37813.fb2
Die Periphérique umschlingt Paris wie ein Asphaltschlauch. Die verschiedenen Abfahrten können einen in vergangene kulturelle Jahrhunderte versetzen oder ins Verkehrschaos oder in die Vorortsterilität, die vor keinem Land haltmacht. DasSofitel, das offizielle Hotel der Teilnehmer am French Open, lag direkt an diesem Ring. Pendelbusse beförderten die Spieler und Spielerinnen zu den Trainingsplätzen und Spielen und zurück. Die Franzosen gaben vor, den männlichen und weiblichen Spielern gleiche Behandlung angedeihen zu lassen, aber in Wirklichkeit galt wie üblich die Regel: Männer zuerst.
Carmen und Harriet hatten sich in einem kleinen Hotel nicht weit vomSofitel verkrochen. Sich in der Lobby durch die Menge der Spieler und Spielerinnen, Trainer, Reporter und Groupies zu schlagen, war schon normalerweise schlimm genug. In ihrer Situation mieden sie die Massen lieber, als sich hineinzustürzen.
Keine der beiden Frauen erwartete, daß die Presse sie in Ruhe ließe. Überraschenderweise war die französische Presse zurückhaltender als die englische. Harriet fürchtete England so sehr wie die Bewohner von London die Pest von 1666. Dort würde es kein Entrinnen geben. Sie verdrängte den Gedanken daran. Sie waren für zwei Wochen in Paris, also sollten sie das Beste daraus machen.
Für Harriet begann das Turnier, als sie unter einem dicken Kastanienbaum bei den Tennisplätzen saß. Auf ihrem Weg zum Training beobachteten zwei Spieler Carmens fließende Bewegung beim Ballwechsel mit Schmettie Kittridge. Der große amerikanische Spieler sagte: «Wer steht auf Mädchen, aber kriegt keinen stehen?» Sein Trainingspartner zuckte die Achseln. «Carmen Semana». Lachend gingen sie weiter.
Großartig, dachte Harriet, Asche ist ihr schlimmster Belag. Dies hat ihr gerade noch gefehlt. Harriet klappte ihr Buch zu, stand auf und winkte zu Carmen hinüber. Vielleicht sollte sie sich einmal nach Jane und Ricky umsehen.
Das Roland Garros Stadion war 1927 erbaut und nach einem Flieger benannt, der im Ersten Weltkrieg gefallen war. Die Rennbahn Longchamps lag nicht weit entfernt. Harriet stellte sich die Menschen vor, die im edwardschen Zeitalter dort umherschlenderten, eine Menge, die sich von den heutigen Besuchern der Rennbahnen oder Tennisturniere sehr unterschied. Von der berühmten französischen Eleganz war im Roland Garros Stadion nichts zu sehen, schon gar nicht auf dem Westflügel. Die Stammgäste des Ostflügels mit der Sonne im Rücken und dicker Brieftasche, entsprachen ihrem modischen Ruf schon eher.
Das French Open erinnerte Harriet an Forest Hills. Forest Hills war mittlerweile nicht mehr in Betrieb, aber zu seiner Zeit hatte es die Besucher genauso physisch umschlossen wie das Garros. Beide waren efeuberankt, von humaner Größe, so daß die Architektur niemanden erschlug, und beide lagen am Stadtrand - gut erreichbar, doch nicht erstickt von dem Polypen Beton. Harriet hoffte, daß die Franzosen nie eine solche Bauwut durchmachen würden wie die Amerikaner. Noch immer vermißte sie Forest Hills als Austragungsstätte der U. S. Open. Was machte es schon aus, daß die Umkleideräume dort unmöglich waren. Das Stadion war schön.
Auf dem Gelände gab es ein Gewächshaus, und Harriet schlenderte hinein. Hinter einer Kübelpalme verborgen saß ]ane Fulton.
«Palmige Tage, Jane.»
«Hallo, wir sind gestern abend angekommen. Seit wann seid ihr hier?»
«Seit zwei Tagen. Sie will ein Gefühl für diesen Aschebelag kriegen, und Miguel will ein Gefühl für etwas anderes.»
Jane küßte Harriet auf die Wange. «Wie läuft es?»
«Mit alarmierender Regelmäßigkeit treffen haßerfüllte Briefe ein. Ich spurte zum Briefkasten, bevor sie es tut. Sie hat schon genug Aufregung gehabt, vor so einem Turnier. Wo ist Ricky?»
«Bringt seine Enten auf Vordermann.»
«Was?»
«Schaut, daß er alles in den Griff kriegt. Bei einem amerikanischen Turnier ist er schon schlecht genug. Schick ihn ins Ausland, und er ist ungeschickter als seine Großmutter.»
«Und wie geht es dir? Bevor ich meine Manieren ganz vergesse.» Harriet berührte eine pfirsichfarbene Rose.
«Einigermaßen. Immer noch lästige Kopfschmerzen.»
«Meine Nebenhöhlen sind angegriffen, aber deine sind ja anscheinend noch ramponierter. Geh zum Arzt.»
«Sie werden mich mit irgendeinem Medikament vollpumpen, das mich wachhalten soll, und ich schlafe auf der Stelle ein. Das ist bei mir immer so.»
Die beiden traten in den grauen Tag hinaus. «Hast du die Auslosung gesehen?»
«Noch bevor ich ausgepackt habe», antwortete Jane.
«Bei den Männern sind eine ausgemachte Sache.» Im Gegensatz zu den meisten Tennisbeobachtern war Harriet nicht ausschließlich Anhängerin des Spiels der Damen. Wahrscheinlich genoß sie das Spiel der Herren sogar mehr, weil sie da nicht für irgendwen zitterte; sie konnte sich entspannen.
«Von deiner Parteilichkeit mal abgesehen, würdest du nicht auch sagen, daß dies hier ganz nach einem Turnier für Page Bartlett Campbell aussieht?»
«Und Rainey Rogers, die Thronfolgerin, wartet schon im Hintergrund.» Harriet spürte einen Tropfen und hoffte, er käme von einem Vogel und nicht von einem Regenguß.
Jane schirmte die Augen ab und sah nach oben. «Wie könnte es auch anders sein - Regen.»
«Die Freuden eines Freiluftturniers.» Und sie rannten nach einem Unterschlupf.
Soviel Regen ergoß sich in diesen zwei Wochen auf das Roland Garros Stadion, daß es an das evakuierte Dünkirchen erinnerte. Die Menge blieb zu Hause. Ein annehmbarer Tag brachte sie zurück, doch den Spielerinnen und Spielern war keine Ruhe gegönnt. Wenn der Regen vorbei und der Platz bespielbar war, gingen sie hinaus, rot bis an die Knie stolperten sie zurück. Die Innenschenkelmuskeln schmerzten vom Ausgleiten. Auf der Asche war es so verführerisch, in einen Ball hineinzurutschen, statt die Füße zu bewegen. Nach jedem dieser Wolkenbrüche gingen die Platzwarte hinaus und kümmerten sich ums Spielfeld.
So was wie ein leichtes Match gab es nicht, es sei denn, man wäre gegen einen Querschnittgelähmten angetreten. Selbst einen untalentierten Spieler zu besiegen dauerte seine Zeit. Ein Spieler, der sich auf Rasen oder Kunstrasen gnadenlos abservieren ließ, hielt im French Open zäh durch. Diese drittklassigen Spieler wurden förmlich zu Giftzwergen. Es war so erschöpfend, sie zu schlagen, daß sogar die Spitzenspieler sich halbtot fühlten.
Carmen war da keine Ausnahme. Ihr Temperament, das sich auf Langsames oder Langsame nicht einstellen konnte, lag mit ihrem Körper im Kampf. Ihr Knie schmerzte, ihr Körper, so stark er auch war, ächzte nach jedem Match. Sie schwitzte kaum, doch der Wechsel von Regen und Hitze trieb ihr die Schweißperlen auf die Stirn. Sie haßte Stirnbänder, trug aber eines.
Die ersten Spiele gingen an sie. Probleme - in Gestalt von Susan Reilly - erwarteten sie möglicherweise erst im Halbfinale. Nicht daß Carmens Viertelfinalmatch ein Spaziergang gewesen wäre. Justine Haverford, die englische Spielerin, war auf dieser Schmiere gut. Carmen hatte bei der Auslosung Pech, aber Page Bartlett Campbell traf im Halbfinale auf Rainey Rogers, beide gingen davon aus, daß sie das Finale erreichten, und daran bestand anscheinend wenig Zweifel. Harriet und Carmen waren erleichtert, daß sich Rainey auf der anderen Seite befand, denn ewig mit Rainey konfrontiert zu sein, hätte Carmen für Page im Finale mürbe machen können. Carmen würde all ihre Kraft für Page brauchen, gegen deren Kaltblütigkeit genauso schwer anzukämpfen war wie gegen ihr Spiel.
Page und Jeffrey Campbell, Lieblinge der europäischen wie der amerikanischen Medien, ertrugen dies gern. Page genoß die öffentliche Aufmerksamkeit mehr, als sie zugab - freilich gab Page nie etwas zu. Die Vorzüge der Taktik, allgemein daherzuplaudern, ohne etwas von sich preiszugeben, waren Page wohlvertraut. Mit 27 blickte sie über ihre Schulter und beobachtete ein Heer von jungen Mädchen mit beidhändiger Rückhand, Zöpfen oder Pagenschnitt und fragwürdigen Umgangsformen. Page hielt auf Umgangsformen. Wenn diese Küken sie schon sklavisch imitierten, konnten sie ruhig auch ihre Umgangsformen imitieren.
Page blieb für Jeffrey immer ein Geheimnis, denn er hatte Mühe, unter die Oberfläche zu sehen. Doch Page hatte bereits im ersten Jahr ihrer Ehe begriffen, daß sie sich an einen ungewöhnlich aussehenden Mann mit gewöhnlichem Geist gebunden hatte. Sie war ehrgeiziger und intelligenter, zynischer. Zwar verbarg sie den Zynismus, hatte aber genug beobachtet, um zu wissen, daß das, was man sieht, nicht das ist, was man bekommt. leffrey machte sich ständig Sorgen: über sie, über seine Footballkarriere, über Geld. Page war kein Mensch, der vor dem Leben davonlief oder Verantwortung ablehnte, aber sie amüsierte sich gern. Sie konnte kaum jemanden kennenlernen, der nicht über Tennis redete. Sie sehnte sich nach der Gesellschaft aufregender Menschen. Kurz, sie heiratete einen Mann, der ihr nicht ebenbürtig war. Er war ehrlich, solide und anständig. Sie hatte es besser getroffen als 80 Prozent der Leute auf dieser Welt. Doch das war noch kein Ersatz für den Mangel an geistiger Stimulanz und Spontaneität. Page war ein bißchen einsam. Da ihre Ehe überall als die Liebe des Jahrhunderts gefeiert worden war, konnte sie natürlich mit niemandem über ihre Zweifel reden. Isoliert, wie man sowohl in der Welt des Tennis als auch m der des Football lebte, war sie nicht in der Lage, enge Freundschaften mit Menschen außerhalb des Sports zu schließen. Gerade jetzt wäre Jeffrey sehr verletzt gewesen, hätte sie Energien von ihm abgezogen. Ihre Terminpläne waren bereits vollgepackt genug, auch ohne daß sie neue Freundschaften, neue Verpflichtungen eingingen. Also konzentrierte sie sich auf ihr Spiel. Das French Open bedeutete für sie den Wiedereintritt in die Turnierrunde, und sie war entschlossen, es zu gewinnen.
Zu Carmens Glück war Justine Haverford auf dem Platz schwerfällig. Carmen bügelte sie mit 6:2, 6:3 nieder. Danach kam Susan Reilly. Hierfür mußte Carmen sich zusammenreißen. Was zwischen Rainey Rogers und Page passieren würde, blieb abzuwarten.
Je größer ein Turnier, desto genervter wurde Carmen. Kleinigkeiten gingen ihr auf den Geist. Der Ton von Harriets Stimme konnte sie vor Wut erzittern lassen. Der Verkehr brachte sie zur Raserei. Das Wetter verstärkte ihre Emotionen, nichts war schlimmer, als wenn ein Match mittendrin wegen Regen abgebrochen werden mußte, außer sie verlor das Match. Sie drehte psychisch auf und mußte dann plötzlich loslassen. Im Umkleideraum auf besseres Wetter zu warten, war wie das Warten auf die Guillotine.
Lavinia hatte zwar auf die europäischen Turniere keinen Einfluß, war aber überall sichtbar. Sie heftete sich Carmen an die Fersen und sorgte dafür, daß Carmen mit einer Vielzahl von Männern in Restaurants fotografiert wurde. Miguel folgte Harriet wie ein Schatten.
Eine kleine blaue Ader pochte über Lavinias Schläfe. Mit Mühe hatte sie Siggy Wayne und Seth Quintard aus dieser Besprechung hinausmanövriert. Seth war Carmen nun zwar dank Miguel mehr als gleichgültig, aber Athletes Unlimited wünschte keinen Ärger im Damentennis. Männern fehlt einfach das Feingefühl für eine solche Mission, dachte Lavinia. Niemand pries ihren Einfall als genial, aus dem einfachen Grund, weil das, was sie Carmen Semana nahelegen würde, absolut üblich war. Sie hatte dafür gesorgt.
Lavinia nahm einen Tennisschuh auf. Die Sohle glich einer Mondlandschaft. Man benutzte unterschiedliche Sohlenoberflächen für jeden Belag - Rasen, Asche, Teppich oder Kunstrasen. Soweit Lavinia wußte, plante niemand ein Turnier auf dem Mond. Sie legte den Schuh seitlich auf den Boden, denn sie war abergläubisch; es bedeutete Unglück, wenn man einen Schuh auf einen Tisch oder Stuhl stellte, und heute brauchte sie Glück.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie aufspringen. Mit müder Erhabenheit durchquerte sie das Zimmer. «Carmen».
Carmen schlüpfte herein und setzte sich Lavinia gegenüber. Der Schuh auf dem Boden entging ihr nicht, und so war es auch geplant.
«Möchtest du etwas trinken?»
«Nein, danke.» Carmens Haar war kürzer geschnitten als gewöhnlich.
«Wann hast du das gemacht?» Lavinia deutete auf Carmens Kopf.
«Gestern. Ich hatte das Föhnen satt. Nach dem Grand Slam lasse ich es wieder wachsen.»
«M-m-m.» Lavinia hielt Carmens Traum vom Grand Slam für total illusorisch. «Ich will gleich zur Sache kommen, Carmen. Dieser Lesbenskandal muß ein Ende haben.»
Carmen hörte schweigend zu.
Lavinia fuhr fort: «Mein linkes Ohr ist schon ganz geschwollen von den Telefongesprächen mit Turnierveranstaltern, Sponsoren und Howard Dominick, dem es bis oben steht. Wirklich, das Damentennis kann sich so etwas nicht leisten.»
«Ich auch nicht.»
«Miguel hat sein eigenes Vermächtnis hinterlassen. Du weißt natürlich, daß du den Jaguarhändler in Detroit auszahlen oder eine Gratiswerbung für ihn machen mußt.»
Carmen wand sich auf ihrem Stuhl. Sie wußte von nichts.
«Er bekam einen weißen Jaguar, Zwölfzylinder, im Austausch für deine Leistungen.»
«Ich habe ihn nie gesehen.»
«Er hat ihn nach Argentinien verschifft und wahrscheinlich gleich verhökert.»
Carmen stöhnte.
«Du sitzt in der Klemme. Ich weiß noch, was diese vier großen Turniere bedeuten.» Wie sehr es das alte Mädchen liebte, in die Vergangenheit zurückzutauchen. Wie Schauspieler sind offenbar auch Sportler unfähig, über ihren Applaus hinwegzukommen. Vielleicht hatte Lavinia keine Zukunft, aber Carmen hatte noch eine, zumindest bis ihr Spiel langsam schlechter wurde. Lavinia packte sie bei dieser Zukunft - jedenfalls glaubte sie das. «Weißt du, ich mochte das French Open. Die meisten Amerikaner zwar nicht, aber ich mochte es immer und mag es auch heute noch. Es hat einfach eine Atmosphäre, findest du nicht?»
«Ja. Aber ich bin auch keine Amerikanerin.»
«Das ist nicht zu ändern.» Lavinia lächelte ihr würdevollstes Lächeln. «Wegen dieses Schlamassels könntest du glatt aus Amerika abgeschoben werden. Wenn du zugibst, homosexuell zu sein.»
«Ich glaube nicht, daß sich deine Regierung an mir vergreifen wird. Ich hab keine Angst», bluffte Carmen.
Lavinia sah ihren Schützling an. Homosexualität störte sie nur wenig. Was diese Mädchen miteinander trieben, überstieg ihre Phantasie. Es kam ihr wie Verschwendung vor. «Warum es drauf ankommen lassen?»
«Ich habe nicht gesagt, daß ich lesbisch bin.»
«Das wird deine Rettung sein. Es gibt da einen Ausweg. Du kannst deine Haut retten, etwas fürs Damentennis tun und obendrein die Sponsoren und Veranstalter glücklich machen.»
«Und zwar?»
«Zuerst mal, kannst du Harriet aufgeben?»
«Ich liebe Harriet.»
«Danach habe ich nicht gefragt.»
Carmen zuckte die Achseln. «Ich weiß nicht.»
«Ich kenne dich, seit du sechzehn bist, Carmen.»
Mit glühendem Gesicht antwortete die Spielerin: «Was soll das heißen?»
«Homosexuelle Beziehungen halten nicht. Ihr scheint eine Drehtür an eurem Schlafzimmer zu haben. Wenn du Harriet verläßt, findest du jemand anders.» Lavinia war fast beleidigend.
«Ich habe keine Drehtür an meinem Schlafzimmer!»
«Na, lang halten deine Beziehungen doch nicht, oder?»
«Harriet und ich sind seit drei Jahren zusammen.»
«Dann ist das Stadium des Kennenlernens vorbei. Du kannst nicht auf die nächste Stufe der Liebe schalten. Ich kenne keine Homosexuellen, die das können. Willst du etwa so dein Leben verbringen?»
«Lavinia, was ich tue, ist meine Sache.»
«Da irrst du dich. Was du tust, ist jedermanns Sache, meine ganz besonders. Meine Lösung für dieses Problem ist einfach. Du wirst heiraten.»
Carmen saß, wie vom Donner gerührt da. Sie griff hinüber und nahm einen Schluck von Lavinias allgegenwärtigem Wodka. «Nur weiter.»
«Andere tun das auch.» Diskret vermied Lavinia, Namen zu nennen.
«Hast du da jemanden bestimmten im Auge?» Carmens Stimme klang fremd.
«Ja. Einen amerikanischen Jungen. Das wird dir helfen, wenn es zu Hause je Schwierigkeiten gibt. Oh, nicht bloß wegen Homosexualität, obwohl eine Ehe das in Ordnung bringt; ich meine, politisch.»
Carmen hörte zu, als Lavinia ihr erklärte, wie instabil Argentinien sei. Amerikaner sind doch alle gleich, wenn es um Südamerika geht, dachte Carmen. Es fällt schwer, sie nicht zu hassen. «Wer ist dieser Mensch?»
«Der Sohn eines alten Freundes von mir. Er lebt in Los Angeles, wo er sich als Schauspieler durchschlägt. Er sieht entsetzlich gut aus und ist bestens erzogen. Er wird sich bei gesellschaftlichen Anlässen vollendet benehmen, und er ist ein netter Mensch.»
«Warum sollte er sich darauf einlassen? Ist er auch schwul?»
«Danach habe ich nicht gefragt. In seinem Beruf gibt es bekanntlich keine Sicherheit. Du wirst ein Haus kaufen und es unterhalten. Ihr werdet vor der Eheschließung notariell vereinbaren, daß er nicht an dein Geld heran kann, aber neben dem neuen Haus, das euch gemeinsam gehören wird, den laufenden Kosten und einem Auto für ihn wirst du ihm jährlich 60000 Dollar zahlen, der Inflationsrate entsprechend zu erhöhen. Wenn du es bedenkst, ist das ein billiger Ausweg aus deinen Problemen.» Sie hielt inne. «Er hat für sein Alter einen guten Geschmack. Er wird dir helfen, ein wunderbares Haus einzurichten.»
Carmen fand, sie habe bereits ein wunderbares Haus, nur daß es ihr gemeinsam mit Harriet gehörte. Lavinia, unermüdlich in ihrem Einsatz fürs Tennis, bot Carmen eine perfekte Lösung an. Carmen war nicht so stark, wie sie glaubte. Ihre Karriere mußte Priorität haben. Das sagten ihr alle.
«Und wann lerne ich diesen Mann kennen?»
«In der ersten Woche nach deiner Rückkehr in die Staaten. Du wirst ihn mögen. Ich denke, ihr solltet planen, zu Weihnachten zu heiraten. Gleich nach dem Australian Open.»
Als Carmen schließlich Lavinia verließ, ging sie zu ihrem Hotel zurück. Sie wußte nicht, wann oder wie sie es Harriet sagen würde. Sie blieb an einer Ecke stehen, als ihr einfiel, daß sie nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte. Die Straßenlaterne umrahmte ihren Kopf wie ein ranziger Heiligenschein.
Susan Reilly mochte Asche genausowenig wie Carmen, glaubte aber, sie könne Carmen austricksen. Susan war dieser Ansicht bei all ihren Gegnerinnen. Und oft hatte sie recht.
Alicia ließ sich auf der Tribüne nieder. Craig und Lisa würden für Wimbledon rüberkommen, also hatte sie Susan bis zur letzten Juniwoche ganz für sich. Susan zog sich während eines großen Turniers ganz von der Welt zurück. Jeden wachen Augenblick widmete sie dem Austüfteln von Strategien und dem Studieren der Psyche ihrer Gegnerin, ihrem Körper, dem Wetter. Im Gegensatz zu den meisten Spielerinnen sah sie nicht fern; vielleicht bei kleineren Begegnungen, aber nicht bei einem Grand Slam-Turnier. Ihre Trance dauerte an, bis sie verloren oder gewonnen hatte.
Schon als Schulmädchen hatte sie den Sport geliebt. Zwar haßte sie das Verlieren, aber sie liebte das Gewinnen. Sie ging vom College ab, weil die Damenturnierrunde zum richtigen Zeitpunkt für Susan gegründet wurde. Billie Jean King, Betty Stoye, Virginia Wade und andere nahmen die großen Risiken auf sich. Lavinia Sibley hielt die Fäden in der Hand; die Spielerinnen hielten sich zur Verfügung. Außer auf dem Tennisplatz nahm Susan nie ein Risiko auf sich. Es war nichts Schlimmes daran, aus der Arbeit anderer Kapital zu schlagen. Wir alle leben von der Arbeit der Toten und der lebenden älteren Generationen. Sie nahm an keiner Sitzung der Spielerinnenliga teil. Sie unterstützte keine Ferienlager für Kinder, sie unterrichtete nie in Camps oder Kursen. Susan tat nur, was für Susan gut war.
Leider war das Gewinnen mittlerweile für Susan nicht mehr gut. Sie haßte das Verlieren mehr, als sie das Gewinnen liebte. Was ihr in ihrer Jugend Selbstvertrauen und Freude geschenkt hatte, war für sie mit dreißig ein Kampf gegen den Wahnsinn geworden. Mit ihrer ganzen Willenskraft war sie auf Sieg aus. Sie mußte sich beweisen, daß sie noch einmal gewinnen konnte. Mit jedem weiteren Jahr verringerte sich ihre Chance, den Grand Slam zu gewinnen. Jedes weitere Jahr zehrte an ihr.
Sogar ihre Liebesaffären verloren an Reiz. In ihren Zwanzigern liebte und verließ sie ihre Gefährtinnen. Das tat sie noch immer, doch in ihren Zwanzigern hatte sie Wonnen, Schauer, Höhe- und Tiefpunkte erfahren. Auch wenn sie noch immer regelmäßig Orgasmen hatte, wurde sie immer gereizter über jede Störung in ihrem Leben und unterdrückte das heimliche Entsetzen darüber, daß niemand sie verstand. Sie litt unter geistiger Anorexie.
Der bedeckte Himmel hing so tief, daß es schien, als durchbohre ihn der Stacheldrahtzaun, der das Stadion umgab. Susan ging auf dem Platz in Position. Dies war das erste Turnier im Grand Slam. Wenn sie Carmen jetzt stoppen konnte, wäre sie befriedigt. Gewiß, sie wollte den Grand Slam gewinnen, aber sie war besessen von dem Wunsch, Carmen zu stoppen. Da sie die Niederlage haßte, erniedrigte sich Susan noch mehr, indem sie Carmen zu ihrer Feindin hochstilisierte. Sie verfluchte den Tag, an dem sie mit Carmen ins Bett gegangen war. Damals war sie vierundzwanzig gewesen und Carmen sechzehn. Sie mußte nicht ganz bei Verstand gewesen sein. In jener Zeit, ehe sich Harriet ihrer annahm, hatte Carmen ausgesehen wie ein Automechaniker. Susan wollte diese kurze, lächerliche Affäre vergessen. Sie war nicht einsam gewesen. Oben in den Bergen hatte sie eine heimliche Geliebte - und außerdem Craig. Es hatte noch nicht einmal etwas mit Lust zu tun gehabt. Sie hatte Carmen während eines Turniers in ihrem Haus in San Francisco wohnen lassen. Eines Nachts kroch Carmen zu ihr ins Bett, und Susan warf sie nicht raus.
Carmens Erinnerung war eine ganz und gar andere. In ihrem Gedächtnis hatte eine große Spielerin ihr zu einer Zeit Aufmerksamkeit gezollt, als sie lediglich ein Talent, noch keine Könnerin gewesen war. Sie erinnerte sich, mit welchem Vergnügen Susan sie ihren ersten Hamburger von McDonald's verspeisen sah, sie in den ersten amerikanischen Film ausführte und ihr San Francisco zu Füßen legte. Sie erinnerte sich daran, wie überwältigend charismatisch sie Susan gefunden und daß sie alles geglaubt hatte, was Susan sagte. Sie war darauf versessen gewesen, mit Susan zu schlafen, aber fairerweise mußte man hinzufügen, daß sie mit sechzehn einfach darauf versessen gewesen war, mit irgendwem zu schlafen. In den ersten drei Tagen jener Woche massierte sie Susan jeden Abend den Rücken, bevor sie sich ins Gästezimmer am Ende des Flurs verzog. Eines Nachts blieb sie da. Susan warf sie nicht raus. Sie rollte sich herum und tat so, als schliefe sie, aber Carmens tolpatschige Weckversuche wirkten.
Niemand hatte Carmen je gesagt, daß Gott, wenn er sie strafen wollte, ihre Gebete erhören würde. Die Person, die sie am meisten bewunderte, lag in ihren Armen. Diese Liebe war so vollkommen, daß es nicht zu ertragen war. Nach dem Turnier fuhr Susan nach Houston weiter, und Carmen kehrte nach Buenos Aires zurück. Immer wieder durchlebte in ihrer Phantasie sie jene Tage, jene Nächte mit Susan Reilly. Susan rief sie nicht an, aber schließlich ist es auch schwierig, in Buenos Aires anzurufen, und sehr teuer. Carmen nahm das nicht übel. Sie hatte in ihrem Adressenbuch einen Kalender; darauf strich sie jeden Tag mit einem roten X aus. Sie würde in drei Wochen in Amerika Turniere spielen. Es waren die längsten Wochen ihres Lebens. Sie beschloß, Argentinien ganz den Rücken zu kehren. Sie hatte Amerika gekostet. Sie hatte Susan gekostet.
Susan weigerte sich, die Verantwortung für Carmen zu übernehmen, indem sie sie fallenließ, sobald sie vor ihrer Tür stand. Da sie auch sonst jede Verantwortung verweigerte und ihre anderen Geliebten ebenso fallenließ, war dies nichts Besonderes. In jenen Monaten, in denen Carmen allein in einem fremden Land lebte, dessen fremde Sprache ihr zu schaffen machte, bewahrte Carmen nur ihre zunehmende Körperbeherrschung vor dem Verrücktwerden. Tennis hielt sie am Leben. Dann, nach Monaten des Schweigens und der Zurückweisung, fragte Susan, ob Carmen Semana ihre Partnerin im Doppel werden wolle. Susan wollte im Doppel ebenso viele Titel gewinnen wie im Einzel. Mit diesem Kind würde sie es schaffen. Und Carmen sagte ja. Sie hatte gehofft, es würde mehr bedeuten, aber es bedeutete nur, mit Susan im Doppel zu spielen. Resigniert spielte Carmen sich das Herz aus dem Leib. Sie konnte nicht aufhören, Susan zu lieben. Susan nahm nur vom Tennis Notiz.
Im Laufe der Jahre verblaßte die unschuldige Liebe einer Sechzehnjährigen. Je öfter Carmen sah, daß Susan Menschen wegwarf wie alte Schuhe, desto weniger mochte sie sie. Aber selbst heute noch konnte sie nicht begreifen, was Susan getan hatte. Einfach weil sie ihre erste Geliebte gewesen war, bewohnte Susan Reilly einen verschütteten Winkel in Carmens Herzen. Carmen vergaß nie die Liebe jener Tage in San Francisco, selbst als sie es lernte, Susan Reilly zu hassen.
Die beiden nahmen Aufstellung. Das Match begann langsam. Jede Spielerin gewann ihren Aufschlag. So weit keinerlei Überraschungen.
«Aus?»
Der Linienrichter antwortete auf französisch. Susan antwortete mit englischen Flüchen. Der Linienrichter, ein echter Pariser, tat, als verstünde er kein Wort. Susan stolzierte zur Grundlinie und erwartete den Aufschlag. Carmen gewann den ersten Satz 7:5.
Der zweite Satz, mit ein paar weiteren Reilly-Ausbrüchen gepfeffert, wurde schneller. Die Punkte waren nicht kürzer, nicht auf Asche, doch das Tempo wurde schärfer. Beide Frauen waren in glänzender Kondition.
Susan wurde über Carmens Aggression immer wütender. Warum war Carmen nicht in ein Dutzend Scherben zersprungen, die sich über den Platz verteilten? Hatte der Skandal sie denn nicht umgehauen? Demütigte es sie etwa nicht, ihr Gesicht auf dem Platz zu zeigen und zu wissen, daß alle sie für eine Lesbierin hielten? Susans Konzentration verlagerte sich unmerklich vom Spiel auf das, was im Kopf ihrer Gegnerin vorgehen mochte. Bevor Susan sich zusammenriß, nahm Carmen ihr den Aufschlag ab und ging mit vier zu drei in Führung. Susan kämpfte, aber sie war eine Spur zu unkonzentriert gewesen und konnte ihren Rhythmus nicht finden. Ihre wachsende Frustration schwächte ihr Spiel. Carmen gewann den zweiten Satz mit einem klaren 6:4.
Außer sich vor Wut schleppte Susan sich ans Netz. Sie ließ ihre Hand über Carmens ausgestreckte Handfläche gleiten. Sie konnte Carmen nicht ansehen. Sie hätte sie sonst wieder geohrfeigt.
«Ich hab's vermasselt!» Susan hieb ihren Schläger gegen den Schreibtisch des Hotelzimmers.
Alicia tätschelte ihr den Rücken. «In Wimbledon wirst du sie schaffen.»
«Ich Hornochse. Es war mein Fehler. Ich habe die Konzentration verloren.»
Alicia tätschelte sie wieder. Susan schlug ihre Hand weg. Die Stimmung wurde duster. «Das kann jedem passieren.»
«Jetzt muß ich bis zum nächsten Jahr warten, um den Slam in Angriff zu nehmen.» Susan trat gegen ihren zerbrochenen Schläger.
«Du hast noch Jahre vor dir», log Alicia.
«Ich dachte, ich hätte dieses Weib kleingekriegt. Ich dachte, diese Lesbenkiste lenkt sie vom Tennis ab.»
In Alicias Kopf blitzte ein Warnlicht auf. «Was?»
«Diese schlechte Presse - ich dachte, das würde sie fertigmachen. Du weißt ja, wie emotional sie werden kann.»
«Ja, das ist wirklich merkwürdig», meinte Alicia doppeldeutig.
«So eine Entfesselungskünstlerin! Ich kenne dieses Miststück seit sechs Jahren, fast seit sieben. Sie stellt sich einer Sache nur, wenn sie ihr unter die Nase gerieben wird. Zieht sich einfach aufs Tennis zurück. Scheiße. Na, die Welt wird ihr schon auf die Schliche kommen. Früher oder später wird sie schon noch ihr blaues Wunder erleben. Sie gewinnt den Slam nicht.»
Alicia hatte das vage Gefühl, daß Susan selbst keine allzu schlechte Entfesselungskünstlerin abgab. «Du haßt sie wirklich, nicht?»
«Noch schlimmer. Sie langweilt mich.» Susan feuerte ihre Socken gegen die Wand.
«Hast du eine Idee, wie diese Lesbengeschichte ins Rollen gekommen ist?»
Susan wurde bleich. «Wieso sollte ich das wohl wissen?» Ihre Stimme wurde schrill.
Alicia musterte sie. «Ich weiß nicht.»
«Laß uns morgen früh trainieren. Ich werde acht Stunden am Tag trainieren, wenn's sein muß.»
Die meisten Leute in Carmens Situation wären in Miguels Zimmer gestürmt und hätten eine Erklärung über den Jaguar verlangt. Außerdem hätten sie sich arge Sorgen um das Geschick ihrer Geliebten gemacht. Aber Carmen war nicht wie die meisten Leute. Sie verdrängte diese Fragen aus ihrem Kopf und konzentrierte sich ausschließlich auf das French Open. Wenn irgend möglich, würde sie erst nach Wimbledon wieder über irgendwas nachdenken.
In den Vereinigten Staaten konnte Howard Dominick von Tomahawk nicht aufhören, sich Sorgen zu machen. Lavinia Sibley Archers Versicherung, sie werde Carmen schon zur Räson bringen, beruhigte ihn nicht. Howard unterstellte, alle Sportjournalisten seien Schmierenschreiber. Sie kritisierten weder Spieler noch Organisationen, denn wenn sie es taten, unterdrückten deren Manager alle Kontakte zu ihnen. Und ein Reporter ohne Interviews ist wie ein Tennisspieler ohne Aufschlag.
In der Vergangenheit hatte man sich darauf verlassen können, daß die Sportjournalisten im Chor mit Lavinia oder Athletes Unlimited weinten, jubelten, Hiebe verteilten oder säuselten. Martin Kuzirian hatte dieses gemütliche Arrangement gründlich kaputtgemacht. Da Kuzirian keine Interviews mehr bekam, setzte Howard voraus, daß er aufgeben werde. Aber das tat Kuzirian nicht. Er wurde hartnäckiger. Er begann die finanziellen Vereinbarungen zwischen Veranstaltern, Sponsoren und Spielern auszuschnüffeln. Nicht daß diese Geschäfte immer unehrlich waren, aber bei mehr und mehr Turnieren wurde Geld verloren. Das war in Howards Augen schlimmer, als unehrlich zu sein.
Kuzirian benutzte die Lesbensache, um seine Karriere als unbestechlicher Reporter voranzutreiben. Wenn er schon im Funktionärsbüro verhaßt war, dann wollte er auch mit Stil verhaßt sein. Mehr Leute denn je lasen seine Kolumne.
Howard mochte angewidert sein, aber er wußte, daß einem Reporter, der Mut bewies, andere womöglich folgen würden. Der Sportreporter als verkappter Public-Relations-Mann würde bald passe sein. Howards einziger Trost war, daß die meisten von ihnen es noch immer nicht verstanden, an Beweismaterial heranzukommen und erst recht nicht schreiben konnten.
Das war sein einziger Trost. Tomahawk konnte sich einen Skandal im Damentennis nicht leisten, da die Firma so unmittelbar mit diesem Sport identifiziert wurde. Einmal verlorenes Prestige ließ sich gewöhnlich nicht zurückgewinnen.
Außerdem besaßen Frauen als Profisportler keinen Neuigkeitswert mehr. Je länger sie Lavinias Mädchen sponserten, desto weniger würde es Tomahawk bringen. Es mochte ja für das Damentennis gut sein, aber war es für Tomahawk gut? Als Chef der Tochterfirma Tomahawk innerhalb des Konzerns Clark & Clark wußte Howard genau, wo seine Verantwortung lag. Der Lesbenskandal lieferte ihm einen guten Grund auszusteigen, ohne daß jemand in die Bücher sah. Sein Arsch stand auf dem Spiel. Wenn er die Förderung des Damentennis beendete, dann mußte er es so tun, daß er seine Autorität wahrte. Und wenn Gott es gut mit ihm meinte, würde er im gleichen Augenblick die nächste Brooke Shields finden. Schluß mit dem Wildfang-Image für Tomahawk.
Am Morgen des Finales gegen Page Bartlett Campbell fauchte Carmen Harriet an, entschuldigte sich, drehte sich um und tat es wieder, als Harriet sie fragte, ob ein bestimmter Rock gebügelt werden solle. Harriet hatte immer ein Reisebügeleisen im Gepäck und bügelte jeden Dress von Carmen auf. Sie konnte es nicht ertragen, wenn sie auch nur mit einer Knitterfalte auf den Platz ging.
«Ich dusche jetzt.» Carmen knallte die Tür zu.
Carmen kam wieder ins Zimmer, nachdem sie ihr Haar geföhnt hatte, und setzte sich, um ihre Melone aufzuessen. Das Schweigen dauerte fünfzehn Minuten.
Harriet brach es schließlich. «Gibt es etwas, das du mir sagen willst?»
Carmen ließ den Löffel in der Luft schweben. «Hm, nicht vorm Finale.» Sie fragte sich, ob Harriet etwas über ihr Gespräch mit Lavinia wußte. Puterrot verschlang Carmen ihre Melone.
Harriet lächelte: «Ich hoffe, du gewinnst.»
«Das werde ich.» Carmen küßte Harriet. Sie ging zum Schrank und suchte ihre Sachen für das Match zusammen.
Harriet kämpfte gegen hämmernde Kopfschmerzen an und fragte sich, was passiert, wenn eine kleine Lüge Wirklichkeit wird - die Wirklichkeit zur Lüge.
Es gibt Augenblicke im Sport, da gelingt alles. Glückliche, glanzvolle Momente, denn wie perfekt man seine Rolle auch spielt, es können immer tausend winzige Dinge schiefgehen. Wenn sie es nicht tun, vergißt man es nie - die Spieler nicht, das Publikum nicht, nicht mal die Platzwarte. Der Sport entkleidet einen Menschen seiner Persönlichkeit und legt die weißen Knochen seines Charakters bloß. Der Sport gibt Spielern die Gelegenheit, sich zu erkennen und zu prüfen. Der große Unterschied zwischen Sport und Kunst liegt darin, daß Sport mittels seines Systems - wie ein Sonett - Schönheit erzwingt. Während die Kunst immer wieder Grenzen durchbricht und überschreitet.
Tennis, in feste Grenzen gesperrt, in ein Feld, in ein grünes Rechteck, fordert die menschliche Seele heraus. Ein Tennisplatz ist wie ein Sarg, nur größer. Jemand kann eine neue Technik erfinden, aber die Linien, die Regeln liegen fest. Trotz der trüben Intelligenz von Veranstaltern und der unseligen Industrie, die Tennis zu einem Werkzeug unter vielen reduziert haben, mit dem sich Intimpuder, Bier und Autos verkaufen lassen, bricht die kommerzielle Struktur doch gelegentlich auf und die menschliche Findigkeit kommt zum Vorschein.
Das Finale der Damen im French Open war solch ein Moment. Page Bartlett Campbell gegen Carmen Semana, die klassische Grundlinienspielerin gegen die Königin des Aufschlags und Volleys - das gab den Leuten eine Ahnung davon, was hinter der puren Gier noch alles existiert.
Der erste Satz verlief nach den Erwartungen der Punktrichter. Page klebte an der Grundlinie und trieb Carmen zu Fehlern. Eine große Aufschlag- und Volleyspielerin lieferte sich aus. Page wußte, daß Carmen nach einem harten Aufschlag, nach jedem tiefen Schmetterball, ans Netz käme. Das war Carmens Domäne. Von diesem Angelpunkt aus konnte sie, wie Archimedes, die Welt drehen. Schlag direkt auf ihren Körper, und sie schmettert in kurzem Winkel zurück. Schlag weit, und sie springt in den Ball und wehrt ihn ab. Page, eine Grundlinienspielerin, konnte sich nicht allzu viele unterschnittene Bälle leisten. Wenn sie Carmen Semana am Netz ausspielen wollte, mußte sie den Ball verteufelt flach und hart schlagen oder Carmen mit einem gemeinen Topspin passieren. Page würde haarscharf placieren müssen, denn selbst die schnellste Volleyspielerin kann die unerhörte Wucht eines Balls nicht abfangen, der mit aller Kraft die Linie entlanggeschossen wird.
Der erste Satz ging zwischen den beiden Frauen hin und her, aber Page Bartlett Campbell war imstande, eine Münze drei Meter hinter der Grundlinie zu treffen. Sie war besser als ein Scharfschütze in einem Flying Tiger. Carmen, die gut spielte, ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen. Nur eine Göttin hätte diese tödliche Zielsicherheit über ein ganzes Match hin durchhalten können. Freilich glich Page einer solchen Göttin mehr als jede andere Sterbliche.
Carmen mußte dieses Finale gewinnen. Niemand glaubte, daß sie auf Asche siegen könne. Es war der Anfang ihres Traums, des Grand Slam, und es würde die anderen Spielerinnen einschüchtern, wenn sie wußten, daß sie die beste Ascheplatzspielerin der Welt besiegen konnte.
Carmen verlor den ersten Satz im Tie-Break.
Im zweiten Satz drückte Carmen von Anfang an aufs Tempo, ging Risiken ein, aber keine törichten. Mit Zuversicht entdeckte sie Gelegenheiten. Indem sie ins Mittelfeld lief, schlug sie einen Halbvolley, der über das Netz schnitt und tot war. Der Stoppball trug ihr den Applaus der Menge ein. Page winkte - ein großartiger Ball war ein großartiger Ball - und grub sich dann in die Grundlinie ein wie ein Infanterist vor Verdun. Diese Campbell war psychologisch nicht zu schlagen. Ihre Präzision hielt an. Ihr kurzer Rückhand-Cross zehrte an Carmens Durchhaltekraft. Page zog sie nach vorn, konterte dann mit Passierbällen, wenn sie konnte. Sie trieb sie von einer Seite des Feldes zur anderen. Carmen, ein Panther, erweiterte ihr Bewegungsvokabular. Es war, als dehne sich ihr Körper um einige Zentimeter. Sie war zur Stelle.
Betrachtete man sie als Göttinnen, dann war Page Athene. Ihr Spiel war das vollendete Ergebnis von Rationalität, Planung und tadelloser Ausführung. Carmen dagegen war Artemis, die Göttin der Jagd. Sie sprang, schnellte hoch und wirbelte in einem Ballett der Kraft umher. Ihr Spielaufbau war bei ihrer phänomenalen athletischen Brillanz von zweitrangiger Bedeutung. Page durchdachte jeden Ballwechsel; sie konnte den Grad des Dralls und die Höhe des Prellens ermessen, noch bevor der Ball auf ihrer Seite des Netzes war. Carmen verstand sich auf Strategie, aber in ihrer Bestform schien sie von göttlicher Eingebung geleitet zu sein.
Der Kontrast der Persönlichkeiten elektrisierte die Menge. Die Zuschauer ergriffen Partei, versuchten zu entscheiden, welche der beiden Frauen gegenwärtig wohl die größte lebende Spielerin der Welt sei. Die Zuschauer wußten, daß sie etwas Ähnliches für Jahrzehnte nicht wiedersehen würden. Zwischen Page Bartlett Campbell und Carmen Semana erreichte der Wettkampf sein höchstes Niveau und wurde zu einer geistreichen Form von Zusammenspiel.
Carmen gewann den zweiten Satz mit 7:5.
Jeffrey Campbell mampfte vier Päckchen Kaugummi. Harriet betete mit ausdruckslosem Gesicht darum, daß die Muskeln um ihr Zwerchfell sich nicht noch mehr verspannten. Sie konnte kaum atmen, und der Schweiß rann ihr aus den Achselhöhlen. Ihrer Nerven wegen entfernte sie sich vor jedem wichtigen Turnier die Achselhaare. Nervös zu sein war eine Sache. Zu stinken eine andere. Ihr Mund war trocken. Sie ließ Carmen nicht aus den Augen. Ihre Antennen - gewöhnlich begannen sie in der Nacht vor einem Match zu funktionieren - sagten ihr das Ergebnis vor. Sie wachte morgens auf und wußte, ob Carmen gewinnen oder verlieren würde. Heute morgen war sie mit dem Gefühl aufgewacht, daß Carmen gewinnen würde, doch als sie nun Page auf ihrem besten Belag erlebte bei einem Turnier, das sie wiederholt gewonnen hatte, stellte Harriet ihre Prophezeiung in Frage.
Mittlerweile waren die Frauen schon drei Stunden in der Nachmittagssonne. Jedes Spiel ging auf Gleichstand, Vorteil, Gleichstand, Vorteil. Der dritte Satz stand fünf beide. Aufschlag Page.
Pages Aufschlag war tückisch. Sie hatte nicht Carmens peitsehende Kraft. Was sie besaß, war jene tödliche Präzision und ausreichend Kraft, um sich eine Gegnerin vom Leib zu halten. Ihr feminines Aussehen täuschte über ihre Kraft hinweg. Wenn nötig, hatte Page einen überraschend flachen, kraftvollen Aufschlag. Im allgemeinen bewahrte sie sich ihre Energie, entschied sich für Placiertheit und ein nettes Tempo. Ihre Grundschläge verließen sich aufs Drehmoment. Aus der Drehung ihres Körpers feuerte sie den Ball über das Netz. Wer oft gegen sie spielte, unterschätzte nie ihre Kraft. Die Sonntagstrainer auf den Tribünen glaubten, Page Bartlett Campbell habe bloß Kopf und keine Muskeln. Zu schade, daß sie nicht die Gelegenheit hatten, gegen sie zu spielen. Sie hätte Hackfleisch aus ihnen gemacht.
Drei beide der Spielstand, und Page schmetterte einen Aufschlag auf Carmens Rückhand, dem sie ans Netz folgte. Page kam sonst nur zum Händeschütteln ans Netz, wenn das Spiel vorbei war. Sie trickste Carmen aus und schmetterte einen Vorhand-Volley astrein in die Ecke.
Bei 40:30 pendelte Carmen vor und zurück und erwartete den Aufschlag. Sie wußte nicht, was sie zu erwarten hatte. Page servierte in üblichem Tempo. Carmen schickte eine überrissene Vorhand die Linie entlang. Gleichstand. Page bat den Balljungen kühl um einen Ball. Sie atmete tief, beruhigte sich und feuerte diesen flachen Aufschlag noch einmal. Carmen war wieder überrascht, und Page tanzte ans Netz; nie wirkte sie plump oder schwerfüßig. Carmen schlug den Return über Pages Körper hinweg. Page stand in dem Ruf, Angst vor dem Netz zu haben. Carmen nahm an, daß sie - statt Linienbälle zu spielen - lieber auf sie eindreschen und vielleicht zu einem Fehler treiben sollte. Ohne jedes Augenblinzeln nahm Page den Ball mit offenem Schlägerkopf, ohne Neigung. Der Ball prallte ab, Carmens Kraft schlug auf sie selbst zurück. Carmen jagte zu dem weiten Return, und mit einem übermenschlichen Ausholen und der Drehung ihres stähleren Handgelenks schmetterte sie einen klaren Gewinnpunkt zur Linie.
Ihr Vorteil. Carmens ständige Pendelbewegung bei der Aufschlagannahme ließ nichts von ihrer Angst ahnen. Sie war jetzt seit dreieinhalb Stunden in der Sonne, auf mörderischer Asche. Sie wurde müde, und sie wußte es. Page wurde ebenfalls müde, aber keine konnte das Tempo vermindern. Eine Spur von Unentschlossenheit, ein Anflug von Erschöpfung, und eine hätte die andere auseinandergenommen.
Page servierte hart auf Carmens Rückhand. Der ständig unterschnittene Ball schoß über das Netz zurück. Pages beidhändige Rückhand machte mehr Schritte zum Ball erforderlich. Sie schaffte es kaum, doch gelang ihr ein redlicher Return. Carmen nützte die Chance und legte alles, was sie hatte, in diesen Ball. Sie schmetterte ihn zur Grundlinie zurück. Page schlug den Return fast in Schulterhöhe, aber er kam zu schwach und ging ins Niemandsland. Augenblicklich stand Carmen parat. Page lauerte an der Grundlinie und erwartete den gewaltigen Schlag, der mit Sicherheit erfolgen würde. Carmen brachte den Ball so gefühlvoll über das Netz, als setzte ein Künstler einen Pinselstrich auf die Leinwand. Der Ball fiel über das Netz, drehte sich rückwärts und war unerreichbar. Carmen durchbrach Pages Aufschlag. Sie mußte das gewonnene Terrain nur noch halten, um das Match zu gewinnen.
Das dauerte weitere zwanzig Minuten. Niemand konnte es fassen, wie sehr diese Frauen einander quälten. Jeder Punkt war eine Agonie. Page mobilisierte alles an Reserven und Mut, was sie besaß. Ihre mörderischen Passierschläge hätten einer schwächeren Spielerin das Rückgrat gebrochen. Carmen lief, bis sie glaubte, ihre Lungen platzten. Sie schlug einen Rückhand- Volley am Netz aus dem Sprung, donnerte den Ball, wirbelte einmal um sich selbst und hieb Pages Return als Vorhand- Volley. Und doch verlor sie diesen Punkt schließlich noch.
Das Publikum war in emotionaler Hochspannung. Jane und Ricky, hypnotisiert von der Qualität des Spiels, kommentierten die Punkte sehr spärlich. Das Tennis war so phantastisch, daß man besser still zusah. Das Publikum hielt den Atem an. Nichts war zu hören außer dem Ping des Balles auf den Schlägern und das Ächzen der Frauen, die offensichtlich am Ende waren.
Schließlich, bei eigenem Vorteil, legte Carmen ihre letzte Kraft in einen gewaltigen Aufschlag. Pages Aufschlagsreturn war scharf, aber kurz; Carmen spurtete nach vorn. Page schoß zur Linie. Carmen legte einen sechsten Sinn an den Tag, katapultierte ihren Körper parallel zum Netz und blockte den Ball. Page rannte auf ihn zu, konnte ihn aber nicht übers Netz bringen.
Carmen Semana gewann das French Open. Sie gewann das erste der großen vier, das Turnier, von dem niemand geglaubt hatte, daß sie es je gewinnen würde. Was oder wer könnte sie jetzt noch stoppen?