineren Aufmachung bestand, konnte man Carmen dazu bringen, daß sie ein Kleid und Make-up trug, aber sie wirkte nie wirklich glücklich oder weiblich in solchem Aufzug. Sie sah aus wie ein verkleideter Junge. Und vielleicht ist das auch ganz in Ordnung so, dachte Harriet. Der Sport ist immer eine Männerdomäne gewesen. Wenn Frauen sich auf die Härte und das Konkurrenzdenken des Sports einlassen, ist es unvermeidlich, daß sie sich wie Männer verhalten. Carmen ist der einzige Mann, den ich je geliebt habe, dachte sie und mußte insgeheim lachen.
Und Harriet liebte Carmen wirklich. Ihre Spontaneität, ihre sorglose Attitüde und ihre Unbekümmertheit um das Morgen, ihre animalisch gute Gesundheit fand Harriet berauschend, denn sie war alles andere als sorglos. Das Anziehendste an Carmen war, daß sie, wenn sie liebte, mit nichts zurückhielt. Sie lachte für Harriet. Sie siegte für sie, oder jedenfalls sagte sie das. Harriet wurde zur wichtigen Triebkraft bei Carmens Streben nach Erfolg, sie schätzte und bewunderte Harriet. Bewunderung macht süchtig.
Und die Details des täglichen Lebens ebenso. Wie viele Löffel Zucker nahm sie im Kaffee? Mochte sie Coca-Cola oder Pepsi, Kartoffelchips oder Salzbrezeln? War sie eine Früh- oder Spätaufsteherin? Las sie gern die Zeitung beim Frühstück? Solche Details verführen die Menschen zu dem Glauben, sie würden einander kennen.
Dann taucht plötzlich eine Krise auf, und die Person, die man so gut zu kennen glaubte, kann einen höllisch überraschen. Ein stiller Mensch kann vor Zorn explodieren. Eine quicklebendige Person kann erstarren. Ein rechtschaffener Mensch kann absinken und abscheulich werden. Eine Person am Rande der Gesellschaft, ein Säufer vielleicht, kann edel und stark werden. Keine weiß es, bis es ihr passiert. Harriet wußte nicht, wie Carmen sich sonst noch verhalten konnte, aber sie wußte, sie würde es erleben.
Etwa 400 Kilometer südlich von Cazenovia standen Jane und Ricky in Princeton vorihrer Krise. Die Tests stellten sich als positiv heraus. Jane hatte einen Gehirntumor. Die Ärzte erklärten, er sei inoperabel, aber mit Chemotherapie könne man vielleicht sein Wachstum aufhalten.
Jane kannte die Folgen von massiver Chemotherapie. Haarausfall, Erbrechen, räumliche Orientierungslosigkeit bei manchen und Gedächtnisschwund bei anderen. Manchmal schlug sie an, manchmal wirkte sie eine Zeitlang und manchmal wirkte sie überhaupt nicht. Sie haßte den Gedanken, das durchmachen zu müssen. Die Chancen waren gering, doch selbst eine vage Chance war besser als überhaupt keine.
Sie beschloß, sofort mit der Behandlung zu beginnen. Ihr Arzt sagte, sie könne wahrscheinlich zum French Open und Wimbledon fahren, solle aber die Therapie dort fortsetzen. Er machte alle Behandlungstermine in Frankreich und England für sie aus. Nach ihrer Rückkehr würde sie sich weiteren Tests und höchstwahrscheinlich weiterer Chemotherapie unterziehen.
Ricky und Jane beschlossen, niemandem etwas davon zu sagen, zumindest vorläufig nicht. Noch war zu vieles ungewiß und warum Freunde und Verwandte unnötig beunruhigen?
Als sie im Bett lagen, bettete sie ihren Kopf auf seine Brust. Er streichelte ihr herrliches Haar.
«Ich dachte immer, der Tod habe genau die gleiche Gestalt und Größe wie ich. Ein unsichtbares Seil ist um meine Taille geschlungen und das andere Ende um die Taille des Todes. Je jünger du bist, desto länger das Seil. Wenn der Tod mit einem Ruck daran reißt, kann ich voll auf der Nase liegen - verletzt, krank oder mit gebrochenem Herzen. Aber wenn ich standhaft am Seil ziehe, werde ich leben. Ich dachte immer, daß mit zunehmendem Alter die Distanz kleiner würde, bis der Tod und ich verschmelzen und einfach zusammen fortgehen.»
«Wir werden gemeinsam am Seil ziehen.» Ricky küßte ihr Haar, und Tränen liefen ihm über die Wangen.