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Kansas City tauchte aus der Prärie auf wie ein Gespinst menschlicher Phantasie. Das Turnier wurde auf der MissouriSeite der Stadt ausgetragen. Schnurgeradeaus, der Vogelfluglinie nach, 443 Kilometer in Richtung Osten lag St. Louis an die Ufer des Mississippi gequetscht. Zwischen beiden Städten bestand ein Unterschied wie Tag und Nacht, obwohl beide zum selben Staat gehörten. St. Louis erinnerte noch immer irgendwie an die Ostküste. Kansas City zählte zum Westen, zu den Legenden von Viehtrieben und Cowboys und vielleicht zur Zukunft. Die Behauptung, Kansas City sei eine schöne Stadt, wäre niemandem über die Lippen gekommen, aber es besaß eine Energie, die ansteckend wirkte.
Da dies Harriets dritte Tomahawk-Turnierreise war, fand sie sich im Labyrinth unter dem Stadion im Stadtzentrum mühelos zurecht. Wenn man sich erst mal auskannte, machte jedes Turnier entschieden mehr Spaß. Sie brannte darauf, dem kleinen, aber vorzüglichen Kunstmuseum einen Besuch abzustatten. Sollte Carmen einen ganzen Tag frei haben, würden sie zusammen hingehen. Wenn nicht, würde Harriet allein in ein Taxi steigen und hinfahren. Das Herumreisen beim Tennis ist schon Zigeunerleben genug, doch oft erfahren Spieler und Spielerinnen ihre Termine erst am Tag ihrer Ankunft oder am Morgen des ersten Spieltages. Pläne in bezug auf Essengehen, Kinobesuche und ruhige Gespräche unterliegen alle der Tyrannei der Termine. Und die wurden im Hinblick auf die Klasse angesetzt - also saßen Carmen die Veranstalter und Lavinia im Nacken, diesen kleinen Auftritt und jenen kleinen Kurs zu machen, nur diesen ausnahmsweise. Und die Kette der «Nur-diese-ausnahmsweise»-Veranstaltungen riß einfach nicht ab. Wenn sie nein sagte, bezeichnete man sie als undankbare Zicke. Wenn sie ja sagte, zehrte sie an ihren Kräften - von Harrietganz zu schweigen - und stellte ihren Sieg in Frage. Also kam Carmen zu der Kompromißlösung, daß Harriet die Neins übermittelte. Zum Ausgleich kochte sie, wann immer sie in dazu geeigneten Räumlichkeiten landeten, und besorgte auch zu Hause meistens das Kochen. Auf Reisen verkam freilich jede Gleichberechtigung infolge von Terminen und Zeitmangel zum Wunschgedanken. Wer es als Geliebte einer Spielerin mit dem Tennis zu tun bekam, schminkte sich jede Illusion von Gleichberechtigung augenblicklich ab.
Miguel stand jeden Morgen früh auf. Carmen schlief sich aus. Nach einigen Szenen mit einer verschlafenen Carmen an ihrer Zimmertür ließ er sie in Frieden ausschlafen. Aber kaum war sie wach, stürzte er ins Zimmer. Dann kommentierte Miguel Carmens letztes Spiel und zwinkerte Harriet zu.
An diesem späten Vormittag war das einfach zuviel. Harriet verabschiedete sich zu Carmens Ärger. Sie zog ihren Pelzmantel über und machte sich auf zur Kunstgalerie. An der Rezeption stieß Harriet auf Jane Fulton.
«Jane, ich dachte, du kämst erst im Laufe der Woche.»
«Ich auch, aber die Zeitung will eine Geschichte über das Wunderkind. Also muß ich Trixie Wescott die Woche über auf den Fersen bleiben.»
«Diese Kinder sitzen in ihren Startlöchern. In Position auf dem Nebenplatz, mit beidhändiger Rückhand und beängstigender Geduld. Schleifchen im Haar sind von Vorteil.»
«Wo willst du hin?» fragte Jane.
«Ins Kunstmuseum. Komm mit.»
Jane war sofort einverstanden. Sie wanderten durch die Säle des Museums und bewunderten die Skulpturen und Gemälde.
«Was ist los?»
Harriet setzte sich auf eine kleine Bank in der Mitte eines hell ausgeleuchteten Raumes. Der polierte Boden glänzte, und die Gemälde waren gut gehängt. Außer einem Wärter war zu dieser Stunde niemand zu sehen.
«Jane, mir fehlt das Unterrichten.»
«Dachte ich mir schon.»
«Ich versuche, soviel wie möglich mit Carmen unterwegs zu sein. Der einzige Unterricht, den ich noch gebe, ist ein kurzes Sommerseminar. Sie will, daß ich zu einem europäischen Showturnier mitfahre, das mit meinem Kurs zusammenfällt. Ihre Karriere sei so kurz, und ich könne immer noch unterrichten, wenn sie aufhört.»
«Das Tennisleben ist kurz.» Jane rollte ironisch die Augen zu diesem Gemeinplatz.
«Die Zeiten, in denen wir getrennt sind, sind nervend.»
Jane sagte: «Was passiert mit Carmen, wenn der Applaus vorbei ist, ich meine, wenn das wahre Leben einsetzt und auf sie zurückschlägt mit all seinen Wehwehchen und Zipperleins? Himmel, Lavinia Sibley Archer ist zwei Jahre älter als Gott und kann's noch immer nicht lassen. Denk mal drüber nach.»
«Tu ich, ziemlich oft. Ich hab das Gefühl, ich bin unloyal, wenn ich Carmen gegenüber davon rede.»
«Hoffentlich kann sie dich auffangen, wenn du sie brauchst. Im Augenblick braucht sie dich, Harriet.»
«Verdammt, was soll's. Liebe ist ein Risiko. Ich liebe sie seit drei Jahren. Sie ist in dieser Zeit soviel reifer geworden. Und ich auch. Ich weiß, daß ich ein Risiko eingehen muß und hoffe nur, sie steht zu ihrem Wort.»
«Susan hält sich tapfer. Mag sein, daß Carmen nicht aufhört.»
«Hoffentlich doch. Carmen bewundert Greta Garbo sehr, die wußte, wann sie abtrat.»
«Du setzt alles auf eine Karte.»
«Was meinst du damit?« Harriet sah sie von der Seite an.
«Du hast gar nichts für dich. Du hast dich von deiner Arbeit und alten Freundschaften abgeschnitten. Ich bezweifle, daß Carmen je daran denkt. Sie hat keine Zeit, an was anderes als an Tennis zu denken. Mehr kennt sie nicht.»
«Ja.»
«Und ist dir je eingefallen, daß du eine unsichtbare Frau bist?»
«Ach geh.» «Im Ernst. Wenn Ricky gute Arbeit leistet, bekomme ich von seinen Lorbeeren was ab. Wer zollt dir je Anerkennung dafür, daß du Carmen den Rücken stärkst?»
«Ich bin nicht der Anerkennung wegen mit ihr zusammen.»
«Nein, natürlich nicht, aber gesellschaftliche und emotionale Unterstützung helfen uns allen in schweren Zeiten, und auch die wirst du nicht kriegen.»
«Du hörst dich total lesbenfeindlich an.»
«Nein, ich sage bloß, was ich beobachte. Niemand, auch andere Lesben nicht, macht sich dafür stark, zwei Frauen in ihrer Liebe zu unterstützen.»
Harriet wurde nervös: «Seit wann ist das Leben fair?» Sie hielt inne und sah Jane gedankenverloren an. «Wo warst du in den Sechzigern?»
«Wie kommst du jetzt darauf?»
«Ich weiß nicht. Vielleicht fühle ich mich alt oder so anders als alle Leute, die heute so um mich sind.»
«Ich habe Busladungen von engagierten Smithies nach Washington zu den Friedensmärschen organisiert.»
«Erzähl keinen Scheiß.»
«Und wo warst du?»
«William und Mary. Es war kein sehr radikales College, aber ich schon. Ich bin auch zu den Märschen mitgezogen. Komisch, letzte Nacht habe ich an die Mahnwache bei Kerzenlicht in New York City gedacht. Erinnerst du dich?»
«Klar.»
«Wir müssen ein kilometerlanger Zug gewesen sein. Ich weiß noch den Namen meines Soldaten - Vincent Masconi. Da stand ich mit seinem Plakat um den Hals, und meine Kerze brannte in der Nacht.»
«Mein Soldat hieß Roosevelt Cogger.»
«Merkwürdig, daß wir uns daran erinnern. Ich wünschte, ich hätte dich schon damals gekannt.» Harriet nahm Janes Hand.
«Du kennst mich jetzt. Hast du etwa noch nicht genug gelitten?»
Harriet lachte. «Laß uns was essen. Ich bin halb verhungert!»
Auf dem Weg zum Hotel sagte Jane: «Ich erinnere mich nicht, daß damals in den sechziger Jahren irgendwelche für ihre Arbeit bezahlt wurden. Wir waren alle Freiwillige. Wie haben wir uns eigentlich vorgestellt, daß wir die Revolution bezahlen würden?»
«Per Kreditkarte», sagte Harriet trocken.
Die Woche verging - wie die meisten Wochen der TomahawkTurnierrunde - damit, daß Carmen ihre Gegnerinnen abservierte. Page Bartlett nahm nicht an der Tomahawk-Turnierrunde teil. Sie schonte sich für die großen Wettkämpfe plus einige andere Turniere, auf die es ihr ankam oder auf deren Geld es ihr ankam. Obendrein schonte sie sich für ihren Mann.
Page Bartlett, eine hübsche Frau, hatte sich mit fünfzehn in die Herzen der Amerikaner gespielt, als sie bei den offenen amerikanischen Meisterschaften ins Viertelfinale kam. Das war vor zwölf Jahren. Seit damals war sie bei den Leuten beliebt. Sie war feminin, redegewandt, intelligent und wohlerzogen. Mütter sahen in Page das perfekte Idol für ihre kleinen Mädchen und lagen in dieser Hinsicht auch gar nicht so falsch. Natürlich machte sich niemand die Mühe, Page Bartlett zu fragen, welchen Preis sie dafür zahlte, und Page hütete sich, einen Einblick in ihre Seele zu geben.
Jeffrey Campbell war ein gutaussehender, talentierter Stürmer bei den San Francisco Forty-Niners. Sie lernten sich kennen, verliebten sich, boten dem Land vor zehn Jahren eine Märchenhochzeit - und schwebten dem Sonnenaufgang entgegen. Page spielte die eine Hälfte des Jahres, die andere war Jeffreys Football-Terminen gewidmet.
Sie wurde als Gegnerin von allen gefürchtet, weil sie selten einen schlechten Tag hatte. Ihre Geduld und messerscharfen Schläge schafften ihre glänzenderen Gegnerinnen im allgemeinen.
Page war der lebende Beweis dafür, daß Ehe und sportliche Karriere sich durchaus vereinbaren ließen. Als eine der wenigen verheirateten Spielerinnen bestätigte sie freilich eher die Ausnahme als die Regel. Für die meisten Frauen galt, daß Ehe und Sport nicht miteinander harmonierten.
Die meisten Spielerinnen waren für feste Bindungen zu jung. Sofern sie nicht zu jung waren, wo hätten sie einen Partner finden können, der die Stirn hatte, sie um ein Rendezvous zu bitten? Nach einer Woche in Kansas City ging die Tour weiter nach Cincinnati, dann nach Chicago und weiter und weiter. Selbst Piloten waren da noch seßhafter als Tennisspieler. Infolgedessen hatten die meisten Frauen ihren Märchenprinzen zu Hause. Oft gab's ja wirklich eine reale Person, doch der Traum von einer intimen Beziehung diente dazu, die Einsamkeit zu verscheuchen.
Die Angst davor, als Lesbierin verdächtigt zu werden, schüchterte die Frauen ein. Jede Frau über zwanzig wußte, was es hieß, als Freak betrachtet zu werden, weil sie ihren Sport liebte. Lesbianismus schlich sich ins Bewußtsein der Frauen ein und machte ihnen angst. Und den Lesbierinnen am allermeisten. Es war ein offenes Geheimnis, daß Carmen lesbisch war, aber solange sie es nicht sagte, taten alle, als wüßten sie von nichts. Sie lebte in einer demilitarisierten Zone zwischen Lüge und Wahrheit. Sie wollte ihre lukrativen Produktwerbeverträge nicht verlieren.
Es würde noch lange dauern, bis Frauen ihre sexuelle Konditionierung überwunden hatten; ihre Konditionierung, nicht mit andern zu konkurrieren, überwanden sie allerdings augenblicklich. Auf den Tennisplätzen kämpften sie wie Tiger. Das war gut für die Kasse und gut für Tomahawk. Ob es auch für die Spielerinnen gut war, würde sich erst in einigen Jahren zeigen. Die erste Generation echter Profis ging inzwischen auf Ende Dreißig zu. Verschleißerscheinungen machten sich bemerkbar, und bisher hatte es den Anschein, als seien diese ähnlicher Art wie bei den männlichen Athleten - ein langsames Abgleiten aus Ruhmeshöhen, der Tod eines Traums, Flucht in die Vergangenheit, zur Flasche, zu Kokain oder Valium. Freilich suchen auch viele Sekretärinnen um die Vierzig dieselbe Zuflucht. Wer ist da besser dran? Eine fruchtlose Diskussion. Im Profitennis gibt es keine fruchtlose Diskussion. Es gibt überhaupt keine Diskussion. Es gibt nur das Spiel. Alter, Verletzung, die Leiden, die dieses Leben so mit sich bringen, und der unausweichliche Tod sind auf dieser Seite des Aufschlagfeldes unbekannt. Das ist eine andere Welt.
In diesem Land der Gesundheit, Preise und Simplizität verliert oder siegt man. Carmen war eine Siegerin, eine Königin. Königin für einen Tag, einen Monat, ein Jahr, ein paar Jahre möglicherweise, aber sie war Königin, und das gefiel ihr. Sie entdeckte auch, daß das Gewinnen eine Sache war, das Verteidigen eine andere.
Wenn Page nicht teilnahm, war die allgegenwärtige Rainey Rogers die reale Bedrohung. Rainey und Carmen teilten die Tomahawk-Turnierrunde unter sich auf und spielten nur zwei Turniere pro Saison Kopf an Kopf. Dies kam allen gut zupaß. Jeder Veranstalter bekam zumindest eine höchst publikumsträchtige Spielerin plus genug andere Spielerinnen, um einen Wettkampf draus zu machen, und die Leute bezahlten ihr Geld, um das Ganze zu sehen. Wenn Carmen eine Siegessträhne hatte, sahen sie ihr mit derselben Faszination zu, mit der es Menschen zu Hurrikanen, Erdbeben und Autounfällen zieht. Auf ihrem Höhepunkt war sie so einschüchternd, daß man es schon mit der Angst bekommen konnte.
Amalgamated Interstate Banks warf 500000 Dollar in den Preisgeldtopf des Turniers, wenngleich Tomahawk, als väterlicher Sponsor, den Löwenanteil der Werbung einheimste. Tomahawk schaffte eine Basis für jede Stadt, für gewöhnlich mit 25000 Dollar. Der örtliche Veranstalter mußte mit dem Rest rüberkommen, im allgemeinen zwischen 75000 und 120000 Dollar. Amalgamated schloß sich an, weil sie sich eine Werbung für weibliche Kundschaft erhoffte. Frauen tätigten heutzutage ihre eigenen Bankgeschäfte, deshalb trachtete Amalgamated nach einem jungen, modernen Image. Außer Filmstars gab es nur wenige sichtbare Frauen. Dennis Parry, ein stellvertretender Direktor von Amalgamated, schätzte, eine neue Sichtbarkeit sei 50000 Dollar wert. Bei Amalgamated verschaffte das Tomahawk-Turnier Dennis eine neue Sichtbarkeit. Dennis hegte Ambitionen.
Als Miguel Semana zur Tribünenloge von Amalgamated hinüberging, kamen er und Dennis zwanglos ins Plaudern. Da die Spiele noch nicht begonnen hatten, waren die beiden allein. Sie machten galante Scherze, redeten über die galoppierende Inflation und Carmens Aufschlag.
«Möchten Sie eigentlich nie selbst am Wettkampf teilnehmen?» wollte Dennis wissen.
«Manchmal schon, aber ich bin froh, daß ich Anwalt geworden bin. Was würde schließlich aus unseren Investitionen, wenn beide Semanas spielten? Jemand muß sich ja aufs Geschäftliche konzentrieren.»
«Zum Glück hat Carmen da Sie.»
Miguel gluckste. «Ich würde eher sagen, zum Glück habe ich sie.» Er unterbrach sich. «Da wir gerade von Geschäften reden, wir entwickeln zur Zeit eine Bekleidungsmarke für Südostasien. Die Mode, für die sie jetzt wirbt, wird in den Vereinigten Staaten, Europa und Südamerika angeboten. Wie Sie wissen, entsteht ein ziemlicher Markt in Japan, Hongkong, den Philippinen und in Indien. Wir hoffen, wir können uns ihren Erfolg zunutze machen. Schließlich ist sie weltberühmt.»
«Mögen Sie mir nicht ein bißchen von dem erzählen, was Sie da vorhaben?»
«Sicher. Mit Vergnügen.» Miguel strahlte. «Wir entwerfen Hemden und Blusen mit ihrem persönlichen Emblem und verkaufen sie in Übersee. Natürlich werden die Preise im Ausland, außer in Japan, niedriger liegen. Auf diese Weise muß Carmen den Profit nicht mit einem Mittelsmann teilen. Das Sortiment wird in Hongkong produziert.»
«Niedrige Lohnkosten.» Dennis' schlanke Hand knetete die Schlüssel in seiner Jackentasche.
«Auch die Frachtkosten sind niedrig. Und wer weiß, vielleicht bekommen wir das Sortiment auch nach China hinein. Der Markt ist größer als der indische.»
«Und suchen Sie noch Investoren?»
«Nur einen. Wir stecken an die 300000 Dollar eigenes Geld rein. Zu viele Köche verderben den Brei.»
«Hm, ja.» Dennis spielte mit seinem Schlüsselbund. «Warum schauen Sie nicht mal Montag in meinem Büro vorbei? Ich würde gern weiter darüber reden.»
Da er sich nicht allzu erpicht darauf geben wollte, zögerte Miguel. «Dann sind wir schon auf dem Weg nach Chicago.»
«Vielleicht könnten Sie einen Tag später nachkommen. Ich glaube, ich könnte Ihnen diesen Investor besorgen.»
«Wenn Sie meinen ...» Miguels Schnäuzer zuckte nach oben.
«Hier, lassen Sie mich Ihnen meine Karte geben.» Dennis kramte in seiner Tasche. «Ich weiß, ich muß irgendwo eine haben.» Er zog ein braunes Stück Fell hervor. «Meine Glückshasenpfote.»
«Carmen hat ein Paar Glückssocken.»
«Tatsächlich? Ah, hier ist sie.» Dennis gab ihm die Karte.
Miguel schüttelte ihm die Hand und verabschiedete sich. Der einzige, der an die Hasenpfote glauben sollte, dachte er, ist der Hase.
Susan Reilly plumpste auf den Trainertisch, um sich den linken Knöchel bandagieren zu lassen. Dem fehlte eigentlich ebensowenig wie ihrem übrigen Körper, außer daß sie ihn seit zwanzig Jahren täglich schikanierte. Das ständige Stampfen der Füße auf Asche und Rasen und Teppich, die schnellen Stops, Drehungen und Sprünge nach Flugbällen forderten langsam ihren Tribut.
Bei Tennisspielern sind die Knie am meisten gefährdet. Dann kommt der Ellbogen, Schultern renken sich nicht aus, aber die Muskeln zerfasern. Knochensplitter lagern sich an Gelenken ab. Bänder werden gezerrt. Unter ständigem Streß zerfasert der Körper Stück für Stück.
Susan war im Begriff, die Grenze zu überschreiten, und sie wußte es. Verletzungen heilten nicht mehr so rasch. Eisbeutel halfen zwar, aber nicht auf Dauer. Sie achtete mit dreißig mehr auf sich als mit zwanzig. Dank glänzender Kondition und einem sechsten Sinn auf dem Feld hielt sie sich großartig. Sie hatte sich heute morgen beim Training den Fuß vertreten. Es tat zwar nicht weh, aber sie ging kein Risiko ein. Die Trainerin, eine nette Frau, bandagierte geübt den berühmten Knöchel. Susan brütete, während Alicia Brinker bei ihr saß und in der Bibel las.
Alicia, ein weit besseres Tennisgespons als Harriet, fand Trost im Glauben. Susan tolerierte es, weil Alicia in anderer Hinsicht so gefügig war. Wenn Alicia von Susan getrennt war, was selten vorkam, grübelte sie still über ihren Glauben. Sie wollte ihre Homosexualität im Ernst mit dem heiligen Paulus in Einklang bringen. Da der heilige Paulus aber für Frauen außer Verachtung nichts übrig hatte, waren ihre Hoffnungen, ihm etwas Anerkennung für die Lesben abzugewinnen, umsonst. Dennoch las sie weiter.
Lavinia steckte den Kopf ins Trainerzimmer. «Alles in Ordnung hier?»
Alicia sah von ihrem Buch auf.
Susan antwortete: «Prima. Wie ist der Stand da draußen?»
«5:4 im ersten. Carmens Aufschlag.»
«Danke.» Susan legte sich wieder auf den Tisch. Noch eine halbe Stunde, höchstens vierzig Minuten, dann würde sie da draußen stehen, falls Hilda Stambach das Blatt nicht wendete. Hilda würde möglicherweise stärker werden. Jetzt ließ sie sich noch von einer älteren Spielerin einmachen. Carmen war die bessere Spielerin, aber Hilda, mit Unterarmen wie Virginiaschinken, war siebzehn. Susan würde Hilda im Auge behalten.
Miranda Mexata kam am Trainerzimmer vorbei und winkte. Weiter unten in der Halle entdeckte Lavinia die Schiedsrichterin und segelte auf sie zu.
«Miranda, ich möchte mit dir reden.»
Miranda, der Lavinias Wichtigtuerei bestens vertraut war, seufzte.
Lavinia redete in bedeutungsvollem Flüsterton. «Sie ist in letzter Zeit reichlich überdreht.» Sie nickte mit dem Kopf in Richtung des Trainerzimmers. «Deshalb habe ich dich auf die beiden letzten Einzel angesetzt. Carmen und Hilda werden nicht aus der Reihe tanzen. Bei Schmettie und Susan hingegen, na, da fliegen womöglich die Fetzen. Du mußt durchgreifen, Miranda, greif durch.»
Indem sie so tat, als höre sie auf diesen oft wiederholten Rat, antwortete Miranda: «Alicia hat einen beruhigenden Einfluß, glaube ich.»
Lavinia blickte hastig um sich, um festzustellen, ob jemand hören konnte, was Miranda sagte. «Wir reden nicht über so was.»
«Mmm.» Miranda frage sich, ob Ricky eine Spielerin oben in der Pressekabine hatte. Gelegentlich lud er sich Spieler und Spielerinnen ein und bot ihnen die Möglichkeit zu einem farbigen Kommentar. Das war für die Spieler prima und toll für das Publikum. In dieser Beziehung war Ricky großzügig. Er setzte alle gut ins Bild. Miranda brannte darauf, in der Pressekabine um ihren Eindruck von den Veranstaltungen gebeten zu werden. Vom Thron der Schiedsrichterin hoch droben sah sie das Spiel, wie es niemand sonst sah, selbst die Spielerinnen nicht.
«Miranda, hörst du eigentlich zu?»
«Was soll ich dazu sagen? Bisher bin ich mit Susan fertig geworden, und ich glaube kaum, daß sie heute abend Schwierigkeiten macht.»
«Ich bin schon lange, lange Zeit in diesem Geschäft, und sie ist übernervös, das kann ich dir sagen. Sie steigert sich rein. Wie ich das kenne. Sie glaubt immer noch, daß sie den Grand Slam gewinnen kann, weißt du. Sie dreht langsam voll auf. O ja.» Lavinia holte tief Luft.
Siggy Wayne, fett wie eine Kröte und in Fahndungs- und Störmission, schlenderte zu den Frauen hinüber. «Jemand Chuck gesehen?» Chuck Lowry war der Repräsentant von Tomahawk in Kansas City.
Lavinia gab die naheliegende Auskunft. «Er sieht sich wahrscheinlich das Match an oder hängt in der Bar herum.»
Miranda ergriff die Flucht. «Bis nachher. Ich will mal sehen, wie's Danielle auf ihrem Sitz geht.» Miranda beaufsichtigte die einheimischen Schiedsrichterinnen. Es konnte ja sein, daß die Einheimischen von den Spielerinnen eingeschüchtert wurden.
Lavinia gierte nach einem Wodkacocktail, und sie wußte, es gehörte nicht viel dazu, Siggy Wayne an die Bar zu steuern. Siggy buhlte um Sponsoren fürs Damentennis. Ursprünglich hatte Lavinia diese Funktion innegehabt, doch als der Sport an Terrain gewann, mußte ihr Job in Teilbereiche aufgespalten werden. Es stellte sich heraus, daß Siggy ideal dafür war. Er flog von Stadt zu Stadt, ein Rattenfänger fürs Damentennis. Ob die Ratten rein- oder rausgejagt wurden, war nicht so sicher, aber jedenfalls holte er den Zaster rein, und das machte ihn unersetzlich. Er und Seth Quintard von Athletes Unlimited waren Geistesverwandte. Seth grapschte die Bonbons für die Spielerinnen und Spieler, Siggy grapschte sie für den gesamten Sport. Damentennis war für ihn seine Tingeltangelshow, nur daß die Akteure bekleidet auftraten. In Siggys Augen konnte das Tennis der Damen mit dem der Herren nicht konkurrieren. Das Spiel der Herren war schneller, härter und länger. Was die Damen zu verkaufen hatten, waren einzig Titten und Ärsche. Viele von ihnen hatten weder noch, aber die paar, die's hatten, wie Page Bartlett Campbell, wie Rainey Rogers, die waren seine Trümpfe. Seit Navratilova wegen eines Turnierunfalls draußen war und Austin an einer Rückenverletzung laborierte, hätschelte Siggy seine gesunden Stars - vor allem seine gesunden heterosexuellen Stars. Der Direktor einer einheimischen Bank würde mit Wonne seine Schulter an Terry Bradshaw reiben, aber an Susan Reilly? Wahrscheinlich nicht. Es würde noch lange dauern, bis die von Männern geführten Konzerne Sportlerinnen zu schätzen wußten.
Siggy reichte Lavinia seinen Arm, denn sie liebte es, hofiert zu werden, und sie schlenderten zur Bar. Lavinia fand Siggys Methoden zwar fragwürdig, aber er schaffte das Geld bei. Die Mädchen hatten nichts weiter zu tun, als auf einigen Parties herumzustehen und zu versuchen, auf dem Tennisplatz so attraktiv wie möglich auszusehen. Sie besaß eine große Leidenschaft für das Tennis der Damen, doch diese Leidenschaft machte sie nicht blind für die Tatsache, daß Siggy Wayne heutzutage recht hatte. Die nächste Generation mußte ihren eigenen Weg finden, sich und das Tennis zu verkaufen. Zur Zeit bestand er darin, Frauen als Frauen zu verkaufen. Daran war nichts falsch.
Lavinia ärgerte sich oft über die Mißachtung, die man den Tennisspielerinnen entgegenbrachte. Ihre Ergebnisse wurden im Anschluß an die Ergebnisse der Männer bekanntgegeben. Bei einem so riesigen Turnier wie den offenen amerikanischen Meisterschaften wurde nicht einmal der Versuch einer ausgewogenen Fernsehübertragung unternommen. Jahr für Jahr sollte das geändert werden. Leere Versprechungen. Wie sie wußte, war das Spiel nicht jenseits von Gut und Böse, aber es war auch nicht ganz zu übersehen. Warum ließ ein Konzern Geld in das Damentennis fließen, wenn das Geld anderswo profitabler eingesetzt werden konnte? Das Image des Damentennis mußte sie ködern. Was die Betonung des Geschlechts anging - auf subtile Weise natürlich -, so hatte sie nichts dagegen.Vive la difference. Nur daß der Unterschied für die meisten Frauen auch noch einen Unterschied im Einkommen bedeutete. Die Frauen holten scheinbar auf; aber nur, wenn man sich die Verträge nicht allzugenau ansah. Tennis blieb eine Männerwelt, zwar Veränderungen unterworfen und stets in Fluß, aber gleichwohl eine Männerwelt. Da Lavinia auf ihr Aussehen und ihre Weiblichkeit stolz war, erschien ihr das gar nicht so schlimm ... bis sie an einen lesbischen Skandal dachte und ihr das Blut stockte.
Man hatte ihr früher einmal gesagt, sie sähe Marlene Dietrich ähnlich, und von diesem Kompliment hatte sie sich nie so ganz erholt. Jeden Morgen zog sie sich inbrünstig die Augenbrauen nach. Der Schwung hing davon ab, wieviel sie am Abend zuvor getrunken hatte. Als sie mit Siggy plauderte, hätte man auf die Idee kommen können, ihre Augenbrauen wären umgekehrte Vs fürs morgige Finale.
Am Morgen des Kansas City-Finales bestellte Carmen ihr übliches Frühstück: Steak, Pasta und Kaffee. Für Harriet bestellte sie eine kalte Coca-Cola.
«Wo bleibt bloß das gottverdammte Essen? Schon vor einer halben Stunde habe ich die Bestellung durchgegeben!» Sie schleuderte die Sonntagszeitung durchs Zimmer.
Am Anfang ihrer Beziehung hatte Carmens Reizbarkeit Harriet oft aus dem Gleichgewicht geworfen. Inzwischen wußte sie, daß Carmen vor einem Finale entweder explosiv war wie ein Knallfrosch oder sich in die tieferen inneren Schlupfwinkel zurückzog. Bei einer Explosion bestand zumindest Kontakt. Harriet lernte auch, Carmen vor einem Finale in keiner Weise zu kritisieren, nicht einmal wegen der Farbe ihrer Schnürsenkel.
Harriet griff zum Telefon.
«Rufst du den Zimmerkellner an?»
«Nein», antwortete Harriet.
Carmen riß der Geliebten den Hörer aus der Hand, wählte die Nummer und wetterte los. «Zimmerkellner, hier ist Semana in drei-zwei-sechs. Semana!»
Die Stimme am anderen Ende der Leitung zog die berühmte Show ab, nichtenglische Namen weder verstehen noch aussprechen zu können. «S-E-M-A- verdammt noch mal, vergessen Sie den Namen. Die Zimmernummer ist drei-zwei-sechs, und wo ist das Essen?» Sie knallte den Hörer auf, so daß er in seiner Gabel schaukelte.
Harriet nahm den Hörer wieder auf und wählte. Nach einer angemessenen Pause sagte sie aufgekratzt: «Baby Jesus, wie geht es dir? Hier ist Mutter. Ja, Carmen ist auch hier. Was für eine Badewanne wir haben? Rosa, zur Tapete passend.» Harriet lauschte gespannt.
Zuerst achtete Carmen nicht darauf, sondern holte sich aus der anderen Ecke des Zimmers den Sportteil der Zeitung.
«Mir ist egal, ob du Friskies-Thunfisch magst oder nicht, friß ihn trotzdem.» Pause. «Wir kommen heute abend nach Hause. Vor Chicago hat Carmen eine Woche frei. Du willst nach Chicago mitkommen?» Pause. «Was heißt hier, du brauchst einen neuen Mantel? Dein grauer Tigerpelz reicht absolut. Willst du ihr Glück wünschen?» Harriet legte die Hand auf die Muschel. «Schatz, Baby Jesus möchte dir Glück wünschen.»
Carmen sah von der Zeitung hoch. «Meschugge.»
«Sie sagt: <Danke.> Schreibst du einen neuen Roman?<Katalog.>, ein Buch über Katzenmuffel. Na, viel Glück dabei. Wiedersehen. Wir haben dich lieb.»
Es klingelte. Essen, endlich. Carmen setzte sich und fing an zu essen, während Harriet die Rechnung abzeichnete. Sie setzte sich und griff nach ihrer Cola.
«Was für ein Buch, hast du gesagt, schreibt Baby Jesus doch gleich?» fragte Carmen.
«<Katalog>.»
«Hmmm.» Sie nahm ihr Steak in Angriff und wurde gleich heiterer. «Ich schätze, sie würde mehr Geld verdienen, wenn sie eins schriebe mit dem TitelKategorie.
«Ach, und um was soll es darin gehen?»
«Um Katzenmorde. Das bringt's.»
Miranda Mexata eröffnete von ihrem Sitz aus das Match des Tages. Susan Reilly gegen Carmen Semana. Susan gewann die Wahl und damit das Aufschlagsrecht.
Oben auf der Tribüne saßen Alicia Brinker und Harriet Rawls nebeneinander in der Sponsorenloge, ein kleiner Verstoß gegen die Tennisetikette, die man freilich Chuck, dem TomahawkRepräsentanten von Kansas City, verzeihen konnte. Er hatte sich nie im Leben ein Tennismatch angesehen. Die Ehemänner, Ehefrauen, Geliebten und Verwandten der Gegner werden normalerweise separat placiert. Zwar entgeht ihnen nicht, wo die andere Partei sitzt, sie aber nebeneinander zu setzen, war unsensibel. Sofern die eine anfeuernde Seite nur den geringsten Anstand besaß, konnte sie nicht jubeln, wenn ihre Frau einen guten Ball schmetterte, oder zischen, wenn die Gegnerin einen Punkt herausschlug. Alicia, die sich ohnehin in Harriets Nähe nie wohl fühlte, versteckte ihr schmales Neues Testament in den Falten ihres Pullovers, den sie sich über den Schoß legte. Miguel und Dennis Parry saßen in der Nachbarloge, die mit blaßblauen Fahnen der Amalgamated Banks geschmückt war.
Droben in der Pressekabine wartete Ricky mit aufgesetztem Kopfhörer auf sein Stichwort. Jane war nicht auf Sendung und saß über speziellen Diagrammen, um das Match punkten zu können. Im allgemeinen überließ sie diese Sache den Statistikern, doch heute stand ihr der Sinn nach Tabellieren. Susan ging zur Grundlinie. Jane murmelte: «Lucretia Borgia von Sunnybrook Farm.»
Der lächelnde Ricky bekam sein Stichwort. «Sie haben rechtzeitig eingeschaltet, meine Damen und Herren. Susan Reilly gewann die Wahl, und das Spiel beginnt.»
Lavinia ließ sich in der Tomahawkschen Loge häuslich nieder. Die Frau eines regionalen Sponsors setzte sich rasch daneben, als Susan ihren bekannten hohen Aufschlagball warf. Der berühmte weitausgeholte Aufschlag wurde gemacht. Jedesmal, wenn die Spielerinnen die Seiten wechselten, zwitscherte Lavinia mit den Sponsoren. Sie traf glatt das hohe C für Cash.
Alicia strahlte nicht. Carmen gewann den ersten Satz sechs zu vier. Drei Sätze, ging es Susan durch den Kopf. Sie schlug härter. Wenn Page Bartlett Campbell am ausgeglichensten war und Carmen das größte sportliche Talent hatte, so war Susan von einem Antrieb und einer Tücke beseelt, die ihren Überraschungseffekt auf ihre Gegnerinnen nie verfehlten.
Ihr erster Aufschlag schnitt tief in Carmens Vorhand. Carmen schlug den Ball solide und hart. Susan machte gern Tempo, und sie wußte, daß Carmen sich nie zu hinterlistigen Bällen herabließe, um ein Match zu gewinnen. Je härter Carmen den Ball traf, desto lieber war es Susan. Als der Ball in die Rückhandecke schwirrte, traf ihn Susan mit jeder Faser ihres Körpers und feuerte den nächsten Schuß die Linie entlang. Ihre Rückhand war mörderisch, stark und alles andere als ein Honigschlecken. Sie brachte die Menge auf die Beine. Da war noch immer Leben in dem alten Hund - und Biß. Den nächsten Punkt ging sie schärfer an. Der erste Aufschlag traf die Ecke, aber dank Carmens blitzartiger Reflexe und ihres kraftvollen Handgelenks schlug sie den Ball tief ins Mittelfeld. Von den Tribünen aus wirkte Susans Return wie ein schwacher Schlag. Doch aus Mirandas Blickpunkt ging der Ball übers Netz, traf die Mitte des Aufschlagsfeldes und drehte sich dann rückwärts. Carmen er reichte den Ball mühelos, hatte aber nicht mit dem Drall gerechnet. Ob wegen des Laufwinkels oder aus sonst einem Grunde, jedenfalls überlief sie den Ball leicht. Ihr Return war nicht tief genug und auf Susans Rückhand placiert, den einzigen Schlag, den sie machen konnte. Sie mußte ans Netz. Bei einem schwachen Return auf eine Spielerin wie Susan, hätte Carmen ebensogut ein Maschinengewehrnest mit einem Gummimesser angreifen können. Susan donnerte eine weitere Rückhand zur Grundlinie. Beim nächsten Punkt beantwortete sie den Aufschlag- Return mit einem Rückhand-Cross. Sie beendete das Spiel mit einem As.
Carmen haßte es, gegen Susan zu spielen. Wenn sie mit einem Ball wie der Rückdrallusche angeschmiert wurde, spürte sie förmlich Susans hämisches «Arschlecker». Susan wurde mit jedem Punkt stärker. War Carmen seelisch auch nur ein kleines bißchen verunsichert, konnte Susan sie auseinandernehmen, obwohl Carmen ihr physisch überlegen war. Gegen Susan anzutreten war wie das Spielen mit einer Kobra. Doch Carmen war sicher, daß sie die Schlange heute bändigen würde.
Beim ersten Aufschlag des zweiten Satzes legte Carmen mit der Präzision eines Bombenschützen ein As vor. Der nächste Punkt war eine lange Ballpassage, und Susan ergatterte ihn schließlich. Aber Carmen hatte noch immer den Aufschlag, und sie gewann das Spiel. Der Rest des Satzes verlief nicht anders, hin und her, hin und her. Es war die spannungsgeladene Art von Tennis, die an kalten Januartagen die Leute anlockte: Der alte Meister gegen den jungen Meister. Mit 24 galt Carmen in ihrem Beruf zwar nicht mehr als jung, doch gegen Susan konnte sie noch immer wie ein Grünschnabel wirken.
Susans Taktik war jetzt, wo das Kopf-an-Kopf-Ringen vier beide stand, beim Aufschlag alles auf eine Karte zu setzen. Ihre blanke Aggression riß die Zuschauer mit. Sie schlug einen todsicheren Vorhand-Volley, der sie aufspringen ließ. Susan glühte. Sie hatte eine ungeheure Fähigkeit, sich vom Lob anstacheln zu lassen. Sie konnte nicht nur ihren Aufschlag durchbringen, sondern war obendrein in diesem Spiel überlegen. Carmen hielt ihren Aufschlag mit der gleichen Verbissenheit. Das Spiel stand jetzt fünf beide. Unmittelbar darauf waren sie bei sechs beide. Wieder ein Tie-Break. Die Fans rasten - jedenfalls die Tennisfans. Sie wollten ein Match über drei Sätze.
Harriet wand sich auf ihrem Sitz. Alicia umklammerte ihr Neues Testament.
Der Tie-Break war elektrisierend. Da gab es keinen schludrigen Punkt. Jede Frau fühlte sich genötigt, Heroisches zu leisten, und tat es. Susan hechtete nach einem Vorhand-Volley, der wie ein sicherer Gewinnpunkt aussah, da Carmen den Ball mit mindestens 140 Stundenkilometern Geschwindigkeit schlug. Susan streckte sich parallel zum Boden, als sie nach dem Ball sprang, und sie schaffte es, bei Gott. Sie fiel, rollte ab und sprang auf, für den Fall, daß Carmen den Return schlug. Eine Hölle brach los. Carmen hatte den nächsten Aufschlag. Der Spielstand war fünf zu fünf. Carmen ergriff die Gelegenheit und servierte auf Susans starke Seite in der Hoffnung, sie zu überrumpeln. Sie tat es. Susans Return besaß Autorität, doch nicht genug Kraft. Carmen sauste über das Feld - sie schien ständig zu gleiten - und feuerte einen vernichtenden Vorhand-Cross ab, vielleicht ihren besten Treffet. Susan, deren sechster Sinn voll auf Empfang stand, war da. Sie bekam den Schläger an den Ball, und er segelte über das Netz. Der Linienrichter rief: «Aus.» Der Ball war gefährlich nahe an der Grundlinie. Carmen ging hinter die Linie, nahm den vom Ballmädchen zugeworfenen Ball und sah beim Umdrehen Susan am Netz stehen, die Hände auf den Hüften.
«Aus! Was soll das heißen, aus? Der Ball war fast einen Meter drin!»
Die Fans auf der Seite des unglückseligen Linienrichters stimmten ihr zu. Die meisten von ihnen hielten den Ball für gut. Der Linienrichter sagte nichts.
Carmen wartete. Miranda sagte etwas zu Susan, aber das konnte niemand verstehen.
Susan, ganz blaß, fuhr fort: «Dieser Ball war gut, Miranda, du weißt, daß der Ball drin war.»
«Ich habe den Ball im Aus gesehen», sagte Miranda kühl. Sie unterstützte ihre Linienrichter grundsätzlich, es sei denn, der Fehler war kraß. In diesem Fall hatte der Linienrichter bisher keine Patzer gemacht. Miranda wußte, daß es eine knappe Ansage war, aber sie mußte die Regeln einhalten, oder Susan würde jeden Linienrichter auf dem Platz auseinandernehmen.
«O nein.» Susan schleuderte ihren Schläger zu Boden. Sie beugte sich über das Netz und brüllte Carmen an: «Hast du den Ball gesehen?»
In Wahrheit war Carmen so schnell gerannt, daß sie den Ball, nicht die Linie im Auge hatte. «Nein.»
«Carmen, du weißt, daß der Ball gut war.»
Das machte Carmen stocksauer. Sie stand in dem Ruf, bei Ansagen fair zu sein. Susan stellte sie als Punkteklauer hin.
«Ich habe den Ball nicht gesehen, Susan.»
«Verdammt, ich spiele mir das Herz aus dem Leib, und der Linienrichter gewinnt das Match.»
«Beruhige dich, Susan.» Miranda blieb fest. In dieser Situation mußte sie festbleiben.
Die Fans schrien nun für wie gegen die Ansage. Susan bezog wetternd an der Grundlinie Position, um den Aufschlag anzunehmen. Ihr Aufschlagreturn kam als hochgezogener Lob, ein Akt purer Gemeinheit. Der Ball traf noch vor der Grundlinie auf. Susan gab Carmen einen ganzen Punkt lang einen Luschenball nach dem anderen.
Mit zusammengebissenen Zähnen raste Carmen jedem hundsgemeinen Ball nach, bis sie schließlich einen von Susan verpatzte, die das Match gewann. Die Menge tobte. Harriet stand auf. Alicia ließ ihr Neues Testament los. Ricky bemühte sich, keine Spur von Angewidertsein in seinem Kommentar durchschimmern zu lassen. Jane fegte die letzte Punktekarte beiseite. Sie sahen auf Susan Reillys Gestalt herab, die wie ein Panzer ans Netz steuerte.
Carmen war wütend, riß sich aber zusammen und streckte die Hand aus. Seit mehr als einem Jahrhundert wurden Tennismatches mit freundlichem Händedruck beendet. Susan trat ans Netz und tippte mit dem Schläger auf Carmens ausgestreckte Hand. Mit der anderen Hand schmierte sie Carmen eine direkt auf den Mund. Carmens Kopf zuckte zurück, ihre Lippe sprang auf. Entgeistert stand sie da. Das Toben der Menge erstarb. Schneller als ein Wiesel vom Baum kletterte Miranda von ihrem Schiedsrichterstuhl. Noch immer entgeistert, wischte sich Carmen den Mund mit dem Handrücken. Er war blutverschmiert.
«Kümmere dich um sie!» befahl Miranda der Trainerin. Die Trainerin stellte sich vor Carmen und hantierte an ihr herum. Ihre eigentliche Absicht war, Susan aus Carmens Blickfeld zu halten, falls Carmens berühmtes südamerikanisches Temperament explodieren sollte.
Miranda packte Susan nicht allzu freundlich am Arm und drängte sie hinter den Schiedsrichterstuhl. Blitzlichter flammten auf. Ein Raunen ging durch die Menge, erst leise, dann lauter, bis schließlich ein mißbilligendes Gebrüll vom Tribünendach in Kansas City widerhallte. Alicia eilte an Susans Seite. Wortlos signalisierte Miranda, daß Susan unverzüglich in den Umkleideraum zu verfrachten sei. Als Alicia Susans Arm berührte, zischte Susan: «Faß mich nicht an. Nicht in der Öffentlichkeit.»
Am nächsten Morgen füllte die Geschichte nicht nur die Zeitungen von Kansas City, sie wurde auch über die Ticker von AP und UPI verbreitet. Carmen war in Ordnung. Lavinia konnte aus einem Elefanten keine Mücke machen, also sprach sie lieber über seelischen Druck, die Härte von Konkurrenz und Turnierreisen. Die anderen Spielerinnen konnten es kaum fassen. So etwas war noch nie passiert, egal, wie wütend jemand war. Über die Jahre hatte es Momente der Wut reichlich gegeben.
Die Mehrheit der Fans empörte sich; aber die Veranstalter waren im siebten Himmel. Ein kleines Drama würde die Leute anziehen. Susan hatte ihnen soeben volle Taschen beschert. Selbstverständlich würden Veranstalter solche Ausbrüche nie öffentlich billigen. Doch wenn das Publikum Susans Benehmen auch verurteilte - die Erwartung weiterer Explosionen lockte es an. Schließlich ging es ihm nicht mehr allein um Sport, es ging auch um Unterhaltung. Susan entschuldigte sich öffentlich. Im Herzen hatte sie nicht das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben. Carmen hatte sie bestohlen. Da Susan nicht zugeben konnte, daß sie irgendwelche Fehler hatte, bestand für sie nicht die Gefahr, sich selbst korrigieren zu müssen. Carmen hatte begriffen. Zwischen ihrer ersten Geliebten und ihr fand kein Tennis mehr statt; es herrschte Krieg.
«Das ist ein interessantes Angebot.» Miguel saß Dennis Parry im Büro der Bank gegenüber. «Ich denke, wir kommen ins Geschäft.»
«Ich bin immer auf neue Ideen aus.» Ein öliges Lächeln umspielte Parrys Lippen.
Strahlend fuhr Miguel im Taxi zum Flughafen. Das Treffen mit Parry war besser verlaufen als erhofft.
Amalgamated würde Carmen einen Kredit von 600000 Dollar geben, zum Zinssatz von 21 Prozent. Die Laufzeit des Kredits betrug ein Jahr. 300000 Dollar waren in vierteljährlichen gleichen Raten zahlbar, die Restsumme von 300000 war am Jahresende fällig. Parry beglückwünschte sich, denn Carmen würde ihm 50000 Dollar unterderhand zustecken. Carmen mußte lediglich den Kreditvertrag unterzeichnen, und Miguel würde 550000 Dollar erhalten.
Miguel sah auf seine goldene Rolex. Er hatte noch Zeit genug. Manches von dem, was er Dennis Parry erzählt hatte, stimmte. Vieles nicht. Er hatte wirklich einen Freund, der die Bekleidung in Hongkong fabrizierte. Und er würde das Produkt auch in Südostasien verkaufen. Darüber hinaus beabsichtigte er tatsächlich, die Ware in den Vereinigten Staaten über das Netz feilzubieten, über die sein Freund imitierte Markenartikel vertrieb. Miguel hatte ein Vertriebsnetz und seine Einzelhändler gefunden, ohne einen Cent eigenes Geld aufzuwenden. Die Hemden würden mit 20 Prozent Rabatt verkauft werden. Selbst dann wäre der Profit noch enorm.
Natürlich würde Sunny Days, die Firma, die Carmen für ein Bekleidungssortiment unter Vertrag hatte, irgendwann herausfinden, daß in Discountläden nachgemachte Ware verkauft wurde. Bis sie aber das parasitäre Unternehmen entdeckt - keine leichte Sache - und versucht haben würde, es zu verklagen, wären riesige Gewinne gemacht und das Sortiment vom Markt genommen. Sunny Days würde wütend sein, aber so wie das amerikanische Rechtssystem nun einmal ist, bedeutet ein Prozeß für Sunny Days wahrscheinlich so viele Hunderttausende von Dollar an Gerichtskosten, daß man sich außergerichtlich einigen würde, sofern die nachgeahmten Produkte vom Markt verschwanden. Erhob Sunny Days allerdings Klage, so würde die gesamte Bekleidungsindustrie davon profitieren. Freilich war es unwahrscheinlich, daß Sunny Days einen Präzedenzfall schaffen würde, damit ihre Konkurrenten davon profitierten. In der Bekleidungsindustrie kämpfte noch immer jeder für sich allein.
Miguel war sicher, daß er in keinem Fall verlieren konnte. Carmen brauchte nichts davon zu erfahren. Warum auch? Sie konnte sich auf nichts lange konzentrieren; Geschäftliches irritierte sie nur. Sie mußte alle Aufmerksamkeit dem Tennis widmen. Je mehr sie gewann, desto mehr Kleidung würde Miguel verkaufen.
Was die Unterschrift auf dem Kreditvertrag anging, so würde Miguel sie einfach fälschen.