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Miguel Semana hob ein geschliffenes Kristallglas mit goldenem Brandy an seine bärtigen Lippen. Er war seit zwei Wochen in Amerika, um mit Carmen, seiner berühmten Schwester, Weihnachten zu feiern. Seit sechs Jahren rangierte Carmen unter den drei Spitzenspielerinnen im Profitennis der Damen. Miguel, selbst ein talentierter Athlet, haßte die Disziplin im Sport. Er haßte Disziplin, punktum. Carmen haßte sie auch, widmete dem Training aber gerade genug Zeit, um ihre außergewöhnliche Naturbegabung in Hochform zu halten. Miguel liebte seine Schwester so sehr, wie er überhaupt lieben konnte. Als sie Kinder waren, hatte er sie trainiert, mit ihr gespielt und ihr Spiel zu dem gemacht, was es heute war, denn er gönnte ihr keine Pause. Als sie gut genug war, sich auf dem Profifeld zu behaupten, brachte Miguel seinen Vater dazu, sie aus Argentinien fortzulassen. Er begleitete sie das erste Jahr über auf Turnierreisen; sie war fünfzehn. Anschließend ging er wie geplant aufs College und wurde Rechtsanwalt. Während er sich mit Schadensklagen, Testamentsvollstreckungen und anderen höchst langweiligen Sachen herumschlug, wurde Carmen am Tennishimmel unaufhaltsam ein großer Star.
Jetzt, mit 24 und auf dem Höhepunkt ihrer physischen Kraft, hatte Carmen Miguel wieder an ihrer Seite. Sie wollte im Tennis den Grand Slam gewinnen, ein schier unmögliches Bravourstück, aber eines, das ihr sowohl im Sport Unsterblichkeit garantieren als auch eine bereits fette Brieftasche zum Überquellen bringen würde.
Um den Grand Slam zu gewinnen, muß eine Spielerin im selben Jahr das French Open, Wimbledon, das US Open und das Australian Open gewinnen. In der Geschichte des Tennis hatten nur vier Spielerinnen und Spieler dieses Meisterwerk je vollbracht: Don Budge im Jahre 1938, Maureen Connolly 1953, Rod Laver 1962 und 1969 und Margaret Court im Jahre 1970.
Miguel wußte, daß dieses Jahr Carmens große Chance war. Sie war eine Aufschlag- und Volleyspielerin, und die brauchen länger, bis sie auf dem Platz voll ausgereift sind, als Grundlinienspielerinnen. Da sie viel Kraft brauchen, müssen ihre Körper voll entwickelt sein. Obendrein müssen sie emotional gefestigt sein. Carmen war an der Spitze und ohne Verletzung. Dies war ihr Jahr, und beide, sie und Miguel, wußten es. Jetzt oder nie. So entscheidend der Zeitpunkt für ihren Aufschlag war, so entscheidend war er für ihre ganze Karriere. Sie war am rechten Platz zur rechten Zeit.
Miguel sah über den Cazenovia Lake, einen herrlichen sechs Kilometer langen Streifen frischen Wassers im Norden des Staates New York. Das glatte Wasser glitzerte in der fahlen Nachmittagssonne. Miguel, im Luxus aufgewachsen, war von der schönen Villa mit Blick über den See und die Berge dahinter nicht sonderlich beeindruckt. Die Semanas genossen die Privilegien einer Familie des gehobenen Mittelstands in Buenos Aires, daher ließ ihn Carmens Umgebung im wahrsten Sinne des Wortes kalt. Die Winter in Cazenovia waren streng und dauerten manchmal acht Monate. Fast anderthalb Meter Schnee bedeckte die Erde. Wenn einem der ganze Kontinent der Vereinigten Staaten zur Verfügung steht, warum dann im Schnee sitzen? Miguel runzelte die Stirn, als der warme Brandy in seinem Magen brannte.
Carmens Mitbewohnerin, Harriet Rawls, war Dozentin an dem kleinen College in Cazenovia. Als Carmen hierher zog, kauften sie zusammen das Haus. Das war vor drei Jahren. Noch im ersten Jahr ihres Zusammenlebens überredete Carmen Harriet, ihren Posten aufzugeben und ganz mit ihr herumzureisen. Miguel hielt es für möglich, daß sie ein Liebespaar waren. Wenn Carmen es auf Mädchen ebenso abgesehen hatte wie auf die Vorhand ihrer Gegnerinnen, wollte er nichts davon wissen. Die Möglichkeit, daß eine feminine Frau sich eine Frau als Geliebte wünschen könnte, leuchtete ihm nicht ein. Schließlich war Miguel ein sehr lateinamerikanischer, sehr gutaussehender Mann. Er flirtete auf Teufel komm raus mit Harriet, da sie die einzige Frau in Sichtweite war und nicht schlecht aussah, kam aber nie sehr weit damit. Er konnte es kaum erwarten, mit seiner Schwester auf Tour zu gehen. Da würde sich schon zeigen, was Sache ist.
Außerdem mußte er zu Geld kommen. Er spielte. Diese Leidenschaft hatte er zwar unter Kontrolle, aber er hatte noch ein schlimmeres Laster - er liebte die Macht und schöne Dinge. Es reichte ihm nicht, Anwalt in Buenos Aires zu sein. 28 Jahre lang war er ein gehorsamer Sohn gewesen, jetzt wollte er die Dinge auf seine Art in die Hand nehmen. Seine Schwester würde diesen Grand Slam gewinnen, und wenn sie beide dabei draufgingen. Miguel wollte den Sieg. Als ihr neuer Geschäftsmanager würde er endlich Erfolg haben. Die Tatsache, daß Carmen keine Ahnung davon hatte, daß er ihr Geschäftsmanager war, störte ihn nicht. Das würde er mit der Zeit schon hinkriegen.
Seite an Seite, von hinten betrachtet, sahen Miguel und Carmen wie Brüder aus, so sehr ähnelten sich ihre Körper. Nur wenn sie sich umdrehten, konnte man erkennen, daß der größere männlich, der kleinere weiblich war. Beide hatten sie lockiges schwarzes Haar, Hakennasen und taubengraue Augen geerbt. Ein reizender, leicht gewölbter Mund gab strahlendweiße Zähne frei. Wie alle Semanas hatten sie wunderschöne Hände. Diese Eigenschaften machten Miguel zum Wunschbild eines Mannes. Carmen allerdings lag geradewegs zwischen Mann und Frau. Eine großzügige Seele hätte sie androgyn genannt. Als Kind hatte man Carmen verspottet. Tennis rettete sie. Sie war vielleicht nicht atemberaubend schön oder niedlich unterwürfig, doch, bei Gott, in dem, was sie tat, war sie die Beste. Ihre ganze Identität als Erwachsene war mit dem Umkreis eines Tennisplatzes verknüpft. An diesem Punkt in Carmens Leben sagten Leute, die sie maskulin fanden, dies allenfalls hinter vorgehaltener Hand. Ins Gesicht sagten sie ihr nur Lobendes. Sie liebte das Lob, und sie verdiente es. Falls sie sich je fragte, was die Leute wirklich über sie dachten oder was sie von sich selbst dachte, verschloß sie es tief in ihrem Innern. Ihr Tennisruhm würde sie für all die Verletzungen entschädigen, unter denen sie in ihrer Kindheit gelitten hatte.
Dr. Arturo Semana hatte seine Kinder nie absichtlich verletzt. Sie wurden zu Hause mit materiellen Besitztümern überhäuft und an der aristokratischsten katholischen Schule in Buenos Aires zu tiefer Frömmigkeit getrieben. Miguel, das ältere Kind und der einzige Sohn, stand unter dem täglichen Druck seines Vaters, in allen Dingen ein Mann zu sein. Carmen bekam von ihrer Mutter, eine der führenden Gastgeberinnen von Buenos Aires, den gleichen Druck zu spüren. Als Carmen statt Miguel die Leistungssportlerin wurde, war Theresa Semana eine Woche lang bettlägerig. Arturo fand sich mit Carmens Karriere ab und war schließlich stolz darauf. Theresa kam so weit, daß sie bei der Erwähnung von Leistungen ihrer Tochter nicht mehr erbleichte, aber sie fand das Tennisleben für jede Frau unakzeptabel, ihre einzige Tochter eingeschlossen. So war es kaum verwunderlich, daß Carmen ihre Besuche zu Hause auf einen im Jahr beschränkte. Egal, wie viele Pokale oder wieviel Geld sie gewann - wenn sie ihr Spiegelbild in den klaren Augen ihrer Mutter erblickte, sah sie eine Niete.
Miguel begriff nichts von dem besonderen Druck, den es bedeutet, weiblich zu sein, aber Carmen war seine Schwester, und er liebte sie. Außerdem war er mit seinem eigenen Druck vollauf beschäftigt. Die beiden verbündeten sich gegen die liebenden, aber fordernden Eltern. Es war, als lebten Bruder und Schwester in einer sehr eleganten Kriegszone, zwei Soldaten mit unterschiedlichem Hintergrund an derselben Front. In ihrem Fall lag die Unterschiedlichkeit im Geschlecht statt in der sozialen Herkunft oder Geographie. Und wenn auch keines der Geschwister ins Herz oder in den Kopf des anderen sehen konnte, verließen sie sich doch aufeinander und liebten sich. Das war ihre Stärke und auch ihr Unglück.
Das Klingeln des Telefons unterbrach das Abendessen. Harriet stand von ihren Spaghetti mit Pestosauce auf und hob ab.
«Frohe Weihnachten, Harriet.» Jane Fultons kehlige Stimme klang durch die Leitung. «Was macht das Besuchsprogramm?»
«Es braucht seine Zeit.»
«Das hat meine Mutter über das Wachstum meiner Brüste auch gesagt, als ich dreizehn war. Und sieh mich heute an.»
Janes Stimme wurde von Ricky im Hintergrund übertönt: «Mehr als eine Handvoll ist überflüssig. Frohe Weihnachten und gute Nacht euch allen.»
Harriet lächelte. «Ricky hört sich ganz aufgekratzt an.»
Carmen rief vom Tisch rüber: «Frohe Weihnachten!»
Miguel fiel ein. «Glückliches neues Jahr!» Er sprach mit englischem Akzent wie seine Schwester.
Carmen klärte ihn über Rickys Vorliebe für Eierpunsch auf. Miguel hatte Ricky Cooper noch nicht kennengelernt, aber jeder, der ab und zu gern einen über den Durst trank, schien seine Sorte Mann zu sein.
«Macht ihr beide die Berichterstattung bei den TomahawkMeisterschaften?« fragte Harriet. Tomahawk, der Kosmetikzweig von Clark und Clark, einer riesigen pharmazeutischen Firma, sponsorte das Hallentennis der Damen. Ihr Motto war «Erschlag deinen Mann». Die Ballmädchen trugen Federn und Kriegsbemalung, und dieses Motto wurde dem Publikum durch Spruchbänder, Anzeigen und die Verpackung der Produkte eingehämmert.
«Wir kommen. Wohnt ihr am selben Ort?»
«Ja, wir alle drei.»
«Gut, wir laden euch zum Essen ein. Wir wollen Miguel kennenlernen. Sieht er so gut aus wie sein Foto?»
«Er sieht ziemlich gut aus.» Harriet lachte, als Miguel sich effektvoll über den Schnurrbart strich. «Sie haben uns alle zum Essen in Washington eingeladen.»
«Spitze.» Miguel strahlte.
«Können's kaum erwarten, Jane. Küsse an Ricky. Frohe, frohe Weihnachten.»
Ricky Cooper und Jane Fulton waren ein gut zusammenpassendes Paar; sie Reporterin beimPhiladelphia Inquirer und Ricky Sportberichterstatter bei derNew York Times, Er moderierte auch die Direktübertragung des neuen Kabelsportprogramms. Als sie heirateten, ließen sie sich - statt eine Karriere der anderen zu opfern - vernünftigerweise in Princeton, New Jersey, nieder, auf halber Strecke zwischen beiden Städten. Ricky war in den Vierzigern und Jane Ende Dreißig. Dem Alter nach Harriet näher, standen sie ihr auch als Freunde näher, aber sie bewunderten Carmen, die in den Tag hineinlebte und nie an morgen dachte. Für auf Arbeitsmoral fixierte Protestanten war das ein unglaublicher Gedanke.
«Du schlägst Vorhand-Cross und ich Cross zurück.»
«Okay.» Carmen trottete wieder zur Grundlinie.
Miguel, Rechtshänder, schlug hart auf die Vorhandseite seiner Schwester. Da sie Linkshänderin war, kam der Ball als Rückhand.
«Zu seicht. Los doch, Trantüte, treib mich zurück.»
«Es ist Heiligabend. Gönn mir eine Pause.»
Er prügelte den Ball härter und sang dabei ein Weihnachtslied. Gleich fiel sie in sein Lied ein, und die beiden begleiteten ihren Ballwechsel mit englischen und spanischen Texten.
«Weißt du schon, was du unterm Weihnachtsbaum finden wirst, Migueletta?» Er nannte sie bei ihrem alten Spitznamen.
«Sag's nicht. Es soll eine Überraschung sein. He, unfair. Ich habe das Tempo gedrosselt, um zu reden.»
«Das ist dein Problem. Wenn du den Ball nicht im Auge behältst, was kann ich dafür?»
Sie revanchierte sich, indem sie auf den Ball drosch. Er legte sein ganzes Körpergewicht in den Return. So spielten sie eine Stunde lang weiter, bis Miguel abbrach.
«Ich spiele am Weihnachtstag nicht.»
«Wie tragisch.» Er wischte sich den Schweiß von den Unterarmen.
«Du bist heute schlimmer denn je, als wir Kinder waren.»
«Du bist immer noch ein Kind.»
«Mach nur so weiter, dann findest du unterm Weihnachtsbaum überhaupt nichts.»
«Ich wünsche mir Margot Kidder, mit einem roten Bändchen geschmückt.»
Carmen fand, das wäre keine schlechte Idee für sie selbst, aber sie hielt den Mund. «Du wirst es abwarten müssen.»
«Nach Weihnachten müssen wir länger trainieren.»
«Weshalb?»
«Deine Rückhand hat null Topspin, deshalb.»
«Welche Frau hat schon eine Topspin-Rückhand?»
«Du bist stark genug, und das neue deutsche Mädchen ebenfalls.»
Carmen überhörte diese Bemerkung. Weihnachten hatte Vorrang vor der Arbeit. Sie hatte für Harriet eine Sammlung Erte- Drucke gekauft und hoffte, daß sie ihr gefielen. Für Miguel hatte sie eine goldene Rolex-Uhr erstanden. Sie war schrecklich teuer, aber sie wußte, er würde darüber begeistert sein. «Längeres Konditionstraining.» Sie tätschelte ihm den Rücken.
«Und Krafttraining.»
«Miguel.»
«Ja. Dies ist dein Jahr. Alles muß perfekt klappen.» Er ging zum Getränkeautomaten und kaufte eine Cola für sich und ein Mineralwasser für Carmen. «Hast du was dagegen, wenn ich mir mal deine Verträge ansehe - die Werbeverträge und all das Zeug?»
«Nein. Warum sollte ich? Ich lese sie nie. Seth Quintard macht das alles. Ich unterschreibe nur auf der gestrichelten Linie.»
«Er sorgt sicher für die bestmöglichen Abschlüsse; das ist der Job eines Agenten. Aber ich bin Anwalt und würde gern mal alles ganz genau durchgehen. Vielleicht fällt mir was auf, das ihm entgangen ist.»
«Schön. Schneit es wieder?»
Er ging zum Clubhausfenster hinüber. «Ja. Jeden Moment wird der Nikolaus erscheinen.»
«Wetten, daß es heiß ist zu Hause.»
«Wir rufen morgen mal an.»
Miguel zog seinen Parka über. «Weißt du, es ist schon übel. Telefone verbinden alle auf der Welt miteinander. Technologisch ist es eine Welt, aber niemand kann mit irgendwem auskommen. Ich bin immer noch nicht über die Tatsache hinweg, daß wir mit England Krieg geführt haben.»
Carmen zog die Nase kraus. Sie haßte Politik. Noch mehr haßte sie Krieg. Für sie lag kein Körnchen Sinn darin, obwohl sie sehr patriotisch war. Wenn es nach ihr ginge, gehörten die Falkland-Inseln zu Argentinien, aber Krieg? Warum griffen die Chefs der streitenden Länder sich nicht einen Tennisschläger und regelten die Sache auf dem Platz? Oder sie könnten Golf spielen, wenn sie für Tennis zu alt waren. Dann gäbe es kein Gezanke.
Die restlichen zwei Tage, bevor sie nach Washington und zu den Tomahawk-Meisterschaften aufbrachen, trainierte Carmen doppelt so lange. Miguel, der in neuer Sportkluft einherstolzierte, begleitete sie morgens und manchmal nachmittags.
Fluchend über das Bügelbrett gebeugt, attackierte Harriet die nächste widerspenstige Kellerfalte. Sie hatte nichts gegen das Bügeln, aber das Bügeln hatte heute etwas gegen sie. Sie plättete die Falten eher rein als raus. Als sie wieder mal das Dämpfgerät herunterwuchtete, hörte sie ein Auto in die Auffahrt rollen. Nur eine Tür krachte ins Schloß. Eine erhitzte Carmen tanzte durch die Küchentür.
«Joe nimmt Miguel mit nach Syracuse.» Joe war einer von Carmens Trainingspartnern.
«Wie nett.» Harriet entging der Sinn der Botschaft, da das Hemd ihre volle Aufmerksamkeit beanspruchte.
«Sie bleiben mindestens anderthalb Stunden weg. Vielleicht haben wir sogar zwei Stunden für uns allein.»
«Hast duallein gesagt?»
«Hab ich.» Sie knallte ihre Schläger auf den Küchentisch.
«Es geschehen noch Zeichen und Wunder.»
«Hast du etwa vor, da stehenzubleiben und das Hemd zu bügeln?»
«Nein.» Harriet riß den Stecker aus der Wand. Die beiden jagten einander die Treppe hoch ins Schlafzimmer.
Das Liebemachen kam wegen Miguels ständiger Anwesenheit ziemlich zu kurz. Wenn Miguel endlich schlief, waren Harriet und Carmen meistens hundemüde. Und außerdem war Harriet sowieso nie die größte Nachtdurchbumserin gewesen. Ihre echten Qualitäten zeigten sich eher am Nachmittag.
«Kommst du wohl ins Bett?» Harriet fror unter der Decke.
«Ich sollte erst mal duschen.»
«Reine Zeitverschwendung.»
«Ich bin vom Training durchgeschwitzt.»
«Ich werd's ertragen.» Harriet bekam den Bund ihrer Trainingshose zu fassen, und Carmen plumpste aufs Bett.
«Warte eine Minute. Laß mich aus dieser gottverdammten Hose steigen.»
«Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht...»
«Was treibst du da?»
«Die Sekunden zählen.» Harriet zog jetzt eine nackte Carmen unter die Decke. «Wärm mich. Betrachte es als Akt der Nächstenliebe.»
Carmen küßte Harriets Hals, ihre Stirn und ihre Lippen. Da gab's was, das sie noch besser konnte als Tennis. Im Küssen war sie Weltmeisterin. Der Mund von Ganimedes, Mundschenk des Zeus, konnte nicht schöner gewesen sein, so perfekt war die Form ihrer Lippen. Sie konnte stundenlang küssen. Heute war allerdings keine Zeit für solchen Luxus. Ihr Körper glitt über Harriets kleine Gestalt und arbeitete sich nach unten vor.
«Verdeckte Operation», flüsterte Carmen.
Harriet lächelte und grub ihre Finger in Carmens seidiges schwarzes Haar.
Carmen küßte und leckte Harriets Möse. Plötzlich erstarrte sie. «Autsch!»
«Was ist los?» Harriet lüpfte die Decke und blickte in zwei glühende Augen am Ende des Bettes. «Baby Jesus, mach, daß du da rauskommst.»
Baby, Harriets achtzehnjährige Katze, vergrub sich unter der Decke, legte sich so flach auf die Seite, daß sie unter der Bettdecke nicht zu sehen war. Diese Störung ihres Schlummers kam ihr ungelegen. Wie der Biß in Carmens Ferse bewies.
«Komm, Beejee Weejee», lockte Carmen.
Dieses Süßholzraspeln stieß auf angewidertes Zähnefletschen. Schlimm genug, daß Carmen ihren Fuß in Babys Gesicht hieb. Daß man ihr mit diesem Beejee Weejee-Geseire kam, verschlechterte die Laune der Alten noch mehr.
«Hörst du wohl auf deine Mutter», kommandierte Harriet. «Raus aus dem Bett.»
Verdächtige Stille folgte.
«Scheiße!» Carmen jaulte. «Sie hat mich in den anderen Fuß gebissen.»
«Das reicht.» Harriet warf die Decke zurück, packte das Tier und setzte es liebevoll in den fellbespannten Schlafkorb, der mit Katzenspielzeug, Kratzbaum und ausgestopftem Vogel ausgestattet war. Baby saß kaum eine Minute lang in diesem Prunk und verließ dann erhaben das Schlafzimmer.
«Diese Katze bring ich eines Tages noch um.» Carmen rieb sich die Ferse.
«Sie hat ein künstlerisches Temperament.»
«Schaust du dir mal meinen Fuß an?»
Harriet entdeckte die kleinen Kerben von zwei Fangzähnen. Kein Blut war zu sehen, freilich hatte sich Baby auch nicht übermäßig angestrengt. «Hier, ich küsse drauf, und dann ist alles gut.»
«Ist schon besser. Könntest du etwas höher weitermachen?»
Harriet lachte und arbeitete sich an Carmens muskulösem Bein hoch.
Lavinia Sibley Archer, deren Brüste sich wie ein Schiffsdeck hoben und senkten, bahnte sich ihren Weg durch die Eröffnungscocktailparty des Sponsors. Lavinia hatte Ende der vierziger Jahre Wimbledon gewonnen sowie im darauffolgenden Jahr das US Open. Nach ihrer illustren Karriere ließ sie sich mit einem totlangweiligen Mann häuslich nieder und fungierte als Hausfrau und Schrecken ihres Sportclubs. Wendell, ihr Ehemann, starb Mitte der Sechziger zu seinem eigenen Besten. Das genaue Datum war ihr entfallen, aber jedenfalls war er tot, daran bestand kein Zweifel.
Zu jener Zeit fand das Tennis der Damen, das um Profistatus und Anerkennung kämpfte, seine junge Löwin in Billie Jean King und schließlich auch seine Geschäftsbärin in Lavinia. Lavinia tat eine Menge für den Sport. Vor allem setzte sie sich mutig dem Horror aus, sich den Lebensunterhalt zu erarbeiten. Mit Hilfe verschiedener Titel in verschiedenen Jahren kam Lavinias Macht im Tennis der des Generalstabs gleich. Sie war zwar nicht Gott, aber verdammt nahe dran. An Lavinia Sibley Archer kam man nicht vorbei.
Lavinia hatte etwas gegen Harriet Rawls und Jane Fulton, weil sie Tennis nicht so ernst nahmen, wie es sich ihrer Meinung nach gehörte. Dieser gewisse intellektuelle Verrat zehrte an Lavinias berühmten Nerven. In ihren besten Tagen wurde sie «Frau mit den Drahtseilnerven» genannt. Außerdem hieß es von ihr, sie habe die größten Titten im Tennis, aber das raunte man sich zu und meinte es nicht als Abwertung, im Gegenteil.
Schlimmer noch, Harriet und Jane hatten einmal etwas ebenso Unpatriotisches wie Geschmackloses ausgeheckt. Da sie das ewige Herunterleiern der Nationalhymne - Jane nannte es unsere Nationalhäme - satt hatten, begingen sie bei einem Turnier in Seattle ihre heimtückische Sünde. Das Halbfinale und Finale bei jedem Turnier sind die Abende, an denen für die Veranstaltung die Kasse klingelt. Mehr als 85 Prozent der gesamten Einnahmen kommt an solchen Tagen herein. Lavinia trieb eine reizende Mariachi-Band auf, was schließlich in Seattle kaum aufzutreiben ist, die beim Halbfinale die Nationalhymne spielen sollte. Lavinia fand, daß es die Beziehungen zu Gruppen der Dritten Welt fördere. Wo im pazifischen Nordwesten sie diese brüllende Horde von Mexikanern eigentlich einordnete, wußte nur sie, aber die Mariachi-Band war in ihren Augen ein bedeutendes kulturelles Ereignis. Die glitzernde Männergruppe, die unter ihren gigantischen Sombreros dahergewatschelt kam, stellte sich in der Mitte des Tennisplatzes auf und sang<The Star-Spangled Banner>. Die Menge drehte sich wie üblich in Richtung Flagge. Als die Old Glory am Mast hochgezogen und entfaltet wurde, segelte eine Kaskade von Büstenhaltern und Suspensorien auf die Erde runter.
Lavinia schwor einen heiligen Eid, sie werde den Urheber dieser abscheulichen und pennälerhaften Tat auf die Schliche kommen. Niemand hätte auch nur den leisesten Schimmer gehabt, wenn nicht Jane einen von Carmens BHs beigesteuert hätte. Diesen Beweis in Händen, trieb Lavinia Carmen in die Enge und sperrte sie ab Sonntag dreimal. Wahrheitsgemäß beteuerte Carmen ihre Unschuld.
Harriet hatte natürlich Carmen nichts von ihren Plänen verraten. Wie hätte sie auch wissen können, daß Jane sich die BHs aus dem Trockner im Umkleideraum gegrapscht hatte? Pech, daß Carmens Name hübsch ordentlich auf den Träger genäht war. Harriet erreichte den Umkleideraum gerade noch rechtzeitig, um reumütig zu gestehen.
Als das Neueste aus der Szene die Pressekabine erreichte, bekam Ricky einen solchen Lachanfall, daß er nicht wußte, wie er sich bis zur Sendung wieder einkriegen sollte. Es erinnerte ihn an Sommerlager. Jane, in einem Anflug protestantischen Verantwortungsgefühls, gestand ihrem Mann ihre Mittäterschaft. Rickys erste Reaktion war: «Hast du etwa auch meine Suspensorien genommen?» Da sie mit ja antwortete, schleppte Ricky sie zu Lavinia. Janes Geständnis ging wirklich zu weit - ein Mitglied der Presse macht sich über unsere Nationalhymne lustig!
Im Laufe des letzten Jahres gelangte Lavinia schließlich an den Punkt kalter Höflichkeit gegenüber Harriet und Jane. Mehr konnte sie sich nicht abringen, aber auch nicht weniger, denn seit sechs Monaten stand Carmen auf der Computer-WeltRangliste auf Platz eins. Wann immer Lavinia bei einem Turnier Harriet zunicken mußte, dachte sie: «Lesbische Flaggenschänderin.»
Die Cocktailparty war obligatorisch. In der Tenniswelt rangierte sie auf gleicher Ebene mit Tod und Steuern. Die Spieler setzten ihren Arsch in Bewegung und zeigten sich, wenn die Hauptpersonen es wollten. Da gewöhnlich bei einem Turnier auch einheimische Sponsoren zum Preisgeld beisteuerten, schüttelten Spieler und Spielerinnen die Hände von Bankdirektoren, Kürschnern, Autohändlern und anderen Geschäftsleuten, die viel zu faszinierend sind, um der Erwähnung zu bedürfen.
Im Tennis werden Sponsoren hofiert. Es kostet zwischen 100 000 und 150 000 Dollar, ein Tennisturnier von Rang zu veranstalten. Das ist bloß die Veranstaltung, ohne die Spielerprämien. Wenn ein Sponsor nicht mit mindestens 75 Prozent des Preisgeldes rüberkommt, verliert der Veranstalter sein letztes Hemd. Deshalb regieren in Wahrheit Sponsoren, nicht die Damentennisliga das Spiel.
Es war Lavinias Verdienst, das als erste erkannt zu haben. Sie war es, die die Tomahawk-Kosmetikwerke dazu überredete, das Hallentennis der Damen von Januar bis Ende März zu sponseren: die Tomahawk-Turnierrunde. Tomahawk brauchte ein Image, und Howard Dominick, der neue Chef von Tomahawk, war ein alter, persönlicher Freund von Lavinia. Sie überzeugte ihn davon, die Verknüpfung von Tomahawk mit den Damenhallen-Turnieren würde die amerikanischen Frauen Revlon, Clairol und Max Factor glatt vergessen lassen. Zwar ließ das Damentennis die Käuferinnen jene Firmen nicht vergessen, doch sie erinnerten sich an Tomahawk. Die Mädchen betraten den Platz in einer Duftwolke von Tomahawks neuestem Parfüm. Sie trugen Tomahawk-Nagellack in einer Farbskala, die das Blut ins Stocken brachte. Ihr Haar voller TomahawkHaarspray war wie Draht, bis so viele von ihnen rebellierten, daß man auf diese Taktik verzichtete. Witzbolde meinten, die Damen benutzten sogar Tomahawks Intimdeodorant TeePee. Howard Dominick und Lavinia Sibley Archer gaben den Frauen die Mittel, sich mit ihrem Sport den Lebensunterhalt zu verdienen. Der Beweis ihrer weisen Voraussicht waren die Stars, die daraus hervorgingen.